8. KAPITEL
Riley mit den vielen Namen rannte durch Wälder, über Straßen und Trampelpfade, durch verschiedene Stadtviertel, verstopfte Einkaufsstraßen und schmale Gassen, ohne je langsamer zu werden. Weder als die Sonne sich durch die Wolken kämpfte und ihm trotz der kühlen Luft aufs Fell brannte, noch als seine Lungen von der Kälte schmerzten oder als schließlich der goldene sichelförmige Mond aufging, den er zu gerne angeheult hätte. Stunde um Stunde lief er und legte viele Kilometer zurück.
Um sich abzulenken, zählte er die Namen auf, die er im Laufe der Jahre getragen hatte. Seine Brüder nannten ihn „rattigen Riley“. Oder „Halt-die-Klappe-Riley“. Bei Victoria hieß er in letzter Zeit oft „Riley, die Nervensäge, die mir nie was durchgehen lässt“.
Um sich an Adens Schule anzumelden, hatte Riley sich den Nachnamen Connall zugelegt. In der Sprache der Alten hieß Connall so viel wie „großer starker Jagdhund“. Victoria hatte „Ulrich“ vorgeschlagen und behauptet, es würde „Kriegerin“ bedeuten. Das war einer der ersten Witze gewesen, die sie je gemacht hatte. Er war so stolz auf sie gewesen, dass er den Vorschlag fast angenommen hätte. Aber Riley Ulrich klang zu fremd dafür, dass er nicht auffallen wollte.
Vielleicht hätte er sich Riley Smith nennen sollen. Oder Riley Jones.
Einige seiner Exfreundinnen hatten ihn „Riley die Arschgeige“ genannt. Sein persönlicher Favorit war allerdings „Riley, ich wünsch dir den Tripper an den Hals, du Dreckssack“.
Irgendwie liefen seine Beziehungen nie gut. Und dieses „Irgendwie“ lag immer an ihm, das wusste er.
Und nicht nur, weil die Mädchen es ihm sagten. Er blieb bewusst auf Abstand, um ihretwillen, aber auch um seinetwillen. Er war durch und durch besitzergreifend, und wenn er einmal beschließen sollte, dass ein Mädchen zu ihm gehörte, wäre das eine feste Sache. Für immer.
Klar, die Mädchen wollten etwas mit ihm anfangen, vielleicht sogar für ein paar Wochen oder Monate, aber das änderte sich. Die Mädchen veränderten sich.
Er konnte das nicht.
Irgendwann war man zu alt dafür und wollte es ganz einfach nicht mehr. Riley lebte seit über hundert Jahren. Im Vergleich zu Menschen war er alt, deshalb lernte er kaum noch dazu.
In seinem eigenen Volk galt er noch als Welpe, aber weil das kein Argument war, brachte er es erst gar nicht in die Diskussion ein.
Und wenn ein Mädchen ihn erst einmal richtig kennenlernte, würde es sein Leben vielleicht nicht verstehen und nicht mögen, und es würde ihn verlassen wollen. Aber wenn eine Beziehung diesen Punkt erreichte, war es schon zu spät. Wer einmal Vlads Haus betrat, blieb in Vlads Haus.
Auch wenn Vlad nicht mehr das Sagen hatte, verstand Riley doch den Grund für diese Order. Sie sollte das Volk schützen. Trotzdem war es eine Herausforderung, jemanden in die Familie einzuführen.
Man musste sich nur Vic und Draven ansehen.
Riley hasste Herausforderungen. Was ihm gehörte, gehörte ihm, er teilte nicht. Vielleicht kam seine Einstellung daher, dass er in einem Rudel aufgewachsen war, das jeden Bissen Essen, jedes Kleidungsstück, jedes Zimmer, Bett und nicht fest vergebene Mädchen – und jeden nicht fest vergebenen Mann – als Eigentum aller ansah. Das war er schnell leid geworden. Um nicht enttäuscht zu werden, hatte er seine Freundinnen nie ganz an sich rankommen lassen und sie nicht an sich gebunden.
Bis Mary Ann in sein Leben getreten war.
Irgendwie hatte sie seinen Schutzwall untergraben. Vielleicht setzte sie seine Schutzmechanismen außer Kraft, wie sie es auch mit übernatürlichen Fähigkeiten tat. Riley verstand selbst nicht ganz, warum er von Anfang an so fasziniert von ihr gewesen war. Aber nun wünschte er sich, er wäre mit ihr weitergegangen, als sie noch zusammen gewesen waren. Er wollte seine Hände in ihrem dunklen Haar vergraben und sich in ihren herbstbraunen Augen verlieren. Und über ihre blasse Haut lecken, die nur ein Hauch Farbe überzog. (Hey, immerhin war er ein Wolf.)
Sie war groß und schlank, hübsch und auf eine stille Art bezaubernd. Beim Laufen mochte sie ab und an stolpern, weil sie so gedankenverloren war, aber wenn sie sich die Haare aus dem Gesicht strich und ihre Finger über Wange und Stirn glitten, war sie die reine Anmut und Sinnlichkeit.
Sie selbst konnte ihre Anziehungskraft nicht einschätzen, auch das hatte er sofort gemerkt. Manchmal blickte sie zu Boden und trat als Verlegenheitsgeste gegen Steinchen. Sie suchte nie bewusst Aufmerksamkeit, manchmal errötete sie sogar. Sie war zurückhaltend und nervös, gleichzeitig fest entschlossen, jede Aufgabe, die man ihr stellte, zu meistern.
Zuerst hatte er nicht gewusst, wie klug sie war. Er hatte nur gedacht: Wow, ist die hübsch … und süß … und sie sorgt sich mehr um andere als um sich selbst. Aber er hatte es schnell mitbekommen. Ihr Verstand arbeitete unglaublich schnell. Sie nahm nichts einfach so hin, wie es auf den ersten Blick erschien, sondern hinterfragte alles. Bei aller Schüchternheit – wenn sie jemandem vertraute, sagte sie ihre Meinung und stand hundertprozentig dazu.
Und mehr noch: Sie sagte immer die Wahrheit. Und wenn sie noch so brutal war. Diesen Zug bewunderte er an ihr, weil er selbst genauso war.
Außerdem war sie gefühlvoll. Anders als er; er hatte noch nicht einmal gewusst, dass ihm das gefiel. Bis er sie kennengelernt hatte. Mary Ann schreckte nicht davor zurück, ihn zu umarmen oder sich an ihn zu klammern und zu weinen. Oder lachend vor Freude durchs Zimmer zu springen. Kurz gesagt, sie ließ ihren Gefühlen freien Lauf. Damit war sie das glatte Gegenteil von ihm und allen Mädchen, mit denen er je zusammen gewesen war.
Sie war verletzlich, aber sie ließ sich davon nicht bremsen. Sie … lebte einfach.
Sie hatte ihn nicht verlassen, um sich selbst zu schützen. Das wusste er. Ihr Ziel war es gewesen, ihn zu schützen. Er konnte nachvollziehen, dass sie ihm nicht schaden wollte, auch er hätte nicht ertragen, wenn ihr etwas zustieß. Aber eine Trennung? Das war doch keine Lösung.
Dann war sie eben eine Kraftdiebin. Na und? Damit würden sie fertigwerden. Jedes Paar hatte Probleme. Na gut, na gut, ihr Problem könnte ihn umbringen. Aber sie würden einen Ausweg finden, bevor das geschah. Bestimmt.
Ein Stein zerschnitt ihm eine Pfote, aber er ließ sich nicht aus dem Tritt bringen. Er rannte weiter, während ihm der Schweiß in die Augen rann. Anders als normale Wölfe konnte er (unter anderem) schwitzen, weil sich in ihm Mensch und Tier vereinten. Und er schwitzte reichlich. Das Fell klebte ihm am Leib, als er die große, böse Stadt erreichte.
Hechelnd huschte er vorbei an Menschen, die vor Schreck über dieses riesige Wesen aufschrien, an Autos, an anderen Tieren. An Haustieren, die an der Leine liefen, und an Streunern, die nach Futter suchten.
Unzählige Auren blitzten in bunten Farben auf, ihre Schichten überlagerten sich. Schichten, die verschiedenen Bereichen entsprachen: dem stofflichen Körper, den nach innen gerichteten Gefühlen, den Gefühlen für andere, dem Verstand, der Kreativität, der praktischen Intelligenz. Er sah Wahrheit und Lüge, Liebe und Hass, Leidenschaft und schließlich Frieden und Chaos.
Menschen trugen diese Schichten wie einen Mantel. Die leuchtenden Hüllen verrieten ihre Gedanken und Gefühle – alles, was sie ausmachte. Was leicht zu durchschauen gewesen wäre, wenn die Schichten aus klaren, eindeutigen Farben bestanden hätten. Rot, Blau, Grün und Gelb, alles schön und einfach. Aber nein. Riley sah Schattierungen, Farben, die sich überlagerten, die ineinander übergingen, Farben, überall Farben.
Auch das gefiel ihm an Mary Ann. Ihre Aura. Die Farben, die um sie herumpulsierten, musste er nicht groß interpretieren. Sie waren so rein und stark, so säuberlich voneinander getrennt, dass keine Zweifel blieben.
Wo bist du, meine Liebe?
Das letzte Mal, und das war schon viel zu lange her, hatte er sie in Tulsa, Oklahoma gesehen. Er begriff immer noch nicht, wie er sie hatte verlieren können. Gerade noch hatte er sie gesehen, dann war sie um eine Ecke gebogen und verschwunden. Aber er hatte sie noch gerochen. Ihr süßer Duft nach Wildblumen und Honig hatte noch in der Luft gehangen. Aber dann war auch der Duft fort gewesen, ohne ihn auf eine Spur zu führen, und er hatte sie ganz verloren.
Er wäre gerne geblieben und hätte weitergesucht, aber als er seinen Bruder Nate angerufen und nach Neuigkeiten zu Vic, Aden und der Lage im Herrenhaus gefragt hatte, war er äußerst beunruhigt gewesen. Er hatte Panik bekommen, als er hören musste, dass sein Schützling „ständig weinte“, „sich in ihrem Zimmer eingeschlossen“ und „in einem echten Blutrausch wüste Drohungen“ ausgestoßen hatte. Um so schnell wie möglich zu ihr zu kommen, hatte er ein Auto gestohlen und jede Geschwindigkeitsbegrenzung übertreten.
Auch für diesen Weg hätte er das Auto nehmen können, die Fahrt hätte nur drei Stunden gedauert. Aber er wollte lieber in seiner tierischen Gestalt laufen. So konnte er Mary Ann riechen. Und jeden, der mit ihr zu tun hatte.
Als er die Straße erreichte, auf der er sie zuletzt gesehen hatte, mitten in einer geschäftigen Einkaufsmeile, wurde er schließlich langsamer. Autos hupten und fuhren Schlenker, um ihm auszuweichen. Er duckte sich in die Schatten der Häuser. Nicht dass ihn Tierfänger mit ihren Betäubungsgewehren erwischten.
Adrenalin strömte mit Macht durch seine Adern, sein Blut fühlte sich an wie Feuer. Ihm war so heiß, dass er eine Spur aus Schweißtropfen auf dem Bürgersteig hinterließ. Wahrscheinlich roch er streng. Gut so, dann würde ihm niemand zu nahe kommen.
Er schnüffelte und schnupperte – zahllose Gerüche vermischten sich hier. Er schnupperte weiter, um sie einzuordnen, und bemerkte schließlich einen Hauch Magie. Selbst nass und schwer, wie sie waren, stellten sich ihm die Haare auf dem Rücken auf. Magie hieß Hexen, und die Hexen hassten Mary Ann inbrünstig.
Vielleicht lebte hier ein Hexenzirkel, der noch nichts von der Kraftdiebin in seiner Mitte ahnte. Oder die Hexen verfolgten Mary Ann. Er schnüffelte weiter – da. Sein Herz pochte schneller und kräftiger. Mary Ann. Ihr Geruch hatte sich nicht nur gehalten, er war noch stärker geworden. Sie musste mehrmals an dieser Stelle vorbeigekommen sein, zuletzt vor Kurzem. Warum? War sie den Hexen über den Weg gelaufen? Und wenn ja, hatte sie den Hexen ihre Zauberkraft genommen, oder hatten die Hexen sie gefangen? Oder Schlimmeres mit ihr getan?
Riley sah sich um. Modeboutiquen, ein Delikatessenladen, mehrere Cafés. Ein Stück weiter wurde eine Anhöhe von zahlreichen Laternen erhellt. Hinter einem verdorrten Rasen erhob sich ein hohes weitläufiges Gebäude, alter Sandstein mit Türmchen und einer Betontreppe am Eingang. Eine Bibliothek.
Volltreffer. Mary Anns natürlicher Lebensraum.
Riley lief hinüber und trottete die Stufen hinauf. Die Öffnungszeit war bereits vorüber, die Bibliothek leer. Schnüffelnd drehte Riley sich im Kreis. Ah ja. Mary Anns süßer Duft hing schwer in der Luft. Sie war oft hier gewesen. Nachforschungen lagen ihr wirklich im Blut.
Aber was hatte sie hier recherchiert? Hatte sie sich über Kraftdiebe informiert? Schon bei dem Gedanken krampfte sich sein Inneres zusammen. Solche Datenspuren waren die Pest, und Hexen verfolgten so etwas. Wie auch nicht? Sie würden Mary Ann finden – wenn sie es nicht schon getan hatten –, bevor sie die Hacken zusammenschlagen und sich nach Hause wünschen konnte.
Als er weiterschnüffelte, fiel ihm ein weiterer bekannter Geruch auf. Dumpf, mit einem Hauch Zitrus. Riley kannte ihn zwar, aber nicht gut genug, um ihn sofort zuordnen zu können.
Dann verlor Riley die Spur. Zigarettenrauch waberte durch die Luft und überdeckte alles andere. Riley knurrte tief und kehlig. Er hasste dieses Dreckzeug, und wenn er denjenigen fand, von dem es kam, würde er …
Hinter einer der Säulen saß ein verdreckter Typ mit einer Whiskeyflasche in einer Rauchwolke. „Komm her, Hündchen“, lallte er.
Das ist ja wohl nicht dein Ernst. Wieder knurrte Riley.
Dafür erntete er ein betrunkenes Kichern. „Fieser kleiner Köter, was?“
Klein? Wohl kaum. Du hast Glück, dass ich dich nicht vollpisse, Alter. Riley bleckte die scharfen Zähne und wandte sich um. Er konnte die Einkaufsmeile sehen, durch die er gekommen war, dahinter heruntergekommene Wohnhäuser, höchstwahrscheinlich Crackbuden, und ein paar Streifenwagen mit blinkenden Einsatzlichtern. Noch weiter hinten lag die Innenstadt von Tulsa. Zahllose Lichter und Hochhäuser aus Glas und Chrom.
So weit hätte sich Mary Ann nicht von der Bibliothek entfernt, nicht einmal, um in der Menge unterzutauchen. Zum einen konnte sie es sich nicht leisten, dort zu wohnen, zum anderen war Information ihre Droge der Wahl, und sie wollte bestimmt in der Nähe der Quelle bleiben, falls ihr eine Idee kam und sie einen neuen Fix brauchte.
Also ein billiges Motel in der Nähe. Riley trottete schnüffelnd weiter, bis er die richtige Spur fand. Da! Voller Vorfreude lief er schneller.
Wenn er sie fand, würde er sie als Erstes ordentlich schütteln. Als Zweites würde er sie küssen. Dann wieder schütteln. Und wieder küssen.
Sie hatte ihn wahrscheinlich hundert Jahre seines Lebens gekostet. Und das schmeckte ihm gar nicht. Gestaltwandler waren nicht unsterblich, lebten aber sehr lange, und er wollte jeden Augenblick nutzen.
Seine Eltern waren zu früh gestoben und hatten viel bedauert. Das wollte er nicht auch erleben. Allerdings waren sie bei einem Überfall von Elfen getötet worden und nicht wegen eines kleinen Menschenmädchens draufgegangen, das sie in den Wahnsinn trieb.
Diese Elfen litten wirklich an einem Gotteskomplex – ständig metzelten sie andere übernatürliche Wesen nieder, angeblich um ihre Menschen zu beschützen. In Wahrheit wollten sie einfach nur die mächtigsten Wesen weit und breit sein.
In etwa wie Vlad, der Riley aufgezogen hatte. Und dem Riley immer gedient hatte – bis Aden die Macht übernahm. Von diesem Moment an war Riley ihm gefolgt, und auch als er herausgefunden hatte, dass Vlad noch lebte, hatte er Aden nicht verraten. Die Gefolgschaft hatte sich schon gefestigt.
Aber Aden, wie er nun war … Er hatte sich verändert, und das gefiel Riley gar nicht. Er konnte nicht genau sagen, was es war. Trotzdem würde er seinen neuen König nicht verraten. Wenn er Mary Ann erst einmal in Sicherheit gebracht und ihr Schutz verschafft hatte, würde er Aden helfen, zu seinem alten Selbst zurückzufinden. Irgendwie.
Der Geruch nach Magie wurde stärker, und Riley lief langsamer. Sein scharfer Blick durchdrang Farben und Schatten. Auf der anderen Straßenseite entdeckte er zwei verräterische Auren. Eine schimmerte in einem metallischen Goldton, die anderen braungolden. Magie.
Lehrer und Schüler.
Mit zuckenden Ohren lauschte er auf die Gespräche in seiner Nähe und sogar in mehreren Kilometern Entfernung, horchte auch in Häuser hinein. Er blendete alles uninteressante Gerede aus und konzentrierte sich.
„… müssen jetzt zuschlagen, solange sie keinen Schutz hat.“
Diese Stimme kannte er. Marie. Eine Hexe und die Anführerin des Hexenzirkels, der nach Crossroads gekommen war.
„Ich weiß. Aber das ist bei ihren Schutzzeichen nicht so einfach.“ Auch diese Stimme kannte er. Jennifer, eine zweite Hexe. Die Schülerin. „Wir müssen den Angriff nur gut planen. Die Schutzzeichen dürfen sie nicht retten.“
Mary Ann hatte sich mit Zeichen vor tödlichen Verletzungen und Gedankenkontrolle geschützt. Womit konnten die Hexen das umgehen? Kannten sie einen Trick, um Anns Geist zu schaden? Wie sollte das möglich sein?
Riley fragte sich, wie viele Hexen noch in der Nähe waren. Hatten sie Mary Ann schon gesehen? Zu einem Angriff war es offenbar noch nicht gekommen. Um mehr herauszufinden, schlich er näher.
„Um den Jungen müssen wir uns auch kümmern“, sagte Marie und seufzte.
Um welchen Jungen? Ihn? Oder jemand anderen? Eifersucht flackerte in ihm auf.
„Er hat doch nichts getan“, wandte Jennifer ein.
„Das ist egal. Er ist mächtig. Er wird uns Ärger machen“, entgegnete Marie.
Mit „mächtig“ konnte sowohl Aden als auch Riley gemeint sein. Aber durch das „Hat doch nichts getan“ schieden sie beide aus. Rileys Eifersucht schwoll von einem Flackern zu einer Feuersbrunst an.
Marie fuhr fort: „Wir können nicht riskieren, dass er uns verfolgt. Er könnte uns gefährlich werden. Vor allem wenn er dem anderen helfen will, dem neuen König. Und weil dieser Aden Tyson in sich trägt …“
„Ich weiß.“ Jennifer klang hörbar ängstlich.
Riley nahm sich vor, Aden davon zu erzählen. Vielleicht würde der Name bei einer der Seelen eine Erinnerung wachrufen. Vor der Eingangstür des heruntergekommenen Wohnhauses blieb Aden stehen. Die Hexen befanden sich im Haus, ihre Auren sickerten regelrecht durch die Steinwände. Am liebsten wäre Riley ins Haus gestürmt und hätte sie mit seinen Zähnen zerfetzt. Für jede Drohung gegen Mary Ann sollten sie bezahlen. Das mussten sie lernen. Aber er trug keine Schutzzeichen, auf seiner Wolfshaut hielten sie nicht. Die Hexen hätten ihn mit tausend verschiedenen Flüchen belegen können, mit Tod, Verletzungen, Schmerzen, und er hätte nichts dagegen tun können.
Deshalb griffen Wölfe niemals Hexen an, wenn kein Vampir sie begleitete.
Er knurrte leise. Er ging Kämpfen nicht gern aus dem Weg, aber dieses Mal tat er es. Zurück in den Schatten vor dem Haus, entdeckte er das Motel auf der gegenüberliegenden Straßenseite – und die vier Auren darin. Unter ihr Glitzern mischte sich ein Wirbel bunter Farben.
Elfen.
Sie waren also auch hier. Er bekam ein ungutes Gefühl. Mit zuckenden Ohren konzentrierte er sich auf ihr Gespräch und lauschte.
„… sie vor den Hexen erwischen“, sagte gerade jemand. Eine weibliche Elfe. Wahrscheinlich Brendal, die versucht hatte, Aden mit ihrer Stimme zu kontrollieren. Sie war eine Prinzessin und die Schwester von Thomas, der auf der Ranch spukte. „Sie gehört mir.“
Allerdings, das war Brendal.
Riley rannte los. Als er das Charleston Motel erreichte, wurde Mary Anns Geruch deutlicher. Der ganze Laden machte einen schäbigen und nicht gerade sicheren Eindruck.
Konnte es sein, dass Mary Ann in einem solchen Schuppen abgestiegen war? Sie passte nicht hierher, wo sie doch gern alles ordentlich und sauber hatte. Andererseits hätte sie versuchen können, so ihre Verfolger abzuschütteln.
Die Hexen und Elfen hatten Mary Ann gesehen, so viel war klar. Warum sollten sie sonst hier sein und über sie reden?
Seine Vorfreude, aber auch seine Sorge kehrte noch stärker zurück, und er lief über die Straße. Das Licht der Scheinwerfer traf ihn, ein Auto hupte, Reifen quietschten. Ich hätte wohl doch in beide Richtungen sehen sollen, dachte er, als er mit einem großen Sprung auswich. Die Motelzimmer waren über eigene Außentüren zu betreten. So mochte er es am liebsten. Er roch an den Türen, bis er Mary Anns Witterung aufnahm.
Ihm wurde ganz warm und heimelig zumute, obwohl so was doch nur Mädchen passieren sollte. Sie war hier.
Er nahm menschliche Gestalt an. Nackt und plötzlich frierend knackte er das Türschloss, verwandelte sich wieder in einen Wolf, packte den Türgriff mit den Zähnen und drehte. Zumindest versuchte er es, denn der Griff rührte sich nicht. Also hatte Mary Ann nicht nur abgeschlossen. Gut. Auch wenn Hexen, Elfen oder ihn nichts aufhalten würde.
Er wollte das Hindernis nicht in menschlicher Gestalt beseitigen, sonst wäre Mary Ann vielleicht aufgewacht und weggelaufen. Oder sie hätte diesen „Jungen“ gerufen, den die Hexen erwähnt hatten. Also warf sich Riley als Wolf mit seinem vollen Gewicht gegen die Tür. Sie wurde aus den Angeln gerissen, Holzsplitter flogen durch die Luft.
Er blieb im Eingang stehen und sah sich um. Als Erstes bemerkte er, dass jemand auf dem Boden hockte und ihn finster anstarrte. Tucker Harbor. Dann sah er, wer erschrocken auf dem Bett saß: Mary Ann. Sah ihr langes dunkles Haar, die dunkelrote Aura der Angst, die bläuliche der Hoffnung.
Er begriff sofort. Tucker war „der Junge“. Der mächtige Junge, der angeblich nichts getan hatte.
Schlagartig veränderte sich das Bild. Jetzt saß niemand mehr auf dem Boden, und vom Bett aus sah ihn niemand mit einer Mischung aus Angst und Hoffnung an.
Jetzt lagen auf dem Bett zwei Menschen – und sie schliefen miteinander.
Wieder knurrte Riley, wild und tödlich wie ein Dolchstoß. Er hatte schon beschlossen, Tucker zu töten, aber jetzt würde er es langsam und schmerzhaft tun.
Riley verwandelte sich, ohne darauf zu achten, dass er nackt war, und schloss die Tür, so gut er konnte. Wegen der kaputten Angeln konnte er das Sperrholz nur gegen die Türöffnung lehnen. Dann wandte er sich um und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Ich weiß, was du machst, du Arsch, du kannst ruhig damit aufhören.“ Illusionen. Was er sah, war nur eine Illusion, das war ihm klar. Bei solcher Leidenschaft verströmte niemand eine solche Aura.
„Riley“, sagte Mary Ann mit heiserer Stimme.
Seinen Namen aus ihrem Mund zu hören rührte etwas in ihm an.
Ihm wurde noch heißer, und diesmal nicht vor Wut.
„Tucker.“ Jetzt klang sie nicht mehr erfreut, sondern verärgert. „Hör auf damit, sonst ersteche ich dich.“
Eine amüsante Drohung, wenn sie von ihr kam, aber trotzdem wirksam. Tucker wischte die Illusion fort, und Riley sah wieder Tucker auf dem Boden und Mary Ann auf dem Bett sitzen.
Sie warf Riley ein Laken zu und wandte den Blick ab, während sie tief errötete. „Scheiße, Riley, bedeck dich. Tucker ist hier.“
Hatte sie gerade „Scheiße“ gesagt? Und wenn er nicht gehorchte? Er hätte zu gern gefragt. Stattdessen fing er das Laken auf, wickelte es sich um die Hüften und stopfte den Saum unter den Rand, damit es nicht herunterrutschte. Dann stellte er sich wieder mit verschränkten Armen vor sie. „Tucker hat sich doch sicher längst damit abgefunden, dass alle anderen besser gebaut sind als er, also wird er sich jetzt wohl nicht plötzlich aus lauter Verzweiflung umbringen. Also raus mit der Sprache.“ Bevor ich ihn zerfetze. „Was ist hier los?“
„Merkst du das nicht?“, fragte Tucker so selbstgefällig, dass Riley seine guten Vorsätze beinahe vergaß. „Wir sind wieder zusammen, sie ziert sich nur ein wenig.“
Riley fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. „Von dir will ich nichts mehr hören, Dämon. Mary Ann?“ Sie hatte mit ihm Schluss gemacht, um mit ihrem untreuen, bösartigen Ex durchzubrennen! Riley war fassungslos – und unglaublich sauer. „Auf der anderen Straßenseite sind Hexen, hier im Motel Elfen, und alle wollen dich töten. Du kannst mir jetzt sagen, was los ist, oder nachdem ich Tucker umgebracht habe.“
Sie schluckte schwer. „Dann jetzt.“
„Gute Entscheidung.“ Sie war so schön. Nicht nur hübsch, sondern umwerfend schön. Vielleicht sah er sie jetzt anders, weil er sie so vermisst hatte, aber in diesem Moment war sie perfekt. Abgesehen von ihrem Ex. Tucker war ein Accessoire, das ihr ganz und gar nicht stand.
Tucker stand auf. Er trug ein T-Shirt und Boxershorts. Zerfetzt würden die Sachen bestimmt viel besser aussehen. Genau wie seine Haut. „Willst du was von mir, Wolf? Dann komm und hol es dir. Hat deine Freundin auch gerade gemacht.“
Mary Ann schnappte hörbar nach Luft. „Du bist so ein Lügner! Ich habe meine Meinung geändert, Riley. Wir können reden, nachdem du ihn umgebracht hast.“
Riley grinste breit. Bis er hörte: „… Wolf ist wieder da! Was sollen wir machen?“ Die Frage stammte von Jennifer. Mithilfe von Magie konnten Hexen jeden jederzeit beobachten. Warum zum Teufel hatte er daran nicht gedacht?
„Die kleine Metzelei muss warten“, sagte er. „Packt eure Sachen, wir müssen hier weg. Die Hexen beobachten dich.“ Und er musste sie irgendwie aufhalten.
„Ja, gut.“ Blass und zittrig stand Mary Ann auf. Ihr Rucksack, den sie von zu Hause mitgenommen hatte, war schon gepackt, also musste sie nur noch in ihre Turnschuhe schlüpfen.
Im nächsten Moment liefen sie zur Tür.
Der Mistkerl Tucker folgte ihnen. „Ihr braucht mich“, sagte er, schon wieder selbstgefällig. „Falls ihr es schaffen wollt.“
„Bis jetzt hast du nicht gerade viel geleistet“, fuhr Riley ihn an. „Sie lebt noch, oder?“
Dem konnte Riley nicht widersprechen.
„Haltet die Klappe“, unterbrach Mary Ann genervt. „Ihr könnt euch anschreien und einander drohen, wenn wir in Sicherheit sind.“
Er hörte ihre unausgesprochene Frage: Sind wir das je? Sind wir irgendwann wirklich in Sicherheit? Er hätte ihr gern geantwortet, aber er sagte nichts – wie sie verlangt hatte – und nahm wieder seine Wolfsgestalt an. Das Laken fiel zu Boden.
Er würde dafür sorgen, dass ihr nichts geschah. Egal, was er dafür tun musste.