3. KAPITEL
Drei Tage später
Die Zimmertür knallte gegen die Wand, und eine raue Männerstimme knurrte: „Ich habe gehört, du willst jedem den Bauch aufschlitzen, der in dein Zimmer kommt. Also, hier bin ich. Aber sag mir vorher mal lieber, was zum Teufel hier los ist.“
Victoria, die im Zimmer auf und ab gelaufen war, blieb stehen und wandte sich zu dem Eindringling um. Es war Riley, ihr Leibwächter. Ihr bester Freund. Groß, ebenso muskulös, wie es Aden mittlerweile war, und mit einem Gesicht, dem man ein hartes Leben und die vielen Faustkämpfe ansehen konnte.
Ihr wurde die Brust eng. Er war kein hübscher Traumprinz wie Aden, aber er war sexy – ein Kämpfer, der seine Gegner fertigmachte, was es auch kostete, und das mit einem Grinsen auf dem Gesicht. Und genau so jemanden brauchte Victoria jetzt. Jemanden, der tun würde, was nötig war.
Er war vielleicht der Einzige, der ihr helfen konnte.
Und obwohl er sichtlich stinksauer war und seine Augen vor Wut blitzten, war er für sie doch der schönste Anblick seit Tagen. Er hatte dunkles, zerzaustes Haar, strahlend grüne Augen unter tiefschwarzen langen Wimpern und eine unzählige Male gebrochene Nase mit einem leichten Höcker in der Mitte. Manche Verletzungen heilten einfach nicht richtig, wenn sie sich ständig wiederholten.
Er trug ein grünes Lucky-Charms-T-Shirt und eine Hose, die aussah wie eine Jeans, auch wenn sie keine war. In Victorias wolkenweißem Zimmer war er der einzige Farbfleck.
„Nettes T-Shirt“, sagte sie. Zum einen, um ihn von seiner Wut abzulenken, bevor sie womöglich noch ihre Geheimnisse ausplauderte, zum anderen, um einen Sinn für Humor zu beweisen, den sie sich unbedingt zulegen wollte. Mary Ann Gray, Rileys menschliche Freundin, hatte ihr einmal vorgeworfen, sie sei zu ernst.
„Etwas anderes habe ich nicht gefunden. Victoria, rede. Jetzt! Bevor ich vom Schlimmsten ausgehe und einfach jeden im Haus kaltmache.“
Die vorgespielte Heiterkeit fiel von ihr ab, und Tränen traten ihr in die Augen, diese dummen, menschlichen Tränen, die sie vor ihrer Zeit in Amerika nie belästigt hatten. Sie lief zu Riley und warf sich in seine starken, schützenden Arme.
„Ich bin so froh, dich zu sehen.“
„Das wird sich ändern, wenn ich dich zum Reden zwingen muss.“
Trotz der Drohung drückte er sie fest an sich, genau wie früher, als sie noch klein waren und die anderen Vampire nicht mit ihr spielen wollten.
Weil sie die Tochter von Vlad dem Pfähler war, hatten alle Angst, bestraft zu werden, falls Victoria etwas passierte. Nur Riley nicht, er nie. Er war wie der Bruder, den sie sich immer gewünscht hatte, er tröstete und beschützte sie.
Sie hatte zwar einen echten Bruder gehabt, Sorin. Aber Vlad hatte ihr verboten, Sorin anzusehen, mit ihm zu sprechen oder seine Existenz auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Ihr werter Herr Vater wollte nicht, dass sein einziger Sohn von seinen „verweichlichten“ Töchtern verdorben wurde. Als sie und Aden sich kennenlernten und er nach ihren Geschwistern fragte, hatte sie ihm überhaupt nur von ihren Schwestern erzählt. Den letzten Neuigkeiten zufolge, die ihr zu Ohren gekommen waren, führte Sorin zurzeit eine halbe Armee von Vampiren durch Europa, um Bloody Mary in Schach zu halten, die Anführerin der schottischen Vampirsippe. Unterm Strich zählte ihr Bruder also nicht.
Außerdem hatte Vlad schon vor langer Zeit Riley mit Victorias Schutz beauftragt, und der Gestaltwandler nahm seine Aufgabe sehr ernst. Nicht nur aus Pflichtgefühl oder aus Angst vor Folter und Tod, falls er versagte, sondern weil er sie mochte. Zuallererst waren sie Freunde, alles andere war zweitrangig.
„Warum bist du überhaupt hier?“, fragte sie, ohne auf seine Aufforderung einzugehen. Wieder mal.
„Meine Brüder haben mich aufgespürt und mir erzählt, du seist völlig abgedreht. Der Schreck hat mich bestimmt zweihundert Jahre meines Lebens gekostet. Aber genug von mir.“ Riley wich zurück und nahm ihr Gesicht zwischen die Hände, sodass sie ihn ansehen musste. „Hast du anständig getrunken? Du siehst beschissen aus.“
Seine Sorge – sogar seine Beleidigung – taten ihr unglaublich gut und waren so herrlich typisch für ihn, dass sie sagte, was er hören wollte: „Ja, Papa, ich habe getrunken.“ Was auch stimmte. Fünf Minuten, nachdem sie zu Hause angekommen waren und Aden sie in ihr Bett verfrachtet hatte, hatte sie schon die Fangzähne in einen der Blutsklaven geschlagen, die in der Villa wohnten.
Sie war so durstig gewesen, dass sie dem Menschen fast das ganze Blut ausgesaugt hätte. Ihre Schwester Lauren hatte sie gerade noch rechtzeitig zurückreißen können. Stephanie, ihre andere Schwester, hatte ihr einen zweiten Menschen besorgt und dann einen dritten und vierten, und Victoria hatte getrunken, bis ihr Magen nicht mehr fassen konnte.
„So kommst du mir also.“ Rileys Mundwinkel zuckten. „Wann hast du denn Sarkasmus gelernt?“
„Weiß ich nicht mehr.“ Sie wusste nur, dass sie die Wahl hatte. Entweder ihre Situation mit Humor angehen oder in ihrem Elend ertrinken. „Vielleicht vor zwei Wochen.“
Als sie über die Zeit sprach, wurde Rileys amüsierte Miene von einem finsteren Stirnrunzeln vertrieben.
Diese Wirkung hatte bei ihm nur ein Thema. Mary Ann Gray. In der Nacht, in der Aden mit dem Messer angegriffen wurde, war sie allein von zu Hause weggegangen. Der verliebte Werwolf Riley war ihr gefolgt, um sie zu beschützen – ohne auf die Gefahr für sich selbst zu achten.
„Wo ist dein Mensch?“ Moment, Mary Ann war ja gar nicht mehr ganz menschlich. Sie hatte sich zur Kraftdiebin entwickelt – was Victoria nicht hatte kommen sehen. Mary Ann konnte nicht nur Hexen ihre Magie stehlen, sondern auch Vampiren ihre Monster, den Elfen ihre Macht und Wölfen die Fähigkeit, sich zu verwandeln.
Victoria fragte sich, ob Mary Ann überhaupt je ganz menschlich gewesen war. Elfen waren schließlich auch Kraftdiebe. Der Unterschied war nur, dass diese ihren Hunger kontrollieren konnten. Mary Ann konnte das nicht. Trotzdem warf das eine erschreckende Frage auf: War Mary Ann vielleicht ein Mischwesen aus Mensch und Elfe?
Von einer solchen Mischung hatte Victoria zwar noch nie gehört, doch in der letzten Zeit war ihr klar geworden, dass nichts unmöglich war. Falls Mary Ann tatsächlich eine Art Schimäre war, würde jeder Vampir und Gestaltwandler im Haus – natürlich abgesehen von Riley – ihren Tod wollen. Elfen waren die größten Feinde, eine enorme Gefahr. Sie bedrohten die gesamte Anderwelt.
„Und?“, hakte Victoria nach, als Riley nicht reagierte.
„Ich habe sie aus den Augen verloren.“ Der zuckende Muskel unter seinem Auge verriet, wie aufgewühlt er war.
„Moment mal. Du als erfahrener Fährtenleser hast dich von einer Teenagerin abhängen lassen, die sich nicht mal verstecken könnte, wenn sie unsichtbar wäre?“ Scheinbar steckte in Mary Ann doch mehr, als man ihr ansah.
Das Zucken wanderte zu Rileys Kiefermuskel. „Ja.“
„Du solltest dich schämen.“
„Ich will nicht darüber reden“, sagte er. „Sondern über dich. Wie geht es dir? Und zwar ganz im Ernst.“
„Es geht mir gut.“
„Na schön. Ich tue mal so, als würde ich das glauben. Hast du etwas von deinem Vater gehört?“
„Nein.“ Vlad hatte befohlen, Aden zu töten, hielt sich aber bislang verborgen.
Noch nie war Victoria so froh über die Eitelkeit ihres Vaters gewesen. Er wollte unbesiegbar erscheinen, immer. Deshalb wusste niemand hier, dass Vlad noch lebte. Und wenn es nach ihr ging, würde es dabei bleiben. Sollten sie davon erfahren, würden die Vampire vielleicht einen Aufstand gegen Aden anzetteln, bevor er offiziell zu ihrem König gekrönt wurde. Und wenn er sich dann noch immer in diesem Zustand befand, würde er verlieren. Die ganzen Qualen, die er bis jetzt durchlitten hatte, wären umsonst gewesen.
Selbst gesund und kräftig würde er jeden Vorteil nutzen müssen, der sich ihm bot. Nicht nur, um an der Macht zu bleiben, sondern einfach, um zu überleben.
Noch hatte er Zeit. Victoria kannte ihren Vater. Sie wusste, dass Vlad erst zurückkehren würde, wenn er seine volle Kraft zurückerlangt hatte. Dann … dann allerdings würde es Krieg geben. Vlad würde jeden bestrafen, der Aden folgte. Auch sie und Riley. Und an Aden würde er ein Exempel statuieren. Das tat er gern, indem er vor der Eingangstür einen abgeschlagenen Kopf auf einem Spieß präsentierte.
Würde Aden gegen ihn kämpfen? Und wenn ja, konnte Aden gewinnen?
„Wie geht es Aden?“, fragte Riley. Der Wolf konnte Auren deuten und hatte wahrscheinlich erkannt, in welche Richtung ihre Gedanken abschweiften. „Hat er … überlebt?“
Ja und nein. Ihr Magen verkrampfte sich. Sie löste sich von Riley und deutete mit einer Hand aufs Bett. „Da ist unser König.“
Riley kniff die grünen Augen zusammen, als er die Gestalt auf dem Bett entdeckte. Mit fünf raschen Schritten trat er näher heran und musterte sie. Victoria stellte sich neben ihn und versuchte, Aden mit Rileys Augen zu sehen.
Er lag auf dem Rücken, reglos wie eine Leiche. Seine normalerweise gebräunte Haut war blass, die blauen Adern hoben sich deutlich ab. Seine Wangen waren eingefallen, die Lippen spröde und rissig. Das Haar klebte ihm schweißnass am Kopf.
„Was ist mit ihm?“, fragte Riley leise, aber in schroffem Ton.
„Ich weiß es nicht.“
„Du weißt wohl etwas.“
Sie schluckte schwer. „Na ja, ich habe dir doch erzählt, dass Tucker ihn mit einem Messer verletzt hat.“
„Ja, und dafür wird Tucker sterben.“ Das war eine Feststellung, mehr nicht. „Bald.“
Der angekündigte Mord überraschte Victoria nicht. Rache passte zu Riley. Auge um Auge, etwas anderes gab es nicht. Auf diese Art konnte einem ein Feind kein zweites Mal schaden. „Ich wollte ihn retten – Aden, meine ich. Deshalb habe ich … Ich wollte …“ Sag es einfach. „Ich wollte ihn verwandeln. Das habe ich dir doch schon gesagt.“
„Und ich dachte, du seist vernünftig geworden und hättest es dir anders überlegt.“
„Na ja, nein. Ich hätte es nicht tun sollen, ich weiß, aber ich konnte nicht … Ich wollte nicht … Ich habe getan, was nötig war, damit er überlebt!“
„Aden hat dir gesagt, welche Konsequenzen es hat, wenn man etwas gegen Elijahs Vorhersagen unternimmt, Vic. Bei den wenigen Malen, als er es versucht hat, haben die Leute noch mehr gelitten, als wenn er nichts unternommen hätte.“
Sie richtete sich kerzengerade auf und reckte das Kinn. „Ja, das hat er mir erzählt, und nein, das hat mich nicht davon abgehalten. Ich habe ihm mein Blut gegeben, jeden Tropfen, den ich entbehren konnte. Ich habe von ihm getrunken, und er von mir. Immer wieder.“
„Und?“
Ihm war natürlich klar, dass mehr dahintersteckte. Sie ließ die Schultern sacken. „Und … irgendwie habe ich seine Seelen übernommen, und er mein Monster.“
Riley fiel die Kinnlade hinunter. „Du hast die Seelen?“
„Jetzt nicht mehr. Wir haben immer wieder getauscht, und wir haben weiter voneinander getrunken, obwohl wir kaum noch Blut übrig hatten. Ich dachte, wir bringen einander um. Beinahe hätten wir das auch.“ Ihr Kinn zitterte, und sie konnte kaum sprechen.
„Das ist doch noch nicht alles. Erzähl weiter.“ Riley war unnachgiebig, wenn er etwas wollte, und im Moment wollte er, dass sie ihm die Wahrheit sagte. Er hatte sie gewarnt, dass es unangenehm werden würde, wenn er sie zum Reden zwingen müsste, und sie nahm die Drohung sehr ernst.
„Wir waren in dieser Höhle, und am letzten Tag habe ich irgendwas mit ihm gemacht. Ich weiß nicht, was, und das bringt mich beinahe um! Ich war wie weggetreten, und als ich wieder zu mir kam, war er in diesem Zustand.“
„Du warst ohnmächtig? Wie lange?“
„Keine Ahnung.“
„Hat er geblutet?“
„Nein.“ Das stimmte. Aber das hieß nicht, dass er keine inneren Verletzungen hatte.
Warum konnte sie sich nicht daran erinnern, was passiert war?
„Warum hast du ihn hierhergebracht? In diesem Zustand ist er schwach und angreifbar. Der beste Moment für eine Revolte. Dein Volk könnte sich erheben und sich den menschlichen König vom Hals schaffen, den es nie wollte.“
Wieder reckte sie das Kinn. „Ich habe ihn bewacht, und bisher hat kein Vampir gewagt, mein Zimmer zu betreten. Wahrscheinlich wissen sie noch, wie sehr ihre Monster ihn lieben.“ Jeder Vampir trug eines in sich, und ohne die Schutzzauber auf ihrer Haut konnten die Monster aus ihren Körpern treten, feste Formen annehmen und sie angreifen. Und dann war niemand mehr sicher, schon gar nicht ihre „Herren“, die Vampire. Doch sobald Aden in der Nähe war, benahmen sich diese Monster wie wohlerzogene Schoßhündchen – sie taten, was er wollte, und schützten ihn vor allen Gefahren.
„Oder sie haben noch nicht mitbekommen, dass Aden hier ist“, fuhr sie fort.
„Oh doch, das haben sie. Alle sind total nervös. Ihre Monster wollen raus und zu Aden.“
Das glaubte sie sofort. Mit der wunderbaren Stille, die sie in den letzten Minuten in der Höhle genossen hatte, war es sofort vorbei gewesen, als sie zu Hause ankamen. Scharfzahn hatte für immer bei Aden bleiben wollen und hatte gebrüllt vor Enttäuschung darüber, dass er in Victoria festsaß.
Nach ihrem Trinkgelage hatte sie gleich ihre Schutzzauber aufgestockt, um ihn im Zaum zu halten.
„Ist Aden jetzt ein Vampir?“, fragte Riley.
„Nein. Ja. Keine Ahnung. Als er noch bei Bewusstsein war, wollte er Blut. Mein Blut.“ Und zwar bis zum letzten Tropfen. Aber das behielt sie für sich. Nicht abzusehen, wie Riley darauf reagiert hätte.
Riley schob Adens Lippen zurück. „Keine Fangzähne.“
„Ist wie deine?“ Stirnrunzelnd ließ Riley seine langen scharfen Krallen wachsen. Bevor Victoria ihn zurückhalten konnte, fuhr er mit seinen Klauen über Adens Wange.
„Nicht …!“
Kein Kratzer.
„Interessant.“ Eine durchscheinende Flüssigkeit – je la nune – trat an den Krallenspitzen aus, und Riley fuhr noch einmal über Adens Wange. Dieses Mal riss die Haut mit einem Zischen.
„Lass das!“ Victoria warf sich auf Aden, damit Riley ihn nicht noch weiter verletzte. Der allerdings versuchte das gar nicht.
„Du hast recht. Er hat wirklich Vampirhaut“, meinte Riley.
„Das habe ich dir doch gesagt!“ Allerdings wollte sie sich noch nicht eingestehen, dass sie jetzt Haut wie ein Mensch hatte. Sie konnte es selbst kaum glauben. Damit war sie unglaublich verletzlich. Auch das frische Blut hatte den Schaden nicht behoben. Sie zweifelte, ob das überhaupt je möglich war. „Du hättest ihm nicht wehtun müssen. Das je la nune hätte einen Menschen genauso verbrannt.“
Darauf ging Riley nicht ein. „Wie lange ist er schon in diesem Zustand?“
„Seit drei Tagen.“ Sie setzte sich neben Aden und funkelte ihren Leibwächter herausfordernd an, falls er ihr die Schuld dafür geben wollte.
„Das muss ich erst mal überschlagen.“ Er zögerte einen winzigen Moment, dann sprach er weiter: „Ja, das sind drei Tage zu lang. Hat er in letzter Zeit getrunken?“
„Ja.“ Sie hatte ihm von mehreren Blutsklaven zu trinken gegeben, nachdem sie sich mit einer Kostprobe versichert hatte, dass von ihnen keine Gefahr drohte. Als er keine Reaktion zeigte, hatte sie ihm immer mehr gegeben, bis ihm das Blut beinahe aus den Poren lief. Trotzdem hatte sich nichts geändert.
Stundenlang hatte sie überlegt, ob sie ihm noch mehr von ihrem eigenen Blut geben sollte. Was, wenn er wieder abhängig wurde? Andererseits war er vielleicht noch abhängig und nur ihr Blut konnte ihm helfen.
Also hatte sie es versucht. Sie hatte sich das Handgelenk aufgeschlitzt – was extrem geschmerzt hatte – und ihr Blut in seine Kehle laufen lassen. Die Wunde war für ihre Verhältnisse langsam geheilt, wenn auch äußerst schnell für einen Menschen. Bis dahin hatte Aden mehrere Schlucke Blut abbekommen. Sofort war Farbe in seine Wangen gestiegen, und sie hatte Hoffnung geschöpft – für sie beide. Aber wenig später war er wieder blass und unruhig geworden. Viel zu unruhig. Er hatte vor Schmerzen gestöhnt, sich im Bett gewunden und sich schließlich übergeben.
Das alles erzählte sie Riley.
„Vielleicht liegt es daran“, überlegte er. „Vielleicht braucht er kein Blut.“
„Als ich ihm vierundzwanzig Stunden kein Blut gegeben habe, wurde es noch schlimmer. Er wurde erst ruhig, als er wieder getrunken hat.“
Riley seufzte schwer. „Also gut, wir machen Folgendes.“ Wie immer übernahm er das Kommando. „Ich postiere Wachen vor deiner Tür. Außer dir und mir darf niemand dieses Zimmer betreten. Verstanden?“
„Nein. Dazu bin ich zu dumm. Kleiner Tipp, Riley: Deshalb habe ich gedroht, jeden aufzuschlitzen, der reinkommt.“ Oha. Stress und Schlafmangel machten sie offenbar zickig.
Er fuhr ungerührt fort: „Gib ihm weiter dein Blut zu trinken, wie bisher, und sag mir Bescheid, wenn sich etwas ändert. Egal, was. Ich gehe zur D&M-Ranch und hole seine Tabletten.“
Die D&M-Ranch. Adens Zuhause. Na ja, wohl eher sein früheres Zuhause. Dort wohnten Teenager, die sich in Schwierigkeiten gebracht hatten. Die Ranch war eine letzte Station auf dem Weg zur Besserung – oder zur Verdammnis. Wer eine der Regeln brach, flog raus. Zu verschwinden, ohne es mit Dan, dem Besitzer der Ranch, abzuklären, dürfte der denkbar böseste Verstoß gewesen sein.
„Victoria, hörst du mir zu?“
„Was? Ja, sicher. Tut mir leid.“ Sie ließ sich so schnell ablenken. „Aber Aden kann die Tabletten nicht ausstehen.“ Und wenn er auf die Ranch zurückkehren wollte, würde Victoria dafür sorgen. Nach ein paar Befehlen würden die Menschen tun und glauben, was Victoria wollte.
Falls meine Stimme noch wirkt, dachte sie benommen. Ihre extrem widerstandsfähige Haut hatte sie verloren, also vielleicht auch ihre machtvolle Stimme. Seit ihrer Rückkehr hatte sie ein paarmal versucht, menschliche Sklaven mit ihrer Stimme zu lenken. Sie hatten Victoria nur angelächelt und mit dem weitergemacht, was sie gerade taten, ohne auf sie zu hören.
Du bist außer Übung, das ist alles, du bist noch nicht wieder ganz bei Kräften.
Aber die aufmunternden Gedanken konnten sie nicht trösten.
„Du bist ja schlimmer als Aden“, grummelte Riley. „Und mir ist egal, ob er seine Tabletten mag. Abgesehen von diesem Blutdurst ging es ihm schon mal so, und da haben nur die Tabletten geholfen. Falls die Seelen wie beim letzten Mal dafür verantwortlich sind, müssen wir sie eine Weile lang ruhigstellen.“
„Aber jetzt trinkt er Blut; was ist, wenn die Medikamente ihm schaden?“
„Davon gehe ich nicht aus. Dir schaden menschliche Medikamente ja auch nicht. Aber es gibt nur eine Möglichkeit, es herauszufinden.“
Das stimmte. Allerdings gefiel ihr diese Möglichkeit nicht. Die meisten Menschen, die Aden kannten, hielten ihn für schizophren. Seine Eltern hatten ihn nicht nur abgegeben, als er klein war, man hatte ihn auch von einer psychiatrischen Klinik in die nächste geschickt. Im Laufe der Jahre hatte man ihn mit diversen „Heilmitteln“ vollgestopft, und er hatte sie alle schrecklich gefunden.
Außerdem mochte er seine Seelen, auch wenn sie laut und nervtötend waren, und die neuesten Medikamente setzten sie völlig außer Gefecht. Aber Riley hatte recht. Diesen Zustand konnte Aden nicht mehr lange ertragen. Irgendetwas mussten sie versuchen.
„Na gut.“ Warum hatte sie nicht selbst daran gedacht? Wenn es funktionierte, hätte sie Aden Tage voller Qualen und Schmerzen ersparen können. „Wir versuchen es.“
„Ist gut. Ich bin bald wieder hier.“ Riley machte auf dem Absatz kehrt und wollte gehen.
„Riley.“
Er blieb stehen, ohne sich umzudrehen.
„Pass auf dich auf. Thomas’ Geist ist immer noch dort.“ Thomas war der Elfenprinz, den Riley und Aden getötet hatten, um Victoria zu retten. Jetzt spukte sein gehässiger Geist auf der Ranch herum und dürstete nach Rache.
„Mach ich.“
„Und danke.“ Es fiel ihm wahrscheinlich schwer, hier zu sein. Mary Ann war seine große Liebe, und wie Victoria ihn kannte, machte er sich riesige Sorgen, weil sie verschwunden war. Sicher hätte er nichts lieber getan, als nach ihr zu suchen. Trotzdem blieb er, weil Victoria ihn brauchte.
Wenn es Aden besser geht, helfe ich Riley, sie zu finden, beschloss sie. Auch wenn Mary Ann für ihr ganzes Umfeld Gefahr bedeutete.
Mit einem knappen Nicken ging Riley und schloss die Tür hinter sich. Victoria wandte sich seufzend Aden zu. Ihrem umwerfenden Aden. Was ging in seinem Kopf wohl vor? Bekam er etwas von seiner Umgebung mit? Hatte er Schmerzen, wie sie befürchtete?
Wusste er, was sie ihm in den letzten Momenten in der Höhle angetan hatte?
Sie strich sein Haar nach hinten, sodass die blonden Ansätze zu sehen waren. Die leicht gewellten Enden umspielten ihre Finger. Dass er sich nicht, wie sonst, ihrer Berührung entgegenstreckte, machte sie traurig.
Wie viel konnte ein Junge ertragen, bevor er zusammenbrach? Seit sie in sein Leben getreten war, kannte er nur noch Kampf und Schmerz. Ihretwegen hatte Koboldgift seinem Körper zugesetzt. Ihretwegen hatten Hexen seine Freunde mit einem Todesfluch belegt. Und ihretwegen hatten Elfen versucht, die D&M-Ranch zu übernehmen.
Gut, vielleicht war das alles nicht nur ihretwegen geschehen, trotzdem fühlte sie sich verantwortlich. Sie lachte bitter. Wie menschlich, sich dennoch an allem die Schuld zu geben. Aden wäre stolz auf sie gewesen.
„Du bist früher schon nach so etwas aufgewacht“, flüsterte sie. „Dieses Mal wachst du auch auf.“ Bitte.
Sie konnte es nicht ertragen, ihn allein zu lassen, und so blieb sie bei ihm, bis Riley eine halbe Stunde später zurückkehrte. Er kam mit nacktem Oberkörper herein, seine Hose hatte er noch nicht zugemacht. Sicher hatte er sich schnell etwas überziehen müssen, weil seine anderen Sachen zerfetzt waren, als er sich in einen Wolf verwandelt hatte.
Wölfe trugen in der Regel Kleidung, die leicht riss. Alles, was nicht von ihnen abfiel, trugen sie nach der Verwandlung nämlich immer noch. Daher vermieden sie es nach Möglichkeit, Menschenunterwäsche zu tragen.
In der Hand trug Riley einen kleinen Weidenkorb, in dem Tablettenfläschchen klirrten. Victoria sprang auf, und er stellte das Körbchen auf das Bett, wo sie gerade gesessen hatte.
„Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat.“
„Hat Thomas dir Probleme gemacht?“
„Nein, ich habe ihn gar nicht gesehen. Aber im Gegensatz zu Aden konnte ich die Toten ja noch nie hören oder sehen. Die Tabletten haben mich aufgehalten. Ich wusste nicht, welche wir ihm geben sollen, und auf die falsche Kombination reagiert er vielleicht schlecht. Also habe ich alle Flaschen mitgenommen, auf denen sein Name stand, und habe in meinem Zimmer erst mal gegoogelt.“
Er verschwieg, dass eigentlich Mary Ann die Google-Queen war und ihm erst gezeigt hatte, wie man die Suchmaschine bediente. Den Namen „Suchmaschine“ fand Victoria ohnehin verwirrend. Aus was bestand dieses merkwürdige Gerät, dessen Mechanismus man nicht sehen konnte?
„Und was ist auf der Ranch passiert?“, fragte sie.
„Hier, sieh selbst.“ Er streckte die freie Hand aus, und sie verschränkten die Finger. Sie kannten sich schon so lange, dass sie eine starke geistige Verbindung entwickelt hatten und ihre Erfahrungen miteinander teilen konnten.
Wie auf einem Fernseher erschien vor ihrem inneren Auge, was Riley gesehen hatte. Dan, ein ehemaliger Footballspieler, groß, blond und kräftig, stand in der Küche der Ranch. Seine Frau, die zierliche hübsche Meg, warf geschäftig Kochzutaten in einen Topf.
„… mache mir wirklich Sorgen“, sagte Meg gerade.
„Ich mir auch. Aber Aden ist nicht der erste Ausreißer. Und er wird auch nicht der letzte sein.“ Was er sagte, klang verständnisvoll, aber nicht, wie er es sagte.
„Aber er ist der erste, bei dem es dich überrascht.“
„Stimmt. Ein toller Junge. So lieb.“
Meg lächelte sanft. „Und es quält dich, dass du nicht weißt, warum er gegangen ist. Das verstehe ich, Schatz.“
„Ich hoffe nur, dass es ihm gut geht. Wenn ich mich mehr um ihn gekümmert hätte, wäre er vielleicht nicht …“
„Zieh dir den Schuh ja nicht an. Wir haben keine Gewalt über das, was andere machen. Wir können sie nur unterstützen und beten, dass es etwas nutzt.“
Ihre Stimmen verklangen, als Riley vom Haupthaus zum Schlafhaus schlich. Dort saßen Adens Freunde. Seth, Ryder und Shannon lümmelten auf dem Sofa herum und sahen fern. Terry, RJ und Brian spielten am Computer. Trotzdem wirkten die Jungs eindeutig angespannt.
Auch ihnen schien Aden zu fehlen.
Ich muss das in Ordnung bringen, dachte Victoria.
Shannon, dem es sichtlich nicht gut ging, stand auf, sah sich um – und entdeckte Riley.
In diesem Moment ließ Riley Victorias Hand los, und die Bilder verschwanden flackernd. Sie stand wieder in ihrem Zimmer.
„Shannon hat dich gesehen“, sagte sie.
„Ja, aber er hat nichts gemacht, ich konnte die Sachen, die wir brauchen, ohne Probleme besorgen.“ Riley holte aus dem Körbchen, was er brauchte, und stellte den Rest beiseite. „Viele Informationen gab es dazu nicht, aber ich konnte herausfinden, dass er die Psychopharmaka braucht. Das hier, das … und das.“ Beim Reden drückte er ihr die Tabletten in die Hand.
Victoria betrachtete sie. Eine war gelb und rund, eine blau und länglich, die dritte weiß mit einer Kerbe in der Mitte. Diese winzigen Dinger sollten ihm helfen, obwohl sie es nicht konnte?
„Hol ein Glas Wasser aus dem Bad“, sagte sie.
Normalerweise reagierte Riley auf Befehle nicht, aber dieses Mal ging er, ohne zu zögern, und drückte ihr wenig später das gewünschte Glas in die Hand. Er war ebenso besorgt um Aden wie sie.
„Heb seinen Kopf an und lass ihn nach hinten kippen.“ Wieder gehorchte Riley sofort.
Victoria drückte Adens Mund auf und legte die Tabletten auf seine Zunge. Sie hielt ihm das Glas an den Mund und spülte nach. Nur ein wenig, aber genug. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, stellte sie das Glas auf ihren Nachttisch. Besser gesagt, sie versuchte es. Sie zielte nicht richtig, das Glas fiel zu Boden, und das Wasser lief aus. Sie kümmerte sich nicht darum. Mit einer Hand drückte sie Aden den Mund zu, mit der anderen strich sie über seinen Hals, bis er die Tabletten geschluckt hatte.
Als das geschafft war, stand sie auf und beobachtete ihren Patienten. „Und jetzt?“, flüsterte sie. Sie hoffte auf eine Reaktion, aber es veränderte sich nichts.
„Jetzt“, antwortete Riley grimmig, „jetzt warten wir.“