17. KAPITEL

Riley hatte schon oft Leute ausspioniert, aber noch nie hatte es ihm so viel Spaß gemacht wie jetzt. Dabei war alles überstürzt, sie hatten ihre Pläne in letzter Minute ändern müssen.

Vor ein paar Stunden hatten Mary Ann und er einen kurzen Blick auf Adens Eltern werfen können, als die gerade mit einem Lastwagen von zu Hause losgefahren waren. Zumindest hielten sie das Paar für Adens Eltern. Der Mann hatte am Steuer gesessen. Er war Anfang, Mitte vierzig und hatte braunes Haar und, soweit Riley das mit seinem scharfen Wolfsblick erkennen konnte, stahlblaue Augen.

Die Beifahrerin schätzte Riley auf Ende dreißig, ihr Haar war blond, ihre Augen braun. Beide waren von verwaschen grünen Auren umgeben. Vielleicht waren das Schuldgefühle. Oder Angst. Selbst mit seinem Wolfsblick war das bei so trüben Farben schwer zu erkennen.

Vielleicht hatten Joe und Paula Stone ihr Leben lang bereut, was sie ihrem Sohn angetan hatten. Oder sie machten sich Sorgen, weil sie ihre Stromrechnung nicht bezahlen konnten. Möglich war beides.

Riley und Mary Ann warteten in einem Haus gegenüber der kleinen, etwas heruntergekommenen Bleibe der Stones. Wenn das Paar zurückkehrte, wollten sie noch einen Blick auf die beiden werfen. Vielleicht könnten sie auch eine Unterhaltung belauschen.

In der Zwischenzeit hätte Riley gerne das Haus durchsucht, aber er hatte mehrere Kameras entdeckt. Teure Modelle mit Programmen zur Gesichtserkennung. Eigentlich zu teuer für ein so schlichtes Haus. Und wenn die beiden schon so viel Kohle für Kameras hingeblättert hatten, waren sicher alle Türen und Fenster mit Bewegungsmeldern ausgestattet. Ganz zu schweigen von speziellen Scharnieren und sogar stummem Alarm. Solange es nicht nötig war, würde Riley es sich sparen, dort drüben einzubrechen. Falls das Paar nicht zurückkam, konnte er das immer noch nachholen.

Zum Teil hoffte er, die Stones würden sich Zeit lassen. Im Moment hatte er Mary Ann ganz für sich allein, denn Tucker, dieses Arschgesicht, war vor dem Café verschwunden und nicht wieder aufgetaucht. Riley wusste nicht, wohin die Dämonenbrut verschwunden war, und es interessierte ihn auch nicht.

Jetzt saß er am Wohnzimmerfenster und spähte durch die knittrigen Vorhänge. In das Haus, in dem sie gerade saßen, war er tatsächlich eingebrochen. Die Schlösser waren ein Witz gewesen, genauso die Türen, an die sie genagelt gewesen waren. Riley hatte nur eine schon vorher gesprungene Glasscheibe eindrücken, hindurchgreifen und den Türknauf drehen müssen.

Lernten die Leute denn nie dazu? Glas an einer Tür glich einer Einladung an jeden Einbrecher der Gegend.

Mary Ann saß neben ihm. Sie berührten einander nicht. Noch nicht. Aber es würde nicht mehr lange dauern. Mit den Schutzzeichen, die er ihr im Motel gestochen hatte, war sie vor Hexen und Elfen geschützt. Beide Völker konnten Mary Ann nicht mehr mit ihrer Magie und ihren angeborenen Fähigkeiten beobachten, sie konnten nur noch die gleichen Mittel einsetzen wie Menschen. Und darin waren sie höchstwahrscheinlich nicht gut, weil es für sie noch nie einen Grund gegeben hatte, solche Methoden zu benutzen. Also drohte Mary Ann und Riley im Moment so gut wie keine Gefahr.

Und der Hammer dabei: Ihnen drohten auch keine Unterbrechungen.

Und der nächste Hammer: Riley hatte genug davon, den netten Wolf zu spielen. Er hatte Erfahrung. Er wusste, wie man Mädchen mit Charme um den kleinen Finger wickelte. Das hatte er schon geschafft. Oft sogar. Er wusste, wie man sie neckte und aufzog, um ihre Neugier und Aufmerksamkeit zu wecken. Und jetzt wollte er Mary Ann umgarnen.

Seit sie ihm beinahe Energie entzogen hätte, gab sie sich still und distanziert. Er musste sie irgendwie davon überzeugen, dass sie ihn nicht verletzen würde. Denn das würde sie nicht. Er würde es nicht zulassen.

Riley hatte eine so tiefe Verbindung zu Victoria, dass er weit mehr konnte als nur ihre Aura lesen. Bei seinem feinen Gespür für alles, was Mary Ann betraf, hatte er unabsichtlich Vics Gedanken aufgeschnappt, Mary Ann könne irgendwie mit den Elfen verwandt sein. Er musste gestehen, dass er selbst nicht darauf gekommen wäre. Denn Elfen nahmen anderen zwar auch die Energie, aber sie konnten es steuern. Aber es war eine gute Nachricht, denn falls Mary Ann tatsächlich eine Art Elfe war, gab es für sie noch Hoffnung.

Etwas, womit sie selbst sich nicht beschäftigte. Noch nicht. Sie dachte nur daran, wie sie Aden retten konnte. Riley wollte das auch, aber er würde Mary Anns Leben nicht einmal für seinen König wie eine Nebensächlichkeit behandeln. Deshalb wollte er morgen anfangen, ihre Vergangenheit zu erforschen.

Erst einmal musste er ihre Sorgen vertreiben, sie könne ihm wehtun. Sonst würde sie sich gegen alles sträuben, was er vorschlug, egal ob es ihren Plan oder ihre Beziehung betraf.

Er suchte die Umgebung ab. Seine Position bot ihm einen freien Blick auf die Straße und auf das Haus von Adens vermutlichen Eltern. Es fuhren keine Autos vorbei, und niemand war draußen unterwegs.

„Victoria hat mir eine SMS geschickt“, erzählte er beiläufig. Durch das Fenster, das sie ein Stück hochgeschoben hatten, fuhr ein kalter Wind und wirbelte Mary Anns dunkles Haar hoch, sodass es sogar über sein Gesicht strich. „Ihr Bruder ist zurückgekommen und hat Aden herausgefordert, und Aden hat ihn vor aller Augen fertiggemacht.“

„Wie großartig.“

„Wir müssen ihm sagen, was du herausgefunden hast.“

„Was ich herausgefunden habe?“ Ihr Stirnrunzeln sagte den Rest: Denk erst mal nach, bevor du den Mund aufmachst. „Ich habe nichts Konkretes, da bringt es nichts, ihm Hoffnungen zu machen.“

„Stimmt doch gar nicht. Du glaubst doch, dass du Julian gefunden hast, und das sollte er wissen.“ Gut möglich, dass Victoria es Aden schon erzählt hatte. „Und auch, dass du vielleicht seine Eltern gefunden hast.“

„Damit er enttäuscht ist, wenn ich mich geirrt habe?“

„Hast du dich denn geirrt?“

„Es könnte doch sein.“

„Du könntest auch recht haben.“

„Aber vielleicht auch nicht“, beharrte sie auf ihrem Zweifel.

„Seit wann siehst du denn alles so schwarz?“ Ihre Aura hatte sich dunkelblau gefärbt, ihre Traurigkeit war beinahe greifbar. Unter das Blau mischten sich braune Sprenkel, die bald zu Schwarz werden würden. Diese Farbe stand nicht immer für den Tod. Bei Mary Ann zeigte sie Hunger an, ihr Bedürfnis danach, Energie aufzusaugen.

In den letzten Stunden waren die Sprenkel gewachsen, aber nicht so weit, dass er sich Sorgen gemacht hätte. Immerhin sah er auch noch Rot und Rosa in ihrer Aura. Rot bedeutete Wut oder Leidenschaft, Rosa stand für Hoffnung. Beides wollte er weiter anfachen.

Empört öffnete sie den Mund. „Ich sehe überhaupt nicht alles schwarz.“ Die roten Flecken leuchteten etwas heller.

„Süße, du bist eine Pessimistin, wie sie im Buche steht. Du gehst immer vom Schlimmsten aus.“

„Tue ich gar …“ Sie unterbrach sich. „Na schön. Kann sein.“ Sie beugte sich vor und stützte die Ellbogen gegen den Fensterrand. „Aber Vorsicht ist besser als Nachsicht.“

„Ehrlich gesagt, nein. Aber wenn wir schon so mit Klischees um uns werfen, merk dir das mal: Lieber eine Niederlage riskieren, als es gar nicht zu versuchen.“

„Ich versuche es doch.“

„Du strengst dich aber nicht an, und du musst mal lockerer werden.“ Super Methode, um sie herumzukriegen, du Idiot. So wurde sie höchstens sauer. Er hätte sich für seine Direktheit entschuldigen können, aber das tat er nicht. Schließlich hatte er recht. Dafür warf er ihr ein Lächeln zu und stieß sie spielerisch mit der Schulter an. „Ich würde dir gern dabei helfen.“

Misstrauisch sah sie ihn an. „Wie denn?“

Ihm fiel auf, dass sie die Rollen getauscht hatten. Früher war sie vorgeprescht, während er auf die Bremse getreten hatte. Jetzt überlegte er, was sie an seiner Stelle getan hätte. „Erzähl mir ein Geheimnis. Etwas, das du noch nie jemandem verraten hast.“ Perfekt. So etwas hätte die alte Mary Ann auch vorgeschlagen, und zwar mit Freude.

Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Wir sind hier gerade mitten in einer Spionagenummer mit Einbruch. Jetzt ist wohl kaum die richtige Zeit für Vertraulichkeiten.“

Allerdings, sie hatten wirklich die Rollen getauscht. „Genau die richtige Zeit sogar. Hat dir noch niemand erklärt, dass man mehrere Sachen gleichzeitig machen kann?“

„Ich weiß nicht …“ Da schimmerte die alte Mary Ann durch.

„Komm schon. Gönn dir doch mal was. Setz noch eine Aufgabe auf deine lange Liste.“ Wobei sie hoffentlich nicht nur mit ihm redete, weil sie es musste.

Nach kurzem Zögern willigte sie ein. „Meinetwegen. Du fängst an.“

Sie hatte angebissen. Er versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken. „Also gut. Dann los. Es tut mir leid, dass ich nicht mit dir geschlafen habe“, kam er gleich zur Sache.

Der rote Schimmer um sie herum strahlte so hell auf, dass er beinahe geblendet wurde. Das war auf jeden Fall Leidenschaft. Sein Körper reagierte sofort, ihm wurde warm von Kopf bis Fuß.

„Das ist nicht gerade ein Geheimnis“, sagte sie leise. „Aber … mir tut auch leid, dass du nicht mit mir geschlafen hast.“

Er erstarrte. Zum Teufel mit seiner Charmeoffensive. Das hier war besser. Ihm gefiel ihr rauer, ehrlicher Ton, die Sehnsucht, die sie ihm entgegenbrachte. „Mary Ann …“, sagte er.

„Ich … ich …“ Sie sollte wissen, was er wollte. Sie küssen, sie in den Armen halten. Endlich mit ihr zusammen sein.

Mit weit aufgerissenen Augen wandte sie sich vom Fenster ab und sah ihn an. Im Dämmerlicht erkannte er grüne Flecken in ihren braunen Augen. „Das geht nicht“, sagte sie, aber er hörte ihr an, dass sie unsicher war. „Nicht hier.“

„Doch, es geht.“ Er wollte nichts mehr bedauern müssen, und er wollte nicht länger warten. Es gab keine Garantie auf ein Morgen, das hätte Aden ihnen bestätigen können.

Sie hob eine Hand an ihre Bluse und spielte mit einem Knopf. War ihr klar, was das in ihm auslöste? Wie es ihn auf die Folter spannte? „Und wenn die Leute, die hier wohnen, zurückkommen? Oder Adens Eltern?“

Sie schwankte immer noch, stand aber schon kurz vor dem Abgrund. Lass dich fallen, Liebes. Ich fange dich auf. „Dann ziehen wir uns schnell wieder an.“

„Du hast auch auf alles eine Antwort“, meinte sie trocken. „Ich bin vielleicht eine Pessimistin geworden, aber du bist eine echte Nervensäge. Das weißt du schon, oder?“

„Wir müssen wohl mal an deiner Wahrnehmung arbeiten, die scheint irgendwie nicht zu stimmen.“

Sie musste lachen. „Oder sie ist endlich ganz klar.“

„Ich glaube nicht.“ Ihr raues, volltönendes Lachen war Musik in seinen Ohren. Wenn er sie zum Lachen brachte, kam er sich vor wie der König der Welt. „Ich bin ein Vorgeschmack aufs Paradies, das weißt du genau.“

„Schon gut, ich geb’s ja zu.“

Lächelnd rückte Riley näher, bis sich ihre Arme und Hüften berührten. Mary Ann hielt den Atem an, während seiner schwerer ging.

Bevor er sie an sich ziehen und küssen konnte, bog ein Stück entfernt ein Auto auf die Straße, beschleunigte und fuhr auf das Haus zu, das sie beobachteten. Mary Ann sah gespannt hinaus. Genau wie Riley, der sich auf den Fahrer konzentrierte. Ein Mann Anfang zwanzig. Nicht Joe Stone. Als das Auto an dem Haus vorbeifuhr, wich die Anspannung.

„Ich frage mich, wo Tucker abgeblieben ist“, sagte sie leicht zitternd.

Jetzt willst du über ihn reden? Ernsthaft?“

„Das wäre sicherer für uns, oder?“

Nicht unbedingt. „Wahrscheinlich bereitet er gerade ein Menschenopfer vor.“

„So schlimm ist er nicht.“

„Du hast recht. Er ist noch schlimmer.“

Sie boxte ihn gegen die Schulter. Bei dieser erneuten Berührung knisterte es. Sie musste es auch gespürt haben, denn sie zog die Hand nicht sofort zurück, sondern legte sie auf seinen Oberarm und spreizte die Finger, um so viel wie möglich von ihm zu berühren.

Während das herrliche Rot in ihrer Aura aufstrahlte, leckte sie sich die Lippen. „Na gut, wir müssen nicht über Tucker reden.“ Ihre Stimme war nun tiefer, er konnte ihre Erregung hören.

Wieder umhüllte ihn diese Hitze. „Worüber willst du denn reden?“ Auch er senkte die Stimme.

„Über unsere Geheimnisse.“

Das reichte ihm als Ermutigung. Er fasste sie um die Taille, hob sie hoch und zog sie auf seinen Schoß. „Komm her.“

Als sie sich rittlings auf ihn setzte, zog er sie näher. Nicht ganz heran, aber nah genug. Sie schlang beide Arme um ihn. „Aber die Autos …“

„Ich kann immer noch durchs Fenster sehen.“ Das stimmte. Er konnte. Wenn er hinsah. Im Moment allerdings sah er nur Mary Ann, nichts anderes war wichtig. „Jetzt küss mich. Ich brauche dich so sehr.“

„Ich brauche dich auch.“ Sie beugte sich vor und drückte ihre Lippen auf seine.

Während er sie tief und innig küsste, ließ er die Hände auf ihren Rücken gleiten, unter ihre Bluse, nach oben und wieder zurück, dann folgten seine Finger ihrem Hosenbund.

„Du sagst mir, wenn …“, keuchte sie.

Wenn sie ihm Energie entzog. „Ja.“

„Versprochen?“

„Versprochen.“ Dieses Mal würde er es wirklich sagen. Sie sollte nie an ihm zweifeln. „Aber lass uns etwas ausprobieren, ja?“

„Was?“, fragte sie zögerlich.

„Wenn du merkst, dass du meine Energie willst oder sie schon nimmst, bleib trotzdem bei mir.“

„Nein, ich …“

„Hör doch zu.“ Ganz sanft nahm er ihr Kinn in die Hand. „Wenn das passiert, mach einfach weiter mit dem, was du gerade tust, bleib ruhig und versuch nur, keine Energie zu ziehen.“

„Bleib ruhig … Wie soll das gehen, wenn dein Leben in Gefahr ist?“

„Ich bin überzeugt davon, dass du aufhören kannst. Es ist nur eine Frage der Selbstbeherrschung. Aber wir können nur sicher sein, wenn wir es probieren.“

Sie schüttelte den Kopf. „Das sollte ich mit anderen probieren, nicht mit dir.“

„Mach einfach, was Riley dir sagt, und vielleicht gefällt dir das Ergebnis.“

Als Antwort schnaubte sie. „Reden wir jetzt in der dritten Person von uns? Das gefällt Mary Ann nämlich nicht.“

„Eigentlich waren wir gerade bei unseren Geheimnissen.“ Er konzentrierte sich wieder ganz darauf, sie zu küssen, und bald ging es ihr genauso. Obwohl sie früher schon weiter gegangen waren, hielt er sich zurück, bis sie schließlich schwer atmete und sich auf ihm wand, als könne sie nicht ruhig sitzen bleiben.

Er zog sein T-Shirt aus, streifte ihr die Bluse über den Kopf und zog sie so nahe heran, dass sie sich bei jedem Atemzug berührten. Mit den Händen erforschte er ihren Körper. Auch sie begann ihn zu streicheln, und seine Haut wurde auf ganz urtümliche Art immer empfänglicher. Bald stöhnte er bei jeder Berührung ihrer Fingerspitzen.

Wenn er gelegentlich ein Auto vorbeifahren hörte, unterbrach er den Kuss lang genug, um aus dem Fenster zu spähen und sicherzugehen, dass der Fahrer uninteressant war, bevor er sich wieder nur ihr zuwandte.

Zweimal erstarrte Mary Ann, sie spannte jeden Muskel im Körper an. Beide Male war das letzte Auto längst vorbeigefahren, damit konnte ihre Reaktion also nicht zusammenhängen. Ob sie gemerkt hatte, dass sie ihm Energie entziehen wollte, und sich gerade noch bremsen konnte? Offenbar. Er hatte nicht einen Hauch von Kälte gespürt. Wenn ein Kraftdieb zuschlug, fror sein Opfer bis ins Mark. Gegen solche Kälte konnte auch der dickste Wintermantel nichts ausrichten.

„Riley“, sagte sie, und er wusste, was sie meinte. Sie wollte mehr. Er sah sich im Wohnzimmer um. An einer Wand stand ein Sofa, alt, rissig, voller Flecken. Auf keinen Fall. Auf dem Ding würde er nicht mit ihr schlafen. Nicht zum ersten Mal. Aber er war so scharf auf sie, dass er …

Er sah eine Bewegung. Auf der anderen Straßenseite, im Gebüsch neben einem Haus. Blätter raschelten, ein orangefarbener Schimmer war zu erkennen. Die Farbe bedeutete Zuversicht und Entschlossenheit. Riley unterbrach den Kuss und sah genauer hin. Der Schimmer war matt, als würde er von einem übernatürlichen Schleier verdeckt, aber er war da.

„Riley?“

„Warte mal.“

Im Gebüsch stand ein blondes Mädchen auf. Er kannte sie. Eine Hexe. In den Händen hielt sie eine Armbrust, mit der sie genau auf Mary Ann zielte. Riley sprang auf, riss Mary Ann mit sich und stieß sie aus dem Weg.

Zu spät. Die Hexe hatte mit der Bewegung gerechnet. Geschmeidig verschob sie ihr Ziel und folgte Riley. Der Pfeil brauchte nicht einmal einen Wimpernschlag. Glas zerbarst, der Pfeil traf Mary Ann in den Rücken.

Sie schrie gellend auf vor Schmerz und Schock, riss die Augen weit auf, und ein Ruck ging durch ihren Körper. Sie war Riley so nah, dass die Pfeilspitze noch seine Brust anritzte. Als ein zweiter Pfeil durch das jetzt offene Fenster pfiff, riss er sie zu Boden. Der Pfeil blieb in der gegenüberliegenden Wand stecken.

„Was … war das?“ Sie keuchte, ihre Worte waren kaum zu verstehen. Über Brust und Rücken lief Blut in schmalen scharlachroten Rinnsalen. Jetzt war ihre Aura wieder blau, aber sie verblasste, nachdem die anderen Farben bereits verschwunden waren. Mary Ann verlor selbst Kraft.

„Die Hexen haben uns gefunden.“ Ihre Fähigkeit, mit den Mitteln der Menschen jemanden aufzuspüren, hätte er nicht unterschätzen dürfen. Und er hätte Mary Ann nicht küssen dürfen. Im Innersten hatte er die Gefahren und Risiken gekannt, aber er hatte sie so begehrt, dass er nur darauf gehört hatte.

Das war alles seine Schuld.

Und er konnte dieses Miststück nicht mal jagen, weil er Mary Ann in diesem Zustand nicht allein lassen konnte. Verdammt noch mal! Sie hätte doch vor tödlichen Verletzungen geschützt sein müssen. Eigentlich müsste ihre Wunde schon heilen.

Vor Wochen schon hatte er ihr ein Schutzzeichen gegen genau so etwas eintätowiert. Messerstiche, Schüsse, Pfeile, egal, was. Die Wunde müsste heilen. Aber die Hexe hatte das Zeichen auf Mary Anns Rücken gesehen und darauf gezielt. Sie hatte genau die Stelle getroffen, an der sie eine übernatürliche Heilung verhindern konnte: die Mitte des Zeichens. Die Wörter waren auseinandergerissen, der Schutz aus Tinte hatte seine Wirkung verloren.

In diesem Moment war Mary Ann wieder genauso verletzlich wie jeder normale Mensch. Abgesehen von …

„Nimm Energie von mir“, sagte er, während er den besten Fluchtweg berechnete. Anfangs war er durchs Haus gegangen und hatte sich alle Ausgänge eingeprägt, aber er wusste nicht, ob die Hexen das Haus umstellt hatten. Falls ja, würden sie sofort wieder schießen, wenn er Mary Ann hinaustrug.

„Nein“, ächzte sie.

„Doch. Du musst. Du musst.“ Seine Energie würde ihr Kraft geben. Sicher, er würde schwächer werden, aber sie konnte die Hexen besser ausschalten als er. Alle gleichzeitig, nicht eine nach der anderen. Außerdem war es nur richtig so. Wegen dieser Fähigkeit hatten ihre Feinde sie immerhin durchlöchert. „Nimm von mir Energie und töte sie.“

„Nein.“ Sie war wirklich unglaublich stur.

„Wenn du das nicht tust, bringen sie dich um.“

„Nein.“

Riley hatte genug diskutiert. Er zog die restlichen Sachen aus und nahm seine Wolfsgestalt an. Seine Knochen passten sich an, aus seinen Poren wuchs Fell. Das alles war ihm so vertraut, dass es ihm eher wie das Rekeln nach einem Nickerchen vorkam, nicht wie eine Verwandlung in etwas Neues.

So sanft er konnte, was nicht besonders sanft war, nahm er Mary Anns Arm zwischen die Zähne und brachte sie dazu, auf seinen Rücken zu steigen.

Wieder zischte ein Pfeil über sie hinweg und verpasste sie nur knapp. Halt dich fest, befahl er ihr in Gedanken, während er aus dem Wohnzimmer lief.

„Mach … ich“, sagte sie zähneklappernd.

Er war ein verdammter Idiot. Sie hätte die Wärme durch ihre Kleidung gebraucht, aber er konnte nichts über die Wunde ziehen, und er konnte ihre Bluse nicht im Maul mitschleppen. Im Moment waren seine Zähne seine einzige Waffe.

Jetzt hätte er Tucker wirklich gut brauchen können. Unglaublich, dass er so etwas dachte. Aber ein, zwei Illusionen hätten ihnen jetzt wirklich geholfen.

Da ihm keine andere Wahl blieb, sprang Riley durch die Hintertür. Ohne langsamer zu werden, sprang er durchs berstende Sperrholz. Im Zickzack huschte er von der Veranda, um kein leichtes Ziel abzugeben. Eine gute Entscheidung, denn es hagelte Pfeile.

Wie viele Hexen waren hier draußen? Auf jeden Fall nicht nur Jennifer und Marie.

„Tut weh“, stöhnte Mary Ann.

Ich weiß, Liebes. Er sprach in ihren Gedanken. Ich würde dir die Schmerzen abnehmen, wenn ich könnte.

Ein Pfeil traf ihn in den linken Vorderlauf. Er knurrte vor Schmerz, aber er wurde nicht langsamer und wagte nicht, aus dem Tritt zu kommen. Sonst wäre Mary Ann heruntergefallen, und das konnte er nicht zulassen. Noch schlimmer wurde es durch den Kies, der ihm in die Pfoten schnitt. Ein schneller Rundblick zeigte ihm elf Auren. Alle orange, alle matt. Offenbar hatten sie versucht, sich mit einem Zauber vor ihm zu verbergen. Tja, das hatte wohl nicht ganz geklappt.

Er fixierte die Hexe, die am weitesten von den anderen entfernt stand, und rannte auf sie zu. Mitten im Lauf packte er sie mit den Zähnen und riss sie mit sich. Sie wehrte sich, trotzdem hielt er das Tempo. Immer weiter trug er die beiden Frauen, ganz, ganz vorsichtig.

Nimm ihr die Energie, befahl er Mary Ann. Schnell!

Sie musste auf ihn gehört haben, denn die Hexe wurde schwächer, bis sie sich nicht mehr wehrte. Als sie nur noch wie ein Lumpensack in seinem Maul hing, spuckte er sie aus, immer noch in vollem Lauf.

Besser?

„Etwas.“

Er würde sie in Sicherheit bringen und ihre Wunde versorgen. Und dann würde die Jagd beginnen. Er würde nicht mehr mit Mary Ann vor den Hexen und Elfen davonlaufen. Diesen Fehler, seinen größten bisher, würde er nicht noch einmal machen.

Bald würden die Jäger die Gejagten sein.