13. KAPITEL
„Warum lässt du ihm so viel Zeit, sich vorzubereiten?“
Aden saß auf dem heruntergeklappten Toilettendeckel in Victorias Badezimmer, unglaublich hungrig, müde und unsicher. Hatte er das Richtige getan?
Das würde er bald herausfinden.
In einer Hand hielt er einen Haarschneider, in der anderen einen kleinen Abfalleimer. Er gab den Haarschneider Victoria und stellte das Eimerchen zwischen seinen Füßen auf den Boden, bevor er antwortete: „Ich lasse mir selbst so viel Zeit, um mich vorzubereiten.“
„Ach so.“ Sie war ungewöhnlich blass und fahrig, regelrecht durcheinander. Das konnte Aden verstehen, wirklich. Er hatte ihrem Bruder gedroht. Er würde mit ihm kämpfen. Natürlich war sie aufgeregt.
Noch vor einer Stunde hätte ihn das nicht interessiert. Doch als im Thronsaal die Gefahr auf sie eingestürzt war, hatte Victoria seine Hand genommen und ihm Kraft gegeben. Irgendwie hatte ihn dieser Kontakt aus der emotionalen Wüste geholt, in der er in letzter Zeit steckte. Er hatte wieder etwas empfunden. Hoffnung, Bewunderung, Zuneigung, jedes Gefühl wie ein warmer Sonnenstrahl.
Jetzt stützte er die Ellbogen auf die Knie. „Ich möchte dich etwas fragen, Victoria, ganz ohne Hintergedanken, okay? Also verstehe es bitte nicht falsch. Ich bin nur neugierig.“
Sofort wirkte sie angespannt und besorgt. „In Ordnung.“
„Du hilfst mir, obwohl du deinen Bruder offensichtlich liebst.“ Er hatte gespürt, dass sie sich am liebsten auf diesen irren Killer gestürzt hätte. Doch statt ihn anzugreifen, wollte sie ihn umarmen. Hätte Sorin auch sie getötet?
„Also warum hilfst du mir?“
Ihre Sorge ließ nach. „Bist du auf Komplimente aus? Oder ein ‚Ich liebe dich‘?“ Sie sprach weiter, bevor er antworten konnte. Er hätte sowieso nicht gewusst, was er sagen sollte. „Ich will nur nicht, dass ihr kämpft.“
Erwartete sie etwa, dass er kniff? „Wir werden kämpfen. So viel kann ich dir sagen.“ Das war ziemlich direkt, aber er wollte keine Missverständnisse aufkommen lassen.
Sie ließ die Schultern hängen. „Ich weiß. Glaub mir, wenn ich davon ausgehen würde, dass ich einen von euch zur Vernunft bringen kann …“
Er versuchte unauffällig, ihre Reaktion auf seine nächsten Worte abzuschätzen: „Willst du, dass ich den Kampf absage?“
Ein Augenblick verstrich, dann seufzte sie. „Nein. Das kannst du nicht. Er würde dich nur verfolgen. Andere auch. Die Herausforderung wurde ausgesprochen und angenommen, und wenn der Kampf nicht stattfindet, halten dich alle für schwach. Sie würden glauben, sie könnten sich alles herausnehmen. Du hättest nie wieder Ruhe. Ich will nur …“
Dass ihnen beiden nichts passierte. Verständlich.
„Und bevor du fragst: Ich hoffe, dass du gewinnst.“
Damit hatte er allerdings nicht gerechnet. „Warum?“
„Weil du ihn vielleicht verschonen würdest. Er wäre dir gegenüber nicht so entgegenkommend. Weißt du schon, was passieren wird?“
„Nein, ich weiß nicht, wie der Kampf ausgeht.“
Er sagte die Wahrheit. Elijah hatte ihm den Ausgang zwar gezeigt, aber in verschiedenen Versionen. „Aber ich weiß, dass es bis zum Kampf keine Probleme durch deinen Bruder gibt. Niemand wird ihn angreifen. Und auch mich nicht. Falls dich das beruhigt. Elijah hat es mir erzählt.“
Sie erschauerte. „Nein, das beruhigt mich nicht. Und ich … ich glaube, wir sollten nicht mehr darüber reden. Mein Körper reagiert schlecht auf alles, was du sagst. Noch ein bisschen, und ich kotze dir auf die Füße.“
Na toll. Er hatte sie beruhigen wollen, nicht zum Kotzen bringen. „Hast du außer der Übelkeit noch andere Symptome?“
„Mein Blut ist kalt und dick, und mein Herz schlägt viel zu fest gegen die Rippen.“
Das klang nicht so schlimm, wie er befürchtet hatte. Sie hatte nur einen leichten Panikanfall beschrieben. „Hast du früher schon mal so reagiert?“
„Nicht so heftig.“ Sie sah stirnrunzelnd auf den Haarschneider in ihren Händen. „Was soll ich damit machen?“
Wenn sie das Thema wechseln wollte, würden sie das tun. Er wusste nicht, wie er sie sonst beruhigen sollte. „Mir den Kopf rasieren.“
„Dir … was?“
„Den Kopf rasieren.“
Entsetzen zeichnete sich auf ihrem bildhübschen Gesicht ab. „Aber dann bist du kahl.“
Ihre Reaktion war wirklich süß. „Es gibt Schlimmeres.“
Nein, gibt es nicht! Damit hast du bei den Frauen voll verloren, mischte sich Caleb ein. Er schäumte vor Wut, seit Aden beschlossen hatte, sich von seinen gefärbten Haaren zu verabschieden.
„Außerdem werde ich nicht kahl sein, sondern blond. Die Maschine ist so eingestellt, dass ein paar Zentimeter stehen bleiben.“
„Ach“, murmelte sie. Sie musste einen Moment an der Maschine herumfummeln, um sie einzuschalten. Schließlich summte der kleine Motor los. „Bist du sicher? Wenn es dir nicht gefällt, ist es zu spät.“
„Ich bin sicher.“
„Dann sag mir, warum du dir die Haare abschneiden willst.“
Genau, meinte Julian. Das ist bescheuert. Wir sehen nachher aus wie ein Idiot.
Elijah sparte sich einen Kommentar.
Nach allem, was geschehen war, fühlte sich Aden wie ein neuer Mensch. Er war auch ein neuer Mensch. Doch wenn er in einen Spiegel blickte – und bei den vielen Spiegelwänden im Herrenhaus sah er sich öfter, als ihm lieb war –, sah er aus wie immer. Das musste sich ändern.
„Ich will es einfach“, antwortete er nur.
„Dann meinetwegen.“ Zaghaft machte sich Victoria ans Werk, und eine schwarze Strähne nach der nächsten fiel zu Boden.
Sie soll aufhören! Caleb heulte beinahe. Halt ihre Hand fest, damit sie aufhört.
Einen Augenblick lang hatte Aden das Gefühl, etwas würde seinen Arm nach oben ziehen, ein Seil vielleicht. Seine Finger zuckten und wollten sich um Victorias Handgelenk schließen. Er runzelte die Stirn. Er musste sich konzentrieren, um seinen Arm unten zu halten.
Was zum Teufel war da los?
Komm schon, Alter, bettelte Caleb weiter. Du musst nur den Arm heben und ihre Hand festhalten.
Den Arm heben. Ihre Hand festhalten. Schlagartig wurde ihm die Antwort klar. „Versuchst du gerade meinen Körper zu übernehmen, Caleb?“
Könnte sein, lautete die grummelige Antwort.
So etwas hatten die Seelen seit Jahren nicht mehr probiert. Wahrscheinlich weil sie die Kontrolle nicht ohne seine Erlaubnis übernehmen konnten. Zumindest bis jetzt. Dieses Zerren an seinem Arm war stärker gewesen als alles, was sie früher getan hatten. Er war sich nicht sicher, was das bedeutete.
„Mach das nicht noch mal“, schimpfte er.
Victoria, die zwischen seinen gespreizten Beinen stand, erstarrte. „Ich wollte nicht … Ich habe nur … Du hast mir doch gesagt, dass ich sie abschneiden soll!“
Betreten entschuldigte er sich: „Tut mir leid. Dich habe ich nicht gemeint.“
„Ach so. Gut. Ich hatte schon Angst.“ Sie machte sich wieder an die Arbeit.
Ihr Geruch traf ihn so heftig wie ein Hieb mit einem Baseballschläger. Die Seelen waren vergessen, als Aden das Wasser im Mund zusammenlief und sich sein Magen verkrampfte. Seit Victorias Bruder die angreifenden Vampire verstümmelt und getötet hatte, stand er kurz vor dem Verdursten. Er hatte es nur mit Mühe aus dem Thronsaal geschafft, ohne sich auf den Boden zu werfen und dieses köstlich aussehende Blut aufzulecken.
Lediglich zwei Dinge hatten ihn aufgehalten: sein Verlangen nach Victorias Blut – und zwar nur nach Victorias Blut –, das mit jeder Minute stärker wurde, und das Wissen, dass sein Gegner bei dem großen Kampf jede Schwäche gegen ihn verwenden würde. Und der Kampf würde auf jeden Fall stattfinden, wie er Victoria schon versprochen hatte.
Elijah hatte zwar verschiedene Versionen für den Ausgang gesehen, aber in keiner Fassung hatte sich der Kampf ganz vermeiden lassen.
Mehrmals hatte Aden sich sterben sehen, als ein Schwert voller je la nune ihm den Kopf vom Körper trennte. Danach könnte Victoria ihn nicht mehr retten. Aber dann hatte er gedacht: Ich ducke mich nicht, ich weiche zur Seite aus. Sofort hatte sich die Vision verändert. In der neuen Fassung hatte er gesehen, wie Sorin das Schwert schwang, aber nicht traf, weil Aden zur Seite gesprungen war und nun selbst angriff.
In diesem Moment war ihm klar geworden, dass seine Zukunft noch offen war. Er konnte sie verändern. Und er konnte möglicherweise gewinnen, aber das würde seinen Preis fordern. Nach seinem Sieg würde es mit Victoria bergab gehen. Vielleicht würde sie mit ansehen müssen, wie Aden neben der Leiche ihres Bruders stand und sich von den Vampiren feiern ließ, während sie weinte.
Das wollte er nicht für sie. Er wollte sie nicht traurig oder wütend machen oder sie gar dazu bringen, ihn aus tiefster Seele zu hassen. Also musste er sich eine Lösung einfallen lassen.
„Wusstest du, dass du kleine schwarze Pünktchen auf der Kopfhaut hast?“, fragte sie.
„Wahrscheinlich. Sieht süß aus.“
Süß war besser als abstoßend, aber nicht viel besser. „Danke.“
„Gerne.“ Leise summend beendete sie ihr Werk. „So, geschafft.“ Sie nahm sein Gesicht zwischen ihre kühlen Hände und musterte ihn. „Du bist …“ Es verschlug ihr den Atem.
„Was?“ War es so schlimm?
Ich sag’s ja nicht gerne, warf Caleb ein, aber ich hab’s dir doch gesagt, verdammt!
Während Victoria nur tonlos den Mund öffnete und schloss, stand Aden langsam auf. Nach und nach tauchte sein Spiegelbild über dem Waschbecken auf. Er hatte mit einer Vollkatastrophe gerechnet, aber es sah gar nicht schlimm aus. Seine Haare waren noch etwa fünf Zentimeter lang und standen in Strähnen nach oben. Durch das Dunkelblond, seine natürliche Haarfarbe, wirkte seine Haut stärker gebräunt als vorher. Und seine Augen, früher schwarz und vor Kurzem noch violett, strahlten goldbraun.
Oh, seufzte Caleb. Na, nicht schlecht. Es geschehen noch Zeichen und Wunder.
„Gefällt es dir nicht?“, fragte Aden.
„Ob es mir gefällt?“ Sie fuhr ihm mit einer zitternden Hand durch die kurzen Haare. „Ich bin begeistert. Und ich verstehe endlich, warum Mädchen auf böse Jungs stehen.“
Also sehe ich aus wie ein böser Junge, dachte er und streckte sich ihrer Berührung entgegen.
Küss sie, stachelte Caleb ihn an. Jetzt, sofort! Bevor die Stimmung kippt.
Ausnahmsweise hat der Perverse recht, sagte Julian. Knutsch sie, bis sie nicht mehr kann.
Ja.
Bevor Aden recht wusste, was er tat, hatte er ihre Taille umschlungen und zog sie näher. Automatisch fiel sein Blick auf ihren Hals, auf den hämmernden Puls. Plötzlich ertönte in seinem Kopf ein hoher Schrei, wie er ihn schon draußen gehört hatte, nur ein wenig lauter.
Victoria bemerkte, wohin er sah. „Du musst trinken, sonst bist du zu schwach, um den morgigen Tag zu überleben.“
Ich werde mehr tun als nur überleben. Hoffte er. „Bietest du dich an?“
„N…nein.“ Sie schluckte schwer, und ein Schauer überlief sie. „Aden, du musst damit aufhören.“ „Womit? Mit der Umarmung?“
Neiiin, rief Caleb, und Adens Hände packten Victoria so fest, dass sie das Gesicht verzog. Ich habe sie vermisst.
„Das reicht jetzt“, fuhr Aden ihn an. „Lass los und gib mal einen Moment Ruhe.“
„Die Seelen?“, fragte sie verständnisvoll.
Während Caleb grummelte, nickte Aden knapp. Dann ließ der Druck nach, und Aden konnte sie aus eigenem Willen sanft umarmen. Wenn Caleb so weitermachte, würde Aden etwas unternehmen müssen. Er wusste nur nicht, was. Er könnte höchstens herausfinden, wie er die Seele loswurde.
„Und nein“, griff sie ihr Gespräch wieder auf. „Ich habe nicht gemeint, dass du mich loslassen sollst. Oder vielleicht doch. Erst willst du mich, dann wieder nicht, dann doch, so wie jetzt. Da komme ich nicht mehr mit. Ich will einfach … Herr im Himmel!“
Der unschuldige Fluch erschreckte ihn nicht, aber die Panik in ihrer Stimme tat es. „Was ist los?“ Es war niemand ins Bad gekommen, keine Bedrohung war zu sehen.
Sie löste sich von ihm und holte zittrig und schwer atmend ihr Handy hervor. „Riley hat mir gerade eine SMS geschrieben, und ich erschrecke mich bei dem Vibrationsalarm jedes Mal zu Tode.“
Er hätte sie gern wieder in die Arme geschlossen. „Ist doch ganz einfach. Stell ihn aus.“
„Ja, klar. Sobald ich weiß, wie das geht.“ Als sie die Nachricht las, wurde sie aschfahl. „Ich, ähm, muss mal weg.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, stürmte sie los. „Ich schicke dir eine Blutsklavin, damit du etwas trinken kannst, vielleicht die gleiche wie gestern“, versprach sie ihm im Gehen, bevor sie die Tür hinter sich zuknallte.
„Mach das nicht“, rief er, aber er wusste nicht, ob sie ihn gehört hatte. So oder so wollte er nur Victoria. Er folgte ihr in ihr Zimmer, aber sie war schon verschwunden.
Ich fasse es nicht, dass du sie ohne Abschiedskuss weggelassen hast, jammerte Caleb.
Elijah machte ein Geräusch, das wie eine Mischung aus Keuchen und Husten klang. Erst jammerst du über die Haare, jetzt über den Kuss. Hörst du mal langsam auf? Du machst mich wahnsinnig!
Nein! Das ist wichtig.
Ich habe dich schon mal zum Schweigen gebracht, Caleb. Zwing mich nicht noch mal dazu.
Mich zum Schweigen gebracht? Was soll das heißen? Wie und wann soll das denn bitte passiert sein? Von uns dreien bin ich nämlich der Stärkste, das kann Aden dir auch sagen, und wenn hier jemand wen zum Schweigen bringt, dann bin ich das.
Elijah schien eingeschüchtert. Vergiss es. Halt einfach …
He, warte mal. So einfach vergesse ich das nicht. Du redest von der Höhle, oder? Gegen Ende war es dort nämlich wie in diesem schwarzen Loch, in das Mary Ann uns immer geschickt hat, wenn sie in Adens Nähe war. Bist du dafür verantwortlich, Elijah? Hmm, hmm, bist du?
Ein, äh, schwarzes Loch, sagst du?
Gott verdammt! „Elijah muss mir bei dem Kampf mit Sorin helfen, aber wenn ihr jetzt nicht die Klappe haltet, suche ich die Tabletten, die Victoria mir gegeben hat, und dann landet ihr sofort in diesem schwarzen Loch.“
Tut mir leid, Ad, sagte Julian.
Schön, wenn du meinst, grummelte Caleb.
Danke, sagte Elijah.
„Gut.“ Jetzt war die Sache geklärt.
Aus dem Augenwinkel sah Aden die tanzende Frau vom Morgen, die auf Victorias Bett zuglitt und sich darüberbeugte. Im Bett schlief ein kleines Mädchen mit langem schwarzem Haar. Er runzelte verwirrt die Stirn. Noch vor einem Augenblick war keine von beiden im Zimmer gewesen.
„Hallo“, sagte er und ging auf sie zu.
Ohne ihn zu beachten, sagte die Frau zu dem kleinen Mädchen, das Aden ebenfalls bekannt vorkam: „Steh auf, mein Schatz.“ Die Unbekannte blickte sich verängstigt um. Aber sie sah nicht Aden an, sondern etwas, das offenbar weit in der Vergangenheit lag. „Wir müssen jetzt gehen. Bevor er zurückkommt.“
Das Mädchen rekelte sich und gähnte. „Ich will aber nicht gehen“, sagte sie mit engelsgleicher Stimme.
„Du musst aber. Sofort.“
„Wenn sie nicht mitkommen will, wirst du sie nicht dazu zwingen.“ Aden wollte der Frau eine Hand auf die Schulter legen – aber seine Hand glitt durch sie hindurch wie durch einen Geist.