11. KAPITEL
Oie Feier in die Schlafgemächer des Königs zu verlegen hatte Jane für eine kluge Idee gehalten. Theoretisch. Aber sie hatte nicht alle Variablen gekannt oder alle Fallstricke, wie sie im Labor gesagt hatten, was sich während ihrer Experimente oft als fatal erwiesen hatte. Und der größte Fallstrick dieses Mal? Im Thronsaal hätte sie dem König der Monster zu Willen sein müssen, und ihm allein, während alle anderen zusahen und ihn vielleicht anfeuerten. In seinen „privaten“ Gemächern dagegen erwartete er von ihr, nicht nur ihm, sondern auch seinen Freunden zu dienen. Gleichzeitig.
Das erklärte man ihr, während man sie zwang, den Korridor entlangzumarschieren.
Obwohl sie also den Ort gewechselt hatten und obwohl seine Leibwache bei den alten Frauen geblieben war, um ihnen Gesellschaft zu leisten, warteten jetzt vier Männer darauf, von Jane in Fahrt gebracht zu werden.
Nicht dass sie geplant hätte, die vereinbarte Leistung zu erbringen. Lieber starb sie. Und vielleicht musste sie das.
Sobald die neuesten Riesen sie entdeckten, erglühten ihre Augen in diesem eigenartig dunklen, furchterregenden Rot. Ihre Körper spannten sich an in Erwartung der Lust, die sie ihnen bereiten sollte. Wie Nicolai trugen auch sie Lendenschurze. Diese standen ab wie Zelte.
Der König schob sie vor sich her, und sie wirbelte herum, um ihn im Auge zu behalten. Er zog sich bereits aus. Die Dolche an seinen Hüften behielt er allerdings an. Angst und Panik verschmolzen miteinander und füllten Jane vollkommen aus.
Okay. Denk nach, Parker. Denk nach.
Er deutete auf die Stelle vor seinen Füßen. „Auf Knie. Lutsch mich. Mach’s Männern mit Händen. Orlof nimmt dich.“
Die Freunde des Königs leckten sich die Lippen, jeder einzelne von ihnen. Okay. Okay. Sie zog verschiedene Möglichkeiten in Betracht und verwarf sie sofort wieder – alle waren gleichermaßen zum Scheitern verurteilt. Sie konnte tun, was ihr befohlen wurde, und den König so fest beißen, dass er seinen Penis lange Zeit nicht mehr benutzen konnte. Wenn überhaupt. Er würde ihr dann sicher die Zähne ausschlagen. Mindestens so fest, dass ihr Kiefer gebrochen wäre. Und danach konnte er ihr in den Mund schieben, was er wollte, und sie konnte ihn nicht mehr davon abhalten.
Sie könnte davonrennen. Es gab keine Türen, die sie aufhielten. Tatsächlich waren die Eingänge und Ausgänge hier alle offen und luftig. Aber so gut das für sie war, es war auch gut für die Männer. Die vier in diesem Raum, dazu noch zwanzig oder so im Thronsaal. Man würde sie jagen. Nichts stünde ihnen im Weg, und sie würde vermutlich schnell wieder eingefangen. Die Monster kannten diese Höhlen besser als Jane. Wahrscheinlich vergewaltigten sie dann alle.
Sie könnte gegen den König und seine Wachen kämpfen, hier und jetzt. Die würden gewinnen, keine Frage, aber sie hätte es wenigstens versucht. Und sie starb vielleicht, bevor jemand in sie eindrang, das war ein Vorteil. Wenn Nicolai da draußen war, gab ihm das vielleicht Zeit, sie zu finden.
Er war da draußen.
Na gut. Sie hatte einen Plan. Jetzt brauchte sie noch eine Waffe.
Die Höhle war recht karg eingerichtet. In einer Ecke stand eine Pritsche. In einer anderen Ecke lag ein riesiger Haufen Knochen. Knochen. Okay. Nicht die beste Waffe aller Zeiten, aber man konnte es sich nicht immer aussuchen. Sie könnte einen davon als Keule verwenden.
„Frau. Knie. Mund. Jetzt.“
Jane versuchte es auf die einfachste Weise: Sie ging direkt auf den Haufen zu. Nach wenigen Schritten verstellte der König ihr den Weg. Na schön. Die einfache Lösung war damit gestrichen. Sie tat so, als würde sie nach links springen. Er folgte. Sie wechselte schnell die Richtung und rannte rechts an ihm vorbei. Die vier Riesen, die zugesehen und abgewartet hatten, stellten sich direkt vor den Haufen und verschränkten die Arme vor der Brust. Na gut. Dann also auch nicht auf Umwegen.
Es gab nur noch eine Möglichkeit. Sie stellte sich breitbeinig hin und machte sich für einen Angriff bereit. „Meine Antwort lautet Nein.“
Der König runzelte die Stirn und sah sich mit ausgebreiteten Armen zu seinen Männern um, als wollte er sagen: „Frauen. Dämlich, aber was soll man machen?“, ehe er wieder auf seine Füße zeigte. „Du. Knie. Jetzt.“
„Ich verstehe schon, was du sagst.“ Idiot. Manche Leute hatten die Weisheit mit Löffeln gefressen. Er hatte anscheinend nur einen winzigen Teelöffel abbekommen. Vermutlich nicht einmal das. „Deshalb sage ich Nein.“
Er zeigte ihr seine Säbelzähne. „Aber du versprochen …“
„Ich habe gelogen. Du bist hässlich und gemein, und ich würde mich selbst dann nicht mit dir einlassen, wenn die Welt von fleischfressenden Bakterien verzehrt würde und dein Schwanz die einzige Heilung enthielte.“
Die Verwirrung auf seinen monströsen Gesichtszügen wurde von Erleichterung abgelöst. „Schwanz. Du. Ja.“
Natürlich war das das einzige Wort, das er verstand. „Nein.“
Er kniff die Augen zu engen Schlitzen zusammen, und es hätte sie nicht erstaunt, einen kleinen roten Lichtpunkt mitten auf ihrer Stirn zu finden. „Ich zwing dich.“
„Ich hatte schon erwartet, dass du so etwas sagst.“ Sie hob ihr Kinn. „Du bist ziemlich vorhersehbar. Also, Schluss mit dem Geplauder, fangen wir an.“
Mit einem Knurren tief in seiner Kehle trat er auf sie zu. Er streckte die Hand aus, um nach ihr zu greifen. Sie duckte sich, wirbelte herum und stieß ihm den Ellenbogen in den Magen. Er grunzte und beugte sich vor, um nach Luft zu schnappen. Die anderen lachten und feixten. Ihre Ausgelassenheit überraschte Jane. Sie hatte mit Wut gerechnet.
Der König richtete sich auf, ehe sie einen weiteren Schlag austeilen konnte, fixierte sie mit seinem Blick und näherte sich. Wieder duckte sie sich und wirbelte herum, wieder stieß sie ihn mit ihrem Ellenbogen. Wieder beugte er sich nach Atem ringend vor.
Dieses Mal applaudierten die anderen Riesen. Sie mussten es für das Vorspiel halten.
Sie rannte hinter den König, bevor er sich wieder fangen konnte, und trat zu. Er stolperte vorwärts. Sie sprang, und auf dem Weg nach unten rammte sie ihm den Ellenbogen an den Kopf. Er fiel mit dem Gesicht voran zu Boden. Der Erfolg ihrer Angriffe gab ihr Kraft und pumpte Adrenalin durch ihre Adern. Noch ein Schlag gegen den König, nur um sicherzugehen, dann wollte sie sich seinen Freunden zuwenden.
Doch als sie ihr rechtes Bein anhob, um ihm in den Magen zu treten, rollte er sich auf den Rücken und packte ihren linken Knöchel. Ein kurzer Ruck, und sie landete auf ihrem Hintern. Die Luft explodierte aus ihren Lungen. Schwarz und weiß blitzte es vor ihren Augen auf, kleine Spinnweben aus Explosionen.
Ehe sie Zeit hatte, zu reagieren, schwang der König seine fleischige Faust. Treffer. Ihr Wangenknochen brach. Haut platzte auf. Ihr Gehirn rasselte in ihrem Schädel, und das Schwarz in ihrem Blickfeld verdrängte das Weiß.
Einfach so war ihr Vorteil dahin. Nicht dass sie je wirklich einen gehabt hätte.
Kriech davon. Roll dich zu einem Ball zusammen. Irgendwas!
Zu spät. Noch ein Schlag traf sie, dieses Mal an ihrem Kiefer. Für eine endlose Zeitspanne leisteten ihr nur Schmerz, Schwindel und Übelkeit Gesellschaft. Dann breitete sich das schwarze Spinnennetz aus und hüllte sie ein. Wage es nicht, ohnmächtig zu werden!
Noch ein Schlag.
So. Viel. Schmerz. Okay, jetzt kannst du ohnmächtig werden.
Natürlich wurde in dem Augenblick die Schwärze von einem weiteren Adrenalinschub unterbrochen, der ihre Sinne wieder schärfte. Jane wollte um Hilfe schreien, aber sie glaubte nicht, dass einer der Anwesenden ihr helfen würde. Die würden ihr höchstens noch mehr wehtun. Außerdem konnte sie einfach nicht schreien. Wie sie befürchtet hatte, war ihr Kiefer gebrochen.
Noch ein Schlag.
Noch mehr Schmerz. Nein, Schmerz war nicht das richtige Wort für das, was sie durchlitt. „Qualen“ vielleicht, aber selbst das schien noch zu harmlos ausgedrückt.
Harte Finger legten sich um ihren Oberarm und schüttelten sie, wodurch die Qualen sich in ihrem ganzen Körper ausbreiteten. „Sieh mich an.“
Sie öffnete blinzelnd ihre Augen. Oder ein Auge. Eines war bereits zugeschwollen, das untere und obere Lid verklebt über etwas, das sich wie ein Golfball anfühlte. Sie lag auf dem Rücken, und der König beugte sich bedrohlich über sie. Sobald er merkte, dass sie am Leben war, begann er an ihrem Kleid zu reißen.
Dann gefiel es ihm also, mit seinen Eroberungen zu kämpfen. Na ja, sie würde ihm immerhin in Erinnerung bleiben. Sie biss die Zähne gegen die erneuten Qualen zusammen und trat ihm mitten ins Gesicht. Der Tritt kam unerwartet, und ihr Gegner stolperte rückwärts, ehe er endlich zu Boden fiel. Irgendwie gelang es ihr, sich aufrecht hinzusetzen. Die Schwärze kam zurück und entlockte ihr ein Stöhnen.
„Haltet sie“, sagte der König mit einem bösen Grinsen. Er rieb sein bestes Stück. Den Lendenschurz hatte er bereits abgelegt.
Eifrig, ihm zu gefallen – und wohl auch, sie anfassen zu können –, gehorchten die Männer. Innerhalb von Sekunden lag sie flach auf dem Rücken, die Hände über ihrem Kopf verankert, die Beine festgehalten und weit gespreizt.
Einfach so.
Noch eine Sekunde, und ihre Brüste wurden gequetscht und ihre Brustwarzen gezwickt. Und alle vier Riesen starrten ihr zwischen die Beine und warteten darauf, sie ganz entblößt zu sehen.
„Nein“, fuhr sie sie an, aber das Wort war nicht zu verstehen. „Nein!“ Hatte Nicolai auch so gelitten?
Sie lachten. Der König umfasste den zerfetzten Saum ihres Kleides. Der Rest des Stoffes riss entzwei.
Vor der Höhle hallte ein Schrei wider. Ihre Angreifer hielten inne, runzelten die Stirn und sahen einander an. Noch ein Schrei folgte, dann ein weiterer. Und noch einer. Jeder war schmerzerfüllt und panisch. Kämpften die Monster miteinander, vielleicht um die Alten? Oder war Nicolai gekommen?
Neue Hoffnung keimte in ihr auf.
Der König zuckte mit den Schultern und widmete seine Aufmerksamkeit wieder ihrem Körper. Sie trug nur noch ihren Slip, und der war schon im Schritt gerissen und deshalb als Barriere nutzlos. Er leckte sich die Lippen und rieb sich einmal, zweimal, bereitete sich darauf vor, in sie einzudringen.
„Groß“, sagte er, wie um sich selbst zu loben. Damit hatte er recht. Er war groß, zu groß, und lang wie ein Rammbock. Er würde sie in zwei Teile reißen.
Ihre Hoffnung schwand. Tränen verschleierten den Blick aus ihrem guten Auge, und sie schluchzte, das Geräusch so gebrochen wie ihr Kiefer. Jede Sekunde war es so weit, und dann …
Ein tiefes, bedrohliches Fauchen hallte durch den Raum. Näher, so nah.
Weder die Wachen noch der König wendeten sich von ihr ab, um zu sehen, wer diese empörte Warnung ausgestoßen hatte. Aber auf einmal wusste Jane es, sie spürte es. Nicolai war wirklich hier.
„Ihr seid so was von tot“, sagte sie flach. Wieder machten ihre Verletzungen ihre Worte unverständlich, aber es war ihr egal. Sie auszusprechen verschaffte ihr ein geringes Maß an Befriedigung.
„Nicht tot.“ Immer noch grinsend ging der König in die Knie. Die Wachen beugten sich vor, und ihre Hände glitten Janes Arme und Beine hinauf. Und dann, als der König seinen Schwanz auf sie richtete, schlug irgendetwas schneller zu, als ihr Auge es sehen konnte. Blut spritzte in alle Richtungen. Der König schrie auf vor Schreck und Schmerz.
Der Gegenstand – ein richtiger Dolch, den Nicolai einem der Riesen gestohlen haben musste – richtete sich gegen die Wachen und traf zwei auf einmal. Mehr Blut, mehr Gebrüll. Die Männer ließen von ihr ab, und endlich war sie frei. Sie lag einfach da, atmete schwer und zitterte. Dann schoben sich sanfte Arme unter sie und hoben sie hoch. Sie wurde zu der Pritsche getragen und abgelegt. Fingerspitzen fuhren behutsam über ihre geschwollene Wange. Nicolais Gesicht wurde erkennbar. Er war blutbespritzt, jeder Teil von ihm dunkelrot getränkt.
Flammen loderten in seinen Augen. „Vergewaltigt?“
Sie schüttelte kaum merklich den Kopf.
Die Flammen verloschen und machten Raum für etwas viel Schrecklicheres: kalte, gnadenlose Wut. Dann war er verschwunden.
Er griff zuerst die Wachen an, die ihre Füße festgehalten hatten, riss ihnen die Luftröhre mit den Zähnen heraus und spuckte sie auf den Boden. Aber das war ihm nicht genug, und er trennte ihnen noch mit dem Dolch die Köpfe vom Leib. Ein Berg aus Leichen versperrte den Eingang und schloss den König mit ihm im Raum ein.
Die zwei Männer umkreisten einander.
„Leide“, sagte Nicolai, und durch die langen scharfen Fangzähne klang das Wort undeutlich.
„Ja. Leide du.“
„Sie ist mein. Mein! Du wirst sterben, weil du angefasst hast, was mein ist.“
Der König blinzelte und legte den Kopf zur Seite. „Kenne dich. Vampir … Prinz?“ Er keuchte auf, als ihm die Wahrheit klar wurde. „Ja. Prinz. Dunkler Prinz. Majestät, verzeiht. Tot, dachte ich. Wir alle.“
Nicolai, der Sklave, war ein Prinz?
Der König fiel auf ein Knie, um seine Ergebenheit zu beweisen. „Bitte Gnade. So viel Reue. Majestät. Wollte nichts Böses. Nehmt Frau. Sie ist Euer.“
Nichts, was Jane getan hatte, hatte den König erniedrigt. Nichts hatte ihm Angst gemacht. Jetzt, bei dem Gedanken, gegen seinen Prinzen zu kämpfen, war er auf den Knien und flehte um Gnade.
„Du stirbst“, sagte Nicolai einfach. Der König hatte keine Chance. Ihr Mann riss ihm sämtliche Gliedmaßen aus, eine nach der anderen. Und auch wenn der König brüllte und brüllte und brüllte, er wehrte sich kein einziges Mal. Als wüsste er, dass ihn dann nur ein noch schrecklicheres Schicksal ereilen würde.
Als Nächstes waren seine Augen dran. Dann sein Schwanz. Danach wurden seine Schreie zu einem Flehen um Gnade. Doch Nicolai zeigte keine Gnade. Schon hatte er die Zunge des Königs herausgerissen. Kein Flehen mehr, kein Schreien. Nur noch Wimmern.
„Nicolai“, presste Jane endlich hervor, ihre Stimme so schwach, dass sie selbst kaum hörte, was sie sagte. Müdigkeit bemächtigte sich ihrer, und sie wusste, sie konnte nicht mehr lange wach bleiben.
Nicolai sah sich zu ihr um, mühsam nach Luft ringend. Das Bedürfnis, Schmerz zu bereiten, umgab ihn wie eine zweite Haut, für alle sichtbar. Noch nie hatte sie einen primitiveren Mann gesehen, wild und unkontrollierbar, ein Krieger mitten in der Schlacht. Ein Anblick, den die meisten Menschen nur aus ihren Albträumen kannten.
„Brauche dich“, sagte sie.
„Ja.“ Er wirbelte wieder zu dem sterbenden König herum. Mit einer schnellen Handbewegung trennte er den Kopf des Mannes ab, wie er es bei den anderen getan hatte. Dann beugte er sich über Jane und streichelte sie zärtlich. „Es tut mir leid, mein Liebes. So leid.“
„Komme … zurecht. Schon … Schlimmeres erlebt. Brauche dich … einfach.“
Die Worte hatten ihn trösten sollen. Es funktionierte nicht. Vollkommene Verzweiflung legte sich auf seine Miene. Er wischte sich den Arm an einem Stück Stoff ab, biss sich ins Handgelenk und hielt ihr die blutende Wunde an den Mund. „Trink.“
Während Nicolai Worte sang, die sie nicht verstand, strömte eine warme Flüssigkeit ihre Kehle hinunter. Zuerst erlebte sie ein köstliches Kribbeln, das in ihrem Magen begann und sich durch ihre Adern fortsetzte bis zu ihrem Kiefer, ihren Armen, ihren Beinen. Das Kribbeln verstärkte sich, bis sie sich fühlte, als würden geschmolzene Dolche auf sie einstechen.
Was zur Hölle machte sein Blut mit ihr?
„Nicolai“, rief sie. „Das tut weh.“
„Du heilst, mein Liebes. Es tut mir leid. Es tut mir so leid. Es sind gute Schmerzen.“
Noch während er sprach, richtete sich ihr Kiefer. Sie schrie auf, und das schrille Geräusch hallte an den Höhlenwänden wider. Die Lider ihres geschwollenen Auges rissen auseinander, und sie stöhnte. Zunächst sah sie alles verschwommen, als hätte man ihr Vaseline auf die Hornhaut geschmiert, aber als die Dolche und die Hitze sich ihren Weg durch sie bahnten, war es, als wären Scheibenwischer am Werk, und sie konnte wieder sehen. Klar und deutlich.
Als der Heilungsprozess abgeschlossen war, lag sie einfach da, atmete noch schwer, schwitzte und zitterte, aber sie war wie neugeboren. Sie streckte ihren Kiefer, und obwohl sie noch einen dumpfen Schmerz verspürte, konnte sie ihn uneingeschränkt bewegen.
„Danke“, sagte sie, und Tränen der Erleichterung stiegen ihr in die Augen.
Nicolai streckte sich neben ihr aus und nahm sie in seine Arme. Er hielt sie eine lange Zeit einfach fest, ehe die Barriere in ihr aufbrach und sie gegen seine Brust schluchzte und ihn fest an sich zog. Trotz ihres ganzen Wissens war sie hilflos gewesen.
„Ich habe sie umgebracht, Liebes. Ich habe sie alle umgebracht. Sie werden dir nie wieder etwas tun. Das schwöre ich dir.“
Die Bosheit des Königs machte sie sprachlos. Die vollkommene Missachtung ihres Willens, die Gewaltbereitschaft … Oh, sie hatte gewusst, dass es Leute gab, die zu so bösen Taten fähig waren, aber sie hatte es noch nie zuvor am eigenen Leib erfahren. Es war Angst einflößend, und es brach ihr das Herz.
„So ist es gut. Lass alles raus. Ich bin bei dir“, sagte Nicolai tröstend.
„Ich hatte solche Angst.“
„Nie wieder. Nie wieder“, schwor er ihr. „Außer … hattest du Angst vor mir?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Gut, das ist gut. Ich würde dir nie wehtun. Selbst wenn ich in einer meiner Launen gefangen bin, könnte ich dir nie wehtun.“
Bald schon versiegten ihre Tränen. Die Verletzungen und die Schmerzen der Heilung hatten sie geschwächt, und sie ließ sich mit einem Seufzen und einem Schaudern gegen ihn fallen. „Was hast du gesungen, als du mir dein Blut gegeben hast?“
„Meine Vampirmagie. Ich habe einen Heilzauber auf dich gelegt, um die Macht meines Blutes zu unterstützen.“
Sie schniefte, ihre Nase war geschwollen. „Besser als Morphium.“
„Morphium?“
„Ein Schmerzstiller aus meiner Welt.“
„Ein Stiller der Schmerzen. Hast du ihn geliebt?“ Er knurrte fast.
Die plötzliche Belustigung gab ihr Kraft. „Nein. Ehrlich gesagt war es schwer, ihn wieder loszuwerden. Er, äh, hat mich verfolgt, so was in der Art. Ich musste so tun, als gäbe es ihn nicht.“
Nicolai küsste sie auf die Schläfe und entspannte sich neben ihr. „Soll ich ihn jagen und für dich zerstören, Liebste? Es wäre mir ein Vergnügen, glaube mir.“
„Du hast schon genug Feinde. Außerdem bin ich ihn schon vor einer Weile losgeworden.“
Er küsste sie nochmals. „Weil du stark bist.“
Ein schönes Kompliment, aber sie hatte es nicht verdient, und sie konnte auch nicht so tun. „Heute war ich nicht stark genug, mich selbst zu retten.“ Die Tränen kehrten zurück. Sie wischte sie mit zitternder Hand beiseite. „Ich habe eine Weile lang Unterricht in Selbstverteidigung genommen, aber das hat nicht geholfen. Nicht wirklich. Er hätte … Er wollte …“
„Nie wieder“, wiederholte Nicolai und zog sie fester an sich. „Ich werde dich weiter ausbilden. Wenn ich damit fertig bin, kann nicht einmal ich dich mehr besiegen.“
„Wirklich?“
„Oh ja. Deine Sicherheit liegt mir am Herzen. Bei dieser Mission werde ich nicht versagen.“
Vielleicht hatten die Aufregungen des Tages sie emotional werden lassen, aber ihr stiegen schon wieder Tränen in die Augen. Das war das Liebste, was je ein Mann zu ihr gesagt hatte. „Genug von mir. Ich hatte Angst, die Riesen hätten dich umgebracht.“
„Ich bezweifle, dass der Tod mich von dir fernhalten könnte.“
Okay. Sie hatte falschgelegen. Das war das Liebste. Sie küsste seinen Halsansatz. „Was … was waren diese Dinger?“
„Oger.“
Müdigkeit übermannte sie, und ihre Lider senkten sich schwer herab. „Der König schien dich zu kennen.“
Er erstarrte. „Ja.“
Und er wollte nicht darüber reden. Zu müde, um einen Vorwand zu finden, ihn zu Antworten zu drängen, wechselte sie das Thema. „Du hast mich gefunden, weil du mich gezeichnet hast, richtig?“
„Ja“, sagte er wieder und fuhr mit den Fingerspitzen ihre Wirbelsäule entlang. „Und noch nie hat mich etwas mehr gefreut.“
„Hast du schon andere Frauen gezeichnet?“ Oh Gott. Das hätte sie nicht fragen sollen. Sie war nicht bereit für die Antwort. Nicht hier, nicht so. Nicht nach allem, was geschehen war. Er musste nicht verheiratet oder verlobt sein, um eine Frau zu zeichnen, also könnte es da draußen Tausende geben. Sie hätte …
„Nicht dass ich wüsste“, sagte er zögernd.
Sie seufzte erleichtert. Sie könnte wetten, dass „Zeichnen“ mehr als eine Erinnerung war, ein Instinkt, reinste Biologie, ein angeborenes Wissen. Schließlich taten es auch Hunde. Natürlich pinkelten die nur auf alles, was sie markieren wollten, und hinterließen ihren Duft. Aber sie mussten sich nicht daran erinnern, es getan zu haben, sie mussten einfach nur schnuppern, um den Duft wiederzufinden.
Nicolai hatte sich auf keine andere Frau eingeschworen. So einfach, wie er Jane gefunden hätte, hätte er auch ohne Schwierigkeit jede andere gefunden. Falls es da draußen jemanden gab. Also musste sie logischerweise glauben, sie war die einzige.
Ja, logischerweise. Er war frei.
Oder vielleicht bist du diejenige, die dumm wie Brot ist. Eine gute Wissenschaftlerin prüft immer beide Seiten einer Theorie. Na gut. Dann also Argumente für die andere Seite. Nicolai konnte sehr gut verlobt sein, wie er befürchtet hatte und wie sie zu leugnen versuchte. Und vielleicht hatte er die Frau noch nicht gezeichnet, weil er auf die Zeremonie warten wollte, um ihre Verbindung zu untermauern.
Oder er hatte, wie die Oger, einen ganzen Harem an Frauen. Vielleicht konnte ihn eine einzige Frau nicht lange befriedigen, also hatte er sie benutzt wie Taschentücher bei einer Erkältung. Vielleicht waren es zu viele gewesen, um sie alle zu zeichnen. Oder vielleicht waren sie ihm nie wichtig genug gewesen.
Das würde jedenfalls zum Bild des verwöhnten Prinzen passen. War er wirklich ein Prinz? War er verwöhnt? Ein Mann, dem man alles gegeben hatte, was er wollte, und der trotzdem nie zufrieden war?
Manchmal hasste sie ihr Gehirn. Und Theorien auch.
Der Nicolai, den sie kannte, war launisch und besitzergreifend. Er vertrug sich nicht mit anderen, und er wusste nicht, wie man teilte. Und doch war er so wenig verwöhnt, wie ein Mann nur sein konnte. Und er gehört mir, dachte sie und vergrub ihr Gesicht tiefer in den harten Konturen seines Körpers. Seines starken, warmen Körpers.
Er kannte sie, und ihn störten ihre Plapperei und ihre Abschweifungen nicht. Er machte sich genug aus ihr, um zurückzukommen – zwei Mal – und ihr das Leben zu retten. Das musste etwas bedeuten.
„Hör auf nachzudenken und schlaf, Jane“, sagte er.
„In Ordnung.“ Während sie zusammen waren, konnte ihr nichts geschehen. Sie wusste es einfach. Er würde sie mit seinem Leben beschützen. „Halt mich und lass mich nicht los.“
„Immer“, schwor er ihr.
Oh ja. Er machte sich etwas aus ihr. Sie schlief mit einem Lächeln auf den Lippen ein.