10. KAPITEL

In Nicolais Kopf brodelten die Gedanken, und sein Körper vibrierte vor Sinnesreizen. In einem Augenblick hatte er gegen die Riesen gekämpft, um Jane zu beschützen, und im nächsten brüllte er vor Schmerzen, und in seinem Verstand war unkontrollierbares Chaos ausgebrochen. Gesichter, so viele Gesichter. Stimmen, so viele Stimmen.

Er legte die Hände über seine Ohren und fiel auf die Knie. Die Erschütterung half. Die Gesichter verblassten, und die Stimmen verstummten, bis er wieder klare Gedanken fassen konnte. Muss … Jane … beschützen … immer noch – aber als er seine Augenlider endlich aufriss, sah er, dass die Riesen verschwunden waren.

Und Jane mit ihnen.

Er war nicht länger am Fluss, nicht mehr im Wald. Ihn umgab nur karge Steppe. Die wenigen Bäume, die er sehen konnte, waren verdorrt und ihre Blätter welk. Asche wurde von einem sauren Wind herangeweht wie schwarzer Schnee, der nach Tod und Zerstörung roch. Und er roch … Verwesung.

Nichts kam ihm bekannt vor.

Er drehte sich um und sah eine schlangengleiche Liane aus einem der Bäume kriechen, dann noch eine, und beide kamen auf ihn zu. Sie sprangen ihn an, bissen nach ihm, und als sie sein Blut geschmeckt hatten, schienen sie vor Freude zu kichern. Als sie ein zweites Mal zuschlagen wollten, sprang er aus dem Weg – und landete auf einem Haufen Knochen.

Der Drang, den Blutmagier, den neuen König von Elden, zu töten, erfüllte und verschlang ihn vollkommen. War dieser Bastard in der Nähe? Wenn ja, dann war dieses Ödland Elden. Es musste so sein.

Elden. Elden. Das Wort hallte in seinem Kopf wider. Und auf einmal kehrten die Gesichter in seine Gedanken zurück, drängten sich in sein Bewusstsein, das nicht auf sie vorbereitet war. Die Gesichter verschwammen ineinander, wurden zu einem. Eine Szene entstand vor seinen Augen.

Eine blonde Frau hockte vor ihm und betrachtete sein aufgeschürftes Knie mit milder Sorge in ihren grünen Augen. Er war noch ein Junge, ein kleiner Junge, und als sie einen Zauber sang und ihren warmen Atem über die Wunde blies, wurde er von Frieden und Liebe erfüllt. Das aufgeschürfte Fleisch fügte sich wieder zusammen, und das Blut versiegte.

Als die Heilung vollzogen war, lächelte sie ihn an. „Siehst du? Schon besser, nicht?“ Eine solch süße Stimme, zärtlich und sorgenfrei. Sie wischte ihm die wütenden, frustrierten Tränen von der Wange. Die Tränen waren nicht gefallen, weil er Schmerzen empfand, sondern weil er seinem Gegner weiteren Schaden zufügen wollte, nein, musste. „Du musst aufhören, dich zu schlagen, Liebling. Besonders mit Jungen, die doppelt so alt sind wie du und viel größer.“

„Warum? Ich habe gewonnen.“ Und er hätte ihnen noch viel mehr wehtun können!

„Ich weiß, aber je mehr du ihren Stolz verletzt, desto mehr werden sie dich hassen.“

„Sie können nicht hassen, wenn sie nicht überleben.“

„Außerdem“, fuhr seine Mutter streng fort, „bist du der Mächtigere. Du musst vernünftig sein, nicht gewalttätig.“

Er verschränkte die Arme. „Sie haben verdient, was ich ihnen angetan habe.“

„Und was genau haben sie getan, um deine Klauen in ihrem Hals zu verdienen?“

„Sie haben einem Mädchen wehgetan. Sie im Kreis herumgeschubst und versucht, ihr unter den Rock zu sehen. Sie haben ihr so viel Angst gemacht, dass sie geweint hat. Und dann haben sie sie angefasst. Hier.“ Er legte eine flache Hand auf seine Brust. „Und sie hat geschrien.“

Die Frau seufzte. „Na gut. Sie haben deinen Zorn verdient. Aber Nicolai, mein Liebling, es gibt andere Möglichkeiten, jemanden zu bestrafen. Erlaubte Wege.“

„Zum Beispiel?“ Er konnte sich nicht vorstellen, etwas anderes zu tun. Gleiches mit Gleichem, Schmerz mit Schmerz.

„Sag deinem Vater, was sie getan haben, und er lässt sie einsperren, oder er verbannt sie aus dem Königreich.“

„Damit sie woanders noch mehr Schaden anrichten können? Oder eines Tages Rache nehmen?“, schnaubte er. „Nein.“

„Und was, wenn du verletzt wirst, während du sie bestrafst?“, verlangte sie zu wissen.

„Ich komme zu dir. Du bist die mächtigste Hexe auf der ganzen Welt.“

Noch ein Seufzen, und ein Teil ihres Ärgers verflog. „Du bist unverbesserlich. Und es ist sehr lieb, dass du so an mich glaubst, auch wenn du nicht ganz recht hast. Ja, ich bin mächtig, aber nicht so mächtig, wie du es eines Tages sein wirst. Deshalb möchte ich, dass du aufpasst. Eines Tages könnten deine Launen dafür sorgen, dass du aus Versehen mehr als nur ein paar Leben zerstörst.“

„In Ordnung, Mutter. Ich versuche aufzupassen, aber ich kann es nicht versprechen.“

„Oh, deine Ehrlichkeit …“ Sie ließ ein sanftes Lächeln aufblitzen. „Geh schon. Nachdem du mir die Gebühr für meinen Zauber bezahlt hast.“

Er schürzte die Lippen, beugte sich vor und küsste ihre weiche Wange. „Ich bin ein Prinz. Ich sollte nichts zahlen müssen.“

„Und ich bin eine Königin, deshalb musst du immer bezahlen. Geh jetzt. Such deinen Bruder und lern mit ihm, mein Schatz. Ich will nicht, dass du deinen Lehrern wieder davonläufst, um die Welt zu rächen.“

Winkend rannte er davon – aber nicht in sein Studierzimmer. Er hatte zu viel Energie und musste schwimmen. Schwimmen beruhigte ihn immer.

Im Hier und Jetzt senkte sich Dunkelheit hinab und schaltete Nicolais Verstand aus. Noch eine Gnadenfrist. Er fiel vollends zu Boden. Eine der Lianen riss ihm die Wange auf, aber er bemerkte es kaum. Er erinnerte sich an seine Vergangenheit.

Warum erinnerte er sich? Warum kamen die Erinnerungen so plötzlich auf ihn eingeflutet?

Die Heilerin, die seine Kräfte gefesselt hatte, konnte sie nicht befreit haben. Vielleicht hatten sich weitere von Nicolais Fähigkeiten selbst befreit. Das würde auch erklären, warum er von einer Sekunde zur nächsten den Ort gewechselt hatte. Vielleicht hatten diese Fähigkeiten seinen Glaskäfig zerstört.

Allerdings bewies eine schnelle Überprüfung, dass der Käfig noch da war und seine Fähigkeiten und Erinnerungen darin immer noch waberten, schneller und immer schneller. Doch jetzt tropften rote Striemen aus seinem Deckel und zerfraßen das Glas.

Rotes … Blut?

Die Wachen aus Delfina? Nein. Seitdem waren Tage vergangen, und er hatte auf nichts, was er im Palast getrunken hatte, reagiert. Und auch wenn er die Oger gebissen hatte, ihr Blut hatte er nicht getrunken, denn instinktiv war er sicher gewesen, es würde ihn vergiften.

Der letzte Mensch, von dem er getrunken hatte, war Jane gewesen. Er hatte an ihrem Hals gesaugt, und ihr Geschmack war so köstlich gewesen, dass er immer dortbleiben wollte. Und vielleicht wäre er das. Vielleicht hätte er sie leer getrunken, wenn der Gedanke, sie zu verlieren, ihn nicht aufgehalten hätte. Das, gefolgt von dem Gedanken, den Himmel zwischen ihren Beinen zu kosten, hatte ihn dazu getrieben, von ihrem Hals abzulassen und tiefer hinabzutauchen. Und er war noch nie so froh gewesen, eine Mahlzeit zu beenden. Zwischen ihren Beinen war sie süßer als der Nektar der Honigblume.

Er wollte sie noch einmal dort kosten. Wollte endlich in ihr versinken, sie vollkommen besitzen, ein Teil von ihr werden. Wollte hören, wie sie vor Leidenschaft aufschrie, wollte von ihr vollkommen umschlungen werden. Wollte ihre Nägel in seinem Fleisch spüren, wie sie ihn zeichneten.

Wo war sie? Hatte sie …

Noch eine Erinnerung überkam ihn, dieses Mal mit so viel Macht, dass er vor Schmerz nur noch aufstöhnen konnte. Bilder und Stimmen liefen ineinander und formten sich vor seinen Augen wieder zu einer Szene.

„Halt fester, Junge. Du verlierst dein Schwert innerhalb von Sekunden mit einem so kümmerlichen Griff.“

Er war immer noch ein Junge, nur wenig älter, und stand vor einem großen muskulösen Mann, sein Haar schwarz wie die Nacht, die Augen aus poliertem Silber. Er trug ein Hemd aus feinster Seide und dazu Lederhosen, seine Stiefel waren makellos und unter den Knien geschnürt. Ein reicher Mann, keine Frage. Ein Mann, der weise war und gewohnt, zu befehlen.

Ein Krieger.

Sie befanden sich in der Mitte eines Hofes, und um sie herum standen Pflanzen und Blumen in voller Blüte. Die Luft war lieblich und der Boden unter ihren Füßen weiches smaragdgrünes Gras. Glatte Marmorwände schlossen den Bereich ein, aber es gab kein Dach, sodass das Licht der Morgensonne zu ihnen hereinschien und sich an den goldenen Adern der Steine brach. Und direkt über ihnen erstreckten sich die Balkone der königlichen Schlafgemächer, wie gemacht für Zuschauer.

Ein dunkelhaariger Junge hockte auf der Brüstung des Balkons rechts von Nicolai, drehte einen Dolch in seiner Hand und sah ihnen zu. Nicolai wollte seine Brust vorstrecken und darauf trommeln. Er würde seinen jüngeren Bruder gleich auf alle möglichen Arten beeindrucken. Er würde mit tödlicher Sicherheit zustechen, mit mörderischer Kraft und, wenn er sich gut konzentrierte, mit zwei Schwertern auf einmal.

„Nicolai“, sagte der Mann vor ihm ungeduldig. „Hörst du mir zu?“

„Natürlich nicht. Sonst hätte ich gehört, was du gesagt hast, und du würdest es nicht gleich wiederholen.“

Dayn lachte leise.

Vater war nicht amüsiert, und er belohnte Nicolai nicht für seine Ehrlichkeit. „Ich habe Verhandlungen, an denen ich teilnehmen muss, mein Sohn. Verhandlungen in einem anderen Königreich, was bedeutet, du hast die Verantwortung, während ich fort bin. Ich muss wissen, dass du dich und die, für die du verantwortlich bist, verteidigen kannst. Pass auf. Sofort.“

„Ja, Sir.“ Er konzentrierte sich auf das, was vor ihm geschah, und wog das Metall in seinen Händen. „Warum müssen wir immer wieder üben? Ich bin gut.“

„Du bist gut, aber du musst ausgezeichnet werden. Letztes Mal habe ich dich so schlimm verletzen können, dass du eine Narbe bekommen hast!“ In den Worten seines Vaters lag ein scharfer Vorwurf. „Du musst lernen, mit all deinen Waffen zu arbeiten, zu jeder Zeit, Tag und Nacht. Du musst mit einer Hand arbeiten, mit beiden, im Stehen, im Sitzen oder verletzt. Ohne dich ablenken zu lassen.“

Nicolai hob sein Kinn. „Warum kann ich meinen Gegner nicht einfach mit meinen Fangzähnen umbringen?“ Das hatte er schon getan. Viele Male. Bis die Vorhersage seiner Mutter eingetreten war und er ein ganzes Dorf hingerichtet hatte, weil ein einziger Mann dort seine Frau schlug.

Da hatte er endlich seine Gefühle zu kontrollieren gelernt und seitdem nicht mehr die Beherrschung verloren. Das bedeutete allerdings nicht, dass seine Fangzähne nutzlos waren.

„Und wenn man dir die Fangzähne aus dem Mund reißt?“, wollte sein Vater wissen.

„Niemand wäre je so dumm, meinen Zähnen zu nahe zu kommen. Mutter sagt, ich bin der mächtigste Vampir auf der Welt. Ich kann im Licht stehen, und ich kann jedem die Macht stehlen, wenn ich will.“

„Nein, sie sagt, du wirst einmal der Mächtigste sein.“ Die Miene seines Vaters verhärtete sich. „Du bist ein Prinz, Nicolai. Der Kronprinz. Viele Bewohner dieser Welt und der anderen begehren dein direktes Anrecht auf meinen Thron. Viele werden versuchen, dich zu verletzen, nur um mich dadurch zu verletzen. Du musst wissen, wie du dich verteidigen kannst, jederzeit und in jeder Situation.“

Nicolai sah sich sein Schwert noch einmal genau an. Lang, schmal und auf Hochglanz poliert. Er war noch nicht an das Gewicht gewöhnt, und auch nicht an die Breite des Griffes. „Na gut. Ich übe noch weiter, aber warum bringst du nicht auch Dayn etwas bei?“

„So viele Fragen.“ Sein Vater seufzte.

„Warum muss er zusehen? Er ist auch ein Prinz, weißt du.“ Und er war so begierig darauf, zu lernen. Jeden Tag, nachdem Nicolai seine Lektion erhalten hatte, bettelte Dayn darum, dass er ihm auch etwas beibrachte. Nicolai konnte ihm nie widerstehen.

Er liebte seinen Bruder und würde für ihn sterben. Für einen Jungen, der von den meisten Palastbewohnern gefürchtet wurde. Dayn verstand sich gut mit den Tieren, die über das Gelände streiften, und lieber rannte er mit ihnen, statt sich mit der eigenen Art abzugeben.

Nicolai verstand die Bedürfnisse seines Bruders. Manchmal fühlte auch er seine animalische Seite, besonders wenn sein Temperament mit ihm durchging, er die Kontrolle verlor und nur noch den Drang spürte, zu zerstören und anderen zu schaden.

„Seine Zeit wird kommen“, sagte der König. „Schon bald.“

„Aber für die neue Prinzessin nicht, richtig? Sie wird immer zu zart sein.“ Er verzog das Gesicht.

„Breena ist gerade erst geboren worden, und sie ist keine Bluttrinkerin wie du und Dayn. Sie ist eine Hexe, wie eure Mutter. Du und Dayn müsst sie immer beschützen. Und im Gegenzug wird sie eure Männer nach der Schlacht heilen, wie eure Mutter es einst getan hat.“

Nicolai sah beschämt auf seine schmutzigen Stiefel hinab. Er war der Grund dafür, dass seine Mutter die Wunden anderer nicht mehr heilen konnte. Er hatte es nicht gewollt, aber er hatte ihr die Gabe gestohlen. Sie machte ihm keine Vorwürfe deswegen, hatte ihn nicht einmal angeschrien.

Er würde alles tun, um ihr die Gabe zurückzugeben. Aber er konnte es nicht. Was er einmal genommen hatte, konnte er nie wieder zurückgeben. Nie. Er hatte es versucht, wieder und wieder. Das Einzige, was er tun konnte, hatte seine Mutter gesagt, war, zu lernen, wie man dieses neu entdeckte Talent, anderen ihre Magie zu rauben, kontrollierte. Und das hatte er. Er war wochenlang in seinem Zimmer geblieben, hatte gelesen, gelernt und geübt.

„Glaubst du, ich werde ein großer Anführer werden, wie du?“, fragte er.

„Ich glaube, du und deine Fragen bringen mich eines Tages ins Grab, Junge.“ Der König streckte sein Schwert aus und berührte damit das Metall in Nicolais Händen. „Fangen wir an.“

Dunkelheit.

Nicolai atmete schwer und schwitzte unaufhörlich. Zitterte. Seine Hände schmerzten. Er sah sie an. Er musste sich die Schläfen aufgekratzt haben, um den Schmerz aufzuhalten, der in ihm explodierte, denn seine Nagelbetten waren blutig und seine Klauen nur noch Stümpfe.

Sein Vater hatte ihn gewarnt.

Sein Vater. Der König.

Sein Name war wirklich Nicolai. Was das anging, hatte Odette nicht gelogen. Sie hatte gewusst, wer und was er war. Sie alle hatten es gewusst. „Von so edler Geburt“, hatte Laila gern gesagt, und jetzt wusste er, warum. Er war ein Prinz, ein Kronprinz, und eines Tages würde er König sein.

Bruder von Breena. Seine Schwester. Seine wunderschöne kleine Schwester mit ihren goldenen Locken. Sie war zu einer bezaubernden jungen Frau mit einem brennenden Herzen herangewachsen, obwohl man sie immer behütet, immer beschützt hatte. Nicolai hatte sie ein paarmal aus dem Palast geschmuggelt, damit sie erfuhr, wie sich die Freiheit anfühlte, die für ihn selbstverständlich war. Wo war sie jetzt?

Dayn, der Bruder, der ihm am nächsten war, so dunkel und gefährlich wie die Nacht und genauso geliebt. Wo war er?

Sein Vater, stolz und stark. Ehrenhaft, entschlossen. Niemals bereit, einer Herausforderung auszuweichen. Wo war er?

Seine Mutter, sanft und zärtlich, so fürsorglich, selbst im Angesicht seiner schlimmsten Launen. Wo war sie?

Micah, der jüngste Sohn, so voller Leben. Wo war er?

Nicolai zog sich hoch in die Hocke. Irgendwie hatte er es geschafft, den Wald zu verlassen. Er befand sich jetzt an einem See. Nicht an dem See, an dem er mit Jane gewesen war. Dieses Wasser war zäh und rot. Alle paar Sekunden kam ein zischender schnappender fleischfarbener Fisch an die Oberfläche, beschrieb in der Luft einen Bogen und fiel wieder zurück.

Die Steine um ihn herum waren rasiermesserscharf. Hundert Meter entfernt, in der Mitte des dunkelroten Wassers, stand eine Burg. Die Pflanzen, die in der Einöde in alle Richtungen krochen, klebten wie dunkler Schimmel an den Mauern. Es gab eine Brücke, und auf ihr liefen Monster Patrouille.

Sie hatten ihn noch nicht bemerkt, aber das würden sie bald. Er war ungeschützt, er musste ein Versteck finden. Vielleicht trinken, um sich zu stärken. Dann musste er Jane finden. Sie war da draußen, irgendwo. Wenn sie verletzt war …

Sie durfte einfach nicht verletzt sein. Er musste sie um jeden Preis beschützen. Doch so entschlossen er auch war, es gelang ihm nur, wenige Schritte zu kriechen, ehe die nächste Erinnerung ihn überkam und ihn festnagelte.

In dieser neuen Szene war er bereits ein erwachsener Mann, und sein dunkles Haar hing ihm unordentlich bis auf die Schultern. Sein Oberkörper war nackt, und er saß an einem steinigen Ufer, fast wie das, an dem er sich gerade befand. Nur waren die Steine hier glatt und das Wasser klar. Er hatte seine Stiefel ausgezogen, ehe er sich hingesetzt hatte, und sie warteten trocken am Strand auf ihn, aber seine Hosen waren durchweicht und mit Salz verklebt.

Der Mond stand hoch und golden am Himmel, und am Himmel verstreute Sterne leuchteten auf ihn herab. Sie zwinkerten ihm zu und verspotteten ihn mit ihrer Gelassenheit. In seinen Gedanken war mehr Chaos, als er ertragen konnte.

Sein Vater, König Aelfric, war krank.

Die Heiler wussten nicht, ob er sich wieder erholen würde. Nicolais Mutter, Königin Alvina, war außer sich vor Sorge. Sie hatte unzählige Zauber und Beschwörungen versucht, aber nichts hatte geholfen. Nicolai selbst hatte unzählige Zauber versucht und die Gabe der Heilung eingesetzt, die er ihr geraubt hatte. Nicht einmal das war erfolgreich gewesen. Alvina hatte dunkle Mächte im Verdacht, aber solange sie nicht wusste, welche Magie da am Werk war, waren ihr praktisch die Hände gebunden.

Nicolai liebte seinen Vater, egal wie raubeinig der König sein konnte. Außerdem war er noch nicht bereit, auf den Thron zu steigen. Er war sich nicht sicher, ob er jemals bereit sein würde. Wenn er König wurde, bedeutete das, sein Vater war tot, und er wollte, dass sein Vater ewig lebte.

Und um ehrlich zu sein, obwohl Nicolai sich wirklich Mühe gab und obwohl mehrere Jahre ohne einen Anfall vergangen waren, ging manchmal immer noch sein Temperament mit ihm durch. Wenn das geschah, mussten darunter ganze Dörfer leiden. Er war einfach zu aufbrausend, um ein ganzes Königreich zu regieren.

Sein Vater mochte rau sein, aber er war fair. Fair, außer wenn es um Nicolais Hochzeit ging. Obwohl sein Vater gefordert, geflucht, geschrien hatte, Nicolai weigerte sich, sesshaft zu werden. Er war noch nicht bereit, sich eine Königin zu nehmen.

Für immer an dieselbe Frau gefesselt sein? Das konnte eine Hölle, so düster wie der Abgrund, bedeuten. Er verbrachte jede Nacht mit einer neuen Frau. Manchmal zwei neuen Frauen. Und einmal dreien.

Gut, in Ordnung. Vielleicht war er dieses Lebensstils müde geworden. Vielleicht war die Beute nie die Jagd wert gewesen. Aber einige seiner Freunde hatten geheiratet, und auch wenn ein paar von ihnen glücklich waren, anderen ging es elend – und es gab nichts, was ihr Schicksal ändern konnte. Eine Heirat war für immer.

Sein Vater wollte, dass Nicolai eine Prinzessin aus einem der benachbarten Königreiche heiratete, aber er hatte noch keine gefunden, die ihm gefiel. Einer solchen Kreatur seinen Namen zu geben, sein Königreich mit ihr zu teilen würde ihm jede Stunde seines Lebens verleiden.

„Nicki!“, rief eine junge Stimme. „Nicki!“

Nicolai sprang auf und balancierte auf den Steinen seinem jüngsten Bruder entgegen. Der jüngste der Prinzen stand am Strand, neben Nicolais Stiefeln, und es ging ihm gut. Erleichterung machte sich in ihm breit.

„Micah, verdammt. Was machst du hier draußen? Bis du älter bist, sollst du nicht allein ans Wasser gehen.“

Der kleine Junge schürzte die Lippen, ganz Entschlossenheit und Mut. „Ich bin nicht allein. Du bist ja hier!“ In seinen Augen stand ein neckisches Funkeln.

„Verdammt.“ Einfach so war Nicolais Ärger wieder verflogen. Wie immer konnte er diesem Schlingel einfach nicht böse sein. Micah sah zu ihm auf, wollte Zeit mit ihm verbringen, und Nicolai liebte das. Liebte ihn. Auch wenn der Junge seinen Namen verstümmelt hatte, als er zu sprechen lernte, und seine Familie ihn manchmal immer noch mit dem Spitznamen aufzog. „O-lai.“

Wenigstens hatte er sich später zu „Nicki“ entschlossen.

Die Frauen, die ihren Weg in Nicolais Bett fanden, nannten ihn oft bei diesem Kosenamen, aber das war eine Vertraulichkeit, die er ihnen nicht gestattete, und sie taten es nie ein zweites Mal.

Fast fürchtete er, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Er liebte seine Familie von ganzem Herzen, aber niemand sonst konnte die Barriere durchdringen, die er, ohne es zu wollen, um sich errichtet hatte.

„Bist du zum Schwimmen hergekommen?“, fragte Micah, als Nicolai neben ihm stand.

„Nein, um nachzudenken.“

„Kann ich helfen?“, fragte der Junge eifrig. Goldenes Haar leuchtete im Mondlicht. Er lächelte. Zwei seiner Zähne fehlten. Er war kein Vampir wie Nicolai und Dayn, aber er war dennoch mächtig. Auch wenn er das Herz eines Kriegers hatte, war er doch auf viele Arten seiner Mutter und seiner Schwester ähnlich.

„Natürlich kannst du.“ Nicolai setzte sich hin und klopfte auf den Sand an seiner Seite.

Micah ließ sich neben ihn fallen. Einige Sekunden lang atmeten sie die feuchte salzhaltige Luft ein und schwiegen. Natürlich saß Micah dabei nicht still. Er rutschte hin und her, trat mit seinen Beinen aus, versuchte es sich bequem zu machen, schaffte es aber nicht richtig.

„Nachdenken ist anstrengend“, sagte Micah schließlich. „Nicht wie spielen.“

Nicolai verkniff sich ein Lächeln. „Was willst du spielen?“

Die Szene veränderte sich innerhalb eines Herzschlags, ohne einen einzigen Augenblick der Dunkelheit. Nicolai lag plötzlich im Bett neben seinem Vater. Irgendwie wusste er, dass seit jener Nacht am Strand einige Tage vergangen waren.

Der König erholte sich. Die Heiler hatten ihn zur Ader gelassen, und Nicolai hatte ihm Blut direkt aus seinem Körper gegeben. Jeden Tropfen, den er geben konnte, hatte Nicolai geopfert … und noch mehr. Endlich Erfolg. Das Gift war besiegt, und jetzt genasen die zwei Männer gemeinsam.

„Wähle dir eine Frau und heirate sie“, sagte sein Vater. „Wenn nicht eine der Prinzessinnen, dann irgendeine andere. Bitte, Nicolai. Ich wäre fast gestorben. Das könnte immer noch geschehen, auch wenn ich mich mit jeder Stunde kräftiger fühle. Bitte. Du brauchst einen Anker, wie deine Mutter es für mich ist. Jemanden, der dich vor dem Wahnsinn zurückhält. Bitte.“

Sein Vater hatte ihn noch nie um irgendetwas gebeten. Dass er es jetzt tat, und aus diesem Grund … Nicolai hatte nicht mehr die Kraft, sich ihm zu widersetzen. Er war ohnehin längst selbst zu dem Schluss gekommen, dass dies die beste Lösung war.

„Wie du willst, Vater. Es wird geschehen. Eine Prinzessin aus einem der Nachbarreiche, wie du es bereits gebilligt hast.“

Die Erleichterung war im Raum spürbar. „Danke. Ich danke dir, mein Sohn.“

Dunkelheit, schon wieder. Undurchdringlich.

Nicolai hörte eine Frau schreien und erschrak.

Als er dieses Mal wieder zu sich kam, hockte er auf einem flachen Stein inmitten des roten Sees. Näher an den moosbewachsenen Mauern des Schlosses. Die Monster hatten ihn gewittert und spähten mit ihren glänzenden Augen zu ihm herüber. Ihre Schwänze peitschten hinter ihnen, zum Angriff bereit, sollte er es wagen, noch näher zu kommen.

Der Mond stand noch hoch am Himmel, die Spitzen seiner Sichel verschwammen hinter einer Aschewolke, die alle Sterne verbarg.

Die heimtückischen Fische sprangen um ihn herum, und ihre Zähne schnappten nach ihm, näher, immer näher. Er war schweißgebadet, sein Herz hämmerte gegen seine Rippen, und seine Muskeln zitterten. Sein Verstand war immer noch verwirrt. Aelfric. Alvina. Namen.

Jedes Mitglied seiner Familie hatte jetzt einen Namen.

Verdammt, wo waren sie? Lebten sie noch? Wie lange war er von ihnen getrennt gewesen?

Eine ganze Weile, wenn man die Landschaft um ihn herum betrachtete.

Er musste nach ihnen suchen, aber dieser Schrei … eine Frau … Ihm wurde klar, dass es seine Frau gewesen war. Jane war es, die schrie.

Jane!

Sein Blut brannte in seinen Adern, versengte ihn, warf Blasen auf. Diese Blasen fingen Feuer, wurden kleine Feuerstürme, die sich rasend schnell ausbreiteten. Mit einem Knurren richtete er sich auf. Er rutschte auf den schleimigen Felsen aus, aber es gelang ihm, sein Gleichgewicht zu halten.

Die Monster erstarrten. Er würde sie herausfordern. Die Burgmauern mit ihren Eingeweiden bedecken. Ja … Sein Herzschlag verlangsamte sich, bis er nur noch eine bleiern hämmernde Faust in seiner Brust war. Nein, beschloss er als Nächstes. Er würde Rache nehmen, würde seine Familie finden – danach. Jetzt brauchte ihn Jane.

Sein Blick wanderte über das besudelte Wasser zu den zerklüfteten Klippen am anderen Ufer. Zu dem schrecklichen Schloss, das direkt aus einem Albtraum zu stammen schien. Er war kraft seiner Erinnerungen hierhergereist. Deshalb schien es nur logisch, dass er auch Jane durch seine Erinnerungen erreichen konnte.

Er schloss die Augen und stellte sie sich vor, so wie er sie zuletzt gesehen hatte. Unter ihm. Ihr nackter Körper zu seinem Vergnügen vor ihm ausgebreitet.

Ihr Gesichtsausdruck war weich und erhitzt, ihre Zähne knabberten an ihrer prallen Unterlippe. Ihre Augen waren halb geschlossen, und ihre langen Wimpern warfen Schatten auf ihre geröteten Wangen. Ihre prächtige Mähne aus honigblondem Haar war um ihre Schultern ausgebreitet, die Spitzen lockten sich.

Ihre Brüste waren klein, aber fest, ihre Brustwarzen rosig und hart. Er hatte sie geküsst, an ihnen gelutscht. Ihr Bauch war flach, ihr Nabel ein Kunstwerk. Er leckte hinab, weiter hinab … Zwischen ihren Beinen ein flaumiges Kissen aus honigfarbenen Locken, das seinen neuen Lieblingsort auf dieser Welt und der anderen unter sich verbarg.

Ihre Beine waren lang und schlank, und sie legten sich auf genau die richtige Art um ihn.

Nicolai, glaubte er sie flüstern zu hören.

Von ihr wollte er sich gern Nicki nennen lassen. Alles, was sie einander näher brachte. Er wollte sie an sich gebunden wissen, auf jede nur denkbare Art, für immer. Eine Ewigkeit, die Jane ihm vielleicht verweigerte. Wenn er einer Prinzessin aus dem Nachbarreich einen Antrag gemacht hatte – und er versuchte gar nicht erst, sich einzureden, dass es sich bei dieser Prinzessin vielleicht um Odette handelte, um sein Leben zu vereinfachen –, dann wartete tatsächlich jemand auf ihn.

Sie hatten aber nicht geheiratet. Heirat bedeutete bei seinem Volk für immer, und sein Körper würde auf niemanden reagieren, der nicht seine Frau war. Aber. Ja, aber. Er könnte seinen Namen und sein Leben bereits verschworen haben. Es war einfach, so etwas nicht ernst zu nehmen, wenn man sich nicht daran erinnern konnte. Jetzt war es nicht mehr so einfach, aber das würde ihn auch nicht abhalten.

Nicolai wollte nicht ohne Jane sein. Er würde nicht ohne sie sein. Er würde sie finden und nach Elden bringen. Sie sollte seine Königin sein.

Elden. Dieses vernichtete Land sollte wirklich Elden sein?

Der blutige See war so sehr Teil seines Königreiches wie das Ödland, in dem er zunächst aufgetaucht war. Sein Königreich. Nicht das des Blutmagiers. Ein Mann, von dessen Zerstörung Nicolai geträumt hatte. Den er zerstören würde.

Ihm wurde schlecht, als ihm klar wurde, was das bedeutete. Der Blutmagier hatte seine Eltern hingerichtet. Aelfric und Alvina hätten nie zugelassen, dass ihr Land so verödete.

In Nicolai erwachte das schmerzliche Verlangen, es ihm heimzuzahlen.

Denk jetzt nicht daran. Finde Jane.

Er öffnete die Augen und merkte, dass er sich selbst zurück in die Einöde transportiert hatte. Die schlängelnden Lianen kamen auf ihn zu … er schloss fest die Augen, stellte sich Jane vor, spürte, wie sein Körper sich auflöste und wie der Boden unter seinen Füßen verschwand. Als er das nächste Mal die Augen öffnete, umgab ihn der fruchtbare Wald von Delfina. Er sah allerdings weder ihr Lager noch Jane.

Er atmete tief ein und nahm ihren Duft wahr. Dann setzte er sich in Bewegung, rannte schneller und immer schneller, um die Entfernung zwischen ihnen so schnell es ging zu verringern. Die ganze Zeit stellte er sie sich weiter vor, ebenso wie die Bäume, unter denen sie gelegen hatten, bis er sich endlich in dem Lager wiederfand, das sie ihnen gebaut hatte.

Weil er nicht schnell genug anhalten konnte, prallte er gegen einen Baumstamm und stolperte rückwärts ins Wasser.

Noch ein Schrei hallte in seinen Gedanken wider, während er zurück ans Ufer ging, dieses Mal lauter und viel verzweifelter. Seine Fangzähne verlängerten sich und schnitten ihm in die Unterlippe. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, doch seine Klauen, die noch nicht nachgewachsen waren, kitzelten nur an seiner Haut. Die Dolche, die Jane gemacht hatte, lagen ihm zu Füßen. Er schnallte sich so viele er konnte an Arme und Beine.

Dann setzte er sich mit entschlossenen Schritten in Bewegung. Ihr Duft war jetzt stärker … mit Angst vermischt … Jeder Schritt näher brachte sein Blut vor Wut zum Kochen. Sie war gezeichnet, sein, und der Pfad, den sie genommen hatte, wurde für ihn zu einem Leuchtfeuer in der Nacht.

Jeder, der sie anfasste, musste leiden. Es war Zeit, dass das ganze Königreich Delfina – und alle Königreiche in seinem Land – die Wahrheit erfuhren. Selbst wenn das bedeutete, die tödliche Kraft seiner Launen zu entfesseln.

Ich komme, meine kleine Jane.