45. KAPITEL

Unter dem Vorwand, dass hier niemand nach ihnen suchen würde, hatten sie sich in Breezes Suite im "Vier Jahreszeiten" getroffen. Keiner vor ihnen hatte es angedeutet. Aber die Frage, ob sie jemals wieder in dem schicken Hotel übernachten würden, hing unausgesprochen im Raum, als sie alle schwiegen. Breeze hatte Jane und Mattie sexy Nachthemden geliehen, und sie tranken Champagner, doch es gab wenig zu lachen und nichts zu feiern. Trotzdem konnte Breeze der Versuchung nicht widerstehen, alle etwas aufzuheitern.

"Lasst uns Überbieten spielen", sagte sie und setzte sich auf der Chaiselongue aufrecht hin. Beide Träger ihres eleganten Pyjamas rutschten Breeze über die nackten Arme, als sie die zweite Magnumflasche Champagner aus dem Eiskühler nahm und die Gläser auffüllte.

Mattie musste bei dem Gedanken lächeln, obwohl es sie so viel Anstrengung kostete, als würde sie den Mount Everest bezwingen. Offensichtlich war Breeze nicht bewusst, dass ihr seidenes Pyjamatop Newtons Gesetzen der Schwerkraft nur wenig entgegenzusetzen hatte. Dass Breeze ihre Oberweite absichtlich provozierend zur Schau stellte, bezweifelte Mattie kaum, besonders wenn John Bratton in der Nähe war – und in diesem Moment standen er und seine Männer vom Geheimdienst neben der Tür zum Wohnzimmer der Suite.

Was Jane anging, hatte sich Bratton als loyal und vertrauenswürdig erwiesen. Er hatte ihre Geheimnisse für sich behalten, und seine Männer waren genauso verschwiegen. Mattie war sich nicht sicher, ob er für Jane die Kombination aus Bodyguard und persönlichem Assistenten darstellte oder ob Jane mehr in ihm sah. Mattie war einfach nur froh, dass Bratton ihnen zur Seite stand.

"Das Thema sind persönliche Katastrophen", sagte Breeze. "Möchte jemand anfangen?"

Sie ließ die Magnumflasche zurück in den Eiskühler gleiten. "Okay, ich fange an. Überbietet das hier, wenn ihr könnt, meine Damen. Ich werde fast sicher mein Ressort und die internationale Klientel verlieren. Es hat mich den größten Teil meines Erwachsenenlebens gekostet, das aufzubauen. Wenn mein Gesicht erst mal auf Zeitungen und auf den Fernsehschirmen im ganzen Land zu sehen ist, wird keiner mehr auch nur einen Fuß in die Nähe meiner Anlage setzen."

"Ich wusste nicht, dass du überhaupt ein Erwachsenenleben hattest", sagte Jane ohne Bitterkeit. Ihren geblümten Sarong um sich drapiert, trank sie den Champagner wie Fruchtsaft.

"Moment, Moment." Mattie hatte vermutlich selbst zu viel getrunken. Vorsichtig stellte sie ihr Glas auf einen seltsam aussehenden Untersetzer ab, der wie ein Meeresschwamm aussah.

"Breeze hat recht", sagte sie. "Sie muss die Anonymität ihrer Kunden schützen. Wie kann sie das, wenn sie unter Mordverdacht steht? Sie werden fürchten, ins Licht der Öffentlichkeit zu geraten, und sich sozusagen aus dem Staub machen."

Unwillig stemmte Breeze die Fäuste auf die Hüften. "So funktioniert das Spiel nicht. Du musst mich mit Details aus deinem Niedergang toppen, nicht aus meinem."

Mattie saß im Schneidersitz auf dem Bett und trug das schwarze Spitzennachthemd, das Breeze ihr mit der Bitte – nein, mit dem Befehl – gegeben hatte, es anzuziehen.

"Na ja, mein Sturz wird schlimmer sein. Ich werde meine Zulassung verlieren und meines Amtes enthoben werden. Ich werde den Richterstuhl nie mehr betreten und …", Matties Kehle fühlte sich wie zugeschnürt an, sodass sie nur mit Mühe weitersprechen konnte, "ein guter Freund von mir ist schwer verletzt."

Seit er vor einer Woche ins Krankenhaus gebracht wurde, lag Jameson im Koma, und sein Zustand war immer noch kritisch. Mattie hatte viele Stunden im Krankenhaus verbracht und das Gefühl, dass sie auch heute da sein sollte. Aber jetzt, da sie bei ihren Schwestern war, wusste sie, dass sie sich richtig entschieden hatte. Allein mit ihnen zusammen zu sein, hatte den Schmerz und die Sorgen betäubt. Der Champagner tat wahrscheinlich auch sein Übriges, genau wie Breezes verrückte Art, mit der bevorstehenden Katastrophe umzugehen.

Heute Abend würden sie sich entscheiden, ob sie freiwillig ins Gefängnis gingen. Tansy war unter Arrest genommen worden; allerdings war sie nur wegen zwei Kapitalverbrechen angeklagt worden: wegen Mordes und versuchten Mordes. Sie hatte sich so geschickt dabei angestellt, Mattie die Entführung von Jameson anzuhängen, dass der Richter entschieden hatte, Tansy diesbezüglich nicht anzuklagen. Jameson hatte seinen Peiniger nie gesehen, und alle Beweise belasteten Mattie – der Knoten, die Pistole, das Auto und die Augenbinde. Glücklicherweise hatte Mattie ein Alibi. Zum Zeitpunkt der Entführung hatte sie sich auf der anderen Seite des Landes aufgehalten.

Es gab auch keine ausreichenden Beweise, um Tansy mit O'Neills oder Brouds Tod in Verbindung zu bringen. Grace' Tochter hatte im Gegenzug keine Zeit verloren, die einsamen Mädchen zu identifizieren und sie des Mordes an Miss Rowe zu beschuldigen. Diesen Behauptungen war die Polizei noch nicht nachgegangen, auch die Medien nicht. Mattie hielt es jedoch nur für die Ruhe vor dem Sturm.

"Grundgütiger", flüsterte Breeze. "Das ist furchtbar. Ich glaube nicht, dass das übertroffen werden kann. Bei Jane und mir gibt es keinen schwer kranken Mann. Das ist nicht fair, Mattie."

"Bei mir gibt es auch einen", sagte Jane, anscheinend gekränkt, weil man es vergessen hatte. "Larrys Gesundheit hat unter dem ganzen Stress gelitten. Ich habe das ganze Land enttäuscht. Wahrscheinlich die ganze Welt. Und das Schlimmste ist, dass meinetwegen ein unschuldiger Mann im Gefängnis saß. Ich sollte gehängt werden."

Breeze pfiff. "Gewonnen. Das Gold geht an Jane."

Mattie rührte sich aus ihrem Schneidersitz. Als sie die Beine ausstreckte, hörten sogar die anderen das laute Knarren. "Was ist mit diesem Knie?", fragte sie. "Versucht mal, das zu überbieten."

Niemand lächelte über Matties Versuch, sie abzulenken. Jane blickte in ihren Champagner, als würde sie die Blasen zählen. Sogar Breeze schien die Luft ausgegangen zu sein, aber offenbar war sie noch nicht bereit, aufzugeben.

"Möchte jemand über Katastrophen privaterer Natur sprechen?", fragte sie. "Macht jemand mit?"

Scheinbar ohne Luft zu holen, begann Jane: "Auch da kann ich euch schlagen. Dafür müsste ich eigentlich eine Beichte ablegen. Ich bin süchtig. Ich war abhängig von Tabletten und – Gott, das ist schwieriger, als ich dachte – fremden Männern. Und ich habe Angst, dass ich rückfällig werde."

"Jane." Ungläubig schüttelte Mattie den Kopf. "Keine Geständnisse mehr, bitte. Ich glaube nicht, dass ich das ertragen kann."

Breeze dachte nach. "In einem Frauengefängnis erledigt sich das Problem mit den fremden Männern von selbst, außer es gibt männliche Wächter."

"Dann muss ich ja nur auf die Tabletten verzichten. Vielen Dank."

Breeze warf Mattie einen auffordernden Blick zu, als sei sie an der Reihe. Doch Mattie konnte an diesem Tag nicht noch mehr Geheimnisse teilen.

"Jane, ist alles in Ordnung?", fragte sie.

Jane zuckte die Schultern und stellte ihr Glas Champagner ab. Sie wirkte nachdenklich – und wenn nicht ruhig, dann resigniert. "Geständnisse sollen die Seele erleichtern, oder nicht?"

Mattie lachte. "Dann müsste deine jetzt lupenrein sein."

Einige besinnliche Momente lang schwiegen sie. Schließlich ging Breeze zum Schlafzimmerfenster und sah hinaus auf die Stadt. "Ich will kein Mitleid", sagte sie. "Ich hatte ein verdammt gutes Leben, meistens jedenfalls, aber in einer Hinsicht ist es einsam gewesen. Ich habe mit vielen Männern geschlafen, so vielen, dass ich ehrlich gesagt den Überblick verloren habe, aber ich war nie verliebt."

Mit leiser Stimme fügte sie hinzu: "Ich glaube, ich bin dazu nicht fähig."

"Oder du hast Angst", sagte Mattie. "Während du nicht lieben kannst, traue ich niemandem. Es ist ein Wunder, dass überhaupt jemand mit unserer Vergangenheit eine normale Beziehung zu einem Mann haben kann. Dafür musst du dankbar sein, Jane."

Jane seufzte. "Ich bin dankbar für Larry. Ihn zu verletzen ist meine größte Sorge. Ehrlich gesagt bricht es mir das Herz."

Wieder verfielen sie in Schweigen und in die düstere Stimmung, die Breeze mit ihren Spielen einen kurzen Moment hatte vertreiben können. Furchtbare Dinge waren geschehen, manche hatten gute Menschen getroffen. Die Schwere des Geschehens konnten sie nicht länger als ein paar Augenblicke lang vergessen. Sie alle würden es ihr Leben lang mit sich herumtragen. Jetzt waren sie dabei, sich den Konsequenzen einer Tat zu stellen, die – welche Umstände auch immer sie gerechtfertigt haben mochten – das Leben mehrerer Menschen dramatisch verändert hatte.

Für Mattie fühlte es sich an wie das Ende, und sie wusste, dass ihre Freundinnen dieses schreckliche Gefühl von Endgültigkeit teilten. Sie waren drei Frauen, die mitten im Leben standen – und die bald alles verlieren würden, was ihnen im Leben lieb und teuer war. Alles, für das sie so hart gearbeitet hatten. Hinter den Kulissen hatten sie Unterstützung von David Grace gehabt. Trotzdem wusste Mattie, dass sie bis zur Erschöpfung gearbeitet hatte, um ihre Ziele zu erreichen. Das Gleiche galt für Jane und auch für Breeze, obwohl sie es wohl nie zugeben würde.

Mattie entschloss sich, nicht von den guten Nachrichten zu berichten, die sie heute von Jaydee erhalten hatte. Es erschien ihr unpassend. Und trotzdem freute sie sich insgeheim über die Maßen. Ronald Langstons Vater hatte den Missbrauch zugegeben und damit die Aussage seines Sohns bestätigt. Er hatte alles gestanden. Offenbar hatte Ronalds Verurteilung den Vater in eine Gewissenskrise gestürzt. Beide Söhne hatte er verloren, und seine Frau hatte ihn nach der Verhandlung verlassen. Mit seinen furchtbaren Taten konfrontiert, war er allein zusammengebrochen. Roland würde bald freigelassen, und er und sein kleiner Bruder würden bei seiner Mutter leben. Der Vater hatte einer Therapie zugestimmt. Dass er seine Familie irgendwann zurückbekommen würde, konnte niemand Langston garantieren.

Für nichts gibt es Garantien, dachte Mattie. Man tut, was man für das Richtige hält und verlässt sich dabei auf seinen Glauben. So war der Lauf der Dinge. Auch wenn Mattie es gern anders gehabt hätte, das war alles, worauf man sich nach den Schlussanalysen stützen konnte: der Glaube. Die kurzlebigste aller Tugenden. Und möglicherweise, nur möglicherweise, die mächtigste.

Natürlich war es Breeze, die letztlich das Schweigen brach. Obwohl sie fortwährend gedankenverloren an ihrem Champagner genippt hatte, war Breeze wahrscheinlich immer noch die Nüchternste.

"Das erste Mal in meinem Leben weiß ich nicht, was ich tun soll", sagte sie.

Etwas in ihrer Stimme erschreckte Mattie. Breeze klang schwach, resigniert.

Mattie wusste genauso wenig, was sie tun sollte. Diesmal gab es keinen guten Plan. Keinen Tyrann, den man erledigen musste, oder ein Ritual, das sie inspirieren würde.

Ruckartig setzte sie sich auf. "Kommt schon, Ladys, wie sagt man so schön? Wenn man bis zum Hals in der Scheiße steckt … was zur Hölle macht man dann?"

"Duschen?", schlug Jane vor.

Den gesamten Abend über hatte sich Jane nicht von ihrem Platz bewegt. Jetzt stellte sie die Füße auf den Boden, richtete sich auf und straffte die Schultern. Sie hätte sich auch an eine Versammlung wenden können.

"Keiner von euch muss etwas tun", sagte sie. "Dein Spa wird weiter existieren, Breeze, und du behältst deinen Richterposten, Mattie. Das hier ist mein Coup, nicht eurer. Ich habe das Verbrechen begangen und verdiene die Strafe. Ich werde den Mord gestehen, den ich begangen habe. Keine von euch wird darin verwickelt, hört ihr mich?"

"Jane, red nicht so einen Blödsinn."

Mit einer Handbewegung brachte sie Mattie zum Schweigen und blinzelte die Tränen weg. "Bitte streitet nicht mit mir. Ich möchte nicht mit euch kämpfen müssen. Lasst mich einfach tun, was ich tun muss. Ihr wisst beide, dass es das Richtige ist. Ich habe allein gehandelt, und ich habe es niemandem außer David Grace gesagt. Was für ein grauenvoller Fehler es auch war, ich habe ihn begangen. Ich bin diejenige, die dafür geradestehen muss."

Mattie war hin- und hergerissen. Sie warf einen Blick auf Breeze, die ebenfalls verzweifelt aussah. Jane machte einen sehr unnachgiebigen Eindruck. Praktisch betrachtet ergab es wahrscheinlich keinen Sinn, dass alle drei ihr Leben opferten. Es stimmte, dass Jane allein und ohne das Wissen der Freundinnen gehandelt und es über zwanzig Jahre geheim gehalten hatte.

Ob Jane sich dem tatsächlich allein stellen wollte? Sie hatte einen Johanna-von-Orléans-Komplex und es steckte vielleicht etwas von einer Märtyrerin in ihr. Aber Jane konnte nicht durchdacht haben, was sie gerade gesagt hatte. Wenn sie als Erwachsene verurteilt würde, müsste sie den Rest ihres Lebens im Gefängnis verbringen.

"Und ihr dürft mich auch nicht im Gefängnis besuchen", sagte Jane.

Mattie seufzte innerlich. Das war so typisch für Jane, die Mutterlöwin, die ihre Jungen beschützte.

Breeze zeigte sich dagegen völlig unbeeindruckt. Die Hände in die Hüften gestützt, ging sie zu Jane und sah ihr direkt ins Gesicht. "Ich streite nicht mit dir. Ich sage dir nur, dass du nicht allein untergehen wirst."

"Hört, hört!" Mattie zog die Champagnerflasche aus dem Kühler und trotzte der furchtlosen Führerin ihrer Jugend, Seite an Seite mit Breeze. Mit ihrer freien Hand zog Mattie Jane auf die Füße. Das brauchte mehr Mut als Kraft.

"Wir haben das zusammen begonnen", sagte Mattie. "Wir bringen es auch gemeinsam zu Ende."

Vielleicht erkannte Jane, dass es zwecklos war. Sang- und klanglos wollte sie dennoch nicht aufgeben. Um ihrem Protest Nachdruck zu verleihen, funkelte sie beide an, bis sie nicht mehr konnte. Schließlich nahm sie Mattie die Flasche aus der Hand, trank einen Schluck Champagner und reichte die tropfende Magnumflasche an Breeze weiter.

Schweigend tranken sie, doch Augenblicke später brachen die Frauen in Gelächter aus und umarmten sich. Niemand musste etwas sagen. Sie wussten alle, dass sie zusammen drinhingen.

Tria juncta in uno. Amicus usque ad aras.

Drei sind eins. Freunde bis zum äußersten Ende.

Als die alten Sätze in Matties Kopf widerhallten, spürte sie einen Anflug von Entschlossenheit in sich und einen winzigen glühenden Funken von etwas anderem. Wahnsinn vielleicht. Gab es eine Chance, dass sie heil aus der Sache herauskamen? Es war das erste Mal seit Grace' Tod, dass Mattie überhaupt ein Gefühl von Kontrolle hatte.

Mattie war auf dem Weg zum alten Gerichtsgebäude, als ihr Handy klingelte. Eine Hand am Lenkrad, angelte sie danach in ihrer Tasche. Wegen des Damoklesschwerts, das Mattie sprichwörtlich über dem Kopf schwebte, kehrte sie nicht offiziell zur Arbeit zurück. Aber sie wollte ihre Post durchsehen und den Papierkram erledigen, der sich auf dem Schreibtisch türmte. Sie hoffte, in der Ruhe ihres Büros klarer denken zu können als in der Intensivstation, wo sie eine lange Nacht neben Jamesons Krankenlager verbracht hatte.

Er zeigte immer noch keinerlei Reaktionen. Mittlerweile lag Jameson schon seit acht Tagen da, und die Ärzte sorgten sich zunehmend um seinen Zustand. Mattie konnte keine klaren Antworten bekommen, sie verstand nicht, warum die Medizin nach all den wundersamen Fortschritten bei einem Komapatienten so aufgeschmissen zu sein schien. Wie schwierig konnte es sein, jemanden aufzuwecken? Warum hatten sie dafür noch keine Lösung gefunden?

"Wo ist das Telefon?" Ohne den Blick von der Straße zu nehmen, tastete Mattie in der Tasche herum. Noch ein Klingeln und die Mailbox würde angehen. Da war es. In der falschen Seitentasche. "Hallo?"

"Miss Smith?", fragte eine männliche Stimme. "Könnten Sie bitte so schnell wie möglich ins St. Luke kommen? Es geht um Jameson Cross."

"Ich bin schon auf dem Weg", sagte Mattie und lenkte den Wagen auf die linke Spur, um zu wenden. "Ist alles in Ordnung mit ihm?"

"Der Arzt möchte mit Ihnen sprechen", sagte der Mann. "Er wird es Ihnen erklären."

Für Mattie klang das besorgniserregend, aber sie wollte nicht nachfragen. Sie rechnete bereits aus, wie lange sie bis zum Krankenhaus brauchen würde. Hatten sie ihn verloren? Würde sie sich wenigstens von Jameson verabschieden können?

Aufgewühlt von diesen Gedanken, fuhr sie eine halbe Stunde später auf den Parkplatz des Krankenhauses. Die Intensivstation befand sich in der fünften Etage. Statt auf den Aufzug zu warten, lief Mattie die Treppenstufen hinauf. Vor dem Zimmer angekommen, öffnete sie ohne zu zögern die Tür und sah, dass Jamesons Bett leer war.

"Oh Gott, nein", flüsterte sie. Entschlossen, herauszufinden, wohin man ihn gebracht hatte, stürzte sie aus dem Zimmer. Grauenhafte Bilder aus dem Krematorium tauchten vor ihrem inneren Auge auf. Mattie konnte sich diesen Gedanken nicht überlassen. Sie würden sonst nie mehr verschwinden und sie einzwängen wie ein zu heiß gewaschener Pullover, aus dem Mattie sich nicht befreien konnte.

"Mattie?"

Als sie den Flur entlang auf die Treppe zurannte, rief jemand ihren Namen. Mattie hielt inne und sah sich um. Außer einer Putzfrau, die eine Lache auf dem Boden wegwischte, entdeckte sie niemanden. Es musste aus einem der Krankenzimmer gekommen sein. Mattie ging zurück und spähte in die Zimmer. In einem Raum war der Vorhang um ein Krankenbett zugezogen worden.

Mattie trat ein und zog den Stoff zurück – und wurde beinahe ohnmächtig. "Jameson?"

Blass und erschöpft, aber sehr lebendig, lag er im Bett. Ihr erster Gedanke war, dass er nicht ihren Namen gerufen haben konnte. Vielleicht hatte sie es sich eingebildet. Er schien verwirrt zu sein, misstrauisch, sogar distanziert, so als wäre er gerade aus einem Albtraum hochgeschreckt. Ihr zweiter Gedanke galt den weißen Kopfkissen. Sie bildeten den perfekten Kontrast zu Jamesons schönem dunklen zerzausten Haar.

"Man hat mir gesagt, dass jemand mich hierhergebracht hat." Er schien in Matties Gesicht nach Antworten zu suchen. "Eine Frau. Warst du es?"

Nachdem der Arzt während der Visite eine vollkommene Heilung für Jameson vorausgesagt hatte, saß Mattie nun still neben dem Krankenbett und versuchte, das Geschehene zu verarbeiten. Dass sie begonnen hatte, die Hoffnung zu verlieren, wurde Mattie klar. Weil sie ihn beinah aufgegeben hatte, fühlte es sich seltsam an, ihn zurückzuhaben.

"Tun deine Verletzungen sehr weh?"

"Nur wenn ich atme, sagen sie jedenfalls."

Vielleicht liegt es an den Schmerzen, versuchte Mattie, sich zu beruhigen. Jameson erschien ihr immer noch distanziert und wachsam, er war nicht er selbst. Aber was hatte sie auch erwartet? Wegen der schweren Verletzungen war er tagelang bewusstlos gewesen. Er war durch die Hölle gegangen.

Sie konnte nicht aufhören, über den Kontrast zu staunen, den das weiße Bettzeug zu den dunklen Schatten auf Jamesons Gesicht bildete. Die Arme auf der Matratze, lag Jameson auf dem Rücken. Wie gern hätte Mattie ihn berührt, vielleicht um sich zu vergewissern. War seine Haut warm? Die feinen Härchen auf den Armen immer noch so seidig? Mattie gab dem Drang, ihn anzufassen, nicht nach. Es schien seltsam, dass es nur Tage her war, dass sie miteinander geschlafen hatten. Wilden Sex erlebt hatten. Nackt zusammen gewesen waren. Ungehemmt hatten sie sich angesehen und berührt. Jetzt konnte Mattie ihm nicht einmal eine Hand auf den Arm legen.

"Du weißt, dass deine Lebenslinie dies vorhergesagt hat", sagte sie, um die Stimmung aufzuhellen. "Erinnerst du dich an die Unterbrechung, von der ich dir erzählt habe?"

"Ah, ja, der Unfall, der mich umbringen könnte."

"Nur dass er das nicht getan hat."

Ein schwaches Lächeln. "Heißt das, dass ich mich von jetzt an frei bewegen kann?"

"Absolut."

Von mehreren Kissen gestützt, hörte Jameson Mattie zu. Sie schilderte, was in Grace' Villa passiert war und dass Tansy Black möglicherweise einige Menschen außer ihrem eigenen Vater getötet hatte, seinen Bruder eingeschlossen.

"Sie wollte etwas beweisen", erklärte Mattie, "und offenbar war es ihr egal, wer dafür sterben musste. Du hast Glück gehabt."

Er beobachtete sie. "Es gab einen Moment, in dem ich dachte, dass du es sein könntest", gab er zu. "Tansy hatte mich so gefesselt, wie die Frau, die auf dem Zeitschriftencover in meiner Sammlung abgebildet ist."

Vielleicht hätte es Mattie nicht entsetzen sollen, dass er sie verdächtigt hatte. Aber sie war es. Deshalb hatte er auf sie so seltsam gewirkt. Wie Jameson zu diesem Schluss gekommen war, selbst angesichts der Beweise, verstand Mattie nicht. Andererseits war sie von ihrem Misstrauen ihm gegenüber verfolgt worden – sogar nachdem Jane überzeugend dargelegt hatte, warum sie David Grace für den Mörder von Broud und O'Neill hielt.

Mattie erwiderte seinen forschenden Blick. Ihr wurde klar, dass sie sich trotz der körperlichen Leidenschaft emotional nie nähergekommen waren. Vielleicht hatte sie es sich gewünscht, zugelassen hatte Mattie es nicht. Bevor der Täter gefasst worden war, hatten Jameson und Mattie sich nicht vertraut, möglich, dass sie es noch nicht einmal jetzt taten.

Weil sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte, erzählte sie ihm noch mehr Details.

"Tansy muss uns beide ausspioniert haben", erklärte sie. "Sie wollte wahrscheinlich, dass du mich für schuldig hältst. Sie hat eine Pistole aus meinem Haus gestohlen und ihren Vater damit erschossen, aber ich glaube nicht, dass sie ihn wirklich töten wollte. Es war ein Verbrechen aus Leidenschaft. Offensichtlich hat sie mir den Mord anhängen wollen, genau wie deine Entführung."

Er ballte die Hand zur Faust. "Wie kann ein Gehirn so grauenhaft verdreht sein, dass es keinen Respekt mehr vor menschlichem Leben hat?"

Mattie schauderte. "Gott sei Dank ist sie für lange Zeit hinter Gittern. Hoffentlich für immer."

Bei dem erschreckenden Gedanken, was als Nächstes auf sie zukam, schwieg Mattie. Sie warf einen Blick auf ihre Fingernägel, die grauenhaft aussahen, nur nicht aus dem üblichen Grund. Um nicht verrückt zu werden, hatte sie an ihrem Steingarten gearbeitet, Unkraut gejätet und umgeräumt. Sogar ein paar richtige Blumen hatte Mattie in ihrem Garten gepflanzt, Sukkulente und andere schöne Gewächse. Blumen waren fröhlicher als Steine, und sie dufteten besser.

"Bist du okay?" Aufmerksam betrachtete Jameson ihre zerknitterte Bluse, die kakifarbene Hose und den besorgten Gesichtsausdruck.

"Ich hoffe es", sagte sie. "Es gibt noch etwas, das ich dir erzählen muss."

Er antwortete nicht. Sogar ein einfaches "Was?" hätte es leichter gemacht. Trotzdem redete sie drauflos, erzählte Jameson von dem gescheiterten Versuch der einsamen Mädchen, Miss Rowe mit Herzwein zu vergiften. Zuzugeben, dass Jane zurückgekehrt war, um den Job zu erledigen, für den Jamesons Bruder ins Gefängnis gewandert war, fiel Mattie am schwersten.

Das Gesicht schmerzverzerrt, kämpfte er sich mühsam in eine aufrechte Position.

"Jameson, bleib liegen", bat sie. "Du wirst die Narben aufreißen."

"Es war Jane, und das erzählst du mir erst jetzt?" Er ließ sich in die Kissen fallen.

"Ich habe es nicht gewusst." Mattie erklärte, dass Jane es nie jemandem gestanden habe außer David Grace. An ihn hatte Jane sich gewendet, weil sie von seiner Beziehung zu Miss Rowe wusste.

Jameson bemühte sich nicht, seine Bitterkeit zu verstecken. "Jane könnte bei Tansy Black in San Quentin landen. Da gehört sie wahrscheinlich hin."

Mattie konnte Janes Handeln nicht rechtfertigen, obwohl sie es besser verstand, wenn sie die Umstände betrachtete. Eines Tages könnte Mattie ihm vielleicht die Angst und Verzweiflung erklären, die ihre Freundin dazu getrieben hatte: Janes tief sitzendes, brennendes Pflichtgefühl. Jetzt war nicht der richtige Augenblick.

"Jane mag es getan haben, aber das entlastet weder Breeze noch mich. Wir sind genauso schuldig an dem versuchten Mord."

Er hatte sich beruhigt. "Sicher wird man berücksichtigen, dass sie euch misshandelt hat und versucht hat, euch an den Höchstbietenden zu verkaufen. Ihr wart minderjährig. Ihr müsst ihnen alles sagen."

Wie aus weiter Ferne nahm Mattie ein Klingeln wahr. Die Gegensprechanlage des Krankenhauses wahrscheinlich. Mattie konnte das Quietschen der fahrbaren Krankenliegen hören und wie Leute flüsternd miteinander sprachen, als sie an der Tür vorbeigingen.

"Um mich mache ich mir keine Sorgen", sagte sie. "Es ist Jane. Sie ist entschlossen, ins Gefängnis zu gehen, und es sieht schlecht für sie aus."

"Warum? Sie wird eine Armee von Anwälten bekommen. Ihr wird nichts passieren, wahrscheinlich muss sie keinen einzigen Tag absitzen."

Mattie war sich da nicht so sicher. Eine hochkarätige Anwaltschaft würde Jane möglicherweise aus Prinzip ablehnen. "Du musst sie hassen", brach es aus Mattie hervor. In demselben Moment fragte sie sich, ob seine Gefühle Jane gegenüber sich auf sie übertragen würden – oder ob das schon geschehen war.

"Nicht nur Jane hat meinen Bruder ins Gefängnis gebracht und ihn dort festgehalten. Es war eine Verschwörung, die seine Familie mit einschloss. Jane hat ihren Teil der Schuld, ich trage meinen."

Aber nur Jane wird wegen eines Verbrechens beschuldigt werden, dachte Mattie und sorgte sich um ihre Freundin.

Draußen ratterte eine weitere Liege vorbei, ein Arzt wurde angepiepst. Mattie war froh, dass sie diese Geräusche ignorieren konnte. Als sie darauf gewartet hatte, dass Jameson aufwachte, hatte jedes Piepsen im Krankenhaus sie in Alarmbereitschaft versetzt.

Er betrachtete sie intensiv. "Warum hast du mir geschworen, dass du nichts mit Miss Rowes Tod zu tun hattest? Warum hast du mir nicht die Wahrheit gesagt?"

"Ich wusste nicht, dass Jane es getan hatte", erklärte sie. "Und ich hätte es dir wegen Jane und Breeze ohnehin nicht sagen können. Wenn es nur um mich gegangen wäre, hätte ich es dir erzählt."

Das stimmte nicht ganz, und beide wussten es. Wieder lief alles auf Vertrauen hinaus. Mattie hatte ihm nicht genug vertraut, um ihn einzuweihen. Sie vertraute Menschen nicht schnell. Vielleicht würde sie das nie können. Mattie litt unter den gleichen Symptomen wie viele missbrauchte Kinder, es war eine Art posttraumatisches Stresssyndrom, das es ihr schwierig machte, die einfachsten Dinge im Leben anzunehmen. Dinge, die für die meisten Menschen selbstverständlich waren, wie jemandem zu vertrauen.

Nicht einmal sich selbst traute Mattie. Sie hatte Jameson am Arm berühren wollen. Nachdem sie mit ihm wilden, hemmungslosen Sex gehabt hatte, hätte es so leicht und harmlos sein sollen. Doch sie konnte nicht. Das wäre intim gewesen. Denn nach allem, was sie durchgemacht hatten, hätte diese Berührung etwas bedeutet.

Ob er das wusste?

Mattie fühlte etwas für Jameson Cross. So quälend es war, das zuzugeben, sie war wahrscheinlich dabei, sich in ihn zu verlieben. Aber das konnte sie ihm nicht sagen. Jetzt konnte sie ihn noch nicht einmal ansehen. Was die Zukunft für sie beide bereithielt, davon hatte Mattie keine Ahnung, außer dass einer von ihnen sich vollständig erholen würde.

"Ich bin froh, dass es dir besser geht", war alles, was sie sagte.