10. KAPITEL
Mattie hievte zwei prall gefüllte Tüten mit Lebensmitteln auf die Arme und versuchte, gleichzeitig den Kofferraum ihres Autos mit dem Ellbogen zu schließen. Sie würde sich bald ein zuverlässigeres Auto anschaffen. Ihr alter Kleinwagen hatte seine besten Tage hinter sich. Ein stärkerer Druck mit dem Ellbogen und ein zusätzlicher Stoß mit der Hüfte brachten schließlich den gewünschten Erfolg.
Gestern Abend hatte ihr Jaydee den Entwurf des Briefes gemailt, der das Urteil im Fall Langston infrage stellte. Mattie hatte an ihrem Laptop zu Hause ein paar Anmerkungen hinzugefügt und den Brief zurückgeschickt. Wenn Jaydee von ihrer allgemeinen Bemerkung über Missbrauch überrascht war, ließ er sich nichts anmerken. Heute Morgen hatte sie ein paar Anrufe wegen Langston gemacht, einschließlich zweier Höflichkeitsanrufe bei den Berufungsanwälten, die sie damit betrauen wollte. Sie zweifelte daran, dass sie ihr deswegen Blumen schicken würden, aber beide hatten sich vorsichtig optimistisch in Bezug auf Langstons Aussicht auf eine Berufung geäußert, was Mattie ermutigte.
In der Zwischenzeit hatte sie nichts von Jane oder Breeze gehört, obwohl sie beiden sogar eine weitere Nachricht hinterlassen hatte. Weder auf dem Anrufbeantworter noch über das Internet hatten sie reagiert. Entweder waren sie sehr beschäftigt oder weniger besorgt, hatte sich Mattie überlegt. Vielleicht wussten die Freundinnen auch noch nichts von den Recherchen des Buchautors. Am späten Vormittag entschied Mattie, etwas Konstruktiveres zu tun, als sich zu grämen, und erledigte einige Besorgungen.
Die Tüten unter die Arme geklemmt, stieg sie die Treppenstufen zu dem Strandhaus in Sausalito hinauf, das sie sich gekauft hatte, als sie nach Nordkalifornien zurückgekehrt war und das erste Richteramt antrat. Das Haus war klein, rustikal und ruhig, also perfekt für Mattie, besonders nachdem sie von dieser unerwarteten Ernennung so überwältigt worden war.
Irgendwann hatte sie erfahren, dass Janes Ehemann, der damals der stellvertretende Senator in Kalifornien war, sich für ihre Kandidatur eingesetzt hatte. Auch der amtierende Senator hatte sich für sie stark gemacht, und der Ernennungsprozess war ungewöhnlich reibungslos verlaufen. Aber Mattie hatte sich gefühlt, als trüge ein fliegender Teppich sie in die Höhe. Politisch ambitioniert hatte sie sich nie gezeigt, sie war im Gegenteil immer so sehr mit ihren Fällen beschäftigt gewesen, dass sie ihrem Ruf nicht viel Beachtung schenkte. So hatte sie auch nicht bemerkt, dass man sie für einen Richterposten in Betracht zog.
Wie eine ehrwürdige Richterin fühlte sie sich nicht gerade, als sie die Tüten balancierte und nach den Schlüsseln in ihren Hosentaschen angelte. Sie sah in ihren Kakihosen und dem gestreiften Poloshirt wahrscheinlich auch nicht wie eine aus. Nicht dass es jemanden interessiert hätte, sie selbst in diesem Moment am wenigsten.
Für den Abend hatte sie etwas Besonderes geplant. Ein sündiges Gourmetfest. Sie hatte alle Zutaten für eine Paella beisammen, und allein der Gedanke daran ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen. Gewöhnlich ernährte sie sich von dem, was sie schnell mitnehmen oder sich liefern lassen konnte. Sich Zeit zu nehmen, um ihr Lieblingsessen in aller Ruhe vorzubereiten und zu kochen, erschien Mattie fast dekadent, besonders weil sie keinen Tag freigehabt hatte, seit sie an das Berufungsgericht gekommen war.
Sie hatte die Wochenenden durchgearbeitet, den Urlaub abgesagt, sogar ihren Geburtstag ignoriert, aber sie tat es freiwillig. Sie hätte gar nichts anderes mit ihrer Zeit anzufangen gewusst.
"Wenn du etwas Hirn hättest, Smith", stellte sie fest, "hättest du versucht, diese Pause zu genießen, statt dir den Kopf über Probleme zu zerbrechen, die sich höchstwahrscheinlich in Luft auflösen werden."
Sie meinte den Fall Broud und Jameson Cross.
Letzterem hatte sie viel zu große Beachtung geschenkt. Cross müsste stichhaltige Beweise vorlegen, um den Fall neu aufrollen zu lassen, und was er bis jetzt hatte, klang nach bloßen Vermutungen. Er schien noch nicht einmal zu wissen, wer die einsamen Mädchen waren. Warum sollte sie also in Panik geraten?
Lächelnd schüttelte Mattie den Kopf.
"Hey, hör auf damit!" Beinah wäre ihr eine der Lebensmitteltüten heruntergefallen. Mit dem Knie fing Mattie die Tüte auf und klemmte sie sich wieder fest unter den Arm, während sie die letzten Stufen erklomm, die durch ihren kostbaren Steingarten führten.
Als sie zu ihrem weißen Schindelhaus mit den grünen Fensterläden aufsah, verschwand ihr Lächeln. Erlag sie einer optischen Täuschung, oder waren die Läden geschlossen? Sie klappte sie nie ganz zu. Allein der Gedanke war ihr unangenehm. Wahrscheinlich die Sonne, sagte sich Mattie, nur eine Reflektion.
Um die Fliegengittertür zu öffnen, stellte Mattie eine der Tüten ab.
Sie wollte gerade den Schlüssel in das Schloss stecken, als die Tür sofort nachgab und zurückschwang.
Mattie wirbelte erschrocken herum und schnappte nach Luft. "Was machen Sie in meinem Haus?"
Bei der Bewegung fiel ihr die zweite Tüte aus dem Arm, eine Flasche Rotwein prallte auf den Teppich und kullerte über den Boden wie ein Bowlingkegel. Zwiebeln und Peperoni sprangen in verschiedene Richtungen. Als Mattie einen Schritt zurück zur Tür machte, stolperte sie.
Sie taumelte gegen die Tür, der Riemen ihrer Schultertasche verfing sich am Türgriff und riss ihr die Tasche vom Arm, als der Eindringling sie auf die Füße zog.
Ein zweiter Mann nahm die Tasche hoch, zog den Reißverschluss auf und durchwühlte den Inhalt. Er suchte nach einem Ausweis, erkannte Mattie, nicht nach Geld. Das waren keine Vandalen oder Diebe. Diebe trugen keine undefinierbaren grauen Anzüge und Funkgeräte am Ohr.
"Matilda Smith", sagte der vor ihr kauernde Mann, als er ihren Führerschein fand. "Sie ist es. Wir sind hier richtig."
Mattie versuchte nicht, sich zu wehren. Die Männer waren in der Überzahl, und sie waren Profis. Ihre Gedanken rasten, als sie versuchte, die Gefahr abzuschätzen. Mach nichts, bis du nicht weißt, mit was du es hier zu tun hast, sagte sie sich. Sie kannte sich mit Verbrechern aus, und sie war nicht verrückt.
Zwei weitere Männer betraten den Raum. Sie waren aus der Küche gekommen. Durch den Durchgang zum Esszimmer konnte Mattie offene Schubladen und Schränke erkennen. Sie hatten ihr gesamtes Haus durchkämmt. Die Sofakissen waren aufgeschnitten und der Teppich an den Seiten hochgerissen worden.
"Matilda Smith? Richterin Smith?"
Die autoritäre Stimme kam aus dem Flur, der zum Schlafzimmer führte. Ein weiterer grauer Anzug erschien im Durchgang, aber Mattie erkannte an seinem Tonfall und seinem militärischen Habitus, dass er die Operation leitete. Sie war außerdem zu dem Schluss gekommen, dass dies entweder echte Regierungsagenten waren oder Männer, die so taten als ob. Möglicherweise das FBI.
"Wo ist Ihr Durchsuchungsbefehl?" Sie warf dem Leiter einen so unterkühlten Blick zu, dass er auf der Stelle zu Eis hätte erstarren müssen. "Und was zur Hölle machen Sie in meinem Haus?"
Er lächelte, als ob ihre Fragen ihn amüsierten. "Ich bin John Bratton, Secret Service der Vereinigten Staaten, und hier geht es um eine Angelegenheit nationaler Sicherheit. Ich bin mir sicher, dass Sie wissen, was das bedeutet."
"Natürlich weiß ich das." Mattie verachtete Amtsmissbrauch aus tiefstem Herzen. Sie hatte davon in ihrer Kindheit reichlich ertragen müssen, und es hatte die Richterin Smith geprägt. Am Bezirksgericht hatte sie routinemäßig Anträge unterzeichnet, die Hausdurchsuchungen autorisierten. Aber die Dinge hatten sich geändert, seit der Patriot Act in Kraft getreten war. Dieses Gesetz versetzte den Geheimdienst in die einzigartige Lage, straffrei private Räumlichkeiten durchsuchen zu können – vorausgesetzt, es handelte sich dabei um eine Angelegenheit nationalen Interesses. Da die meisten der Angelegenheiten, die die nationale Sicherheit betrafen, streng geheim waren, konnten sie weder von der Öffentlichkeit noch von den Medien nachvollzogen werden.
Es war kein Fall von absoluter Macht, aber es war nahe dran. Wie auch immer, wenn diese Männer wirklich zum Geheimdienst gehörten, hatte es mit ihrem Anruf bei Jane zu tun, da war sich Mattie sicher.
Mattie zwang sich, den Ausweis genau zu prüfen, den er ihr entgegenhielt.
"Ich habe etwas getan, das die Sicherheit des Landes gefährdet?" Ihr Lachen hatte einen bösen Unterton. "Halten Sie mich für einen Spion? Eine Terroristin?"
Brattons Tonfall war gelassen, aber scharf. "Nein, Euer Ehren, ich halte Sie nicht für eine Terroristin. Ich entschuldige mich, wenn ich diesen Eindruck erweckt haben sollte."
Mattie lockerte die Finger. Ihr war nicht bewusst gewesen, dass sie die Hände zu Fäusten geballt hatte. Einem Impuls folgend, wollte sie den Schmerz wegreiben, aber irgendetwas sagte ihr, dass sie vor diesem Mann besser keine Schwäche zeigte.
"Muss ich meinen Anwalt anrufen? Oder vielleicht sollte ich einen Bundesanwalt fragen, was er über Ihren Besuch hier denkt?" Es war vermutlich nicht angebracht, ihn voller Verachtung anzustarren. Mattie tat es trotzdem. Sich in Gefahr tot zu stellen, hatte ihr nie gelegen – und sie trug Narben, die das bewiesen.
"Das wird nicht nötig sein, Euer Ehren. Es sollte nicht lange dauern." Er machte eine Handbewegung, die sie einlud, ihm zu folgen, und sprach dann zu seinen Männern. "Machen Sie weiter, meine Herren, aber stellen Sie alles wieder vorsichtig zurück an seinen Platz."
Auf der Suche nach Schäden ließ Mattie den Blick kurz durch das Zimmer schweifen. Sie konnte nichts Zerbrochenes entdecken. Ihr Lieblingsschaukelstuhl aus Rattan war in Ordnung, und auch der Bambus, den Jaydee ihr zu Weihnachten geschenkt hatte. Er sollte Glück bringen, Mattie glaubte daran.
"Nach Ihnen", sagte Bratton und trat einen Schritt zurück, um Mattie vorbeigehen zu lassen.
Ausgesprochen höflich, dachte sie, es sei denn, er wollte ihr in den Rücken schießen. Oder er wollte sie unter vier Augen fertigmachen. Welcher bessere Ort käme dafür infrage als ihr eigenes Schlafzimmer? Weil sie annahm, dass sie dorthin geführt wurde, ging Mattie zielstrebig in das kleinere Zimmer nach links.
Sofort schoss eine Hand hervor und hielt Mattie am Arm fest. "In die andere Richtung, bitte", sagte er. "Ich möchte Ihnen etwas zeigen."
Er hatte die alten Utensilien ihrer Mutter gefunden, die sie zum Handlesen benutzt hatte. Die Karten und Bücher lagen auf Matties Bett verstreut. Sonst sah das Zimmer unberührt aus, aber sie war sich sicher, dass der Agent jeden Schrank und jede Schublade kontrolliert hatte.
"Wer hat diese Durchsuchung angeordnet?", verlangte sie zu wissen. "Wer hat Sie dazu autorisiert?"
"Ich versichere Ihnen, dass es in meiner Macht liegt. Und Sie haben offensichtlich ein Interesse am Handlesen?" Er überreichte ihr das Beweisstück.
"Ein Interesse, ja." Sie starrte demonstrativ auf seine ausgestreckte Hand. "Seien Sie nicht zu besorgt wegen Ihrer unterbrochenen Lebenslinie, Mr. Bratton. Ich bin sicher, dass Sie sich von dem tragischen Unfall gut erholen werden. Soviel kann ich von Ihren Lieben nicht sagen, wenn Sie welche haben."
Er lächelte nicht. Zwar ein belangloser kleiner Sieg, aber Mattie genoss es.
Als Nächstes ging er zu ihrem Kleiderschrank und öffnete ihn. Mattie versteifte sich. Sie hatte einen kleinen Safe mit einem Zahlenschloss darin. Vermutlich würde er sie bitten, ihn zu öffnen und ihr den Inhalt zu zeigen. Sie hatte ihn so lange nicht benutzt, dass sie sich mit der Zahlenkombination nicht mehr sicher war. Wenn sie sich jedoch nicht fügte, würde er die verdammte Tür wahrscheinlich aufschießen.
Ihr verletztes Knie knackte, als sie sich vor dem Safe niederkniete. Sie fummelte einige Minuten daran herum, bis sie die richtige Zahlenfolge eingegeben hatte. Die schwere Safetür öffnete sie mit einem Klicken. Darin lagen zwei Dinge, ein großer Umschlag mit wichtigen Dokumenten und eine Neun-Millimeter-Pistole.
Bratton bat sie, einen Schritt vom Safe wegzutreten. "Haben Sie einen Waffenschein dafür?" Er beugte sich hinunter, um die automatische Waffe zu inspizieren.
"Im Umschlag." Mattie hatte sich die Pistole gekauft, als sie als Anwältin an Jaydees Fall arbeitete. "Sie war zur Selbstverteidigung gedacht."
"Im Safe nützt sie Ihnen nicht viel." Er machte sich nicht die Mühe, den Waffenschein anzusehen. Stattdessen interessierte er sich plötzlich viel mehr für eine Augenbinde, die an einem Haken im Schrank hing.
Mattie starrte ihn ungläubig an, als er sie hochhielt. Was sollte das werden? Ein Quiz?
"Ist das etwas, worüber wir reden sollten?" Prüfend sah er sie an.
"Nein, ist es nicht." Sie hätte ihm gern gesagt, was er ihretwegen gern mit der Augenbinde tun könnte. Sie neigte dazu, in Panik anzugreifen – oder wenn sie gedemütigt wurde. Jetzt empfand sie beides. Aber sie konnte ihm keinen Widerstand leisten, nicht mit fünf anderen Herren im Raum nebenan. Dass die Männer tatsächlich zum Geheimdienst gehörten, musste Mattie weiterhin bezweifeln. Ausweise konnten ja schließlich gefälscht werden.
"Eine Schlafmaske, wie?" Er hängte die Augenbinde wieder zurück auf den Haken und warf Mattie einen langen Seitenblick zu.
"So etwas in der Art." Er hätte nie erraten, wofür sie die Augenbinde benutzte, und er hätte es auch nicht verstanden, wenn sie es ihm erklärt hätte. Mattie konnte sich nicht vorstellen, dass irgendjemand es begreifen würde. Warum man eine schwarze Leinenbinde brauchte, um nicht zum emotionalen Krüppel zu werden, könnte niemand nachvollziehen.
"Ich weiß, dass das unangenehm für Sie ist, aber es ist nichts Persönliches. Wir müssen nur unseren Job erledigen." Er schloss die Tür zum Kleiderschrank.
"Unangenehm? Wann wurde Ihr Haus zuletzt grundlos von jemandem durchsucht?" In ihrer Wut war sie kaum in der Lage, ihre Stimme zu kontrollieren.
"Meine Männer und ich machen das nicht aus Spaß. Denken Sie daran, dass wir nur Beamte sind, die ihren Job machen."
Dass er überhaupt vorgab, die Angelegenheit täte ihm leid, erstaunte Mattie. Dies war ihr Zuhause. Es hatte sie Jahre gekostet, das Haus mit Schätzen zu füllen und zu ihrem Heim zu machen, in dem sie sich sicher fühlte. Alles in ihrer Macht Stehende hatte sie getan, um es zu etwas Heiligem zu machen, zu ihrem Rückzugsort. Er und seine Beamten hätten genauso gut alle Fenster und Türen einschlagen können.
"Welchen Job genau erledigen Sie hier?", fragte sie.
"Wir durchsuchen die Räumlichkeiten, checken, ob sie unbedenklich sind."
"Aber warum meine Räumlichkeiten?"
"Das darf ich Ihnen nicht mitteilen."
"Das sollten Sie mir aber verdammt noch mal besser erklären!" Lange genug zog sich diese absurde Szene hin. Mattie schritt auf das Telefon im Schlafzimmer zu, aber bevor sie den Hörer anheben konnte, hörte sie ein durchdringendes, summendes Geräusch.
Bratton griff in seine Tasche, wahrscheinlich nach einem Piepser, und das Summen hörte auf. "Wir gehen, Euer Ehren. Nicht nötig, einen Anruf zu machen. Wie gesagt, es tut mir leid."
Sie wirbelte zu ihm herum. "Beantworten Sie mir eine Frage, bevor Sie gehen: Haben Sie es gefunden?"
"Was gefunden?"
"Das, wonach Sie gesucht haben. Das haben Sie doch, oder nicht?"
"Tut mir leid, darüber darf ich nichts sagen."
"Verschwinden Sie", sagte sie ruhig. "Sehen Sie zu, dass Sie auf der Stelle hier rauskommen, bevor ich die Geduld verliere und etwas wirklich Dummes sage."
Weder Drogen noch Waffen hätten die Männer finden können, aber das hieß nicht, dass sie nicht Belastungsmaterial hineinschmuggeln konnten, wenn das ihr Ziel war. Vielleicht hatte Mattie zu lange als Juristin gearbeitet. Sie traute niemandem, besonders nicht, wenn die Regierung involviert war.
Noch ein Summen. Bratton griff in seine Tasche und zog etwas heraus, das wie ein winziges Walkie-Talkie aussah.
"Ja, ich höre", sagte er, das Gerät dicht am Mund.
"Wir sind hier fertig", sagte der Anrufer.
"Gut, räumen Sie und gehen Sie zu Phase zwei über. Ich komme um …", er warf einen Blick auf seine Armbanduhr, "zwölfhundert zu Ihnen."
Mattie sah nach dem Radiowecker auf ihrem Nachttisch. In drei Minuten würde es zwölf Uhr mittags sein. Sie verließen also das Haus, aber was bedeutete Phase zwei?
Als er noch ein paar Gegenstände im Schlafzimmer überprüfte, bemerkte Mattie, dass er nach elektronischen Wanzen und anderen Überwachungsgeräten suchte, nicht nach Drogen. Offenbar verfügte sein Walkie-Talkie über einen Detektor. Er ließ das Gerät über Lampen, Telefone, Teppiche und Kunstgegenstände gleiten. So geschickt wie die Betrüger, die an der Straßenecke Muscheln unter wechselnden Knobelbechern verbargen, berührte und bewegte er die Dinge.
Währenddessen verharrte Mattie und dachte nach. Etwas in seinem Verhalten zeigte ihr, dass er die Wahrheit erzählte. Er war beim Secret Service. Aber was bedeutete das? Als er fertig war, faltete er die Handlese-Karten zusammen, stapelte die Bücher und reichte sie ihr.
"Manchmal mache ich meinen Job nicht gern", sagte er. "Sie können das bestimmt verstehen. Sie nehmen den Menschen die Freiheit, ihr Leben. Dabei fühlen Sie sich auch nicht immer wohl, oder? Aber Sie tun es trotzdem."
Dass sie sich nicht immer wohlfühlte, war untertrieben. Die Sorgen wegen des Entführungsfalls schnürten ihr manchmal regelrecht die Luft ab.
"Es ist ein Job." Wie ein Mann, den sein Los langweilte, zuckte er die Schultern. Mattie wusste aus Erfahrung, dass Menschen wie er gefährlich waren. Häufig begegnete sie ihnen im Gerichtssaal; ihnen die Freiheit zu nehmen, bereitete ihr so gar kein Unbehagen.
Er trat ein paar Schritte zurück, dann drehte er sich um und verließ den Raum.
Augenblicke später hörte sie, wie die Haustür ins Schloss fiel. Erschöpft sank sie auf das Bett. Die Handlese-Karten rutschten ihr aus der Hand, als sie den festen Griff lockerte. Sie hatte keine Ahnung, was gerade passiert war. Im Gerichtssaal wurde von ihr erwartet, dass sie mit solchen Situationen umzugehen wusste. Aber dort saß sie auf dem Richterstuhl. Sie war noch nie das Opfer einer Durchsuchung geworden und konnte sich immer noch nicht erklären, wie sie dazu gekommen war. Ihr Anruf bei Jane im Weißen Haus konnte keine so extreme Reaktion ausgelöst haben. Oder der Artikel im Chronicle. Aber vielleicht hatten sich die Dinge weiterentwickelt, ohne dass Mattie davon wusste. Der Gedanke erschreckte sie, dass sie bereits unter Beobachtung stand, wegen des Verbrechens, von dem William Broud gerade freigesprochen worden war.
Ein Lachen brach aus ihr heraus. Panisches Lachen, heiß und scharf wie Brennnesseln. Es war absurd, undenkbar. Sie sollte wirklich einen Anwalt anrufen, nur um sicherzugehen. Aber andererseits, wem könnte sie diese Information ohne Bedenken anvertrauen?
Beruhige dich, sagte sie sich. Bevor du irgendetwas anderes tust, musst du erst mal ruhiger sein.
Eine Weile saß sie auf dem Bett und wartete, aber ihr Kampfgeist schien sie verlassen zu haben. Der gerechte Zorn packte sie nicht und verschaffte ihr auch keine Erleichterung. Um ihren legendären Mut wiederzufinden, ihn mühsam wieder an die Oberfläche zu holen, würde sie in sich gehen müssen. So durcheinander war sie.
Alis volat propriis.
Der lateinische Satz, den sie vor Jahren in der Schule aufgeschnappt hatte, kam ihr in den Sinn und erinnerte sie an echte Not. Was sie gesehen, gehört und in jenen Tagen ertragen hatte, ließ die Sorgen der Gegenwart wie eine kleine Unannehmlichkeit erscheinen. Wenn ein junges Mädchen so etwas ertragen konnte, wie konnte eine Frau sich dann von diesen Ereignissen aus der Ruhe bringen lassen?
Wörtlich übersetzt bedeutete der Satz: Sie fliegt mit ihren eigenen Flügeln.
"Alis volat propriis", wiederholte Mattie, nachdem sie sich vom Bett erhoben hatte und wieder fest auf den Füßen stand. Sie würde ihr Haus inspizieren; die Zimmer wieder aufzuräumen, eines nach dem anderen, und dies würde ihr helfen, einen klaren Kopf zu bekommen.
Aber als Mattie ins Wohnzimmer ging, entdeckte sie plötzlich eine Frau.
Gekleidet in einen eleganten schwarzen Hosenanzug, stand eine große schlanke Blondine mit dem Rücken zu ihr und musterte den kleinen metallenen Brunnen, der, mit Steinen gefüllt und fröhlich sprudelnd, dekorativ in der Ecke des Zimmers platziert war.
Sie hatte sich sehr verändert, aber Mattie erkannte sie sofort. Sogar ohne die permanente Fernsehpräsenz hätte sie sie sofort erkannt.
"Jane?", fragte sie leise.