38. KAPITEL
Ein furchtbares Scheppern weckte sie beide auf. Mattie flog fast aus dem Bett und riss die Decke mit sich, bevor Jameson sie zu fassen bekam. Das Klappern und Quietschen war grauenhaft. Dass es Mattie erschreckte, wunderte Jameson nicht.
"Das ist nur die Morgenzeitung", beruhigte er sie. "Das erinnert mich daran, dass ich den Briefschlitz abdichten muss, am besten mit Zement."
Sie wandte sich ihm zu. "So wirst du jeden Morgen geweckt? Dann wäre ich schon längst in der Klapsmühle."
Die Überzeugung in ihrer Stimme führte ihm vor Augen, wie nachlässig er mit seinem alltäglichen Leben umging. Er hatte sich mit diesen Dingen arrangiert, weil er keinen Grund gesehen hatte, sie zu ändern – selbst wenn sie seinen Schlaf und seine ganze Existenz störten. Der durchgeknallte Zeitungsausträger stellte noch das geringste Problem dar. Die Schriftstellerei war ein einsamer Beruf, und als Jamesons Karriere fortschritt, hatte er sich immer stärker isoliert. Langsam wurde es extrem. In den letzten Jahren hatte er keine nennenswerten Kontakte gepflegt, die nicht beruflicher Natur waren – und dabei ging es nie um ihn, sondern immer um diejenigen, denen er zu helfen versuchte.
Es war leichter, andere Menschen vor einem traurigen Schicksal zu bewahren. Über die Jahre hatte er mit seinen Untersuchungen bewirkt, dass Unschuldige frei gelassen wurden und die Schuldigen ins Gefängnis kamen. Wenn sich Jameson auf die Schattenseiten eines anderen konzentrierte, musste er sich nicht mit dem eigenen Leben beschäftigen.
Und jetzt lag er neben ihr. Was bedeutete das?
"Briefschlitze kann man reparieren." Sein Atem ließ eine ihrer Haarsträhnen hochfliegen. "Ich werde mich drum kümmern." Damit meinte er nicht nur den Briefschlitz, hatte jedoch nur eine vage Vorstellung davon, was er Mattie zusagte. Ich handle instinktiv, dachte er. Es war mehr ein Test als ein Versprechen. Als halte er einen Finger in die Luft, um festzustellen, aus welcher Richtung der Wind blies.
Sie kuschelte sich an seine Brust. "Was haben wir getan?"
Die Frage entlockte Jameson ein Lachen. "Weißt du es nicht mehr? Wir könnten es wiederholen, wenn es deiner Erinnerung auf die Sprünge hilft."
Sie sah ihn an, als sei sie zu allem bereit – und er hätte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, wäre der Blick aus ihren blauen Augen nicht umwölkt gewesen. Nackt und in eine Decke gewickelt, erinnerte Mattie ihn an das verletzte Mädchen auf der Krankenstation, das trotz seiner Schmerzen friedlich geschlafen hatte.
Wie sie zu diesen Narben gekommen war, hatte er damals nicht geahnt.
"Mattie", sagte er, "die Bänder, die ich mir angesehen habe, haben mir einen Eindruck davon vermittelt, was ihr in Rowe durchgemacht habt, du und Ivy. Wenn du darüber reden willst …"
Ihre Wachsamkeit erinnerte ihn ebenfalls an das geschundene Mädchen von früher. Sie hatte Geheimnisse. Jeder trug welche mit sich herum, aber ihm wurde mit einem Mal klar, dass ihre ein Hindernis für alles darstellten, das möglicherweise zwischen ihnen war. Dass er an etwas Besonderes und Einzigartiges zwischen Mattie und ihm glaubte, hatte sicher der gute Sex ausgelöst.
"Ich schätze, du hast doch etwas übrig für Männer."
Sie lachte laut. "Ich hoffe, das wirft mich nicht aus dem Rennen als erotischste Richterin der Stadt."
"Gott, Mattie", sagte er mit völligem Ernst, "du bist unglaublich attraktiv." Er berührte ihr Haar, ließ die dunklen Strähnen durch seine Finger gleiten. Diese Geste machte sie neugierig. Aufmerksam beobachtete sie sein Gesicht.
"Lief da jemals was zwischen Ivy und dir?", fragte sie ihn. "Ich hatte immer den Eindruck, dass du von ihr hingerissen warst."
Jameson winkte ab. "Trotz meiner vergangenen Fehltritte oder vielleicht wegen ihnen fühlte ich mich schon immer zu Not leidenden jungen Damen hingezogen. Ivy war damals Not leidend. Und du – du warst einfach schnell und fies."
"Oh, vielen Dank." Offenbar in Gedanken versunken, drückte Mattie den Handrücken an ihre Lippen. Das war nie ein gutes Zeichen, soweit Jameson wusste.
"Also bin ich jetzt diejenige, die in einer Notsituation steckt?", fragte sie.
Ihre Fingernägel waren ihm vorher nicht aufgefallen. Einige von ihnen waren stark abgekaut. "Es sieht auf jeden Fall so aus", sagte er und wies auf ihre Hände.
Ihr Gesicht wurde tiefrot. "Oh, das ist nichts", sagte sie und versuchte, die Arme hinter dem Rücken zu verstecken.
"Du knabberst an den Fingernägeln. Ich sammle Schund. Jeder macht etwas Seltsames. Es macht einen menschlicher – und schöner, finde ich."
Ihre Augen nahmen einen ungläubigen Ausdruck an. Das kaufte sie ihm nie im Leben ab. Jameson war sich nicht einmal sicher, dass er es glaubte. Aber er zweifelte nicht daran, dass sich bisher niemand ihre Narben angesehen und Mattie gesagt hatte, dass sie wunderschön sei. Dass überhaupt jemand viel von dem erblickt hatte, was sich unter der schwarzen Richterrobe verbarg, glaubte Jameson kaum.
"Hast du dich eigentlich jemals gefragt, wie sie gestorben ist?", fragte er.
Ihr Gesicht wurde aschgrau, als sie die Worte herausbrachte: "Miss Rowe?"
"Nein, Ivy."
"Oh … ja, natürlich. Ich frage mich das, seit es passiert ist. Es war der Herzwein. Ich glaube, sie hat vielleicht aus Versehen eine Überdosis erwischt."
Seine Neugier konnte Jameson kaum verbergen. "Herzwein ist ein Gift. Wie konnte das ein Versehen sein?"
"Tja, so bizarr es auch klingt, wir alle vier haben es genommen, um dagegen immun zu werden, damit Miss Rowe uns nicht vergiften konnte. Sie hatte uns die Wirkung von Herzwein einmal in ihrem Apartment vorgeführt und dabei vor unseren Augen ihren Vogel getötet."
Jameson fluchte leise. Doch wenigstens ergaben gewisse Dinge jetzt mehr Sinn. Einmal hatte er die vier auf dem Campus gesehen, wie sie sich in einer Nische versteckten und aus einem Fläschchen tranken. Jetzt verstand er es und fragte sich, was sie noch getan hatten, um ihr Leben zu schützen. Jameson hatte das Gefühl, dass Mattie ihm noch mehr Geheimnisse enthüllen würde, vielleicht alle. Das machte ihm ein bisschen Angst.
Mit jeder Antwort, um die er sie bat, würde sie sich mehr belasten.
"Wegen deines Bruders", sagte sie plötzlich und erwischte ihn damit kalt.
"Was ist mit Billy?"
Sie zögerte und überlegte einen Moment. "Es tut mir leid, was mit ihm passiert ist. Er hatte es wirklich nicht verdient, nichts davon."
Als hätte sie ihr ganzes Leben lang darauf gewartet, die Worte auszusprechen, fuhr Mattie fort. "Ich glaube, dass er ein guter Mensch war. Nur dass die Leute Angst vor ihm hatten. Er hat mir einmal in Rowe geholfen. Dafür habe ich mich nie bedankt, weil auch ich mich vor ihm gefürchtet hatte. Ich möchte nur, dass du weißt, dass er etwas Gutes getan hat."
Jameson war tief berührt, aber unsicher, wie er reagieren sollte. Seine Sorgen waren unnötig. Mattie hatte nicht die Absicht, sich zu belasten.
"Ich hole die Zeitung", sagte sie.
"Warte!" Vergeblich streckte er die Hand nach ihr aus. Diesmal war Mattie zu schnell für ihn. Sie verschwand im Flur, Jameson konnte das Geräusch ihrer nackten Füße auf dem Schieferboden hören. Es klang, als würde sie rennen.
So zufrieden, wie er sich seit Jahren nicht gefühlt hatte, lehnte er sich in die Kissen zurück. Seltsam, denn es hatte sich nichts geklärt. Momentan hatte er noch nicht einmal einen Plan. Das Einzige, worüber er nachdachte, war, vielleicht Kaffee zu kochen und eine Tasse zu trinken, während er mit Mattie im Bett die Zeitung lesen würde. Dann könnten sie noch mal darauf zurückkommen, was sie gestern Abend getan hatten … nur allzu gern würde Jameson ihre Erinnerung auffrischen.
Gut gelaunt erhob sich Jameson vom Bett und wollte gerade seine Shorts anziehen, als er Mattie schreien hörte.
"Oh, gut, du bist immer noch hier!" Jane ging schnell in das Esszimmer hinüber, in dem sie und ihr Mann stets frühstückten, wenn sie beide zu Hause waren.
"Diese Cokie Roberts findet nie ein Ende", klagte sie und strich mit den Fingern über ein widerspenstiges weißes Revers ihres marineblauen Blazers. Sobald Jane die Hand wegnahm, rollte die verflixte Ecke sich hoch. "Und sie ruft immer zu so unpassenden Zeiten an."
Der Präsident unterbrach das Gespräch mit seiner Wahlkampfmanagerin, einer kräftigen Frau mit lockigem grauen Haar und einem warmen Lächeln. "Jane, sag Hallo zu Muriel. Wir arbeiten an einer kleinen Liste mit Wahlkampfspendern. Sie hat schon ein paar Menschen mit großen Brieftaschen ausfindig gemacht, nicht wahr, Muriel?"
"So groß wie Kängurubeutel", bestätigte Muriel Dickerson und lächelte verschmitzt.
Jane warf der Frau einen Kuss zu. "Wenn ich nicht verheiratet wäre, Muriel, wärst du mein erstes Date. Du bist meine Heldin, und du weißt es."
Larry gluckste vor Lachen. "Vielleicht solltest du den Kaffee heute Morgen auslassen, Schatz. Du schwebst ja schon über dem Boden."
Jane sank auf den Stuhl und machte ein Geräusch, das klang, wie wenn einem Reifen Luft entweicht. Ständig rannte Jane, statt zu gehen. Manchmal merkte sie gar nicht, wie erschöpft sie war, bis sie innehielt. Besonders seit sie ihre Pillen nicht mehr nahm, fühlte Jane sich so. Seit sie an jenem Tag ihren Psychiater aufgesucht hatte, nahm sie keine Tabletten mehr, nicht einmal ein Stückchen davon. Es kam ihr so vor, als wäre ihr Körper auf Autopilot geschaltet. Als flöge sie über einem endlosen und tiefschwarzen Abgrund. Wenn sie anhielte, würde sie abstürzen.
Sie warf einen Blick zu Muriel. "Du hast David Grace auch auf der Liste, oder?"
Muriel überprüfte die Notizen, die vor ihr lagen. "Wie könnten wir ihn vergessen?"
"Wir haben ihn vielleicht verloren", meinte Larry. "Ich habe heute Morgen mit ihm gesprochen. Er ist nicht besonders erfreut über die Tatsache, dass wir bei seinem Lieblingsprojekt möglicherweise den Stecker rausziehen müssen."
Dass so etwas geschehen würde, hatte Jane befürchtet. Aber vielleicht war es noch nicht zu spät. Sie würde David anrufen und versuchen, die Wogen zu glätten, obwohl sie nicht sicher war, ob sie im Moment dazu in der Lage wäre. Sie war nicht gut drauf, und das Projekt bedeutete ihm alles.
"Kaffee, Ma'am?" Felicia, ein relativ neues Gesicht unter den Angestellten im zweiten Stock, erschien mit einer Thermoskanne Kaffee und Janes Zeitungen in den Händen. Jane und Larry hatten versucht, so viele private Rituale wie möglich beizubehalten, als sie in die Pennsylvania Avenue gezogen waren. So etwas Einfaches wie ein Frühstück mit Kaffee, Brötchen und der Tageszeitung gehörte dazu, obwohl seit Kurzem beide auf Brötchen verzichteten. Larry wegen seiner Gesundheit, Jane wegen ihrer Figur. Stattdessen aß Larry jeden Morgen eine Grapefruit. Jane hatte sich für einen Riegel dekadenter dunkler Schokolade entschieden. Nicht besonders klug, aber das brachte sie morgens schneller in Schwung als alle Grapefruits dieser Welt.
Heute gab es weder Kaffee noch Schokolade.
Felicia legte den Stapel Zeitungen auf den Tisch. Geistesabwesend nahm Jane die oberste in die eine Hand und bedeckte die Kaffeetasse mit der anderen, um zu signalisieren, dass sie keinen Kaffee wünsche. Jane schaute auf die Schlagzeile und keuchte auf. Reflexartig zog sie die Hand zurück, und heißer Kaffee spritzte überall hin. Ihr marineblauer Hosenanzug war durchnässt.
Felicia hatte Janes Zeichen, keinen Kaffee einzuschenken, nicht verstanden. Doch Janes Entsetzen hatte weniger mit Schmerzen als mit einem Schock zu tun. Oben auf dem Zeitungsstapel war der San Francisco Chronicle, und Janes Reaktion rührte von der Schlagzeile her, die sich über die Titelseite zog.
Damit niemand anders es würde lesen können, drehte sie die Zeitung schnell um. Jane konnte nicht glauben, was sie gelesen hatte.
"Mrs. Mantle, es tut mir so leid!" Felicia war den Tränen nahe, als sie versuchte, Janes Blazer abzutupfen. "Habe ich Sie verbrannt? Soll ich etwas Eis holen?"
"Jane, ist alles in Ordnung?", erkundigte sich Larry. Muriel Dickerson wiederholte seine Frage. Keiner von ihnen schien eine Idee zu haben, was zu tun sei.
"Natürlich", sagte Jane und tauchte ihre Serviette in Eiswasser. "Mir geht es gut." Felicia versuchte jetzt, das Leinentischtuch trocken zu tupfen, doch Jane scheuchte sie freundlich weg. Sie wollte einfach, dass alle aufhörten, so ein Theater zu machen, und sie länger anzustarren, als hätte sie die gesamte zivilisierte Welt in Verlegenheit gebracht.
Unaufhörlich blickten sie auf die durchnässte Serviette in Janes zitternder Hand. Janes Mund war so trocken, dass sie kaum sprechen konnte.
"Der Fleck wird rausgehen", sagte sie zu Felicia. "Gehen Sie einfach und ziehen Sie sich um. Sie haben auch überall Kaffeeflecken. Es war mein Fehler, ganz allein meiner."
Während Felicia davonschlich, musterten Larry und Muriel Jane immer noch besorgt. "Macht mit eurer Liste weiter", sagte sie ihnen. "Es tut mir leid, dass ich hier so ein Chaos verbreitet habe. Ich habe keine Ahnung, wie ich so ungeschickt sein konnte."
Aber ganz gleich, was Jane auch sagte, die anderen konnten den Blick nicht von ihrem derangierten Zustand wenden. Sie konnten sie nicht ignorieren, ohne als unsensible Tölpel dazustehen – nahm sie an. Zum Teufel mit den ganzen Manieren! Zum schlechtmöglichsten Zeitpunkt hatte Jane alle Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Die Schlagzeile der Zeitung leuchtete immer noch vor ihrem inneren Auge.
Der hässliche dunkle Fleck auf dem Blazer wurde vollständig sichtbar, als sie vom Tisch aufstand. "Ich ziehe mich um", erklärte Jane, "und schicke jemanden, der eine neue Tischdecke auflegt."
Larry lächelte. Muriel lächelte. Alle lächelten und benahmen sich, als wäre alles in schönster Ordnung. Nur etwas verschütteter Kaffee, ein winziger Ausrutscher im großen Gesamtzusammenhang der Dinge. Jane befürchtete Schlimmeres. Irgendwie musste sie die Zeitung herausschmuggeln und ein ruhiges Plätzchen finden, um den Artikel zu lesen. Wenn darin stand, was Jane glaubte, würde ihr Mann sofort mit der Planung seines Wahlkampfes aufhören müssen. Alles wäre vorbei.
Matties fester Griff hatte die Zeitung so zerknittert, dass sie kaum noch lesbar war. Keuchend stürmte Jameson zu ihr. "Was ist passiert?"
Sie drehte sich um und zeigte ihm die Schlagzeile auf der Titelseite: Pensionierter Polizeichef an Sexring mit Minderjährigen beteiligt.
"Ich habe Nola Daniels nicht zurückgerufen", erzählte sie ihm. "Sie sagte, dass er mit mir sprechen wolle."
"Wer wollte mit dir reden? Wovon sprichst du?"
"Chief Daniels, aber ich konnte nicht. Ich war auf dem Weg hierher." Sie hatte keine Zeit, Jameson die ganze Geschichte zu erzählen. Alles, was sie tun konnte, war, die Gedanken auszusprechen, die ihr durch den Kopf gingen. "Ich habe sie gebeten, mir eine Stunde zu geben, und sie sagte, dass könnte zu spät sein. Jetzt spielt es keine Rolle mehr."
Jameson nahm Mattie die Zeitung aus der Hand, glättete die Falten und begann, laut zu lesen. "'Daniels weigerte sich, die Namen der anderen Mitglieder des Sexrings oder die Namen der minderjährigen Mädchen zu nennen, aber er gab zu, dass sie Schülerinnen der Rowe-Akademie gewesen waren, eines örtlichen Internats, und dass er selbst zu mindestens einer von ihnen Kontakt gehabt hatte.'"
"Steht dort etwas über Miss Rowe?", fragte Mattie.
Er überflog den Artikel. "Hier ist etwas. 'Das Geständnis scheint die Behauptungen William Brouds zu bestätigen, dem Hausmeister der Schule, der 1982 für den Mord an der Direktorin Millicent Rowe verurteilt worden war. Brouds Aussage war damals für unglaubwürdig gehalten worden. Erst kürzlich ist er jedoch entlastet und aus dem Gefängnis entlassen worden. In der Woche nach seiner Entlassung ist Broud auf dieselbe Weise gestorben wie die Direktorin: Sie wurden vergiftet.'"
"Daniels Frau hat mir erzählt, dass er Alzheimer hat", sagte Mattie, "und jetzt fällt ihm all das ein?"
"Hier steht nichts von Alzheimer. Es heißt, dass es ihm gesundheitlich schlecht gehe und dass er sich gezwungen gefühlt habe, zu gestehen. Und, warte – oh Gott", flüsterte Jameson. "Daniels behauptet, dass er von Frank O'Neill erpresst wurde."
"Dem Staatsanwalt? Dem Frank O'Neill?"
Jameson antwortete nicht. Gebannt sah er auf die Zeitung und las den Rest des Artikels. Mit weichen Knien drehte sich Mattie um und ging zu ihren Taschen hinüber. Die Schmerzen ignorierend, kniete sie sich auf den Boden und wühlte in ihrer Handtasche.
Das Handy steckte immer noch in der Seitentasche. Mattie sah an der Anzeige, dass eine neue Nachricht eingegangen war. Jetzt hatte Mattie keine Zeit, die Mailbox abzuhören. Sie ging schnell ihre Anrufliste durch. Als sie die Nummer der Daniels hatte, drückte sie auf den Knopf.
Nach dem ersten Klingeln meldete sich Nola Daniels.
Mattie bemühte sich, ihre Stimme ruhig zu halten. "Mrs. Daniels, hier ist Mattie Smith. Ich konnte gestern Abend nicht zurückrufen. Es gab einen Notfall, aber ich kann jetzt mit Ihrem Mann sprechen, wenn es Ihnen passt …"
"Er kann mit niemandem sprechen." Es lag keine Bitterkeit in Nolas Worten, nur Verzweiflung und eine Erschöpfung, die nach Resignation klang.
"Sein Anwalt hat ihm dringend geraten, den Fall nicht weiter zu kommentieren."
"In der Zeitung stand, dass er von dem Staatsanwalt erpresst wurde. Wissen Sie, wie O'Neill von dem Sexring erfahren hat?"
"Ich weiß gar nichts, und selbst wenn ich etwas wüsste, könnte ich es Ihnen nicht sagen."
"Sind Sie sich sicher? Ihrem Mann schien es gestern Abend wichtig, mit mir zu sprechen. Vielleicht kann ich immer noch behilflich sein."
"Sie können ihm nicht helfen, Miss Smith. Keiner kann das. Es ist zu spät."
Die Leitung war tot, und Mattie spürte eine Welle der Verzweiflung in sich aufsteigen. Ohne ihr eine Chance zu geben, den Grund des Anrufs zu erklären, hatte Nola Daniels aufgelegt. Mattie hatte nicht gefleht, aber sie hätte es getan. Gebettelt hätte sie. Sie hatte einen Fehler gemacht, niemand konnte das rückgängig machen. Nicht einmal wenn sie alle Versprechen brach, die sie sich selbst einmal gegeben hatte, würde es etwas nützen.
Starr blickte Mattie auf das Telefon und bemerkte, dass ein Schatten auf sie gefallen war. Jemand stand hinter ihr.
"Wen rufst du an?", fragte Jameson.
"Niemanden. Es ist zu spät", sagte sie. "Die Medien haben sich auf den Fall gestürzt. Und jetzt ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis alle wissen, wer die minderjährigen Mädchen waren. Ich kann daran nichts mehr ändern."
Er stellte sich vor sie hin. Seine nackten Füße waren braun und kräftig, sie standen fest am Boden. In einer sich ständig verändernden Welt war Jameson wie ein ruhender Pol. Komisch, dass Mattie aus diesem Eindruck Trost ziehen konnte, aber so war es.
"Hör zu", sagte er. "Ich kenne Frank O'Neill seit Jahren. Ich sehe zu, was ich tun kann, um diese Story zu stoppen, oder wenigstens die Details, die euch drei betreffen. Ich spreche mit Frank."
Verwirrt von seiner Großzügigkeit, schaute Mattie zu ihm hoch. Er wollte diese Geschichte für seinen Bruder schreiben. Nun bot er an, alles aufzuhalten? Es hätte sein Artikel sein sollen.
Sie wusste nicht, wie sie ihm danken sollte. Sie war nicht mal in der Lage, es zu versuchen. Selten erlaubte sich Mattie, eine Position einzunehmen, in der sie Hilfe brauchte. Deshalb wusste sie nicht mal, wie man Hilfe annahm. Auch wenn sie es nicht wollte, die Geschehnisse schienen sie zu verändern. Vor wenigen Augenblicken hatte Mattie sich gewünscht, Nola Daniels anflehen zu können. Jetzt ließ sie zu, dass dieser Mann etwas tat, das für ihn ein großes persönliches Opfer bedeutete.
Drachen zu bekämpfen ist leichter, ging es Mattie durch den Kopf. Das hier ist schwer. Leute an sich heranlassen. Es erschütterte sie bis ins Mark. Lieber hätte sie das allein durchgestanden. Sie musste es allein durchstehen. Nur dieser Weg war ihr vertraut. Vielleicht hätte ein Teil von ihr gern jemanden an sich herangelassen, Mattie konnte es nicht zulassen. Niemals würden die Fragen verstummen, was er erreichen wollte, warum er es getan hatte. Aus reiner Freundlichkeit konnte er nicht handeln. Die Männer in Matties Leben waren nie einfach nur nett gewesen. Und es stand einfach zu viel auf dem Spiel.
Sie stand auf. "Wir haben deinen Bruder nicht umgebracht. Und wir haben auch die Direktorin nicht getötet. Wir haben alle geglaubt, dass er es war. Ich wünschte, es gäbe einen Weg, dir das zu beweisen."
"Das wünschte ich auch", sagte er und musterte Mattie mit einem schneidenden Blick.
Indem sie ihm mehr Informationen gab, wich sie ihm aus. "Ich glaube, es ist gut möglich, dass Frank O'Neill das Video hat", erzählte sie ihm. "Chief Daniels behauptet, dass O'Neill ihn erpresst habe. O'Neills Frau Lane hat sich früher um die Videoausrüstung von Miss Rowe gekümmert. Nur um die Lehrvideos, soweit ich weiß, aber sie hat die Bänder archiviert. Und Lane war die Einzige, die außer Miss Rowe Zugang zu dem Material hatte."
Jameson schien überrascht zu sein. "Du denkst, dass Lane und Frank Leute erpressen? Ist Lane zu so etwas fähig? Ich glaube nicht, dass Frank so ein Mensch ist."
"Lane ist meiner Meinung nach zu allem fähig. Sie hat damals gedroht, die Bänder zu stehlen und damit die Schülerinnen zu erpressen, die sie nicht mochte. Es gab reichlich demütigendes Material, besonders für Mädchen im Teenageralter."
"Ich kann nicht versprechen, dass ich die Kassette bekomme", sagte er, nachdem er sein Zögern überwunden hatte, "aber ich werde es versuchen. Ist es das, was du willst?"
Ihre Kehle fühle sich an wie zugeschnürt. Sie schluckte. "Danke."
"Wirst du hier warten?", fragte er.
"Nein, ich muss nach Hause und dann wahrscheinlich zurück nach Washington. Meine Freundinnen und ich müssen ein paar Entscheidungen fällen."
"Ich schätze, ich kann dich davon nicht abhalten, oder?"
"Nein, es sei denn, du steckst mich in einen Sarg."
Sie lächelte, aber er erwiderte die Geste nicht. Sein Gesichtsausdruck war ernst.
"Mattie, lass dich nicht umbringen. Das würde mir nicht gefallen."
Mattie betrat ihr Haus und sah sich schnell um. Sie hatte darauf bestanden, ein Taxi von Jameson zu ihr zu nehmen. Dass Jameson sie fuhr, hatte sie nicht gewollt. Mattie musste allein sein, um nachzudenken. Ihr Geist fühlte sich an, als könnte er nicht zur Ruhe kommen, als würde er einen wahnwitzigen Sprint hinlegen.
In der Garage stand immer noch ihr Auto, genauso wie sie es verlassen hatte, als es nicht ansprang. Bald musste ihr etwas einfallen, damit sie nicht länger auf Taxis angewiesen wäre.
Nichts schien sich verändert zu haben, seit Mattie zuletzt zu Hause gewesen war, auch wenn seitdem Zeit vergangen war. Ihre privaten Briefe lagerten im Postamt, Mattie hatte sie noch nicht abgeholt. Im Haus schloss sie die Fensterläden und drehte die Heizung an, um die Kälte zu vertreiben. Es fühlte sich seltsam an, drinnen war es klamm, als ob sie ein Fenster aufgelassen hätte.
Die Wandleuchter gingen an, als sie den Lichtschalter neben der Tür betätigte. Durch das weiche Licht konnte Mattie bis zu ihrem Schlafzimmer sehen. Es war nicht weit, aber das Gepäck in der Hand schien von Minute zu Minute schwerer zu werden. Ihr armes Knie hatte so viel durchgemacht und schmerzte unter dem zusätzlichen Gewicht wieder. Als sie das Schlafzimmer erreichte, humpelte Mattie.
Sie ließ die Taschen auf das Bett fallen und ging zu ihrem Nachttisch hinüber, um die Nachbildung einer Tiffanylampe anzuknipsen, die sie auf einer Auktion erstanden hatte. Vielleicht würde das Zimmer so etwas wärmer. Mattie war so lange weg gewesen, dass sie sich nicht sofort heimisch fühlte, als gehörte sie nicht hierher und als ob das Haus sie wegen dieser Vernachlässigung nicht mehr anerkannte.
Das Licht flackerte, als sie an der Kette zog, der Raum wurde nicht sofort beleuchtet. Noch einmal zog Mattie und beugte sich über den Schirm, um nachzusehen, woran es haperte. Augenblicke später saß sie auf dem Boden und versuchte, die Lampe zu reparieren, als ein Kratzen ertönte. Es klang wie Katzenpfoten auf einem Holzfußboden, und es kam vom Flur, der zum Schlafzimmer führte.
Mattie drehte sich nicht um. Dafür war es zu spät. Jemand war im Haus. Im Schlafzimmer. Jemand kam von hinten auf sie zu. Schon zweimal war Mattie angegriffen worden. Ein drittes Mal würde sie es nicht zulassen.
Sie packte die Lampe am Fuß, riss den Stecker aus der Steckdose und sprang auf die Füße. Jemand würde diesmal verdammt noch mal sterben, und dieser Jemand wollte Mattie nicht sein.
"Wer ist da?", schrie sie und schwang die Lampe wie eine Keule. Der Eindringling trat aus dem Schatten. Als Mattie erkannte, wer es war, ließ sie die Lampe fallen. Ein ohrenbetäubender Schrei durchdrang das Haus.