6. KAPITEL

Rowe-Akademie

Herbst 1981

Mattie wusste nicht, ob sie schreien oder sich tot stellen sollte. Die Schritte hatten direkt vor der Abseite gestoppt. Jemand war dort draußen. Mattie konnte also nicht weit von einer Halle oder einem Flur entfernt sein. Sie dachte nicht, dass irgendwer außer Miss Rowe wusste, wo sie war, aber andererseits hatte Mattie keine Ahnung, wie lange sie bewusstlos gewesen war und an diesem Ort gefangen.

Wenn sie sich ruhig verhielt, würde die Direktorin vielleicht denken, sie wäre schon tot, und ließe sie hier verrotten. Kein schöner Gedanke, aber besser als noch mehr Qualen durch eine sadistische Geistesgestörte zu erleiden. Mattie wollte nicht verstümmelt werden und dann in den Wänden der Rowe-Akademie verenden. Sie wollte fliehen, und wenn dies ihre einzige Chance war, durfte sie es nicht vermasseln.

Sie schloss die Augen und hörte das röchelnde Geräusch ihres Atmens. Sie klang wie ein Güterzug, und das allein versetzte sie in Panik. Es musste doch einen Weg geben, sich zu beruhigen! Sie zwang sich, ganz langsam zu atmen und in sich zu gehen. Das vermittelte ihr nach einer Weile das wunderbare Gefühl, wie ein Tiefseetaucher in die Stille zu sinken, und in diesem eigenartigen Zustand fand sie plötzlich die Lösung.

Vor ihrem inneren Auge sah Mattie das Schwarze einer Zielscheibe vor sich. Ihre Schießstunden verlangten immer volle Konzentration. Sie erlebte dort eine Entspannung und innere Ruhe wie nirgendwo sonst. Manchmal hatte sie das Gefühl, mit der gelben Kugel in der Mitte zu verschmelzen und in einen tranceartigen Zustand zu versinken, der alles andere ausblendete. Im Ruhepol der sich drehenden Welt, dachte sie in Erinnerung an das Zitat von T. S. Eliot aus ihrem Literaturunterricht. Konzentriere dich darauf.

Ihre Arme entspannten sich, und sie streckte die Finger, die zu Fäusten geballt gewesen waren. Die Stille war tröstend, und als Mattie darüber nachdachte, stellte sie fest, dass das Kabel aufgehört hatte zu funken. Vielleicht war die Leitung tot, und sie war wenigstens davor sicher.

Sie hatte begonnen zu glauben, dass ihr Plan funktionieren würde, als sie ein Kratzen hörte. Es drang durch den Boden unter ihren Füßen und klang, als versuchte jemand, ein altes Rost zu bewegen, vielleicht von einem Belüftungsschacht, aber das schien in einem so alten Gebäude unwahrscheinlich.

"Ist da jemand in der Wand?"

Mattie schlug die Augen auf. Wer auch immer das war, die Person sprach mit ihr.

"Mattie, bist du's? Bist du da drin?"

Die Stimme klang vertraut, aber … War das Jane?

Matties Herzschlag geriet außer Kontrolle. Sie war sich nicht sicher, und sie konnte mit der angeschwollenen Zunge nicht sprechen. In der verzweifelten Hoffnung auf Rettung presste sie ein gequältes Krächzen heraus und begann mit den Beinen zu zappeln. Aber sie hatte immer noch Angst, einen elektrischen Schlag zu bekommen.

"Pst, sei ruhig! Ich kann dich hören, aber ich kriege dich hier nicht allein raus. Ich muss Hilfe holen."

Nein, nein! Lass mich nicht allein, Jane!

Mattie konnte sie wegrennen hören. Dann fiel eine Tür ins Schloss. Matties zenartige Ruhe war verschwunden, und sie kam nicht wieder. Die Stille empfand sie jetzt so schneidend wie die Hitze. Schweiß tropfte ihr von der Stirn und brannte in ihren Augen wie Salz in einer Wunde. Aber sie wagte es nicht, ihn wegzuwischen. Sie traute sich auch nicht, einen Muskel zu bewegen, als sie wenig später sich nähernde polternde Schritte hörte. Alles, was sie sich vorstellen konnte, war die Klinge eines Beils, die ihren Sarg zerschlug und ihre Brust entzwei teilte.

Was hatte Jane getan? Den Feueralarm ausgelöst? Mattie betete, dass sie nicht Miss Rowe zu Hilfe geholt hatte, denn in dem Fall würden sie und Jane für die Ewigkeit hinter diesen Wänden verschwinden.

Ein dumpfer Schlag erschütterte Mattie und entrang ihrer Kehle einen stummen Schrei. Noch einmal erzitterte die Abseite, und das Elektrokabel hinter ihr fing wieder an, Funken zu sprühen. Ein greller Blitz erhellte den Bereich, aber es war keine Elektrizität. Der Metallrost war aufgebrochen worden, und Licht strömte herein.

Jemand zog Mattie an den Fußgelenken und zerrte sie aus ihrem stickigen Verließ. Sie landete mit dem Gesäß auf dem Boden und rang inmitten der Staubwolken nach Luft. Ihr Arm blutete. Es sah wie eine Schnittwunde aus, aber sie hatte keine Zeit, sich um Verletzungen zu kümmern. Der Staub legte sich, und sie starrte geradewegs in das furchterregende Gesicht ihres Retters.

Der kleine Raum war abgedunkelt, aber Mattie erkannte die mürrische Gestalt sofort. Wie konnte sie die blutunterlaufenen Augen, diesen kalten wütenden Mund vergessen? Sie kannte seinen Namen nicht, aber er war der Hausmeister und Gärtner der Schule. Seit sie eines Tages gesehen hatte, wie er mit seiner Spitzhacke eine kranke Kiefer mit einem Schlag in zwei Teile gespalten hatte, ging Mattie ihm aus dem Weg. Jeder außer Miss Rowe hatte Angst vor ihm.

Mattie wollte ihm danken, aber sie konnte nur die Lippenbewegungen dazu machen. Sie fragte sich, wo Jane war. Vielleicht hatte Jane ihm aber gar nicht Bescheid gesagt, sondern er war von ganz allein gekommen. Mattie begann zu zittern.

Schließlich brachte sie heraus: "Wo ist meine Freundin?"

"Ist hingefallen und hat sich verletzt", murmelte er.

"Wie?" Mattie war sich nicht sicher, ob nicht er Jane verletzt hatte. Er hatte sie aus dem Weg geschafft, und jetzt würde er sie genauso beseitigen.

"Was zum Teufel machst du auf dem Dachboden?" Verächtlich verzog er den Mund. "Ich habe gewusst, dass sie hier etwas versteckt. Habe nicht gedacht, dass das eine ihrer Schülerinnen sein könnte. Was hast du gemacht? Die falsche Gabel benutzt?"

Es erschien Mattie sicherer, nicht zu antworten. Sie hatte keine Ahnung, wovon er sprach.

"Diese verdorbene kleine Schlampe hat eine Lektion verdient", brummte er.

Mattie zuckte zusammen. Sie rappelte sich hoch, und er machte absolut keine Anstalten, ihr zu helfen. Er sah so angewidert aus, als hätte er sie am liebsten wieder zurück hinter die Wand geschoben.

Zorn loderte hinter ihrer Angst auf. Böse starrte Mattie ihn an. "Eine Schlampe vielleicht", krächzte sie, "aber verdorben bin ich nicht."

Sie war überrascht, weil sie die Worte herausgebracht hatte, aber noch mehr weil sein Gesichtsausdruck weicher wurde. Nur eine Sekunde lang, bevor er sich umdrehte und ging, ohne einen Funken von Interesse. Seltsam, wie schnell er zur Tür eilte, so als ob er nicht erwarten könnte, von dort zu verschwinden, als ob er sich sonst Ärger einhandeln würde. Vielleicht bedeutete das, dass er über den Vorfall schweigen würde.

Die Tür schlug krachend zu, und ein Schauer der Erleichterung lief Mattie über den Rücken. Sie hatte erwartet, dass er sie genauso in Stücke schlagen würde wie den Baum.

Der Raum, den er als Dachboden bezeichnet hatte, war voller Staub und Spinnweben. Er war leer, bis auf ein paar aufeinandergestapelte Metallstühle. Mattie stöhnte und stellte sich auf die Füße, den Blick auf die Tür gerichtet, durch die er gegangen war. Die einzige Tür. Mattie musste hier raus, aber bei dem Gedanken, dass er unten an der Treppe auf sie warten würde, wäre es ihr fast lieber gewesen, aus den Mansardenfenstern zu krabbeln.

Die Krankenstation der Schule befand sich im Erdgeschoss der Graedon Hall, einem dreistöckigen Turm am östlichen Ende des hufeisenförmigen Gebäudes. Mattie schien die einzige Schülerin zu sein, die in einem der Krankenbetten des Traktes lag, womit sie leben konnte, nachdem ihre Freundin Jane aufgetaucht war und ihr stolz die Schrammen präsentiert hatte, die sie sich beim Sturz auf der Turmtreppe zugezogen hatte. Der Hausmeister hatte tatsächlich die Wahrheit gesagt.

Mattie lutschte an einem Eiswürfel und genoss die Erleichterung, als die Schmerzen in ihrer Zunge nachließen. Sie war vielleicht vor einer Stunde zu sich gekommen, roch nach Jod und trug einen Krankenkittel, aber sie hatte keine Ahnung, wo ihre Kleider waren. Nach dem schlimmen Sturz aus dem Dachbodenfenster sei sie ohnmächtig geworden, sagte Jane. Irgendwie war Jane an der Arzthelferin vorbeigekommen, die im Büro der Krankenstation saß.

"Wie lange bin ich schon hier?", krächzte Mattie.

Jane machte ihr ein Zeichen, ruhig zu sein, während sie die Vorhänge um das Bett zog. "Miss Rowe hat uns gestern beim Abendessen erzählt, dass du einen allergischen Anfall hattest", flüsterte sie. "Sie sagte, du wärest in der Krankenstation, aber wir sollten dich nicht besuchen, weil deine Zunge wie ein Tennisball aussähe und es dir peinlich wäre."

Mattie bedeutete Jane, ihr etwas zum Schreiben zu bringen. Schnell zog Jane einen Notizblock und einen Stift aus ihrem Rucksack hervor.

Rowe hat mir das angetan, schrieb Mattie. Ich habe einen ihrer widerlichen Männer angespuckt.

Jane schlug sich die Hand vor den Mund, weil sie sonst losgeprustet hätte. "Gut gemacht", kicherte sie.

Mattie kritzelte noch eine Frage hin. Wie lange bin ich schon hier?

"Seit gestern Nacht", erklärte Jane. "Nachdem der Gärtner ohne dich vom Dachboden kam, bin ich hinaufgegangen. Du warst weg, aber das Fenster stand offen. Du hast mich zu Tode erschreckt, Mattie. Ich dachte, du wärest gesprungen, und bevor ich wieder unten war, hatte diese bescheuerte Lane Davison dich in einem Haufen auf dem Boden gefunden. Es ist ein Wunder, dass du dir nicht die Knochen gebrochen hast."

Da war sich Mattie nicht so sicher. Ihr Arm war fest einbandagiert, und ihr Knie schmerzte, als ob etwas gebrochen wäre. Ich bin nicht gesprungen, schrieb sie. Ich bin zwei Stockwerke hinuntergeklettert, bevor ich gefallen bin.

"Also, Lane hat Miss Rowe geholt", sagte Jane, eifrig bemüht, die Geschichte weiterzuerzählen, "die so tat, als würde sie Erste Hilfe leisten. Nein, keine Mund-zu-Mund-Beatmung!" Beide Mädchen zogen bei dem Gedanken eine Grimasse. "Sie hat deinen Puls kontrolliert und Ähnliches, und dann sah sie den Gärtner und bat ihn, dich zur Krankenstation zu tragen. Ich war ihnen so dicht auf den Fersen, dass ich hören konnte, wie sie ihm erzählte, dass du eine schwere allergische Reaktion gehabt hättest, sonst wäre deine Zunge nicht so angeschwollen. Er hat nichts gesagt, aber er musste ja wissen, dass sie log."

Auweia!, schrieb Mattie. Er hat mich getragen? Darth Vader?

Jane nickte, die Arme um sich geschlungen, als würde sie zittern.

Wo sind Ivy und Breeze?, schrieb Mattie, neugierig auf die anderen zwei Mitglieder ihrer kleinen Bande von Außenseitern. Alle vier Mädchen hatten ein Stipendium für Rowe, das sie von der Gemeinschaft der neureichen und blaublütigen Mädchen ausgrenzte. Aber das machte Mattie nicht mehr so viel aus. Sie hatte das erste Mal im Leben echte Freunde, auf die sie sich verlassen konnte.

"Sie sind in Breezes Schlafsaal, haben Kerzen angezündet und schicken Gebete für deine schnelle Erholung an die Göttin."

Das zauberte ein Lächeln auf Matties Lippen, was ihr schwer fiel, weil ihre Zunge sich immer noch wie ein Tennisball anfühlte. Die Mädchen hatten Artemis in einem Unterstufenbuch über Mythologie entdeckt und die böse griechische Gottheit als ihre Schutzpatronin adoptiert. Mehr noch als die Göttin der Jagd und der Fruchtbarkeit war Artemis die Schutzheilige der jungen Frauen. Sie hatte verfügt, dass sie und ihre Dienerinnen nie von einem Mann gesehen werden durften. Aber der arme Actaeon, ein Jäger, machte den Fehler, Artemis und ihre Frauen zu beobachten, als diese nackt badeten. Daraufhin verwandelte Artemis ihn in einen Hirsch und sah zu, wie seine eigenen Hunde ihn in Stücke rissen.

Wenn Artemis Nein sagte, meinte sie es auch so.

"Oh, das habe ich fast vergessen …" Jane kramte noch etwas anderes aus ihrem Rucksack. "Ivy wollte, dass ich dir das hier gebe. Es soll dir Gesellschaft leisten, bis du wieder bei uns bist."

Der knuddelige Bär musste aus Ivys Stofftiersammlung stammen, aber Mattie wollte ihn nicht. Sie war nicht der Typ für Teddybären. Um Himmels willen – sie seilte sich von hohen Gebäuden ab! Aber sie wollte auch Ivys Gefühle nicht verletzen.

Nach einigem Zögern griff sie nach dem Bär, woraufhin Jane in ein leises Gelächter ausbrach. "Er beißt schon nicht", sagte Jane und drückte ihr das Tier in die Arme.

Mattie seufzte und drückte den Bär, mit dem Gefühl, so ungeschickt zu sein, wie Jane ihr immer unterstellte. Sie brachte ein schmerzhaftes Grinsen zustande. Ihr Knie machte ein klickendes Geräusch, sobald sie es bewegte, und in dem bandagierten Arm spürte sie einen stechenden Schmerz, aber sie hatte noch eine Frage.

Wie bist du hier reingekommen, ohne dass dich jemand gesehen hat?

Jane wurde tatsächlich rot. "Kennst du Jimmy Broud? Diesen süßen Typen aus der Stadt, der Sachen ausliefert? Er hat die Schlüssel zur Hintertür dieses Gebäudes, wo die Vorräte aufbewahrt werden. Ich habe ihn rein zufällig beim Rausgehen beobachtet."

Janes Lächeln war viel zu geheimnisvoll. Mattie kam vor Neugierde fast um, aber sie war entschlossen, nicht den Anflug von Interesse zu zeigen.

Also, hat er dich reingelassen?, schrieb sie.

"Ja, und er hat gefragt, ob ich mir die schlafende Schöne ansehen wolle. Ich glaube, er hat dich gemeint. Aber ich habe gelogen und gesagt, dass ich nur ein Aspirin gegen meine Kopfschmerzen bräuchte. Er ist ziemlich süß, findest du nicht?"

"Nein", stieß Mattie hervor und erntete dafür einen fiesen Schmerz im Mund. Wenn Jimmy Broud sie angesehen hatte, während sie schlief, dann hatte er die vielen Schrammen und Kratzer in ihrem Gesicht gesehen, den grotesk geschwollenen Mund. Er konnte nicht von ihr gesprochen haben – und wenn, dann hatte er es bestimmt ironisch gemeint.

"Ist etwas nicht in Ordnung, Matt?"

Mattie fiel zurück in ihr Kissen. "M…müde."

"Ja, tut mir leid, ich verschwinde besser. Ich muss sowieso los zur ersten Stunde. Kommst du hier klar?"

Mattie antwortete mit einem Seufzen.

Jane wurde plötzlich ernst. Sie legte eine Hand auf Matties, was sie zuvor noch nie getan hatte. "Miss Rowe war nicht immer so grausam", sagte sie. "Erinnere dich mal an unser erstes Jahr. Wie oft hat sie uns in ihre Wohnung eingeladen, nur uns vier. Sie hat uns geschminkt und uns gesagt, dass Frauen geheime Kräfte hätten, die sie nicht nutzten. Sie hat versprochen, uns Dinge beizubringen, die die vielen Nachteile in unserem Leben wettmachen würden. Und sie sagte, wir könnten alles werden, was wir wollten. Ich habe ihr geglaubt."

Auch Mattie hatte ihr geglaubt.

"Was ist mit ihr geschehen?", frage Jane. "Warum hat sie sich so verändert?"

Mattie wusste es nicht. Als sie zu ihrer Freundin hinüberblickte, sah sie Tränen in Janes Augen schimmern. Von plötzlichem Schmerz übermannt, fühlte Matti, wie sich ihr Herz zusammenschnürte. Sie hatte keine Ahnung, was sie dagegen tun oder wie sie Jane helfen konnte. Von allen vier Mädchen hatte Jane sich die Dinge am meisten gewünscht, von denen die Schulleiterin gesprochen hatte: die Anmut und Würde, die allein der privilegierten Schicht zuzustehen schien.

"Was wirst du tun?", fragte Jane. "Ich meine Rowes Treiben hier?"

Matties Lösung war simpel, aber sie schrieb sie nicht für Jane auf. Es würde vielleicht eine Weile dauern, um sich ein paar Vorräte anzulegen, aber sie würde abhauen. Ihre Freundinnen ließ Mattie ungern allein zurück, besonders Ivy, die so zerbrechlich war und mehr Schutz als die anderen brauchte. Aber eine unbekannte Macht, vielleicht Artemis, hatte ihr die Wahrheit ins Ohr geflüstert. Wenn sie an diesem Ort noch länger bliebe, würde etwas Furchtbares geschehen. Jemand würde noch schwerer verletzt werden. Und es würde ihretwegen geschehen.