34. KAPITEL
Mattie wurde in einer Limousine zum Hintereingang des Weißen Hauses gefahren, eilig in die Privaträume im zweiten Stock gebracht und in einen kleinen, elegant eingerichteten Salon geführt. Breeze wartete schon, und Mattie war noch nie so froh gewesen, irgendjemanden zu sehen.
"Verflixt, schau dich an", sagte Breeze und streckte die Arme aus. "Trägst du Make-up?"
Matties Hals tat weh, als sie sich umarmten, und das Gefühl überraschte sie. Sie kämpfte mit den Tränen. So viel zum Augen-Make-up.
Schließlich ließ Breeze Mattie los und hielt sie eine Armeslänge von sich entfernt. Die Frau hatte ihre Prioritäten.
"Ist das Lipgloss? Welche Farbe? Sieht gut aus, aber ich würde ein bisschen mehr ins Rote gehen. Du bist brünett, Mattie."
"Breeze, hör mir zu. Ich brauche deine Hilfe. Es ist wichtig."
"Und Lidschatten, oder?"
Um die Freundin zum Schweigen zu bringen, schüttelte Mattie sie leicht. "Hast du meine Nachricht wegen David Grace gehört? Ich habe eine Aufgabe für dich. Ich brauche Hintergrundinformationen über Grace, aber du musst diskret vorgehen. Keine Recherche im Internet. Ruf meinen Detektiv an, wenn du willst. Vince Denny."
"Mattie, ich weiß schon, was ich tun muss. Ich habe schließlich Kunden, die aus Königsfamilien stammen, Staatsmänner. Das Spa ist hermetisch abgesichert. Wir sammeln Hintergrundinformationen über alle, vom einfachen Poolboy bis zum Präsidenten von Gambia."
Der Blick aus ihren perfekt geschminkten Augen wurde kritisch, als sie Matties Gesicht berührte. "Ich glaube, du solltest noch mal über das Rouge nachdenken. Ist das Koralle? Das lässt dein Gesicht leicht gelblich aussehen, und der Hepatitis-Look ist total out."
"Breeze, ich glaube, dass mich jemand umbringen will."
"Ich weiß."
"Du weißt das?"
Mit dem Daumen wischte sie etwas Rouge ab.
"Es gab zwei Versuche, und beide sind gescheitert", sagte sie, während sie sich weiterhin mit Matties Wangenknochen beschäftigte, "möglicherweise, weil mein Agent den Angreifer in die Flucht geschlagen hat, wahrscheinlicher ist aber, dass dein Tod nie das Ziel war."
Mattie schob Breezes Hand weg. "Dein Agent? Was für ein Mist ist das? Hast du mir nachspionieren lassen?"
Breeze seufzte und gab vor, beleidigt zu sein. "Denkst du, du bist die Einzige, die einen Detektiv kennt? Im Übrigen war dein Angreifer zu gut, um es zweimal zu versauen. Er wollte …"
"Mich einschüchtern", setzte Mattie den Satz fort. "Das habe ich mir auch schon überlegt. Aber wenn du jemanden auf mich angesetzt hast, warum zum Teufel hat er zugelassen, dass man mir eins überzieht und mich in einen Pappsarg steckt?"
"Dafür kannst du dich bei deinem Freund Jameson bedanken. Er hat alles noch schwieriger gemacht. Mein Agent hielt Jameson für den Angreifer und hat ihn beobachtet. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum der echte Angreifer seine Mission überhaupt vollstrecken konnte."
"Lass uns bitte nicht das Wort 'vollstrecken' benutzen. Hat dieser Agent von dir denn gesehen, wer mich angegriffen hat?"
"Wie ich schon sagte, der Täter war gut. Mein Agent hat es nicht geschafft, ihn zu identifizieren."
"Aber du weißt, dass es ein Mann war?"
"Nicht unbedingt."
"Breeze, wer ist dein Agent? Ich möchte mit ihm sprechen."
Breezes braune Augen waren plötzlich kühl. "Nein, Mattie, das kannst du nicht. Glaub mir. Er ist ein gut ausgebildeter Mann, der früher beim Geheimdienst des Militärs war, und mehr verrate ich nicht. Ich schade meinen Leuten nicht."
"Aber du lässt zu, dass mir Schaden zugefügt wird, um nicht zu sagen, dass ich umgebracht werde?"
Aus dem kühlen Blick wurde ein ungehaltener. "Das ist nicht fair! Er hat den Täter beim ersten Mal verjagt, und beim zweiten Mal war Jameson ein unfreiwilliger Lockvogel. Mein Agent wäre sicher eingeschritten, hätte er gewusst, was vor sich ging."
"Warum hast du mir davon nicht früher erzählt?"
"Aus dem gleichen Grund, aus dem du über Denny geschwiegen hast."
Mattie hätte natürlich auch Nein gesagt. Nicht dass Breeze die Bedeutung dieses Wortes kannte. Im Moment kam Mattie mit ihrer Entrüstung nicht weiter. Es schien, als hielte sich ihre Freundin ein ganzes Sicherheitsteam. Offenbar war das Spa-Geschäft heutzutage hochriskant.
"Du bist nicht sauer, oder?" Breeze strich Mattie die Augenbrauen glatt. "Wir gehen zur Kosmetikerin, wenn wir hier fertig sind. Jane muss ja eine kennen. Und wir lassen diesen Schnurrbart entfernen, wenn wir schon dabei sind."
Mattie duckte sich und entfernte sich aus Breezes Reichweite. "Ich habe keinen Schnurrbart."
"Du bist sauer."
"Pfeif einfach nur deine Hunde zurück, okay? Wenn ich Anhang brauche, besorge ich mir selbst einen." Mattie seufzte.
"Schon gut, schon gut." Breeze trat einen Schritt zurück und klopfte sich mit einem perfekt manikürten Nagel auf die Lippen. "Sind wir sicher, dass es da nicht schon einen gibt? Einen Anhang, meine ich. Das mit Jameson Cross ist doch ziemlich interessant, oder?"
Sie weiß von Jameson. Warum bin ich nicht überrascht?
"Bei allem, was Jameson von mir wollte – das war es nicht", sagte Mattie, obwohl sie wusste, dass Breeze ihr kein Wort glauben würde. Mattie wusste selbst nicht, was sie glauben sollte. Ihr ging durch den Kopf, ob es richtig gewesen war, Breeze so eine wichtige Aufgabe wie David Grace anzuvertrauen. Sicherheitsteam oder nicht, Breeze hatte eine verblüffende Art, alles mit derselben Sorglosigkeit zu betrachten, ob es ein abgebrochener Fingernagel war oder Mordversuche. Mattie hoffte bloß, dass die gut gelaunte Ignoranz der Freundin sie nicht alle umbringen würde.
Jane kam herein und wirkte nervös, aber schick in ihrem blassrosa Kostüm. Die goldenen Stickereien und Knöpfe wiesen auf Chanel-Design hin. Die Rolle der First Lady beherrschte Jane perfekt, obwohl sie ihren eigenen Stil hatte. Wie viele Präsidentengattinnen hatten so viel Bein gezeigt? Der Rock war gefährlich nah an einem Minirock.
"Es tut mir schrecklich leid", sagte Jane und beeilte sich, Mattie und Breeze zu umarmen. Sie deutete auf ein elegantes Brokatsofa und ein großes Tablett mit Erfrischungen, das auf einem Beistelltisch stand.
"Nehmt euch etwas Eistee und ein Sandwich", sagte sie. "Ich dachte, ihr seid bestimmt hungrig nach diesem plötzlichen Flug quer über das Land. Geht es euch gut? Habe ich euch zu Tode erschreckt? Es tut mir leid, aber es gibt Dinge, die ich Leuten nicht am Telefon sagen kann."
Breeze griff nach ein paar Trauben aus einer prall gefüllten Obstschale. "Jemand hat Mattie angegriffen", sagte sie. "Zweimal."
"Was?" Jane errötete, so als ob sie wütend wäre. "Das ist nicht besonders lustig, Breeze."
"Leider ist es wahr." Mattie entdeckte ein Truthahnsandwich und nahm es in die Hand. Sie war tatsächlich hungrig. An Bord des Flugzeugs hatte es nur Kleinigkeiten gegeben. Viel zu trinken, dafür wenig zu essen.
"Es ist alles unter Kontrolle", fügte Mattie hinzu und hoffte, damit Breeze zu verstehen zu geben, dass sie sich vor Jane zurückhalten mussten. Das Letzte, was sie brauchte, war eine Jane, die sie bemutterte. "Er wollte mich einschüchtern, und es hat nicht funktioniert. Ich bin hier, mir geht es gut. Jetzt lass uns deine Geschichte hören. Warum sind wir hier?"
Matties Tonfall sagte: Stell mir noch eine Frage, und ich sehe mich gezwungen, dir eine zu scheuern. Breeze salutierte. Jane zuckte resigniert die Schultern.
"Sehr gut." Jane nahm sich ein Glas Eistee und nippte daran, als ob ihr eine echte Tortur bevorstünde. "Ich muss euch etwas erzählen, und das wird sehr schwer für mich. Ich hätte es euch schon längst sagen sollen."
Neugierig sah Breeze sie an. "Jane hat ein Geheimnis?"
Ein seltsames knacksendes Geräusch unterbrach die Unterhaltung. Es klang wie eine schlechte Telefonverbindung. Jane stand auf und sah sich um. Aber Mattie hatte bereits ein altes Telefon mit Wählscheibe auf dem Schreibtisch beim Fenster entdeckt. Sie nahm den Hörer hoch und lauschte. Es war nichts zu hören. Um sicherzugehen, zog sie das Telefon aus der Buchse.
In der Zwischenzeit hatte Jane nach ihrem Handy gegriffen und sprach mit jemandem im Flüsterton. Mattie beobachtete sie mit steigender Sorge. Zitterten ihre Finger? Sie wirkte so zart, fast zerbrechlich, Mattie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Dass auch Jane verletzlich war, hatte Mattie nur einmal zu spüren bekommen, und es hatte ihr Angst gemacht. Jane war ihr Gibraltar, und wenn sie zerbrach, könnten sie alle zerbrechen.
"Es ist sicher", beruhigte Jane die Freundinnen und schien viel entspannter zu sein, nachdem sie aufgelegt hatte. "Ich habe das Zimmer selbst überprüft, und ich habe mich gerade vergewissert, dass Larry erst viel später kommt. Er ist heute auf einer Benefizveranstaltung. Ich sollte ihn begleiten und habe abgelehnt." Sie legte eine Hand an die Stirn. "Einer meiner Kopfschmerzanfälle."
Breeze wollte sich gerade eine Weintraube in den Mund stecken, doch ihr Arm wirkte wie eingefroren. "Jane, komm zum Punkt. Du machst mich wahnsinnig."
Jane warf Breeze einen warnenden Blick zu. "Zunächst einmal bin ich nicht überrascht, dass jemand es auf Mattie abgesehen hat. Ich glaube allerdings auch nicht, dass dieser Jemand sie töten wollte. Mit uns allen wird ein Spiel gespielt. Wer auch immer Broud getötet hat, signalisiert uns, dass wir bloßgestellt werden sollen. Er oder sie will, dass wir in Panik geraten und etwas so Dummes tun, dass wir uns selbst belasten. Wir sollen aufgescheucht werden."
Mattie hätte einwenden können, dass erstochen zu werden nicht ihrer Vorstellung von einem Streich entsprach. Aber es war nicht leicht, Janes Idee zu entkräften, dass es sich hier um ein Spiel handle. Jemand wollte sie so erschrecken, dass sie redete – und Jane wusste offenbar, wer das war. Oder sie glaubte zumindest, es zu wissen.
Wieder das knacksende Geräusch.
Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken, als hätte etwas Eisiges sie berührt. Mattie legte das Sandwich wieder zurück auf den Teller, ohne davon abgebissen zu haben. Jane konnte nur eine Person meinen. Mit dieser beinah absurden Vorstellung hatte Mattie schon gespielt und sie als zu weit hergeholt betrachtet. Sie wollte nicht glauben, dass Jameson so weit gehen würde. Genug Gründe hätte er jedoch. Er schien fest entschlossen, seinen Bruder zu rächen. Wahrscheinlich ging es ihm auch um die Buchverkäufe, besonders jetzt, da er wusste, wer Jane Dunbar war.
Vielleicht gibt es keine Möglichkeit, Freund von Feind zu unterscheiden. Jeder kann Freund oder Feind sein, abhängig von der Situation. Mattie mochte den Gedanken nicht. Er sorgte dafür, dass sie sich noch einsamer als sonst fühlte.
Ihr Blick begegnete Janes, und sie fragte sich, ob sie beide das gleiche dachten. "Ist das das Geheimnis?"
Jane berührte die Perlenkette an ihrem Hals. "Nein, das Geheimnis hat mit dem Mann zu tun, der Miss Rowe die Blumen schickte, dem D. G. auf der Karte. Deine spontane Eingebung war gar nicht so verwegen, Mattie."
"Was soll das heißen?"
"Miss Rowes geheimer Liebhaber war David Grace."
"Woher weißt du das?", fragte Breeze.
"Ich habe einige Dinge gehört und gesehen."
Breeze zupfte eine Traube ab und biss hinein. "Du hast sie ausspioniert?"
Mattie setzte sich aufrecht hin. "Du hast Miss Rowe ausspioniert?"
Jane nickte. "Erinnerst du dich noch, als du zu krank warst, um das Apartment aufzuräumen, und ich das für dich gemacht habe? Gerade als ich gehen wollte, kam sie herein. Ich habe mich im Schrank versteckt. Sie rief einen Mann an und bestätigte ihre Verabredung für den folgenden Tag. Ich dachte mir, dass das ihr Liebhaber sein müsse, für den sie all diese komplizierten Rituale pflegte. Also bin ich am nächsten Morgen in ihr Zimmer geschlichen, als sie duschte."
"Und du hast uns nie davon erzählt?", fragte Mattie.
"Ich dachte, dass ihr es mir ausreden würdet, und ich war sowieso schon total verängstigt. Außerdem wusste ich zu dem Zeitpunkt nicht, wer David Grace war – und als ich es herausfand, war es zu spät."
"Zu spät wofür?", fragte Mattie.
"Um etwas zu sagen."
Mattie sprang vom Sofa auf. "Jane, er könnte der Mörder sein. Sie starb an dem Morgen, an dem sie mit ihrem Liebhaber verabredet war. Wir haben das doch so geplant, als wir sie vergiften wollten. Es war nicht Broud. Es war David Grace, und du hast es die ganze Zeit gewusst?"
Mit hektischen Gesten brachte Jane Mattie zum Schweigen. "Es war nicht Grace. Dafür gibt es einen Beweis. Er kam an diesem Morgen nicht nach Rowe. Er war im Krankenhaus."
Breeze schwieg, Mattie allerdings war wütend. Sie hatte sich für diese zwei Frauen in Lebensgefahr begeben. "Woher weißt du das alles?"
Vorsichtig legte Jane sich die Hand an den Hals, verdrehte die Perlenkette und entwirrte sie wieder. "Nachdem man Miss Rowes Leiche abgeholt hatte, bin ich in Panik geraten. Ich war sicher, dass man den Herzwein finden und mit uns in Verbindung bringen würde. Ich wollte euch keine Angst machen, und deshalb habe ich mir einen Plan ausgedacht, der uns drei schützen sollte."
Das konnte Mattie nachvollziehen. Sie enthielt den beiden Frauen momentan auch Informationen vor, weil sie sie nicht ängstigen wollte.
"Du warst hinter Grace her?" Mattie hatte eine vage Vorstellung davon, was passiert war.
Kaum merklich nickte Jane. "Ich habe ihn gesucht und herausgefunden, dass er im Krankenhaus lag. Ich bin in sein Zimmer gegangen, wo er wegen eines schweren Asthmaanfalls lag und an ein Atemgerät angeschlossen war."
"Und du hast ihn erpresst?", fragte Mattie.
Breeze quiekte. "Oh, bitte sag mir, dass du es getan hast!"
"Erpressung ist so ein hässliches Wort. Ich habe ihn gewarnt und ihm gesagt, dass er vorsichtig sein sollte. Wenn ich von ihm und Miss Rowe wüsste, würde es vielleicht auch noch andere geben. Das war alles, was ich gesagt habe."
"Mutig", lobte Breeze. "Hattest du keine Angst, dass er dich direkt der Polizei übergeben würde?"
"Ich dachte, er würde mich umbringen oder entführen lassen und mich in die Sklaverei verkaufen. Ich stellte mir vor, dass ich spurlos verschwinden würde und keiner von euch wüsste, was mit mir passiert ist. Aber angesichts der Tatsache, dass seine Geliebte ermordet worden war, hoffte ich, dass er seine geheimen Verabredungen nicht ans Licht der Öffentlichkeit tragen wollte. Und ich hatte recht."
"Was hat er gesagt?", fragte Mattie.
"Das werdet ihr nicht glauben." In Janes Gesicht schlich sich ein wehmütiges Lächeln. "Er fragte mich nach meinen Träumen. Als ich mich von dem Schock erholt hatte, erzählte ich ihm, dass ich die Welt verändern wolle. Ich wollte Politik, vielleicht in die Regierung. Er sagte, meine Wünsche seien nicht groß genug und dass ich Präsidentin werden könne, wenn ich wolle. Er könne viel ungenutztes Potenzial in mir sehen. Das waren genau seine Worte, ungenutztes Potenzial."
"Hat er dir Geld angeboten?"
"Nein, Breeze, dafür hatte er zu viel Klasse. Aber hört zu – offensichtlich hatte er eine Tochter, die eine schreckliche Enttäuschung für ihn war. Er sagte, dass sie keine Vision hätte, keinen Leitstern, und dass er nicht an sie herankäme. Mir versicherte er, dass ich mir keine Sorgen machen müsse, dass er mir bei der Verwirklichung meiner Träume helfen würde. Und, wenn ihr das glauben könnt, er entschuldigte sich für das Grace-Stipendienprogramm. Er sagte, es würde nicht so funktionieren, wie er es sich vorgestellt hätte. Bis zu jenem Tag hatte ich gar nicht gewusst, dass er das Grace-Stipendienprogramm war."
"Wusste er von dem Sexring?", fragte Mattie. "War er daran beteiligt?"
"Ich habe es nicht angesprochen und er auch nicht. Tatsache ist, dass wir bis heute nicht darüber geredet haben."
Mattie überkam ein Schwindelgefühl. Sie wusste nicht, ob es an Janes Worten oder an der Kopfverletzung lag. "Du bist mit ihm immer noch in Kontakt?"
"Wer, denkst du, hat mich Larry vorgestellt?" Sie hielt ihren Ringfinger hoch.
"Oh, mein Gott", flüsterte Breeze.
"Wer, denkst du wohl, hat meine Bryn-Mawr-Ausbildung bezahlt und mir den fantastischen Job im Auswärtigen Amt besorgt?"
Mattie stieß ein Pfeifen aus. Jane hatte Spaß an den Enthüllungen. Vor Jahren hatte sie einen Pakt mit dem Teufel geschlossen, und es hatte funktioniert. Jane besaß alles, was sie wollte. Dass sie vollkommen überrascht war, konnte Mattie nicht behaupten. Anders als Graces Tochter hatte Jane immer große Pläne gehabt – und auch den Willen, sie in die Tat umzusetzen. Aber Mattie konnte sich nicht vorstellen, dass Janes einzige Gegenleistung Schweigen gewesen war.
"Wie war er?", platzte Breeze neugierig heraus. "Ich habe gehört, dass er ein Einsiedler ist. Er gibt kaum Interviews und er lässt auch keinen Fotos von sich machen. Ist er ein hässlicher Gnom?"
"Nein, er ist ein wirklich attraktiver Mann, damals wie heute."
Mattie inspizierte ihre Nägel und sah ihnen die Auswirkungen der letzten zwei Tage an. Sie waren gesplittert und voller Nietnägel. Diese Tatsache beunruhigte sie, aber nicht aus dem offensichtlichen Grund. Warum gab sie sich einer so kindischen Angewohnheit hin? Wollte sie, dass ihre Hände hässlich aussahen, weil ihre Mutter ihr einmal gesagt hatte, dass sie zart und sinnlich seien, genau so, wie Männer es mochten?
"Kennt er unser Geheimnis, Jane?"
Mattie hatte diese Frage gestellt, und Janes Finger begannen zu flattern. Sie spielte mit der Kette und zog sie fest nach vorn. Der Druck war zu stark. Plötzlich riss die Kette, und die Perlen flogen auseinander.
Breeze war auf die Füße gesprungen. Dies brachte anscheinend auch sie völlig aus der Ruhe. "Du hast ihm doch nicht gesagt? Jane?"
Janes Schweigen war Antwort genug. Sie kniete auf dem Boden und suchte nach ihren Perlen, alles, um Matties Frage nicht beantworten zu müssen.
Jetzt verstand Mattie ihre Verletzlichkeit. Es ging um Risiko und Verlust. Jane war nicht unzerbrechlich. Das Band zwischen den dreien hingegen schon, und Jane hatte es aufs Spiel gesetzt. In einer Angelegenheit, die das Leben der drei im gleichen Maße betraf, hatten sie nur einander. So war es jetzt auch, und es war entscheidend, dass sie einander vertrauten. Mattie hätte ihr Bündnis bis heute nie in Frage gestellt. Sogar eine vermeintlich kleine Lüge war riesig, besonders eine, die jahrelang verschwiegen worden war. Es bedeutete, dass Janes Verbindung zu Grace stärker war als die zwischen ihnen.
Das darf nicht passieren, dachte Mattie. Gott, was für ein Schlag. Sie brauchte diese zwei Frauen. Sie musste wissen, dass ihr Band unzerstörbar war. Sie hatte daraus unendlich viel Kraft gezogen. Vielleicht war es sogar die einzige Quelle ihrer Energie.
Jane sammelte die Perlen auf. "David Grace hat mein Leben verändert. Er hat mir eine Chance gegeben. Alles, was er jemals getan hat, war, mir zu helfen. Aber ich konnte es euch nicht sagen, ohne mein Versprechen ihm gegenüber zu brechen."
"Wir haben geschworen, uns nie anzulügen", stellte Breeze fest.
"Aber wir haben uns auch versprochen, uns zu schützen und zu unterstützen, bis zum Tod, wenn es sein müsste. Erinnert ihr euch an den Schwur? Und nur diese Lüge hat es mir möglich gemacht, das zu tun. Wenn ich mich noch einmal entscheiden müsste, ich würde es wieder tun."
Sie schloss die Hand um die losen Perlen auf der Innenfläche und sah die zwei anderen Frauen an. "Er hat nicht nur mir geholfen. Er hat uns allen geholfen."
Schweigen. Weder Mattie noch Breeze waren fähig, ein Wort zu sagen, als Jane aufstand und ihren Rock abklopfte. Sie ließ die Perlen in eine schwere Kristallschale kullern, ganz vorsichtig und fast geräuschlos. Die plötzliche Stille war entsetzlich. Sie vermittelte das Gewicht einer Guillotinenklinge, die gleich fallen würde.
"Können wir uns bitte setzen?", bat sie. "Es gibt noch mehr zu sagen."
Als sie erst mal auf dem Sofa saßen, erzählte Jane ihnen den Rest. Mit hoch erhobenem Kopf und gefalteten Händen sprudelten die Informationen aus ihr heraus. Sie und David Grace waren in den vergangenen Jahren nicht faul gewesen. Er hatte sowohl Mattie als auch Breeze anonym unterstützt, einfach weil Jane darum gebeten hatte. Wie hätte Breeze sonst einen so großen Geschäftskredit ohne Sicherheiten aufnehmen können? Und hatte Mattie wirklich geglaubt, dass sie eine so prestigeträchtige Richterposition ohne das Mitwirken anderer Personen als Larry erhalten hätte?
Der Schock und das Schweigen dauerten an, sogar als Jane ihre Beichte beendet hatte. Mattie nahm die anderen zwei Frauen nicht einmal mehr wahr. Sie saß allein in ihrem Kellerraum. Sie war naiv genug gewesen, zu glauben, dass sie die Position aufgrund ihrer Fähigkeiten bekommen hatte. Jetzt konnte sie nicht einmal mehr an sich selbst glauben.
Tief atmete sie ein, um gegen das Schwindelgefühl anzukämpfen, das sich anfühlte, als wäre sie gerade aus einem Karussell gestiegen. Ihr Schädel schmerzte furchtbar. Doch noch schlimmer war das Gefühl von Hilflosigkeit, als hätte sie in den vergangenen Jahren keine Kontrolle über ihr Schicksal gehabt. Sie wusste nicht mehr, welche Entscheidungen ihre und welche die eines anderen gewesen waren. Sie wusste nicht mehr, was sie erreicht hatte und was nicht. Konnte ein Mann wie David Grace eine Richterwahl manipulieren?
Das seltsame Knacksen ertönte wieder. Die anderen schienen es nicht wahrzunehmen. Es klang genau wie der Lärm in ihr, wie eine statische Aufladung in ihrem Inneren. Eine Sekunde lang fragte Mattie sich, ob sie sich das einbildete und nur eine Art Rückblende erlebte.
Allmählich nahm sie Jane wieder wahr, die ihr die Hand hielt.
"Mattie, sieh nur, was du getan hast", sagte sie.
Mattie sah auf den Fingernagel, den sie fast ganz abgekaut hatte, und war davon angewidert. Sie war eine eigenständige Person, unabhängig von dem Eingreifen David Grace'. Er hatte vielleicht ein paar Fäden für sie gezogen – und wer hatte denn keinen Wohltäter, wenn es um solche Dinge ging –, aber er hatte nicht ihre Fälle verhandelt. Er hatte sie nicht im Denken oder in ihrer Suche nach Wahrheit beeinflusst. Was auch immer er in ihrer Umwelt verändert hatte, auf ihr Inneres hatte er keinen Einfluss ausgeübt.
"Mattie, sprich mit mir, bitte. Sag mir, was du denkst. Ich habe Angst. Bitte sprich mit mir."
Mattie hob den Kopf. Ihr berüchtigter feindseliger Blick ließ Jane blass werden. "Bist du fertig? Kann ich jetzt endlich gehen?"
Jane erwiderte den Blick. "Nein, kannst du nicht", sagte sie und stand auf. In ihrem Tonfall war all die Autorität zu hören, die sie als Anführerin ausüben konnte. "Du gehst hier nicht einfach weg. Das lasse ich nicht zu. Was ich getan habe, habe ich für uns getan. Ich habe nichts getan, um euch zu verletzen, jedenfalls nicht absichtlich. Ich wollte nur helfen. Breeze, sag es ihr bitte."
Breezes Stimme klang sanft und ungläubig. "Ich könnte nicht zufriedener sein", sagte sie. "Wenn David Grace hier wäre, würde ich ihm einen ausgeben. Der Mann hat mir meinen Erfolg ermöglicht, und ich liebe ihn dafür."
"Ein Spa ist vielleicht ein bisschen was anderes als das Bundesberufungsgericht", entgegnete Mattie.
Breeze schien anderer Meinung zu sein. "Was ist mit all dem Guten, das du in dieser Position tun konntest? Bist du nicht dankbar für die Gelegenheit?"
"Ich hätte sie mir lieber selbst verdient."
"Was – und all die Zeit verschwendet? Er hat dir zum Durchbruch verholfen, um Himmels willen. Denk mal darüber nach."
Mattie sah keine von beiden an. Sie hatten das schon zu oft mit ihr gemacht, sich gegen sie verbündet. "Ich werde nicht gern angelogen, verdammt noch mal."
"Und ich lüge nicht gern. Ich werde dich nicht um Vergebung bitten. Aber ich bitte um dein Verständnis – und um eines noch."
Mattie seufzte. Dem besänftigenden Blick aus Janes braunen Augen konnte sie nicht lange standhalten.
"Mattie, David will uns helfen", sagte sie. "Und wenn das irgendjemand kann, dann er. Er ist geschäftlich außer Landes, aber er möchte euch so schnell wie möglich treffen. Werdet ihr das tun?"
Der Raum knisterte wie aufgeladen. Ein lautes Knallen erschreckte sie. Eine Ecke des Zimmers versank in Dunkelheit, und Mattie bemerkte, dass eine Lampe ausgegangen war. Sie hörte keine Dinge. Es war nichts als eine Glühbirne gewesen, ein Kurzschluss vielleicht. Gott sei Dank.
Um ein paar Schritte zu machen und einen freien Kopf zu bekommen, stand Mattie vom Sofa auf. Jane hatte ihr eine Frage gestellt, und sie wusste keine Antwort.
Vor zweiundzwanzig Jahren hatte Jane einen verzweifelten Entschluss gefasst. Egal, was ihre Beweggründe gewesen waren, sie hatte die Grenze überschritten und sich mit Minos, dem König der Unterwelt, verbündet. Und auf vielfältige Weise hatte dieser Pakt sie heute in den Salon im Weißen Haus gebracht. Jetzt bat sie Mattie darum, diesen Pakt ebenfalls zu schließen. Aber es waren mehr als zwanzig Jahre vergangen, und Mattie war keine furchtlose Vierzehnjährige mehr.