24. KAPITEL
"Oh, Herr Präsident, schämen Sie sich!"
Jane unterdrückte ein Kichern, als Larry hinter ihr auftauchte und ihr die Brüste liebevoll drückte. Sie ließ ihren Kopf auf seine Schulter sinken und gab sich seinen Zärtlichkeiten hin. Sie liebte es, wenn er sie an seine nackte Brust, die eine wunderbare weiche Hitze ausstrahlte, zog. Offensichtlich beabsichtigte er, heute nur mit Pyjamahosen ins Bett zu gehen. Ein gutes Zeichen.
"Der rote Satin?", fragte er und meinte das tief ausgeschnittene Nachthemd mit dem hohen Schlitz am Bein. "Das ist wie eine doppelte Dosis Viagra."
Sie sah sein Lächeln in dem vergoldeten Spiegel der Frisierkommode, an dem Jane ihr Aussehen überprüft hatte, bevor sie ihm ins Schlafzimmer folgte. Sein Blick hielt den ihren fest, und einen Moment lang konzentrierte sich ihr ganzes Sein auf den hellblauen See seiner Augen. Das silberne Haar und die adlerartigen Züge erregten Jane in einem Maße, das sie selbst nicht verstand.
Sie zog seine suchenden Finger an die Lippen und küsste ihn. "Ich hatte auf eine persönliche Audienz beim Oberbefehlshaber gehofft", flüsterte sie.
"Bekommst du", versicherte er zuvorkommend. "Und du musst nicht mal salutieren."
"Oh, du aber." Jane drehte sich um, schlang die Arme um seinen Nacken und presste das Becken sehr verführerisch gegen seines. "Schau, schau! Salutieren wir schon?"
Er wurde tatsächlich rot. In Janes Augen war das eine seiner liebenswertesten Eigenschaften. Ein schüchterner Präsident. So einen hatte das Land schon lange nicht mehr gehabt, auch keinen, der die Dinge so hingebungsvoll und entschlossen veränderte wie Larry Mantle.
Seine Hände strichen ihr ruhelos über den Rücken, suchten nach einem Rückzugsort und griffen schließlich nach ihrem Po. "Ein Oberbefehlshaber muss seine Truppen inspizieren", erklärte er.
Indem sie die Hände hinten in seinen Pyjama versenkte und ihm den festen Hintern drückte, revanchierte sie sich.
Erstaunt hob er die Augenbrauen. "Oh, Baby, was für kalte Hände du hast!"
"Ja, aber ein warmes Herz."
Jane jauchzte, als er sie hochhob und aus dem Ankleidezimmer trug. Mit nackten Füßen strampelnd, überließ sie sich der Albernheit des Moments. "Wir könnten aus einem Doris-Day-Film stammen."
"Nur bis ich dich im Bett habe. Dann wird die Handlung pornografisch." Er legte sie auf das elegante Baldachinbett und trat einen Schritt zurück, um sie anzusehen. Seine Stimme wurde zu einem Flüstern. "Du bedeutest mir alles, Jane."
Tränen brannten ihr in den Augen. "So wie du mir alles bedeutest."
"Ich will dich. Ich werde dich immer wollen."
Genau die Worte, die sie hören wollte. Woher wusste er das, obwohl sie es ihm nie erzählt hatte? Tief atmete sie ein und bemerkte einen Schmerz in der Kehle. Sie war in Sicherheit, jedenfalls für den Moment, sicher vor ihren Dämonen. Und das seinetwegen: Er hatte ihr das Geschenk gemacht, dass sie sich selbst durch seine Augen sehen konnte. Seine Liebe hatte ihr so viel Stabilität und Sicherheit gegeben, dass sie sich nicht länger etwas beweisen musste. Mit Larry in ihrem Leben fühlte Jane sich ganz, und das durfte sie nicht verlieren.
"Zahllose Präsidenten haben mit ihren Frauen in diesem Zimmer geschlafen", stellte er fest und sah sie an, "aber es gab hier nie eine First Lady wie dich."
Erregt von der Zärtlichkeit in seiner rauchigen Stimme, seufzte Jane und sank in die Kissen ihres antiken Betts. Das Schlafzimmer ihrer Privatgemächer im obersten Stockwerk des Weißen Hauses war mit cremefarbenem Satin, blauem Samt sowie Damast und amerikanischen Antiquitäten der Jahrhundertwende ausgestattet. Eine frühere First Lady hatte es so eingerichtet, doch Jane liebte den Stil zu sehr, um ihn ändern zu lassen, und das war auch gut so. In einer Ära von dreistelligen Defiziten schätzten die Menschen keine kostspieligen Unternehmungen – schon gar keine Neudekorationen des Weißen Hauses. Das hier war nicht der sagenumwobene Hof König Artus, obwohl sich Jane wünschte, dass es Camelot wäre. Nicht so sehr wegen der Einrichtung, sondern wegen der Romantik.
Als Larry zu ihr ins Bett kam, dachte sie darüber nach, wie wenig private Momente sie hatten. Das erste Mal waren sie sich begegnet, als sie Politikwissenschaften in San Jose studierte. Er kandidierte für den Kongress, und seine visionären Ideen hatten Jane so beeindruckt, dass sie freiwillig beim Wahlkampf half. Der Rest war Geschichte. Wenn sie unter sich waren, witzelte er gern, dass Jane für den Gewinn der Wahl verantwortlich sei und ihn dem amerikanischen Volk untergejubelt habe. Deshalb sollte sie ihn oder das Volk besser nicht im Stich lassen, scherzte Larry oft.
Fünfzehn Jahre lag diese Zeit nun zurück. Trotz des stressigen Lebens in der Öffentlichkeit und endloser globaler Konflikte war es ihnen gelungen, zusammenzubleiben, eng verbunden und verliebt. Das war unter den Umständen nicht leicht. Jane hatte sich oft vorgestellt, dass die Beziehung in einem vorigen Leben begonnen hatte und sie nur zu einem Zweck wiedergeboren worden waren: dem Lebensplan zu folgen, den sie selbst entworfen hatten. Ihre Wege hatten sich kreuzen müssen, weil ihre Leben miteinander verbunden waren. Larry hatte die Aufgabe übernommen, sie vor sich selbst zu retten. Und Jane sollte ihm zu Größe verhelfen.
Eine Frage schob sich zwischen Janes Überlegungen. Wie dem Nichts entsprungen, überdeckte ein neues Thema alles andere … obwohl es vielleicht mit Größe zu tun hatte.
"Wie läuft es eigentlich mit dem Grace-Projekt?" Jane war neugierig auf den Stand einer Gesetzesvorlage, die Innovationen auf dem Feld der Biotechnologie fördern sollte. Ein großes Labor hatte das Patent auf ein bahnbrechendes Konzept namens Smart Sand. Der Geschäftsführer der Firma, David Grace, war einer von Larrys wichtigsten Befürwortern.
Vielleicht zögerte er mit einer Antwort wegen des mysteriösen Lächelns auf Janes Lippen, das zu der ernsten Frage nicht zu passen schien. Jane wollte seine nackte Brust berühren, aber dann wäre alles verloren, und es gab noch so viel zu besprechen. Doch er war so verdammt unwiderstehlich in Pyjamahosen, und er wusste, dass Jane ihn liebte.
Sie versuchten stets, den anderen glücklich zu machen. Das war Janes Ansicht nach das Geheimnis. Ganz einfach. Sie waren aufmerksam, und sie bemühten sich wirklich.
"Um deine Frage zu beantworten", sagte er, "es sieht nicht gut aus. Smart Sand und seine intelligenten mikroskopischen Sensoren sind für die meisten Leute zu exotisch. Wir haben im Haus abstimmen lassen, und die Stimmen dafür fehlen."
Diese Zurückhaltung überraschte Jane nicht. Dass die Vorstellung von intelligenten Sensoren, die ihr eigenes selbst organisiertes Netzwerk zusammenstellen konnten, zu sehr nach Science Fiction klang, das hatte Jane befürchtet. Trotzdem lag Potenzial in dem Projekt. Angefangen bei der Entdeckung von Waldbränden bis zur Verhinderung von Diebstählen könnte es umfassende Neuerungen ermöglichen. Noch eine große Idee, die ihrer Zeit voraus war.
"Kannst du in der Angelegenheit etwas tun?"
Er seufzte. "Wenn es knapp wäre, könnte ich auf einige Gefallen bestehen."
Um ihre Besorgnis zu überspielen, griff sie nach einem Satinkissen und zog an den Bommeln. "Wie wirst du mit einer Niederlage umgehen? Das könnte dich Graces Unterstützung kosten, oder?!"
"So wie ich immer mit Niederlagen umgehe. Ich versuche, mich davon nicht runterziehen zu lassen, und mache weiter. Egal, was ich tue, einer ist immer unzufrieden. Aber mit dieser Tatsache muss ich leben."
"Was ist mit den vielen anderen?", erinnerte sie ihn. "Denjenigen, die glücklich sind. Das sind viele Leute."
Er grinste. "Ich dachte, wir hätten Sex?"
"Das hoffe ich." Sie warf das Kissen zur Seite und entblößte in der Bewegung eine Brust, die der tiefe Ausschnitt nicht mehr verdeckte. "Warum sonst hätte ich deine Inspektion von vorhin ertragen sollen?"
Selten dachte Jane mit Dankbarkeit an ihre Erlebnisse im Mädcheninternat zurück. Trotzdem hatte sie von der Direktorin einige Tricks gelernt, und sie scheute sich nicht davor, sie anzuwenden. Vor langer Zeit hatte sie ihren Stolz hinuntergeschluckt und Larry dazu gebracht, seine geheime Traumfrau zu beschreiben, die eine erotische Barsängerin mit langen blonden Haaren war, so ähnlich wie Michelle Pfeiffer in Die Fabelhaften Bakerboys.
Die Frisur hatte Jane schon. Sie hatte ihrem Glücksstern gedankt und war aktiv geworden. Sie hatte nach verruchten Dessous gesucht, eine Auswahl sentimentaler Bluessongs zusammengestellt und Lippen und Nägel in dem schärfsten Rot angemalt, das sie finden konnte. Eine Woche lang hatte sie nichts als R&B gehört, um sich in Stimmung zu bringen. Als sie schließlich bereit war, den fabelhaften Mr. Mantle zu umgarnen, hatte sie ihn in ihr bescheidenes kleines Apartment eingeladen und ihm in durchsichtiger schwarzer Spitze geöffnet.
Lächelnd erinnerte sie sich daran, wie beeindruckt er von ihren visionären Ideen gewesen war. Heute Abend wollte sie ihm beweisen, dass auch in der reiferen Frau noch ein Vamp steckte. Larry lag genau so, wie sie ihn haben wollte, auf dem Rücken. Auf alle viere gestützt, schwang sie sich über ihn, ein Schnurren in der Kehle. Er griff nach den Rundungen ihrer Hüften, als sie den Kopf beugte und die Frisur löste. Ihr Haar strich über sein Gesicht.
"Das macht keine Lady", murmelte er, als sie ihren Mund auf seinen senkte und von ihm kostete.
Küssen ließ sie sich nicht von ihm, und das schien ihn wild zu machen. Sie konnte Flammen in seinen Augen tanzen sehen. Statt darauf zu achten, genoss Jane das eigene Flüstern und die fordernden Lippen. Sie waren feucht und einladend. Wie eine verspielte Katze knabberte sie an ihm.
Er stöhnte auf, als sie ihre Zunge in seinen Mund gleiten ließ.
Ihre Finger stahlen sich unter das Gummiband seiner Pyjamahose und fanden die geschwollene Hitze zwischen seinen Beinen. Ein sanfter Druck, und er erwachte pulsierend zum Leben. Seine Absichten waren schockierend obszön, und er ließ ihr keine Chance, zu protestieren. Noch nicht einmal Zeit zum Atmen fand sie, bevor sie auf dem Rücken lag.
Jane war dankbar, dass die Räume schallisoliert waren, als ihr Oberbefehlshaber jede Waffe seines Arsenals scharf machte. Er gebrauchte seine Hände und die Zunge. Seine verlässliche Crew hatte keinerlei Schwierigkeiten, Jane komplett um den Verstand zu bringen. Um es militärisch auszudrücken: ein Gesamtsieg. Was würde das Land jetzt von seinem schüchternen Präsidenten halten? Die Frage ging Jane durch den Kopf, als sie Arme und Beine um ihren Mann schlang und sich in einer überwältigenden Ekstase nicht mehr halten konnte. Was würde die Welt davon halten?
Ihr Höhepunkt war so gewaltig, dass es ihr Angst einflößte. Instinktiv suchte Jane Schutz bei Larry. Erst als sein Beben allmählich nachließ, erlaubte sie sich, zu entspannen. Seit Wochen hatte er keine Enge in der Brust mehr gespürt, aber Jane wurde die Sorge nicht los, dass es etwas Ernstes sein könnte. Sie übertrieb natürlich. Ihre Kräutermittel halfen offensichtlich, was wiederum bewies, dass Stress die Ursache war.
Sogar jetzt zögerte sie, aufzustehen und damit das wunderschöne Gefühl von Ruhe und Frieden zu zerstören, das sie umgab. Er fiel sowieso gerade in den Schlaf. Während sie sich in den Armen lagen, dachte Jane über ihr Leben nach und darüber, wie sehr es darauf ausgerichtet war, Larry zu beschützen. Heute hatte sie in einem Interview spaßeshalber die Schuld an seinem grauen Haar auf sich genommen. Sie hatte gescherzt, dass sie sanftmütiger und mehr firstlady-like sein sollte, dann hätte er weniger Sorgen. Morgen würde sie einen anderen Weg finden, um ihn von jedem Hauch Kritik abzuschirmen. Aber wie konnte sie ihn vor ihrer Vergangenheit beschützen? Das musste Jane um jeden Preis gelingen.
Mattie hatte heute einige Nachrichten hinterlassen. Den ganzen Tag über hatte Jane keine Gelegenheit gehabt, sie in einer ruhigen Minute zurückzurufen. Wahrscheinlich vermied Jane es mit unbewusster Absicht. Mattie wollte, dass sie sich alle wieder persönlich trafen. Sie musste ihnen etwas Wichtiges sagen, und das konnte sie nicht am Telefon.
Jane wollte es nicht darauf ankommen lassen. Die Medien verfolgten sie wie eine Figur aus den Klatschblättern. Darum konnte sie es sich nicht leisten, in irgendeiner Weise Verdacht zu erregen. Ihr Mann hatte mehr Macht als je zuvor. Seine Beliebtheitswerte waren so hoch wie nie, und es war fast sicher, dass er wiedergewählt würde. Es sei denn, etwas Unvorhersehbares würde geschehen … etwa eine Mordanklage gegen seine Frau.
Mattie befand sich irgendwo in Washington, D.C., und das war alles, was Jane wusste. Als sie um sechs Uhr morgens zurückgerufen hatte, war schon arrangiert, dass Mattie und Breeze in die Hauptstadt kommen würden. Auf dem Dulles International Airport waren sie gelandet und mit der Limousine in die Tiefen des Regierungsgebäudes gebracht worden. Sie hatten John Bratton getroffen und waren von ihm persönlich einige Stockwerke in einem privaten Aufzug in sein Konferenzzimmer eskortiert worden.
Mattie hatte sich nicht besonders über das Wiedersehen mit Bratton gefreut. Breeze schon. Schamlos hatte sie ihre Attraktivitätstheorie angewendet … mit der Folge, dass Bratton sich dabei überschlagen hatte, ihnen den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten, bis Jane eintraf. Mit ein paar Anrufen hatte er angeordnet, dass Wein und Käse geliefert wurden, falls eine von ihnen hungrig wäre. Jetzt beobachtete er mit dem gierigen Gesichtsausdruck eines Hundes vor einem Filetsteak, wie Breeze an einem Stück Gruyère knabberte.
Mattie nippte an einem Glas Merlot. Käse oder nicht, sie konnte Bratton nicht leiden. Ganz und gar nicht.
Ein Summen ertönte, die holzverkleidete Tür klickte und öffnete sich. Herein kam Lady Jane. Ohne Mattie und Breeze auch nur zuzunicken, ging sie direkt zu Bratton, der als Aufpasser in der Ecke stand, und sprach kurz mit ihm. Auch das konnte Mattie nicht leiden.
"Tut mir leid", sagte Jane lächelnd, als Bratton gegangen war, "aber ich könnte diese Meetings ohne ihn nicht auf die Beine stellen. John versteht, wie wichtig es ist, dass mein Mann seine Kräfte sammelt und sich konzentriert. Unsere Probleme würden Larry nur belasten, also hat John sich bereit erklärt, mir zu helfen. Ich hoffe, dass ihr keine Einwände habt."
Mattie legte die Hände auf den Konferenztisch. "Er weiß von unseren Problemen?"
"Nein! Ich habe gesagt, es gibt Ärger wegen eines Freundes aus der Vergangenheit, und dass ich beabsichtige, mich ohne fremde Hilfe darum zu kümmern. Also, können wir loslegen?"
Sie drehte einen der gepolsterten Konferenzstühle nach vorn, setzte sich und zog die Manschetten ihres Anzugs gerade. Es war ein klares Signal fortzufahren, aber Mattie entschied sich dagegen. Sie hatte ein Geständnis abzulegen, nur jetzt noch nicht. Erst würde sie die Bomben platzen lassen, zwei – nein, drei davon.
Nach einem weiteren Schluck Wein fragte sie sich, ob es zu früh sei, um zu trinken. Während der hektischen Reise in eine andere Zeitzone hatte Mattie jegliches Zeitgefühl verloren. Breeze, die schon ihr zweites Glas Chardonnay vor sich stehen hatte, kritzelte erotische Blumenbilder auf eine Serviette.
"Ich habe von einem Beweis erfahren, der nie in der Verhandlung des Falls James Broud aufgetaucht ist", sagte Mattie. "Und wenn ich richtig liege, könnte das unsere Hintern retten. Das Ärgerliche ist nur, dass der Beweis verschwunden ist."
Jane zuckte, als ob es einen Kurzschluss in ihrem Nervensystem gegeben hätte. Breeze hörte auf zu malen.
"Wovon redest du?", fragte Jane. "Was für ein Beweis?"
"Ein Videoband aus Miss Rowes Sammlung. Es ist seit der ersten Verhandlung verschwunden."
"Woher weißt du das?"
Die alte Jane war wieder da, die Mattie mit Fragen löcherte und mit misstrauischen Blicken verfolgte. Mattie spürte, wie ihre Energie zurückkehrte. Die Dynamik zwischen den dreien funktionierte nach dem gleichen Prinzip wie ein Motor, der von Getriebe und Hebeln angetrieben wurde. Und sie funktionierte immer noch. Nur wenn ein Rädchen im Getriebe hakte, versagte der gesamte Mechanismus.
"Ich habe mit Brouds Anwältin gesprochen, und sie war mehr als entgegenkommend."
Mattie gab ihnen eine kurze Zusammenfassung ihrer Unterhaltung mit Tansy Black. Dann kam sie direkt auf den Punkt: "Als ich sie fragte, warum sie eine Berufung für Broud angestrebt hatte, sprach sie von Problemen, die es mit der Beweislage in seiner Verhandlung gegeben hätte, inklusive des fehlenden Bandes. Ich glaube, sie hat nicht gemerkt, dass sie mir damit einen Tipp gegeben hat. Sie schien nicht zu wissen, dass sie mit einem der einsamen Mädchen sprach – überhaupt, sie scheint über uns gar nichts zu wissen."
"Was wahrscheinlich bedeutet, dass wir in den Aufzeichnungen nicht erwähnt sind", hielt Breeze fest. "Interessant, wo wir doch stundenlang befragt worden sind."
"Vielleicht wollte jemand von der Anklage nicht, dass unsere Namen oder Aussagen auftauchen", führte Mattie den Gedanken weiter. "Vielleicht gehörte er zum Ring."
Breeze schnalzte mit der Zunge. "Oder einige Ers."
Mattie schaute zu Jane, die eisern schwieg und mit einem unangenehmen Gefühl in ihrer Kehle kämpfte. "Und da wir schon über den Sexring sprechen", fügte Mattie hinzu, "der wird nicht mal angedeutet, was ebenfalls erstaunlich ist, wenn man bedenkt, dass das Band 'Miss Rowes private Sozialstudien' heißt."
Breeze war so lebhaft wie Jane still. "Denkst du, sie hat die Männer gefilmt, ihre eigenen Klienten? Vielleicht wollte sie sie erpressen. Ich frage mich, ob ihr mysteriöser Liebhaber auf dem Video ist, der mit den Geschenken und den Blumen."
Das brachte Mattie zur zweiten Enthüllung. Ihre Handtasche lag auf dem Stuhl neben ihr. Sie zog den Reißverschluss auf und zog einen zerfledderten Brief aus einem braunen Umschlag hervor, der von Klebestreifen zusammengehalten wurde.
"Wir haben vielleicht nicht das Band", sagte sie, "aber wir haben das hier – den Brief, den sie an ihren Liebhaber geschrieben hat."
Jane blinzelte ungläubig. "Den hast du nach den ganzen Jahren immer noch?"
Zufrieden zuckte Mattie die Achseln. "Ich bewahre gewisse Dinge unter meiner Matratze auf, erinnert ihr euch? Wir können dankbar sein, dass der Geheimdienst nicht auch noch mein Bett auseinandergenommen hat. Vielleicht bin ich aufgetaucht, bevor Bratton so weit war."
Sie hatte etwas suchen müssen, aber dann hatte Mattie den Brief in einem Umschlag zusammen mit anderen Erinnerungsstücken an die Rowe-Akademie gefunden. Briefchen von den Mädchen, Geburtstagskarten, alles Dinge, die jahrelang unter ihren Matratzen verstaut gewesen waren, von dem quietschenden Gestell, in dem sie in Rowe geschlafen hatte bis zu dem gemütlichen Luxusbett in ihrem Strandhaus in Sausalito.
Mattie hatte den zerrissenen Brief in einem Papierkorb in Miss Rowes Apartment gefunden, als sie damals dort auf die Bestrafung für einen ihrer vielen Fehltritte hatte warten müssen. Dass nicht Miss Rowe, sondern jemand anders den Bogen Papier dort hineingeworfen hatte, war Mattie erst später klar geworden.
Breeze stand auf, um sich den Brief anzusehen. "Wird dort sein Name erwähnt?"
"Nein, aber darum geht es auch nicht." Mattie las die wenigen Zeilen vor:
Mein grausamer und ungewöhnlicher Geliebter, du hättest mich genauso gut erschießen und sterben lassen können. Warum hast du das nicht getan? Es wäre leichter für mich gewesen. Wie konntest du unseren tragischen Verlust nicht mit mir betrauern? Wie konntest du mich zu diesem Zeitpunkt verlassen? Ich fühle mich einsamer als je zuvor in meinem Leben. Ich machte dir das wertvollste Geschenk, das eine Frau einem Mann machen kann, und du hast mir den Rücken zugekehrt. Ich liege nachts im Bett und überlege, wie ich dich verletzen kann, so als könnte das meine Qualen lindern.
Mehr stand nicht auf dem Blatt, aber Miss Rowe war offenbar noch nicht fertig gewesen. Vielleicht hatte jemand sie unterbrochen – oder die Schreiberin war zu niedergeschmettert gewesen, um weiterschreiben zu können.
"Das wertvollste Geschenk", überlegte Breeze laut, "was könnte das gewesen sein? Sex? Ihr Körper?"
"Ihr Herz", sagte Mattie. "Nur dass sie keines hatte. Was ist mit dem tragischen Verlust? Das klingt nach einem Kind."
"Miss Rowe hatte aber keine Kinder", warf Jane bissig ein. "Komm auf den Punkt, Mattie. Was beweist der Brief ohne seinen Namen?"
"Er beweist, dass sie wütend auf den Mann war und nach Wegen suchte, ihm wehzutun. Vielleicht hat er sie getötet, um sie ruhigzustellen. Dies hier ist Beweisstück A, Ladys. Es gibt dem mysteriösen Liebhaber ein Motiv."
"Was uns nicht viel hilft, wenn wir nicht wissen, wer er ist", bemerkte Jane.
Nachdenklich schritt Breeze auf und ab. "Ich habe mal eine Karte an einem Blumenstrauß gesehen. Es waren langstielige rote Rosen – daran erinnere ich mich noch –, ein riesiger Strauß, und auf der Karte standen Initialen. Ich glaube, es war etwas mit D, entweder D. C. oder D. G."
Mattie konnte der Abkürzung keinen Namen zuordnen, machte sich aber in Gedanken eine Notiz, bevor sie sich entschlossen den Freundinnen zuwandte. "Ich werde zur Schule fahren und Miss Rowes private Sozialstudien finden. Ich habe mir freigenommen. Es ist alles schon vorbereitet."
"Das klingt nach einem Plan."
Breezes Zustimmung brachte für Jane das Fass zum Überlaufen. "Entschuldigung, Ladys", sagte sie, "aber das ist doch lächerlich. Wie willst du denn dieses Band finden? Willst du den Wald absuchen?"
Mattie lächelte, geheimnisvoll, wie sie hoffte. "Vielleicht habe ich eine Ahnung, wo es ist."
"Nach so vielen Jahren? Das kannst du nicht machen, Mattie. Die Leute werden bald misstrauisch, das wird die Aufmerksamkeit auf uns lenken. Denkst du nicht, dass Cross es mitbekommt, wenn du anfängst herumzuschnüffeln? Er lebt doch immer noch dort."
"Setz doch den Detektiv darauf an", schlug Breeze vor. "Deswegen hast du ihn doch engagiert, oder nicht?"
Jane konnte ihre Überraschung nicht verbergen, und Mattie wirbelte zu Breeze herum. "Woher weißt du, dass ich einen Detektiv angeheuert habe?"
Breeze zuckte nur die Schultern. "Na ja, hast du doch, oder nicht?"
"Was für ein Detektiv? Wie hatten uns doch dagegen entschieden, weil es für uns zu riskant wäre." Jane war von ihrem Stuhl aufgesprungen.
Mattie war Janes überängstliches Verhalten langsam lästig. "Ich würde dem Mann mein Leben anvertrauen", sagte sie und betonte jedes Wort. "Er hat mir ein paar Informationen über Cross besorgt, und das war's. Aber wenn wir es schon zur Sprache bringen: Du hast außerdem Bratton hineingezogen, ohne uns davon zu erzählen."
"Warum können wir die Sache nicht einfach auf sich beruhen lassen?", flehte Jane. "Wenn diese Tansy Black nicht fündig geworden ist, dann findet Cross doch erst recht nichts. Er wird irgendwann gelangweilt sein und die Angelegenheit auf sich beruhen lassen – außer du vermittelst ihm das Gefühl, dass wir etwas zu verbergen haben."
"Es steckt mehr dahinter", sagte Mattie. Sie wollte keiner der beiden Angst einjagen. Weil Jane sich jedoch stur an den Gedanken klammerte, dass sich das Problem von selbst lösen würde, musste sie mehr sagen. "William Broud war der Bruder von Jameson Cross", erklärte sie. "Er ist auf Rache aus. Er hat Aufzeichnungen seines Bruders, in denen wir drei als die einsamen Mädchen benannt sind und in denen Broud uns des Mordes bezichtigt. Ich weiß nicht, was sonst noch drin steht. Aber Cross scheint entschlossen, uns beider Morde zu überführen. Er glaubt, dass wir Miss Rowe und seinen Bruder umgebracht haben – und dass wir hinter einer gigantischen Verschwörung stecken, die seinen Bruder ins Gefängnis gebracht hat."
"Um Himmels willen", Jane atmete tief ein, als sie zurück auf ihren Stuhl sank, "das ist ein Albtraum."
Mattie trank einen Schluck Wein. "Wenn es ein Video gibt, dann will ich es finden, bevor es jemand anders tut – besonders bevor Cross es in die Finger bekommt. Wenn jemand misstrauisch wird, sage ich, dass ich eine Rede für eine Versammlung ehemaliger Absolventen vorbereite."
"Oder dass du nach Förderungsmöglichkeiten für einen ausgezeichneten Schüler recherchierst", ergänzte Breeze, die offenbar Gefallen an der Idee gefunden hatte. "Du könntest sogar einige unserer Klassenkameradinnen treffen, die Lieblinge, die Todesschwadron."
Mattie wurde erst bewusst, dass sie lächelte, als Jane auf sie einsprach.
"Mattie, es geht hier nicht um Rache, oder? Wenn du deine Peiniger bloßstellen willst, mach das bitte bei einer anderen Gelegenheit, okay? Einige von uns haben eine Menge zu verlieren."
"Glaubst du, ich hätte nichts zu verlieren? Du steckst lieber den Kopf in den Sand, bis es zu spät ist, um etwas zu unternehmen. Verstehst du nicht, dass das noch gefährlicher ist als mein Vorhaben?"
"Warte mal." Breeze sprang vom Stuhl auf und begann, aufgeregt im Raum umherzugehen. Mit jedem Schritt wippten ihr blondes Haar, die Brüste und der besetzte Rock ihres Wickelkleides. "Cross ist unser Problem, richtig? Wenn er verschwindet, verschwindet auch das Problem. Warum dann nicht mit Cross verhandeln? Jeder hat einen Preis. Ich würde ihn gern treffen und herausfinden, wie hoch seiner ist."
"Oh, brillante Idee", sagte Jane, "dann kann er in seinem Buch noch erwähnen, dass wir versucht haben, ihn mit Sex unschädlich zu machen. Allerdings hast du recht mit dem Preis. Uns stehen ja Mittel zur Verfügung."
Mattie konnte nicht glauben, worüber ihre Freundinnen diskutierten. Sie klangen verzweifelt – und gefährlich. "Wir sollen ihn kaufen? Eine Vertuschung? Die jüngste Geschichte hätte euch doch vor Augen führen sollen, was mit berühmten Menschen geschieht, die ihre Spuren verwischen wollten. Klingelt es bei dem Namen Bill Clinton? Martha Stewart?"
Die Hände vor der Brust verschränkt, stand Jane wieder auf. "Mattie, bitte lass es gut sein. Wenn jemand herausfindet, was wir damals getan haben – wenn irgendwer dahinterkommt – ist es alles vorbei."
Mattie wünschte nur, sie könnte es. Aber es war viel zu spät. Und auch wenn die anderen es nicht wahrhaben wollten, sie fragte sie nicht nach ihrer Erlaubnis. Sie würde wieder an die Rowe-Akademie zurückkehren.
Tansy Black war leichter zu finden, als Jameson erwartet hatte. Sie hatte ein kleines, schlichtes Büro in einem Gebäude nahe der juristischen Fakultät auf dem Stanford Campus. Keine Mitarbeiter waren in Sicht, nicht mal eine Empfangsdame.
Auf sein Klopfen an der geschlossenen Tür reagierte niemand, obwohl er jemanden drinnen sprechen hörte. Vielleicht telefonierte Miss Black. Er drehte am Knauf und bemerkte, dass sich die Tür öffnete. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Er hoffte nur, dass er nicht erschossen würde. In der Nähe von Miss Black sollte man dem Hörensagen nach besser Schutzkleidung tragen.
"Störe ich?", fragte Jameson, den Blick auf den wirren dunklen Schopf gerichtet, den er hinter dem Bildschirm eines Laptops erkannte.
Augenblicklich setzte Tansy Black die Brille ab und sah ungehalten hoch. "Wer hat Sie reingelassen?"
"Ich bin Jameson …"
"Ich weiß, wer Sie sind, Mr. Cross. Ich lese Zeitung."
"Oh … gut." Er zögerte und lächelte sie an. "Sind Sie gerade beschäftigt?"
"Sehe ich so aus?"
Tief durchatmen, Jameson. Auf das mürrische Wesen hatte er sich eingestellt, aber nicht auf das engelhafte Gesicht. Ihre Augen waren wunderschön, so dunkel und samten wie die eines Rehs, ihre Haut war hell, und sie besaß feine Gesichtszüge. Nachdem er sich über Miss Black informiert hatte, war er auf eine männliche Version von Holly Hunter gefasst gewesen. Doch Tansy erinnerte ihn mehr an Winona Ryder – vor dem Debakel mit dem Ladendiebstahl.
"Mr. Cross, warum sind Sie hier?"
Eine interessante, raue Stimme. Ungewöhnlich, aber interessant. "Ich möchte mit Ihnen reden, Miss Black."
Ungeduldig klappte sie den Laptop zusammen. "Muss ich mich wiederholen? Ihr Bruder hat mich gebeten, nicht …"
"Mein Bruder ist tot."
In ihrem verärgerten Gesicht sah er Überraschung aufblitzen. In etwas ruhigerem Tonfall fuhr Jameson fort: "Am Tag bevor er starb, rief Billy mich an und sagte, er wolle reden. Wir verabredeten uns, aber als ich ins Hotel kam, fand ich seine Leiche. Er wollte mir die ganze Geschichte erzählen, Miss Black. Und er hätte es getan, wenn nicht jemand ihn ermordet hätte."
Nun hatte er ihr Interesse geweckt. Jameson sah, wie sie die Finger verschränkte. "Welche ganze Geschichte?"
"Wer ihn bedrohte? Wer waren die Männer im Sexring? Wie heißen die Schülerinnen, die die Direktorin töteten, die einsamen Mädchen?"
"Das sind eine Menge Fragen."
"Haben Sie Antworten?"
"Ich fürchte nein. Ihr Bruder war unschuldig, und ich bin froh, dass ich weitergemacht habe, bis es bewiesen war. Das ist alles, was ich weiß."
"Wer hat ihn ermordet?"
Ihr Gesicht wurde dunkelrot. Vor Wut?
"Warum fragen Sie mich das, Mr. Cross? Ich bin diejenige, die ihn aus dem Gefängnis geholt hat. Wo zur Hölle waren die Menschen, die ihn liebten? Wo zur Hölle waren Sie?"
Jameson konnte keine Antwort geben. Ihren Blick zu erwidern, fiel ihm nicht leicht. Die dunklen Augen ähnelten auch nicht mehr denen eines Rehs, vielmehr schienen sie jetzt zu glühen wie heiße Kohlen. Die Gerüchte stimmten. Er hätte Schutzkleidung tragen sollen.