26. KAPITEL
Mattie war von der Schönheit überrascht. Sie konnte sich nur an die Angst und all die schlimmen Dinge erinnern. Jetzt entdeckte sie, wie die goldene Turmspitze die Wolken über ihr teilte und dem Campus einen Heiligenschein aus Sonnenlicht verlieh. Mattie hatte erwartet, dass sie Abscheu empfinden würde. Stattdessen stieg nun eine sengende Traurigkeit in ihr auf, während sie die von Bäumen gesäumten Wege entlangging, die sich durch Büsche von Farnkraut und weitläufige Grünflächen zogen.
Die Sommer hier hatten ihr am besten gefallen. Miss Rowe war dann meistens im Urlaub gewesen. Und wenn die anderen Schülerinnen die Zeit bei ihren Verwandten verbrachten, hatte es sich angefühlt, als gehörte der Campus den Stipendiatinnen. Unter ihnen war Ivy die einzige mit einem Zuhause gewesen, in das sie hatte zurückkehren können. Irgendwo in Napa Valley hatte sie gelebt, aber nie über ihre Familie gesprochen, mit niemandem.
Mattie hatte es nicht viel ausgemacht, dass sie nirgendwohin zurückkehren konnte. Die langen Sommerferien waren ruhig und voller Hoffnung gewesen, so wie die Rowe-Akademie immer hätte sein sollen. Es lag an den Menschen, nicht an den Gebäuden oder der Umgebung, erinnerte Mattie sich. Menschen waren für all die schlimmen Dinge verantwortlich gewesen.
Regentropfen unterbrachen ihre Gedanken. Einer landete ihr auf der Wange. Ein anderer auf ihren Wimpern. In der Luft lag der Geruch nach dem Staub der Wege, so wie häufig vor einem Regenguss. Wenn der Himmel sich öffnete, würde der Boden durchweichen, und alles würde wunderbar nach nasser Erde und süßem grünen Gras riechen.
Ihre Gedanken holten Mattie unerbittlich ein und quälten sie mit Freude und Schmerz. Wie würde sie damit umgehen? Erinnerungen wurden wach, und Mattie hatte Angst, dass sie mit ihnen nicht fertig würde – nicht einmal mit den guten. Vielleicht schmerzten die guten am meisten, weil es so wenige und so wertvolle waren; jeder Gedanke ein winziger Diamant, hell und strahlend, aus schwarzem Kohlenstoff geschlagen. Ein winziger Diamant, scharf und schneidend.
Stopp, Mattie, oder es wird dich überwältigen. Du bist hier, um das Band zu finden, nicht um in Erinnerungen zu schwelgen.
Sie senkte den Kopf und machte sich auf den Weg über den Kies des Parkplatzes hinunter zu den Hallen und Gebäuden, die den Innenhof umgaben. Die Anordnung entsprach beinah der einer normannischen Festung, aber der Stil war gotisch. Heute bildete ein Gebäude mit einem Eckturm ihr Ziel, Steuben Hall.
Als sie den Innenhof betrat, verlangsamte Mattie ihre Schritte. Die Erinnerungen waren noch zu präsent, als dass sie den Hof hätte gemütlich finden können. Graue Steingebäude ragten auf jeder Seite in die Höhe, drohende Wächter, die das Licht ausschlossen. Die Beine wurden Mattie schwerer, während sie sich dem Turm aus bröckeligen Mauersteinen näherte, in dem die Direktorin gewohnt hatte.
Je langsamer sie ging, desto heftiger regnete es.
Von irgendwoher klang der Ruf einer Trauertaube zu ihr herüber. Ein trostloser Laut. Obwohl Mattie den Vogel nie gesehen hatte, war sie von dem sehnsüchtigen Gurren an jedem Morgen in ihren vier Jahren hier begleitet worden. Es konnte nicht derselbe Vogel sein. Nicht nach dreiundzwanzig Jahren.
Ihre Seidenbluse und die Leinenhose waren durchnässt, als sie die Stufen der Steuben Hall erreichte. Sie hätte eine Jacke anziehen sollen. Ihr ganzes Leben hatte sie in der Bay Area verbracht, und nie hatte die Wettervorhersage gestimmt, das Wetter schien unberechenbar. Matties nackte Füße quietschten in den Pumps, die Breeze sie zu tragen genötigt hatte.
Ein weißes Licht irritierte sie. Zurück im Hof, sah sie, wie sich Blitze am Himmel entluden. Die gezackten blauen Spitzen ließen ihre Erinnerung zurück zu der engen Abseite im Dachboden des Turms wandern, wo ein vierzehnjähriges Mädchen erwartete, jede Sekunde einen tödlichen elektrischen Schlag zu bekommen, und versuchte, sich nicht an ihrer blutigen Zunge zu verschlucken.
Mattie befeuchtete sich die Lippen. Das Bild vor ihren Augen wurde grau und verschwamm.
Sie drehte sich um und verließ den Hof, starr vor Entsetzen. Als sie den Kiesplatz erreichte, rannte sie zu dem einzigen Zufluchtsort, den sie kannte: in den dunklen Kiefernwald, der den Campus umgab. Sobald sie den Wald betrat, schützten sie die Zweige vor dem Regen, und sie lief über ein Bett von Kiefernadeln auf dem Boden. Der verlassene Geräteschuppen war nicht weit entfernt, eine gammlige schwarze Hütte vor den aschgrauen Bäumen. Die Erleichterung zwang Mattie fast in die Knie, als sie den Schuppen entdeckte.
Mit unsicheren Schritten ging sie auf ihn zu und öffnete die Tür zu einem der wenigen Orte, an denen sie sich in Rowe sicher gefühlt hatte. Es war dunkel und schmutzig, eine Dritte-Welt-Hütte, aber hier hatten drei junge Mädchen Zuflucht gefunden und ein Band zwischen sich geflochten, das sie gemeinsam stark genug machte, Mächte zu ertragen, denen sie allein erlegen wären.
Fast erwartete Mattie, ihre Freundinnen hier warten zu sehen, zusammengekuschelt um den rostigen Grill, in dem ein paar getrocknete Tannenzapfen brannten. Sie hatten die Fenster mit Zeitungspapier zugeklebt, um sich vor neugierigen Blicken zu schützen und gleichzeitig ein wenig Tageslicht durchschimmern zu lassen. Immer noch war es düster und feucht – der perfekte Ort, um Rebellion und Rache zu schüren.
Ihre Freundinnen waren natürlich nicht da. Trotzdem war Mattie nicht allein. Gespenster begegneten ihr in dem kühlen Raum, Gespenster, wohin sie auch sah. Sie konnte Schriftzeichen sehen, die in den Boden geritzt waren, und sie fragte sich, ob das ihre eigenen Inschriften waren. Eine umgestürzte Schubkarre war fast vollständig mit Efeu bewachsen, und Stimmen sprachen von Schwüren und von Akten der Verzweiflung. Flüsternd erzählten sie von Dingen, die ein junges Mädchen sich niemals zu tun vorstellen könnte.
* * *
Rowe-Akademie
Februar 1982
"Wir können das nicht alle gemeinsam machen. Das ist zu gefährlich. Die Älteste sollte es tun, und das bin ich."
Die vierzehnjährige Lady Jane sprach mit all der Autorität, die ihr die wenigen Monate Altersvorsprung vor den anderen beiden verlieh. Eine Autoplane über den Schultern, saß sie im Schneidersitz in einer Schubkarre, die nicht besonders stabil aussah und dennoch als Thron fungierte.
"Ich schreibe dir in die Besserungsanstalt", versprach Breeze sarkastisch. In ein Laken gewickelt, das sie aus dem Schlafzimmer geschmuggelt hatte, sah sie besorgt aus – und unglücklich darüber, überhaupt hier zu sein. Einen Mord auszutüfteln, gehörte nicht zu Breezes Lieblingsbeschäftigungen, aber Ivys Tod hatte sie bis ins Mark erschüttert. Breeze war kein energiegeladener Wirbelwind mehr. Die grauenhaften Ereignisse hatten sie sehr mitgenommen, sie konnte weder richtig essen noch schlafen.
"Ich schicke dir Klopapier." Mattie nahm die kühle Luft kaum war, als sie sich auf den schmutzigen Boden kauerte, den karierten Schulrock über die Oberschenkel gezogen, damit er nicht dreckig würde. Mit der Spitze eines Tannenzapfens ritzte sie ihre Gedanken missmutig in den Boden.
"Sehr lustig", sagte Jane. "Dann wird wohl eine von euch sie umbringen?"
Mattie schrieb weiter. Die Ideen, die ihr im Kopf brannten, waren brillant. Sie wusste nicht, woher sie kamen, aber es hätte sie nicht gewundert, wenn der Teufel sie direkt geschickt hätte. Auch als sie einen Krampf in der Hand bekam, konnte Mattie nicht aufhören.
"Wir waren uns einig, dass wir es gemeinsam tun", sagte Mattie. "Wenn wir in die Besserungsanstalt müssen, gehen wir zusammen."
"Oh, da wirst du so oder so hinkommen", antwortete Jane in hochmütigem Tonfall. "Du sitzt ja hier und planst den Mord mit mir. Das ist eine Verschwörung, und die wird genauso bestraft wie die Tat selbst."
"Woher weißt du so viel?"
Breeze stellte diese Frage, und Jane warf ihr einen vernichtenden Blick zu. "Einer hier muss sich ja auskennen."
"Hört auf zu streiten." Mattie stand auf und steckte sich die Spitze des Tannenzapfens ins Haar, wie sie es oft mit Stiften tat. "Wir werden es zusammen machen", sagte sie. "Wir können und wir werden es schaffen, aber alle drei müssen es zusammen tun oder keiner."
Die anderen sprachen auf einmal. "Und wie?"
"Zunächst einmal müssen wir uns Treue und Solidarität schwören und ein Schweigegelübde ablegen, so wie in Der Pate. Wir tun es, um Ivy zu rächen und Miss Rowe davon abzuhalten, noch jemanden zu töten, zum Beispiel noch eine von uns. Stimmt ihr mir zu?"
Beide nickten erwartungsvoll.
Mattie griff nach unten und zog ihre Kniestrümpfe hoch. Sie hasste es, wenn sie um die Fußgelenke schlotterten, aber der Gummizug hatte ihr zuvor ins Fleisch geschnitten. "Okay, wir müssen es richtig anstellen. Es muss so aussehen, als hätte sie es selbst getan."
"Wie sollen wir das machen?"
"Wir packen sie bei den drei Dingen, die wir am meisten an ihr hassen. Ihre verlogene Art, ihre widerliche Unmoral und ihre Eitelkeit."
"Widerliche Unmoral?" Breezes Gesichtsausdruck erhellte sich.
Jane sah ebenfalls gespannt aus. "Erzähl uns mehr."
"Alles zu seiner Zeit", bestimmte Mattie geheimnisvoll. "Zuerst lasst uns den heiligen Schwur ablegen. Kommt schon. Steht auf, ihr zwei. Ich weiß, dass das doof ist, aber wir müssen uns an den Händen halten."
Die anderen standen auf, und sie bildeten einen Kreis. Mattie übernahm die Führung und schwor feierlich, ihre Schwestern bis zum Tode zu schützen und die Worte, die in dieser Hütte gesprochen wurden, mit ins Grab zu nehmen. "Tria juncta in uno", sprach sie. "Amicus usque ad aras."
Die anderen zwei wiederholten den Schwur. Danach sah Mattie auf. "Reicht das?"
"Nein", sagte Jane, "wir sollten eine letzte Mutprobe machen, und dann sollten wir um Schutz bitten." Sie ließ Matties Hand los und kramte ein winziges Fläschchen aus der Tasche ihrer Jeans.
Mattie erkannte den Herzwein und spürte das kalte Prickeln der Angst, das sie in die Zeit zurückversetzte, als ihre Mutproben begonnen hatten. Es war während ihres zweiten Jahres in Rowe gewesen, einige Monate nachdem Miss Rowe als verbitterte Frau aus einem Sommerurlaub in Europa zurückgekehrt war. Keines der Mädchen hatte sich mit den "Freunden" der Direktorin treffen wollen, den Männern, auf die Miss Rowe die Mädchen vorbereitet hatte. Besonders als klar wurde, dass diese sexuelle Gefälligkeiten erwarteten, hatten sich die Mädchen geweigert. Aber Miss Rowe hatte furchterregende Mittel und Wege gefunden, sie eines Besseren zu belehren.
Eines Abends war Ivy damit herausgeplatzt, dass sie nicht von irgendeinem schrecklichen Mann angefasst werden wolle. Die anderen Mädchen hatten ihr zugestimmt, doch Miss Rowe hatte sie zum Schweigen gebracht und versprochen, ihnen etwas zu zeigen, das ihre Meinung ändern würde. In ein Schälchen hatte sie eine klare Flüssigkeit aus einem Parfumflakon gegossen und es mit einigen Kürbiskernen auf das Fensterbrett gestellt.
Still hatten sie zugesehen, wie Miss Rowe den viktorianischen Vogelkäfig mit ihrem Sittich zum Fenster trug, ihn auf den Sims stellte und die Tür öffnete. Umständlich kletterte der Vogel aus dem Käfig und machte sich über die Kürbiskerne her. Dann tauchte er seinen Schnabel in das Schälchen, trank die Flüssigkeit und fiel tot um.
Miss Rowe hatte die Gesichter der Mädchen aus smaragdgrünen Augen beobachtet. "Seht ihr, wie schnell sich die Dinge ändern? Vor wenigen Momenten war mein süßer Vogel in seinem Käfig und dachte an nichts anderes als an seine nächste Mahlzeit. Man darf nichts als selbstverständlich hinnehmen, Ladys. Nichts."
Keines der Mädchen hatte an dem Zweck dieser Lektion gezweifelt. Ein Vogel war vor ihren Augen geopfert worden, und sie waren nicht sicherer als das kleine Tier, das wollte sie ihnen sagen. Damals hatten sie begonnen, Fläschchen von Herzwein aus Miss Rowes Sammlung zu stehlen und sie in kleinen Dosen zu nehmen, um sich dagegen immun zu machen. Sie hatten sich die Flüssigkeit auf Hände und Gesicht gerieben, so wie Miss Rowe es ihnen zu kosmetischen Zwecken beigebracht hatte. Dann tranken sie aus den Fläschchen, winzige Schlückchen zuerst, nicht einmal genug, um einen Vogel zu töten.
Heute ging es Jane nicht um ihre Hände oder ihr Gesicht. Sie nippte am Gift, verzog das Gesicht und gab das Fläschchen an Breeze weiter, die dasselbe tat. Als Mattie einen Schluck nahm, fragte sie sich, warum sie nicht schon tot waren – und warum Ivys Immunität sie nicht gerettet hatte.
"Wartet, ich habe etwas", sagte Breeze und zeigte ihnen eine rote Locke, die sie in der Brusttasche ihrer Bluse aufbewahrt hatte. "In der Nacht, in der Ivy starb, habe ich einen der Sanitäter um eine Locke ihres Haares gebeten, zur Erinnerung. Er sagte mir, dass das nicht ginge, aber am nächsten Tag gab er sie mir. Vielleicht können wir sie auch gebrauchen?"
Sie nahmen sich an denen Händen und sprachen mit gedämpfter Stimme. Jane begann: "In der alten Tradition griechischer Mythologie wird uns die Locke unserer hingerichteten Schwester unverwundbar machen gegen alle Angriffe. Wie wir uns bemühen, ihrem Tod eine Bedeutung zu geben, bieten wir uns unterwürfig Artemis an, der Jägerin, der Beschützerin junger Frauen, die über uns wachen wird und uns in unserem Kampf leiten soll."
"Artemis", murmelten alle.
"Noch etwas." Mattie zog das Stück Tannenzapfen aus ihrem Haar und zeigte ihnen die scharfe Spitze. "Wir werden etwas Blut brauchen."
Mattie versuchte, nicht zusammenzuzucken, als sie sich schnell in den Finger stach. Wenn man Heftpflaster in Sekundenschnelle abzog, tat es ja auch weniger weh, als wenn man es langsam tat. Trotzdem brannte es höllisch. Die anderen sahen mit aufgerissenen Augen zu, als sich ein Tropfen tiefroten Blutes bildete.
"Jetzt ihr", sagte Mattie und reichte die Spitze an Breeze weiter, die nach vorn schwankte und fast ohnmächtig wurde, bevor sie sich wieder fing. In dem Moment regten sich erste Zweifel in Mattie, ob ihr Angriff zu dritt gelingen würde.
Jane schlich die Wendeltreppe barfuß hoch. Sie musste mucksmäuschenstill sein, und Schuhe waren verräterisch. Miss Rowe sollte in einer Besprechung des Lehrkörpers im Verwaltungsgebäude sein. Deshalb hatte Jane keinen Grund anzunehmen, dass sich jemand am Vormittag in Miss Rowes Wohnung aufhalten würde. Aber sie wollte kein unnötiges Risiko eingehen. Schuhe konnten einen schneller verraten als ein Niesen.
Sie benutzte den Schlüssel, der hinter einem losen Stück Fußleiste versteckt war. Das Versteck hatte Miss Rowe ihren vier einsamen Mädchen für den Fall verraten, dass ein VIP-Kunde ein unvorhergesehenes Date wünschte. Das würde natürlich durch Miss Rowe arrangiert werden. Die Männer durften sich nicht mit ihnen verabreden, ohne Miss Rowe einzubeziehen. Nicht dass einer so darauf gedrängt hätte, Jane zu sehen. Natürlich nicht.
Die Männer konnten die Mädchen im Hof beobachten oder sie anhand von Schnappschüssen auswählen, die Miss Rowe von jedem Mädchen gemacht hatte. Jane nannte sie die "Lolita-Bilder", und sie fand ihres sehr exotisch. Trotzdem war sie nie ausgewählt worden. Zuerst war sie erleichtert gewesen, doch schon bald kamen ihr Zweifel, und sie fragte sich, was sie falsch machte.
Jane war zu steif, fand Miss Rowe, nicht der Typ, von dem wichtige Männer träumten. Diese Neuigkeiten hatten Jane nach den Bemerkungen ihrer Stiefmutter nicht besonders überrascht. Nein, Jane wunderte es nicht, dass sie selbst kaum Ausstrahlung hatte – oder dass Breeze am beliebtesten war. Breeze schien die verwirrende Macht zu genießen, die sie über das andere Geschlecht besaß, auch wenn sie sie nicht verstand. Ivy war auch beliebt, aber sie hatte sich hinterher in ihr Zimmer eingeschlossen und sich geweigert, mit jemandem zu sprechen. Und Mattie hatte jeden Mann angespuckt, der sich ihr näherte. Sie war vielleicht die einzig Clevere der Gruppe.
Nachdem Jane vorsichtig die Stufen erklommen hatte, warf sie einen Blick in Miss Rowes Wohnung. Das Wohnzimmer, das Miss Rowe den Salon nannte, nahm die gesamte Fläche des Turms ein, sodass sie ihren Besuch "anständig unterhalten" konnte. Sie hatte den kreisförmigen Bereich mit echten Chippendale- und Sheraton-Möbeln ausgestattet, handgearbeiteten Tiffanylampen und orientalischen Wandteppichen. Türkische Läufer schmückten den Hartholzboden, und in der Ecke vor dem Fenster blühte ihr Judasbaum, seine vollen rosa Blüten hingen an den glänzenden, nackten braunen Zweigen.
Zu Janes Erleichterung sah der Raum verlassen aus. Breeze war schon hier gewesen und hatte ihren Teil des Plans ausgeführt, obwohl sie danach das große Zittern bekommen hatte. Euphorisch war Breeze gewesen, aber auch den Tränen nahe, als sie Jane danach auf dem Campus getroffen hatte. "Ich hab's getan", flüsterte sie. "Ich hab's getan. Sie wird niemandem mehr wehtun."
Breezes Begeisterung hatte Jane über ihre eigenen Unsicherheiten hinweggeholfen. Und auch Breezes Timing war perfekt gewesen. Sie hatte eine gute Entschuldigung, um die ersten Stunden ausfallen zu lassen. Jeder wusste, dass es ihr nicht gut ging, also war sie gleich morgens auf die Krankenstation gegangen, wo die Schwester ihr sofort eine Entschuldigung ausgestellt und sie zum Ausruhen aufs Zimmer geschickt hatte. Zu Unterrichtsbeginn war Breeze über den Hof geschlichen – unbemerkt, wie Jane hoffte – und in den Turm geschlüpft.
Diese Woche hatte Jane Hofaufsicht, was bedeutete, dass sie den Müll vom Boden aufsammeln musste – und einen Grund hatte, überall herumzuwandern. Ihre nächste Schulstunde fand in der Ogden Hall statt, dem Wissenschaftsgebäude, und sie musste sich beeilen, um rechtzeitig zurück zu sein. Matties Entschuldigung war schon fast zu perfekt. Die Wohnung in der sechsten Stunde aufzuräumen, gehörte zur Bestrafung für den Einbruch und die Verletzung der Schulregeln.
Miss Rowes Schlafzimmer lag im dritten Stock, direkt über dem Wohnzimmer. Als Jane das Zimmer betrat, das die Direktorin ihr schwarzes Satinboudoir nannte, fand sie den Zerstäuber für das Gesichtswasser sofort. Sie und die anderen Mädchen waren wegen ihres speziellen Nachhilfeunterrichts oft mit Miss Rowe hier gewesen. Jane hatte Spaß an den Sitzungen gehabt, besonders wenn Miss Rowe über Hautpflege und Make-up gesprochen hatte.
Die Mädchen faszinierte, wie sie aus Kräutern ihre exotischen Schönheits- und Heilmittel herstellte. Sie waren alle so stolz darauf gewesen, dass ihnen diese persönliche Aufmerksamkeit geschenkt wurde, bis Miss Rowe ihnen ihren großen Plan verriet. Danach wurde alles anders.
Jane fischte Einmal-Gummihandschuhe aus ihrer Rocktasche und zog sie an. Als Nächstes nahm sie eine kleine Probeflasche mit klarer Flüssigkeit aus der gleichen Tasche, öffnete sie und füllte sie in den Gesichtswasser-Flakon. Nachdem sie das Gemisch geschüttelt hatte, verschloss sie das Fläschchen wieder und steckte es ein. Hoffentlich wechselte Miss Rowe das Wasser nicht jeden Morgen, bevor sie es benutzte.
Bis in Detail war Jane vertraut mit Miss Rowes Morgenwäsche, wie sie es nannte. Die Direktorin hatte ihnen Geschichten von ihrem Liebhaber erzählt, einem Mann, der sie einmal in der Woche morgens besuchte. Zu Miss Rowes Vorbereitungen gehörte eine Tasse Tee mit Honig und Fliederwasser. Sie hatte ein spezielles Gleitmittel benutzt, das nach Pfirsichen roch, seinem Lieblingsduft. Sogar das Gesichtswasser in ihrem Zerstäuber hatte sie parfümiert.
Breeze hatte bereits das Fliederwasser vergiftet, das sie für ihren Tee benutzte. Jetzt hatte Jane den Zerstäuber präpariert. Blieb für Mattie noch das Gleitmittel. Jane lächelte. Mattie hatte beim Münzenwerfen verloren.
Solange Miss Rowe am nächsten Morgen ihrer normalen Routine nachginge, würde sie genug Herzwein abbekommen, um einen ganzen Schwarm Vögel auszulöschen. Nimm es auch als Rache für den Vogel, dachte Jane. Und weil Miss Rowe sowieso täglich Herzwein benutzte, würde niemand wissen, dass sie aus Versehen eine Überdosis genommen hatte. Darauf zählten die Mädchen.
Miss Rowes Tricks würden ihr den Tod bringen.
Das war Matties brillante Idee gewesen.
Jane zog die Handschuhe aus, stopfte sie zurück in ihre Tasche und dachte währenddessen, dass sich nichts davon real anfühlte. Es kam ihr vor, als würden sie jemandem einen lustigen Streich spielen – ehrlich gesagt, erwartete sie auch nicht, dass die Direktorin mehr als Halsschmerzen von dem Herzwein bekommen würde. Jane glaubte nicht, dass sie Personen wie Miss Rowe umbringen konnten. Weil solche Leute nicht menschlich waren. Sie hatten böse Mächte und schwarze Magie auf ihrer Seite. Sie starben nicht wie andere – wie Ivy.
Niemand würde sterben. Nicht wirklich.
Sie hätten es nur gern so gehabt.
Der Raum wurde so hell, dass Jane ganz benommen war. Unter ihren Füßen schien der Boden zu schwanken, und sie berührte die Frisierkommode, um sich abzustützen. Wenn sie weiter darüber nachdachte, würde sie vielleicht ihre Meinung ändern und alles wieder rückgängig machen. Und das konnte sie nicht. Sie hatte geschworen, diese Sache mit durchzuziehen. Sie hatte ein Gelübde abgelegt.
Verschwinde hier, Jane. Geh die Wendeltreppe hinunter bis zur Eingangstür und hau ab.
Vielleicht lag es daran, dass sie die Stufen so langsam hinabstieg. Neben dem Schreibtisch entdeckte Jane ein Stück Papier auf dem Wohnzimmerboden. Sie erkannte das teure Papier an dem Wasserzeichen und an Miss Rowes Initialen am oberen Rand, elegant geprägt mit Gold und Schnörkeln an der Seite.
Jane hatte oft davon geträumt, eines Tages so ein Briefpapier zu besitzen. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, wie sie, eine Stipendiatin, jemals zu so etwas kommen sollte. Es war schon traurig. Wenn Miss Rowe nicht eine so schreckliche Person gewesen wäre, hätte sie eine von Janes Heldinnen sein können. Jane bewunderte weder ihre Gier noch ihre Grausamkeit, sie bewunderte Miss Rowes Stil.
In dem Brief richtete sich Miss Rowe an einen ungenannten Mann. Schon die erste Zeile verriet Jane die Wut der Direktorin. Mehr konnte sie nicht lesen, denn sie hörte die Stimme der Direktorin durch das offene Fenster. Miss Rowe war unten im Hof und unterhielt sich mit einem Mitglied der Fakultät. Jane hatte ihren Terminkalender überprüft und wusste, dass sie gleich eine Stunde Benimmunterricht geben würde. Trotzdem wollte Jane nicht riskieren, durch einen unvorhergesehenen Zufall entdeckt zu werden.
Jane hatte beabsichtigt, den Brief einfach liegen zu lassen. Doch dann bemerkte sie, dass sie die Handschuhe nicht mehr trug. Ihre Fingerabdrücke waren auf dem Papier. Es sah so aus, als hätte Miss Rowe den Brief ohnehin wegwerfen wollen, also zerriss Jane ihn schnell und warf ihn in den Papierkorb. Mattie würde den Korb leeren, wenn sie aufräumte, und das Beweisstück wäre verschwunden.
Jetzt war Mattie dran.