34. KAPITEL
Als Tony Bogart an diesem Nachmittag seine Mailbox abhörte, fand er eine Nachricht von Andrew Villard. Tony hörte sie grinsend ab. Villard wurde wegen des Verdachts auf Mord und Betrug ohne Kaution festgehalten und wollte nun mit ihm reden. Da er ja nicht mit Marnie Hazelton verheiratet war, durfte er gegen sie aussagen, und so wie seine Nachricht klang, schien er Tony einen Deal vorschlagen zu wollen, um seine eigene Haut zu retten.
Tony nippte an seinem Eiskaffee und sonnte sich in seinem jüngsten Fahndungserfolg. Er parkte mit seiner Corvette direkt vor seinem Lieblingscafé. Das Gesindel war bezwungen, was konnte das Leben noch Schöneres bieten? Endlich war dieser Mistkerl, wo er ihn haben wollte, auf den Knien. Alison war ihm durch die Lappen gegangen, aber zumindest konnte er Villard festnageln, das war fast genauso gut.
Fast.
Er drückte auf ein paar Tasten, und Musik erfüllte das Wageninnere – sanfter, ruhiger Jazz, wie gemacht, um negative Schwingungen zu vertreiben. Aber seine Selbstzufriedenheit war trotzdem verschwunden, bevor er seinen Kaffee ausgetrunken hatte. Marnie Hazelton saß im Gefängnis und wartete auf ihren Prozess wegen des Mordes an seinem kleinen Bruder. Alison Fairmont hingegen lief immer noch frei herum. Irgendwo. Verfolgte ihn mit ihrem Hohn. Für Tony Bogart war die Sache nicht beendet, bevor er nicht mit ihr abgerechnet hatte – mit Alison. Für ihn war sie so lange am Leben, bis er ihre verrottende Leiche mit eigenen Augen gesehen hatte.
Und wenn es nicht Marnie war, die LaDonna Jeffries in Gestalt von Alison getötet hatte, wer zum Teufel war es dann?
Mit dem Einbrechen der Abenddämmerung hatte sich ein dicker feuchter Nebel über die Küste gesenkt, und die Frau, die sich ihren Weg über den Strand bahnte, war erschöpft und sah ziemlich mitgenommen aus. Ihr Haar war verfilzt und klebte an ihrem Kopf wie ein gelbes Dornengestrüpp. Durch ihr Gesicht zogen sich zahlreiche weiße Narben. Sie sah aus wie eine heruntergekommene Obdachlose, doch sie schien ein festes Ziel vor Augen zu haben.
Heute Abend sollten die alten Rechnungen endlich beglichen werden. Danach würde es keine Betrügereien mehr geben, kein Blut würde mehr vergossen werden. Der Schuldige wurde zur Rechenschaft gezogen. Die, denen Schmerzen zugefügt worden waren, sollten endlich Genugtuung erhalten.
Das Haus wirkte im Nebel wie eine Festung aus dem Mittelalter. Sie fühlte sich müde und am Ende ihrer Kräfte, doch sie stieg ständig weiter nach oben, immer geführt von den erleuchteten Fenstern. Der kleine metallene Gegenstand in ihrer Hand fühlte sich kalt in ihrer Handfläche an. Es war der Schlüssel zur Villa, sie würde dort unangekündigt auftauchen. Wenn die Herrin des Hauses sie so sah, bekam sie sicher einen ziemlichen Schock. Die Herrin des Hauses, ihre Mutter.
Bret Fairmont amüsierte sich gerade mit einer Pornoseite im Internet, als er hörte, wie die Tür hinter ihm geöffnet wurde und jemand eintrat. “Was ist denn?”, sagte er und ließ die Website seelenruhig weiterlaufen.
“Eine Überraschung”, kam die leise, heisere Antwort. “Sieh mal, was das Meer hier angespült hat.”
Beim Klang dieser Stimme richteten sich Brets Nackenhaare auf. Er wirbelte mit dem Stuhl herum und sprang auf. Die Frau, die keine drei Meter von ihm entfernt an der Tür stand, sah aus wie eine zerrupfte Bettlerin. Sie grinste ihn hämisch an. Obwohl ihr Erscheinungsbild so heruntergekommen war, erkannte er sie sofort – oder zumindest sah sie jemandem sehr ähnlich.
Es war die gleiche Frau, die er auf dem Computerbildschirm hatte. Allerdings sah diese hier in seinem Zimmer aus, als wäre sie ertrunken und dann von den Wellen an die Küste gespült worden.
Er lachte. Irgendwie konnte er nicht anders. “Lass mich mal raten … Alison? Was soll das sein? Irgendein krankhafter Scherz?”
“Nein, mein geniales Brüderchen.” Sie verzog das Gesicht zu einer Grimasse. “Das ist absolut kein Scherz. Dein meisterhafter Plan ist leider nicht aufgegangen. Aber du hattest es ja auch mit mir zu tun. Deshalb war dein Vorhaben von Anfang an zum Scheitern verurteilt.”
Sein Vorhaben? Das war wirklich krankhaft. Bret wusste nicht, ob er diese Kreatur dort selbst hinauswerfen oder die Polizei rufen sollte. “Wer zum Teufel bist du? Nein, verdammt, es ist mir scheißegal, wer du bist. Wer hat dich hergeschickt?”
Sie griff in ihre zerlumpte Tasche und zog eine Automatik hervor. Bret drehte sich der Magen um, der Schweiß brach ihm aus.
“Du solltest dich lieber erkundigen, wo ich die ganze Zeit gewesen bin”, sagte sie leise. “Wäre das nicht die angemessene Frage für einen Bruder, wenn seine Schwester nach sechs Monaten wieder auftaucht?”
“Meine verdammte Schwester ist tot. Und jetzt mach, dass du verschwindest …”
Sie lachte so laut und krächzend, dass er glaubte, sein Trommelfell würde gleich platzen. Himmel noch mal, wer war diese Schlampe denn bloß?
“Jetzt frag mich, wo ich gewesen bin, du Arschloch!”, schrie sie. “Nun frag schon!”
Er hielt sich die Ohren zu. “Wo warst du?”, sagte er schließlich.
Sie atmete tief durch, als müsse sie sich beruhigen, aber die Knöchel ihrer Hand, mit der sie die Pistole hielt, traten weiß hervor.
“Ich habe lange auf den richtigen Zeitpunkt gewartet”, sagte sie. “Und jetzt ist es doch geradezu perfekt, findest du nicht? Ich bin Andrew und seine komische kleine Freundin los, nur noch du bleibst übrig.”
Bret glaubte immer noch nicht, dass es wirklich Alison war, aber er würde das Spiel mitspielen. Immerhin hatte diese Psychotante eine Knarre. Er hätte nur zu gern gewusst, wer ihm diesen Streich spielte. Andrew und Marnie Hazelton befanden sich hinter Gittern, aber irgendjemand wollte Bret Fairmont übel auf die Nerven gehen. Ob das wieder so eine verrückte Masche seiner Mutter war? Aber warum sollte sie so was tun?
“Wo ist Julia?”, wollte er wissen. “Unsere Mutter – wo ist sie?”
“Unten. Sie genehmigt sich gerade einen Drink, einen ordentlichen. Inzwischen weiß sie auch von unserem Plan, Bret.”
“Von unserem Plan? Von welchem Plan redest du? Es gibt ja einige.”
Ihre Augen funkelten. “Der Plan, meinen Tod vorzutäuschen und das Geld aus dem Treuhandvermögen zu teilen.”
Ihm wurde wieder übel. Davon hatte nur Alison gewusst. Seine Schwester Alison, die eigentlich tot war. Er hatte niemandem von der Idee erzählt, wie sie diese verdammte Moralklausel umgehen wollten.
“Woher sollte sie denn von diesem Plan erfahren haben?”
“Von mir natürlich, du Idiot.”
“Das glaube ich kaum. Das Vorhaben, von dem du sprichst”, sagte er so ruhig wie möglich, “unser Vorhaben –, hätte nämlich so nicht funktioniert. Das Treuhandvermögen geht an die nächste lebende weibliche Erbin. So hat unsere Großmutter das arrangiert. Ich hätte unter keinen Umständen was davon bekommen.”
“Bret, verdammt noch mal, du redest mit mir, Alison. Du weißt genauso gut wie ich, dass im Testament die Möglichkeit eingeräumt wird, den Fond an dich zu überschreiben, falls ich sterbe, ohne weibliche Nachkommen zu hinterlassen. Ich nehme an, Mom hatte nicht die Absicht, dir das jemals zu verraten, auch nicht, als sie davon ausging, dass ich nicht mehr lebe und du der nächste Erbe bist. Sie hat wirklich nichts für dich übrig, was, kleiner Bruder?”
Bret wusste lediglich von diesem Vorbehalt im Testament, weil Alison ihm das vor sechs Monaten eröffnet hatte, als ihnen die Idee zu ihrem Plan gekommen war. Aber woher zum Teufel wusste diese Frau das? “Wer hat dir von dieser Erbfolge erzählt? Julia?”
“Nein, ich habe es dir erzählt – vor sechs Monaten. Ich habe den lächerlichen Code von Moms Safe geknackt und die Papiere in dem Wandschrank gefunden. Da ist mir die Idee zu unserem Vorhaben gekommen, was einwandfrei funktioniert hätte, wenn du es nicht aus lauter Habgier vergeigt hättest.”
Sie wiederholte die neunstellige Kombination zum Safe ihrer Mutter, und Bret drehte sich der Magen um. Er hatte das Gefühl, sich jeden Moment übergeben zu müssen, und schluckte krampfhaft.
“Du bist doch nicht Alison”, sagte er. “Ich habe gesehen, wie sie ertrunken ist. Wie sie von der Strömung weggeschwemmt wurde. Sie ist tot!”
Wieder dieses schreckliche Lachen, das ihm schmerzhaft in den Ohren dröhnte. Diese Schlampe wollte ihm die Schuld in die Schuhe schieben, dass es nicht funktioniert hatte. Dieser ganze verdammte Plan war Alisons Idee gewesen, und keiner konnte Alison aufhalten, wenn sie sich was in den Kopf gesetzt hatte. Sie war tatsächlich davon überzeugt gewesen, sie könne bei einem Unwetter von Andrews Jacht springen und es so aussehen lassen, als habe er sie über Bord gestoßen.
Sie allein hatte alle Vorbereitungen getroffen, hatte die Rettungswesten versteckt und die Rettungsleine gekappt. Sie war eine gute Schwimmerin und hatte sich genau über die Strömungen informiert. Außerdem hatte sie noch einen aufblasbaren Ring im Saum ihres Umhangs versteckt. Doch in ihrem ganzen genialen Plan hatte sie eine fatale Schwachstelle übersehen: ihren hinterhältigen kleinen Bruder Bret.
Er sollte in einem kleinen Boot in einer versteckten Bucht am anderen Ende des Riffs warten. Dorthin würde die Strömung sie tragen. Seine einzige Aufgabe war es, ihr eine Rettungsleine zuzuwerfen und sie davor zu bewahren, auf die offene See hinausgetrieben zu werden. Arme dumme Alison. Warum sollte jemand einen Treuhandfonds teilen, wenn er die ganze Summe haben konnte?
“Ich habe Mom den Rest der Geschichte auch erzählt”, behauptete sie. “Dass wir den Verdacht absichtlich auf Andrew gelenkt haben, und dass wir vorher die Versicherungspolice über Fax und Telefon in seinem Namen abgeschlossen haben.”
“Das ist doch verrückt”, sagte er leise. “Warum solltest du ihr das alles erzählen?”
“Damit sie kapiert, warum ich dich umbringen muss.” Sie griff ein weiteres Mal in ihre Tasche und zog einen Schalldämpfer für die Pistole heraus, ein modernes glänzendes Hightechprodukt.
“Bist du völlig durchgedreht?”, zischte Bret. “Da unten im Haus sind Zeugen!”
Er hielt sich die Ohren zu, weil er dachte, sie würde wieder mit ihrem krächzenden Lachen anfangen. Das konnte nicht Alison sein. Selbst die war nicht so verrückt.
“Du vergisst wohl, wie besessen unsere Mutter ist, was mich betrifft. Sie würde mich nie anzeigen, egal, was ich anstelle, vor allem wenn ich dich beseitige. Sie hasst dich, weil du ihre teure Tochter dem Tod überlassen hast.”
Das wiederum konnte er sich gut vorstellen. Genau so würde seine Mutter das sehen. “Was willst du von mir?”
“Ich lasse dir die Wahl. Entweder du gestehst, oder ich schieße dir eine Kugel durchs Herz, so wie du jetzt vor mir sitzt. Gesetzt den Fall, du hast überhaupt eins.”
Er hätte gern gelacht, aber ihm fehlte die Kraft dazu. “Netter Versuch, Ali, aber Geständnisse, die unter Druck entstehen, werden vor Gericht nicht anerkannt.”
Wieder kam dieses krächzende Lachen. “Wenn du doch nur so lange leben würdest! Bis vors Gericht wirst du's leider nicht mehr schaffen, du Genie. Ich will nur hören, wie du gestehst, wie du zu Kreuze kriechst.”
Sie hielt die Waffe in seine Richtung und schoss. Hinter ihm in der Ecke explodierte der Computerbildschirm. Bret hatte sich zu Boden geworfen und bedeckte schützend seinen Kopf mit den Händen.
“Du kommst als Nächstes dran, du Arschloch! Du bist der Nächste!”, schrie sie mit schriller Stimme. “Rede!”
Bret blieb auf dem Boden hocken. Wenn das tatsächlich Alison war, hatte er keinen Zweifel daran, dass sie ihn erschießen würde – und auch nicht, dass ihre Mutter sie deckte. Genau so würde es ablaufen. Wenn es nicht Alison war, hatte er nicht die geringste Ahnung, mit was für einer Verrückten er es zu tun hatte. Aber er wollte jetzt wissen, wer sie war. Und er wollte am Leben bleiben.
“Was willst du denn genau von mir hören?” Er beschloss, alles zuzugeben, ihr zu sagen, was sie hören wollte. Das müsste ihm ein bisschen Zeit verschaffen, in der er die Situation unter Kontrolle bekommen und sie töten konnte. Er würde es wie Selbstmord aussehen lassen. Oder eben Notwehr. Verdammt noch mal, es war Notwehr.
“Du hast mich angeschmiert, weil du die fünfzig Millionen allein kassieren wolltest, oder etwa nicht?”, stachelte sie ihn an.
Er seufzte. “Das war der ursprüngliche Plan, aber du bist ja von den Toten auferstanden – zumindest jemand, der so aussah wie du –, deshalb musste ich die Karten neu ordnen.”
“Neu ordnen?”
Bret hockte immer noch am Boden. Neben sich entdeckte er einen Stapel Fotos, auf denen Alison zu sehen war. Er hatte sie heruntergerissen, als er aufgesprungen war. Sie lagen fast in seiner Reichweite. Er stöhnte auf und streckte ein Bein, als wenn es wehtäte.
“Ich habe Andrew einen Zeitungsartikel über dein Verschwinden geschickt und durch ein paar Markierungen eine Nachricht hinterlassen, die ihn veranlassen sollte, nach Mirage Bay zu kommen”, erklärte er. “Anonym, natürlich. “Tony Bogart hat auch ein paar anonyme Tipps in seiner Mailbox von mir gefunden, die ihn darauf brachten, dass du Marnie Hazelton umgebracht hast. Es hat funktioniert, allerdings nur bis LaDonna mir verraten hat, dass es sich bei deiner Doppelgängerin um Marnie handelte.”
“Weshalb sollte denn der falschen Alison was angehängt werden?”
“Um sie zu entlarven. Ich wollte beweisen, dass sie nicht Alison ist. Sie aus dem Weg schaffen und mich so einen Schritt näher ans Geld bringen. Dann brauchte ich nur noch Andrew den Mord an dir anzuhängen.”
Er musste sich ein Lachen verkneifen. Es hätte womöglich genauso hysterisch geklungen, wie diese Frau war. “Das wäre ein Volltreffer gewesen, Schwesterherz. Welches Schwurgericht würde Andrew nicht für schuldig befinden, nachdem es erfährt, dass er seine Freundin dazu überredet hat, deine Rolle zu übernehmen? Hätte es einen besseren Beweis dafür gegeben, dass er es auf das Geld abgesehen hat?”
“Und jetzt sitzt Marnie im Gefängnis, und LaDonna ist tot.”
Er beabsichtigte nicht, den Mord an LaDonna zu gestehen, nicht mal, wenn sie ihm in die Eier schießen würde. Als LaDonna ihm verraten hatte, dass die Schwindlerin Marnie war, hatte er schnell einen Plan schmieden müssen, um sich beide vom Hals zu schaffen. LaDonna war sowieso ausgeflippt. Sie war so eifersüchtig und besitzergreifend geworden, dass sie sich sogar während des Empfangs für Alison in die Villa eingeschlichen hatte, um ihn auszuspionieren. Irgendwann hatte sie sich dann im zweiten Stock versteckt und aus Angst, entdeckt zu werden, die glorreiche Idee gehabt, den Pflanzenkübel nach Alison zu werfen, um für Ablenkung zu sorgen und so verschwinden zu können.
LaDonna musste geopfert werden, um Marnie, die ja immerhin seit ihrer Enttarnung ein Motiv für den Mord besaß, aus dem Weg zu räumen. Marnie war ihm dabei völlig egal, er wollte lediglich, dass sie als Schwindlerin entlarvt wurde, ohne dass er selbst dabei in Verdacht geriet.
Als er das Gästezimmer durchsuchte, fand er neben Schlaftabletten auch die Pistole, die Andrew im Nachttisch hinterlegt hatte. Mit den Tabletten hatte er am Tatabend Marnies und Julias Drinks präpariert. Die zweite Hälfte des Spiels hatte er, während er draußen auf den Klippen war, aufgezeichnet. Bogart hatte ihm an dem Abend einen ordentlichen Schreck eingejagt, aber Bret war schneller gewesen. Bis heute Abend war er allen voraus gewesen.
Bret massierte sich das Bein und rückte unauffällig an den Bilderstapel heran. Da er schon mal dabei war, seine Sünden zu beichten, konnte er dieser Hyäne auch gleich noch etwas gestehen.
“Ich hatte jahrelang eine Videokamera in deinem Zimmer versteckt”, erklärte er mit dieser einschmeichelnden Stimme, die er immer benutzt hatte, als sie noch Kinder gewesen waren. “Mit den Aufnahmen habe ich eine Porno-Webseite eingerichtet. Du bist ein Star, Alison. Millionen von Männern wichsen sich einen vor deinen Fotos.”
“Bret, das ist ja das Netteste, was du jemals gemacht hast!”, rief sie und lachte schallend. Das war der Moment, an dem er ihr tatsächlich abkaufte, dass sie Alison war. Seine Schwester hätte sich wirklich einen Dreck darum gekümmert, ob sie als Wichsvorlage für fremde Typen diente. Die Vorstellung hätte sie womöglich angeturnt. Meine Güte, was für eine Nutte sie war. So eine widerliche, rücksichtslose kleine Schlampe. Dafür hätte er sie fast lieben können.
“Du hast ja schon immer gern Fotos von dir gehabt.” Er griff nach dem Bilderstapel und schleuderte ihn ihr entgegen.
Sie duckte sich automatisch. Bret nutzte den Moment, um aufzuspringen und sich auf sie zu stürzen. Er wollte ihr die Waffe abnehmen. Bei dem Gerangel löste sich ein Schuss.
Bret hatte das Gefühl, als würde ein Feuer seinen Schädel spalten und das Hirn herausfließen. Doch er blieb noch ein oder zwei Sekunden bei Bewusstsein. Als er zu Boden fiel, starrte er die Frau an, die ihn erschossen hatte. Es war tatsächlich so. Er hatte gegen sie in seinem ganzen Leben nie eine Chance gehabt.
Die Dunkelheit senkte sich ganz plötzlich über ihn. Doch er spürte keinen Schmerz, als er die Augen schloss, und sein letzter Gedanke war angenehm. Jeder Mann verdiente eine zweite Chance, und Bret Fairmont würde auch eine erhalten. In den tiefsten Tiefen der Hölle würde er auf seine Schwester Alison warten.
Zwei Beamte des Sondereinsatzkommandos stürzten durch die Terrassentüren ins Zimmer, gleichzeitig kam Tony Bogart durch die Flurtür. Andrew folgte ihm auf den Fersen.
Einer der Polizisten kniete sich zu Bret hinunter und untersuchte ihn. “Er ist tot”, sagte er. “Der Scharfschütze hat ihn erwischt.”
Seine Schwester, die zunächst befürchtet hatte, sie habe ihn erschossen, sank auf den Boden und starrte entsetzt auf das Blut, das Bret aus der Kopfwunde strömte. Andrew hob sie hoch, zog sie in seine Arme und von dem grausamen Anblick weg.
Sie war Brets Schwester, aber nicht Alison. Ein letztes Mal hatte Marnie die Rolle der Frau gespielt, die sie früher immer so angehimmelt hatte. Dieser Trick war Andrews Idee gewesen. Bogart hatte dem Handel zugestimmt – die Anklage gegen Andrew und Marnie würde fallen gelassen werden, sobald sie dem wahren Täter eine Falle stellten. Bret.
Andrew hatte das Testament in Julias Safe gefunden und von da an Bret als Hauptbegünstigten unter Verdacht gehabt. Als er nach Mexiko geflogen war, hatte er gehofft, Bret, würde ihm folgen, um dort seine Schwester zu identifizieren. Doch der Mord an LaDonna hatte Andrew gezwungen, in die Staaten zurückzukehren, bevor die Falle zuschnappen konnte – und hatte ihn von Brets Spur abgebracht.
Bret besaß seiner Meinung nach kein Motiv, LaDonna zu töten. Einzig denkbar wäre gewesen, dass er Alison den Mord anhängen wollte, und das ergab für Andrew zu diesem Zeitpunkt keinen Sinn. Damit Bret an das Treuhandvermögen kam, musste Alison tot sein, nicht für den Rest ihres Lebens im Gefängnis verrotten. Was Andrew nicht ahnte, war, dass Bret von Marnies Rolle als Alison erfahren hatte. LaDonna hatte es ihm verraten. Der jungen Frau, die ihr Lebtag kein glückliches Händchen mit Männern gehabt hatte, war ein letzter verhängnisvoller Fehler unterlaufen.
Marnie war dankbar, dass sie nicht zusehen musste, wie die Sanitäter Bret abtransportierten. Sie wusste wirklich nicht, was sie für ihren Bruder empfand. Abscheu, natürlich, wenn sie bedachte, was er alles getan hatte. Aber das Ganze war ein bisschen komplizierter. Sie verspürte auch Mitleid und Trauer. Irgendwann würde sie das alles vielleicht verstehen.
Was sie brauchte, war Zeit. Das wurde ihr klar, als sie Andrews besorgtem Blick begegnete. Sie berührte ihren Pennyring und war so dankbar wie nie zuvor, dass sie nicht Alison Fairmont war. Vielleicht hatte sie diese Feuerprobe der vergangenen Wochen durchmachen müssen, um zu begreifen, wie dankbar sie für ihr Leben war, für ihre Großmutter und alles, was eben Marnie Hazelton ausmachte. Mit dieser Erkenntnis würde sie sich der Zukunft stellen. Und sollte sie jemals eigene Kinder bekommen, dann würde sie sich redlich bemühen das, was sie hier gelernt hatte, an sie weiterzugeben.
Sie blickte auf die Kreidestriche auf dem Fußboden, mit denen Brets Umrisse nachgezeichnet worden waren. Dieses verwöhnte Jüngelchen hatte tatsächlich geglaubt, dass er seine Schwester einfach ertrinken lassen konnte, ohne zur Rechenschaft gezogen zu werden. Womöglich fühlte er sich durch die Art und Weise, wie sie und seine Mutter ihn die ganzen Jahre über behandelt hatten, gerechtfertigt. Doch offensichtlich hatte er nie von dieser alten Weisheit gehört, die Marnie vor vielen Jahren von ihrer Großmutter erfahren hatte und die ihr angesichts der Tiefen des Ozeans beim Blick von Satan's Teeth wieder eingefallen war.
Was immer du dem Meer gibst, ob es Dreck ist, ein Fluch, Gebete oder ein Schatz, das Meer vergisst nie.