3. KAPITEL
Alison ging in ihrem Schlafzimmer auf und ab, das Handy ans Ohr gepresst, und lauschte dem monotonen Klingeln. Niemand antwortete. In den letzten zwei Wochen hatte sie es immer wieder und zu den unterschiedlichsten Tages- und Nachtzeiten versucht, doch niemand hatte sich gemeldet. Inzwischen machte sie sich fürchterliche Sorgen. Sie wusste nicht, was sie tun würde, wenn der einzigen Person in Mirage Bay, an der ihr etwas lag, etwas zugestoßen sein sollte.
Vielleicht funktionierte das Telefon nicht mehr, vielleicht war auch das Kabel herausgezogen oder es war einfach nur niemand zu Hause, doch sie konnte nicht mehr länger auf eine Antwort warten. Keines von Andrews Argumenten überzeugte sie so sehr von der Notwendigkeit heimzukehren wie das Schweigen am anderen Ende dieser Leitung.
Für sie war Mirage Bay die Hölle auf Erden, ein Friedhof am Meer, wo all die Dämonen ihrer Vergangenheit lauerten. Doch genauso wie man sich seinen Ängsten stellen musste, um sie zu überwinden, musste sie diesen Dämonen entgegentreten, um sie ein für alle Mal loszuwerden. Wenn du vor ihnen davonrennst, heften sie sich für die Ewigkeit an deine Fersen.
So wie ungefähr neunzig Prozent der männlichen US-Amerikaner unter dreißig mit Computer und Internetanschluss besaß Bret Fairmont ein gewisses Faible für virtuelle Pornos. Besonders die Seiten mit Sexfilmchen hatten es ihm angetan. Doch anders als die meisten Anhänger dieser Websites machte er sich nicht die Mühe, seine kleine schmutzige Angewohnheit vor anderen zu verbergen. Es gefiel ihm, das Ganze auf dem Bildschirm zu lassen, sodass es für alle Welt, vor allem für seine Mutter, sichtbar war.
Bret stellte sich vor, wie sie bei dem Anblick so weiß wurde wie die Schlankheitspillen, die sie schluckte, und vor Abscheu fast erstickte. Nicht dass es tatsächlich passieren würde. Hinter ihrer Fassade von perfekten Umgangsformen und Designerkleidung steckte nämlich ein glubschäugiger Barrakuda. Doch ein einziges Mal nur hätte er gern gesehen, wie seine Mutter zusammenbrach. Er konnte sich kaum etwas Besseres vorstellen.
Trauriges Bild, Bret, sehr traurig. Wie alt bist du jetzt? Fünfundzwanzig oder zwei?
Tief im Bauch der Hängematte verborgen, die im Garten hinter dem Haus hing, gähnte er und streckte sich. Langeweile überkam ihn, während er nach oben in das Geäst des riesigen Maulbeerfeigenbaums blickte. Desinteresse und Trägheit zeigten ihre ganz eigenen Schmerzsymptome. Den gesamten Morgen über lag er nun schon in T-Shirt und Shorts herum, schlürfte Eiskaffee und hatte auch für den Rest des Tages nicht die Absicht, irgendetwas anderes zu tun.
Er wusste, wie sehr Julia Fairmont Müßiggang hasste.
Und wo er gerade an sie dachte, wo war diese Oberschlampe überhaupt?
Du bist krank, Bret. Ein armseliger kranker Typ. Warum zum Teufel hasst du sie so? Sie hat dir nie was getan …
Doch wenn er die Augen schloss, sah er vor sich, wie sich ihr schönes Gesicht bei seinem Anblick vor Verachtung verzog. Dieser Blick ließ ihn einfach nicht los.
… sich nur gewünscht, du würdest nicht existieren. Das ist alles.
Er lachte auf, und das Geräusch hatte etwas Abstoßendes, wie ein stinkender Aschenbecher. Ihre Ablehnung tat ihm nicht mehr weh. Er fühlte nichts. Vielleicht lag ganz tief in ihm noch eine Spur von Verletztheit, aber an der Oberfläche war er genauso kühl und sarkastisch wie sie. Er scherte sich einen Dreck darum, was sie dachte. Warum sollte er auch?
“Bret! Wo bist du?”
Das war sie, wahrscheinlich rief sie von einem der Balkone herunter. Ihre schrille Stimme ließ ihn zusammenzucken. Das war ihm seit seiner Kindheit nicht mehr passiert. An ihrem Tonfall erkannte er, dass sie stocksauer war, doch er hatte nichts anderes erwartet. Er hatte sein Vorstellungsgespräch heute Morgen, das von ihr arrangiert worden war, versäumt, es vollkommen verschwitzt.
“Bret? Warum antwortest du nicht?”
Er sah sie auf sich zukommen, wie sie in ihren gebügelten Caprihosen, der schulterfreien Bluse und den strassbesetzten Sandaletten über den grünen Rollrasen gelaufen kam. Sofort legte er den Arm über die Augen, tat so, als schliefe er, konnte sie aber noch weiter beobachten.
Offensichtlich ärgerte sie sein Schweigen, denn als sie vor ihm stand, tat sie etwas völlig Unerwartetes. Sie packte den Rand der Hängematte mit beiden Händen und zog diesen ruckartig nach oben, sodass Bret herausfiel und auf dem Boden landete.
Er kam mit einem Plumps auf. “He! Was zum Teufel soll das? Ich krieg die Grasflecken nie wieder aus der Hose raus!”
Sie hielt einen Brief hoch. “Ich habe eine wichtige Nachricht, die auch dich was angeht.”
“Du stirbst und ich werde alles erben?” Er stand auf und klopfte sich das Gras von der Kleidung.
“Sei nicht albern. Deine Schwester kommt zu Besuch, und ich brauche deine Hilfe, um alles vorzubereiten.”
Ihre Stimme war wirklich sehr schrill. Sie zitterte auch leicht, aber verärgert wirkte sie nicht. Sie war eindeutig nervös. Verdammt, das war ja wie ein wahr gewordener Traum. Julia Fairmonts perfekte Fassade bekam Risse.
Während er dastand und seine Mutter beobachtete, dämmerte ihm langsam, was sie gesagt hatte. “Alison? Sie kommt her?”
“Ja, und ich will etwas ganz Besonderes machen. Ich hätte nicht gedacht, dass sie meine Einladung annimmt oder dass er ihr erlaubt zu kommen. Das ist meine Chance, sie zurückzugewinnen, Bret.”
Brets Knie wurden weich. Ihm wurde übel, aber irgendwie schaffte er es zu antworten. “Sie ist verheiratet, falls du es noch nicht bemerkt haben solltest.”
“Er hat sie mir weggenommen. Das weißt du genauso gut wie ich.”
“Sie weggenommen? Das verdammte Erbe hat sie sausen lassen, um mit ihm zusammen zu sein. Warum kapierst du das nicht? Sie hat sich für Andrew entschieden.”
Julias Gesichtszüge wurden eisig. “Er begleitet sie, und wenn du mir nicht dabei helfen willst, alles für ihren Aufenthalt vorzubereiten, dann sei zumindest hier. Ich habe gerade mit Andrew telefoniert, und er hat mir versichert, dass sie dich sehr gern sehen will.”
Das konnte nun wirklich nicht stimmen, dass Alison ihn sehr gern sehen wollte, aber Julia hatte auf Freundlichkeit umgeschaltet, und Bret spielte mit, obwohl ihm immer noch so übel war, dass er sich am liebsten übergeben hätte.
“Also dann hat sie sich wohl erholt, nehme ich an?”
Unbewusst schob Julia ihren riesigen mit Smaragden und Diamanten besetzten Ehering mit dem Daumen zurecht. Den Ring legte sie nie ab, obwohl ihr Mann bereits seit Jahren tot war. Allerdings ging es dabei nicht um ergebene Erinnerungen an ihre verstorbene Liebe. Sie wollte, dass die teuren Steine sichtbar waren, denn sie repräsentierten alles, was sie sich vom Leben erhofft und doch nie bekommen hatte. Das war jedenfalls Brets Theorie.
“Andrew meint, sie sei noch ziemlich schwach”, sagte Julia, “aber das war zu erwarten. Sie ist durch die Hölle gegangen, und wer weiß, was sie in den vergangenen sechs Monaten durchmachen musste. Er hat mich ja nie mit ihr sprechen lassen, dieser Mistkerl.”
Bret zweifelte nicht daran, dass seine Mutter sich sehnlich wünschte, Alison wieder in den Kreis der Familie aufzunehmen, doch er fragte sich, wie weit ihre Besorgnis tatsächlich ging. Sie hatte immer seine Schwester bevorzugt, bis zu einem Grad, der schon fast einer Besessenheit glich, als wäre sie die Mutter eines kleinen aufstrebenden, unglaublich schönen Jungstars. Manchmal fragte sich Bret, ob Julia in Alison ihre eigene zweite Chance sah – worauf auch immer, das wusste er nicht.
Es war auch nur eine Vermutung. Es könnte auch mit dem Treuhandfonds zusammenhängen, der eigentlich an Alison gehen sollte. Julia erzählte ihrem missratenen Sohn nie etwas, deshalb hatte er keine Ahnung, welches ihre tatsächlichen Motive waren.
“Ich werde hier sein”, versprach er, hauptsächlich um sie loszuwerden. “Kann ich jetzt meinen Mittagsschlaf machen?”
Für Bret gab es nichts weiter zu dem Thema zu sagen. Das erinnerte ihn alles zu sehr an das Programm im Science-Fiction-Kanal. Seine Mutter stand am Rande eines Nervenzusammenbruchs – ein Moment, auf den er jahrelang gewartet hatte, und nun, da er da war, hatte es alles nichts mit ihm zu tun. Sondern nur mit seiner verlorenen Schwester. Was für ein Scheiß.
Julia sah auf ihre Uhr. “Hattest du nicht heute Morgen einen Vorstellungstermin?”
Er grinste gequält. Sie ließ nie locker. “Es war ein Marketing-Job, Mutter. Das ist nicht mein Ding.”
“Offensichtlich ist gar nichts dein Ding.” Sie rieb mit dem Daumen hektisch über ihren Ring. “Es ist eine Schande, Bret.”
“Für wen? Ich schäme mich nicht.” Tatsächlich hatte er bereits Jobs gehabt, meist als Model. Nichts, das ihren Ansprüchen genügte.
“Nein, offensichtlich nicht.”
Ihr Gesicht hatte sich bereits in eine gleichgültige Maske verwandelt. Wahrscheinlich war er ihr so egal, dass sie nicht einmal Verachtung spürte. Er hätte am liebsten gelacht, doch ein heißer, stechender Schmerz, als würde ihm jemand ein Messer in der Brust herumdrehen, hinderte ihn daran.
Sie stürmte mit dem Brief davon, während er eine Schachtel Zigaretten aus seiner Shorts zu fischen versuchte.
Er zündete sich eine an, nahm einen tiefen Zug und hielt den Rauch einen Moment in der Lunge. Wenn er genug qualmte, teerschwarze Lungen bekam und begann, Blut zu spucken, würde es ihr auffallen?
Die Antwort darauf wusste er. Er könnte sich direkt vor ihr im Wohnzimmer den Bauch aufschlitzen, und sie würde nicht mit der Wimper zucken, es sei denn, er beschmutzte dabei den Teppich. Wahrscheinlich war das genauso seine eigene Schuld wie ihre. Er hatte sie schon so lange verhöhnt, dass sie den Köder nun nicht mehr schlucken wollte. Er war wie eine Krankheit, und nach all den Jahren hatte sie nun ein Immunsystem dagegen entwickelt.
Er sank auf die wacklige Kante der Hängematte, die nackten Füße auf dem Boden, und schüttelte heftig den Kopf. Das würde sein blondes Haar so wunderbar unordentlich aussehen lassen. Er gab sich jede Mühe, möglichst schmuddelig und verwahrlost auszusehen, doch leider war er genauso makellos wie sie. Ihre Familie war eine regelrechte Ralph-Lauren-Werbung, und nur er schien zu wissen, wie hässlich die Realität sein konnte.
Die Haken der Hängematte knarrten unter seinem Gewicht. Das war wirklich absurd. Er war ein Vierteljahrhundert alt. Langsam sollte er sich zusammenreißen, seine Sachen packen und sehen, dass er dieses Haus endgültig verließ. Er vergammelte hier. Die Fliegen kreisten schon um seinen Kopf.
“Verdammter Mist.” Er stöhnte gleichzeitig wütend und hilflos, ließ sich in das Netz zurückfallen und starrte durch die Äste des Baums in den wolkenlosen blauen Himmel. Ja, er sollte abhauen, aber wie konnte er das ausgerechnet jetzt machen, wo seine Schwester auftauchte? Er hegte bezüglich ihrer Motive genauso viel Misstrauen wie seiner Mutter gegenüber. Abgesehen vom Aussehen hatten er und seine Schwester einiges gemeinsam. Es gab immer irgendwas, das sie wollten, immer stand etwas auf der Tagesordnung. Und dann war da ihr Ehemann. Bret hatte Andrew Villard nur verteidigt, um seine Mutter zu nerven.
Er wollte nach seinem Glas Eiskaffee greifen und stellte fest, dass es umgekippt war. Das Gras würde wohl entweder durch das viele Koffein einen Wachstumsschub erleben oder morgen abgestorben sein. Er nahm das Glas und drehte es in den Händen, während seine Gedanken umherschweiften. Ja, seine Mutter konnte sich darauf verlassen, dass er hier war. Die Möglichkeiten, die sich durch Alisons Besuch hier auftaten, waren einfach zu gut, um sie sich entgehen zu lassen.
“Alison, der Wagen ist da. Bist du so weit?”
Andrews Stimme kam vom Ende des Flurs. Sie stand in Unterwäsche vor ihrem Ankleidespiegel – in weißem Spitzenmieder und einem Slip, der merkwürdig fremd an ihrem schlanken Körper wirkte.
Sie betrachtete ihr Ebenbild, versuchte sich vorzustellen, wie sie von ihrer Familie aufgenommen werden würde, wo sie sich selbst kaum ansehen konnte. Die Chirurgen hatten ein Wunder vollbracht. Alle Narben waren geschickt verborgen, und ihre Gesichtszüge sahen bemerkenswert natürlich aus, obwohl einige Stellen ihrer Haut sich noch immer taub und abgestorben anfühlten. Ihr Lächeln stimmte irgendwie nicht, aber sie lächelte sowieso selten.
Sie fuhr sich mit dem Finger über den Nasenrücken und die glänzenden Lippen, versuchte sich mit dem Bild, das sie da sah, anzufreunden. Es war fast unheimlich, wie sehr sie der Frau auf den Schnappschüssen ähnelte, die Andrew den Ärzten gegeben hatte. Nur war alles eine Illusion. Sie war aus so vielen unterschiedlichen Teilen zusammengenäht worden, dass sie sich kaum wie eine vollständige Person fühlte.
Außenstehende mochten sie vielleicht schön finden, doch sie selbst empfand sich eher als eine Art weiblicher Frankenstein. Im Dunkel der Nacht fühlte sie sich oft wie eine Missgeburt, und manchmal sah ihr Ehemann sie an, als wäre sie genau das.
“Alison?”, rief er wieder. “Kann ich den Fahrer nach oben schicken, damit er die Koffer holt?”
Sie war nicht angekleidet, und die Koffer lagen auf dem Boden, leer. Sie hatte den Versuch zu packen vor einer Stunde aufgegeben und gehofft, wenn sie eine Pause einlegte, sich anzog und fertig machte, würde sie anschließend in der Lage sein, es zu Ende zu bringen. Diese ganze Reise wuchs ihr über den Kopf. Sie wusste nicht einmal, welche Sachen sie mitnehmen sollte.
Sie hörte, wie jemand den Flur entlangkam, und war doch unfähig, sich zu bewegen. Sie berührte das Bettelarmband, den Pennyring. Sieh zu, dass du dich anziehst. Bedeck dich irgendwie.
In ihrem begehbaren Schrank befanden sich Stangen voller schöner Kleider, aber sie hingen an ihrem überschlanken Körper wie Säcke. Nicht einmal die Schuhe passten richtig. Sie versuchte sich auf die ungeheure Menge von Kleidung zu konzentrieren. Alles war nach Farben geordnet, nach Stil und Jahreszeit, aber sie war einfach zu durcheinander.
“Das ist zu viel für dich, was?”
Sie blickte erstaunt hoch und sah Andrew hinter sich stehen. Er wirkte wie ein riesiger Schatten auf ihrem Spiegel, fast geisterhaft, nicht wie ein Mensch. Was sie verblüffte, war sein Tonfall. Sie hätte nicht erwartet, einen Anflug von Besorgnis herauszuhören. Allerdings musste sie zugeben, dass er alles getan hatte, um ihr diese Reise zu erleichtern. Er hatte sogar einen Privatjet gechartert, damit sie nicht die Unannehmlichkeiten eines Linienfluges mit all den Sicherheitsvorkehrungen auf sich nehmen mussten.
Trotzdem vermied sie es, ihn direkt anzusehen. Sie wusste nicht, was sie in seinem Blick erwarten würde. Verachtung hätte sie nicht ertragen, aber Mitleid wäre noch schlimmer. Ihre Ehe war nie perfekt gewesen, und vor dem Unfall hatten sie sich sogar scheiden lassen wollen. Man hätte annehmen können, dies sei ein neuer Start für sie beide, doch nichts schien ferner zu liegen. Sie hatten ein Arrangement, und zwar ein ziemlich kaltblütiges.
“Ich kann nicht … es gelingt mir einfach nicht zu packen.” Sie hätte fast gelacht, das war eine so lächerliche Untertreibung. Sie hatte das Gefühl, nicht mal atmen zu können.
“Lass mich dir helfen”, bot er an. “Kannst du dich fertig anziehen?”
“Ja, natürlich.”
“Gut. Dann mach das, während ich deine Koffer packe.”
“Du weißt, was ich mitnehmen muss?”
Er grinste ironisch. “Ich habe eine ziemlich gute Vorstellung davon. Außerdem ist es in Mirage Bay Hochsommer.”
Als sie sich nicht bewegte, legte er ihr die Hände auf die Schultern und drückte sie leicht, offensichtlich, um sie zu beruhigen. Aber sie fühlte sich zu entblößt, und er berührte sie so selten, dass ihr eine Gänsehaut über den Rücken lief. Angst. Es war ein Gefühl, das ihr inzwischen nur zu vertraut war, genau wie ein Tier einen gefährlichen Geruch kannte. Doch sie würde nicht zulassen, dass es – oder er – die Kontrolle über sie gewann.
Sie blickte zu ihm hoch. “Dem Tod ins Auge zu sehen war hart. Das hier ist noch härter.”
“Familienzusammenkünfte? Es wird schon nichts schiefgehen.”
“Ich weiß nicht, was sie erwarten”, entgegnete sie frustriert. Er behandelte sie wieder so gönnerhaft, als wäre sie einer seiner Klienten. Die ganze Zeit hatte er sie so intensiv vorbereitet, dass sie sich noch gut an seine aufmunternden Worte erinnerte. Du hast eine vorübergehende Amnesie, also kann man nicht von dir erwarten, dass du dich an mehr als nur Bruchstücke aus deiner Vergangenheit erinnerst. Es wird keine Verhöre geben, also mach dich nicht verrückt. Ich habe deiner Mutter bereits gesagt, wie schwierig es für dich ist.
Er bückte sich, um ihren weißen Seidenkimono aufzuheben, der dort auf dem Boden lag, wo sie ihn fallen gelassen hatte. “Du bist eben nicht mehr dieselbe Person”, sagte er. “Wie auch? Das werden sie sofort erkennen.”
Sie nahm ihm den Umhang ab, bevor er ihr beim Anziehen behilflich sein konnte. Als sie ihn übergeworfen hatte, drehte sie sich um und schnürte den Gürtel fest. Er interessierte sich nicht für sie, nicht richtig. Er war darauf aus, denjenigen zu finden, der versucht hatte, ihm einen Mord anzuhängen. Das war jedenfalls der Grund, warum er nach Mirage Bay zurückkehren wollte. Zumindest hatte er ihr das gesagt. Doch sie hatte so ein Gefühl, dass es da noch mehr gab, dass er ihr etwas verschwieg.
Langsam drang seine Stimme zu ihr vor, tief und angespannt. “Wir müssen uns wie ein verheiratetes Paar verhalten, Alison.”
Sie blickte zu seinem Spiegelbild hinüber. Er begegnete ihrem Blick, und es fiel ihr schwer, sich diesem zu entziehen. In seinen Augen konnte sie keine Spur von Ablehnung oder Mitleid erkennen. Er wirkte sehr konzentriert, neugierig und einfühlsam, wie ein Mann, der an einer Frau interessiert ist. Doch das war alles Illusion und gehörte zu ihrer Abmachung.
“Und wie Verliebte”, fügte er dazu. “Das werden die Leute von uns erwarten.”
Sie wusste, er hatte recht. Alle würden außerordentlich neugierig sein, vor allem ihre Familie. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, wie sie das anfangen sollten und dass sie überhaupt jemanden überzeugen konnten. Es würde schauspielerische Fähigkeiten erfordern, die sie nicht besaß. Würde irgendjemand glauben, dass sie verrückt nacheinander waren, ein leidenschaftliches Paar, das die Hände nicht voneinander lassen konnte?
Julia Driscoll-Fairmont liefen Tränen über die Wangen, als sie die Flaumhärchen von ihrer Oberlippe zupfte. Eins nach dem anderen beseitigte sie die kaum sichtbaren Übeltäter und ließ dabei ab und zu einen kleinen Blutfleck zurück. Doch am meisten schmerzte es, diese irregeleiteten Haare herauszuziehen, die es wagten, aus ihrer aristokratischen Nase hervorzusprießen.
Ihre Kosmetikerin hätte diese Aufgabe sicher liebend gern übernommen, und das wäre viel schneller gegangen, außerdem mit weit weniger Schmerzen. Aber das wäre nicht der Sinn der Sache gewesen. Es hätte Julias Nerven nicht so beruhigen können, wie es das Zupfen jetzt tat.
In der vergangenen halben Stunde hatte sie an ihrem Frisiertisch gesessen, in der einen Hand den kleinen Spiegel, in der anderen die Pinzette – bei jedem ausgerissenen Härchen zuckte sie genüsslich zusammen. Wahrscheinlich gab das pro Haar jeweils eine neue Falte. Sie hatte gehört, dass körperlicher Schmerz die Produktion von Endorphinen im Hirn anregte, die süchtig machen konnten, doch das war nicht ihr Problem. Sie war keine Masochistin. Wenn überhaupt, dann hatte sie diese Besessenheit mit der Zupferei ihrer lieben verstorbenen Mutter zu verdanken.
Eleanor Driscoll war eine geborene Roosevelt gewesen, und diese damit verbundene Verantwortung hatte sie sich sehr zu Herzen genommen. Seit ihren Teenagerjahren war Eleanor Dee, wie sie von allen genannt wurde, eine Aktivistin gewesen. Sie hatte sich als eine moderne Freiheitskämpferin betrachtet, was beinhaltete, dass sie die sozial Unterdrückten verteidigte, wo immer sie sie antraf.
Eleanor Dee war eine Anhängerin des ehrenamtlichen Arbeitens und der Aufopferung. Sie verabscheute Zügellosigkeit in jeder Beziehung, dazu gehörte das Trinken, das Rauchen und natürlich die sexuelle Ausschweifung. Traurigerweise hatte Julia, ihre Tochter und einziges Kind, sie in jeder Beziehung enttäuscht, und das auf die peinlichste und schmachvollste Weise.
“Mea culpa”, murmelte Julia. Mit ihren neunundvierzig Jahren hatte sie noch immer die größten Schuldgefühle, und so würde es wohl bis zu ihrem Tod bleiben. Nur ihre Mutter und ihr hingebungsvoller Ehemann hatten gewusst, was Julia in ihren Zwanzigern getrieben hatte. Beide hatten ihr Geheimnis mit ins Grab genommen. Julia war entschlossen für ihre Fehler zu sühnen. Sie hatte ein vorbildliches Leben geführt … zumindest bis vor Kurzem. Sie hatte ihre zwei Kinder aufgezogen und war eine Säule der Gesellschaft geworden, so wie alle Driscolls und Fairmonts vor ihr. Doch all das war nicht genug Buße für den Schaden gewesen, den sie angerichtet hatte. Nichts würde das alles jemals wiedergutmachen können.
Okay, sie war schuldig, war aber auch Opfer gewesen. Man hatte sie damals schmählich im Stich gelassen. Auch deshalb zupfte Julia, um sich an den Schmerz zu erinnern, den sie damals empfunden hatte. Es hatte Zeiten gegeben, da hätte sie am liebsten jedes einzelne Haar herausgerissen, das sie am Körper besaß. Das war ihre Art sich von denen zu befreien, die ihr Herz gebrochen hatten, als sie noch eines hatte, von jenen, die sie betrogen hatten.
Als Nächstes machte sie sich an die Augenbrauen. Das war kein Zupfen, das war eine Reinigung. Und wenn die Schmerzen irgendeine Art Buße für ihre Sünden darstellten, dann war zumindest sie selbst es, die sich diese Schmerzen zufügte.
Seufzend legte sie die Pinzette weg und betrachtete ihr nachdenkliches Gesicht im Handspiegel. War dieses spinnennetzartige Ding da auf ihrer Wange ein geplatztes Äderchen?
Erneutes Zusammenzucken. Eine weitere Falte.
Der Spiegel landete mit einem Knall auf der Granitoberfläche des Tisches. Von diesem langen Sitzen in einer so unnatürlichen Position hatte sie obendrein noch Kopfschmerzen. Für so etwas war jetzt keine Zeit. Ihre Tochter und ihr Schwiegersohn kamen heute Abend. In wenigen Stunden würden sie hier sein, und sie war nicht vorbereitet. Ihr Haus befand sich in tadellosem Zustand, ihre Assistentin würde dabei helfen, die Drinks und Horsd'œuvres zu servieren. Selbst Bret war merkwürdig kooperativ. Alles war so weit hergerichtet wie möglich. Nur sie, Julia, war noch nicht bereit.
Ihr schwarzes rückenfreies Seidenkleid hing schon auf einem gepolsterten Bügel in ihrem Ankleidezimmer. Als sie den Raum betrat, betrachtete sie den schlichten eleganten Schnitt und wusste sofort, dass die phänomenale Diamantbrosche und ihre Tropfenohrringe damit hervorragend zur Geltung kommen würden.
Sie sollte sich auf diesen Abend freuen, doch alles, was sie fühlte, waren böse Vorahnungen. Sie wusste, dass es ein Wunschtraum war, wenn sie bedachte, was Alison durchgemacht hatte, doch trotzdem stellte Julia sich ihre Tochter genauso vor, wie sie ausgesehen hatte, als sie gegangen war. Geschmeidig, sorgenfrei und leuchtend wie ein Sommermorgen. Alison war mehr als nur eine Schönheit. Sie besaß Magie. Und wenn Julia sie in eine Zeitkapsel hätten stecken können, damit sie für immer und ewig die goldene Debütantin bliebe, dann hätte sie dies getan.
Das war die Fantasie einer Mutter und wahrscheinlich auch sehr selbstsüchtig, aber sie wollte lediglich ihre Tochter beschützen – vor solchen Raubtieren wie Andrew Villard. Nur weil Alison noch lebte, hieß das nicht, dass er nicht versucht hatte, sie umzubringen. Julias Verdacht war so drängend, dass sie sogar einen Privatdetektiv angeheuert hatte, um ihn auszuspionieren – und dabei einige beunruhigende Dinge hatte erfahren müssen.
Sie hatte nie verstanden, wie eine Frau mit Alisons Vorzügen sich an einen Typ wie Villard vergeuden konnte. Sie hatte diesen verrückten Traum gehabt, dass sie ein Popidol werden würde, doch Villard hatte nie beabsichtigt, ihr dabei zu helfen. Julia wusste wahrscheinlich mehr über ihn, als Alison jemals erfahren würde.
Während Julia sich ankleidete, musste sie ständig daran denken, was wohl ihre eigene Mutter von dieser merkwürdigen Wiedersehensparty gehalten hätte. Es war ein schwerer Herzanfall gewesen, der Eleanor niedergestreckt hatte, doch sie war noch lange genug am Leben gewesen, um mitzubekommen, wie ihre Enkelin sich öffentlich gegen die Wünsche ihrer Mutter stellte und mit einem Schaubudenunternehmer wegrannte.
Ja, Eleanor hatte das alles gesehen – und es auf Julias unzureichende Erziehungsmaßnahmen zurückgeführt. Sie hatte ihrer Enkelin damit gedroht, sich auf die Moralklausel zu berufen, die mit dem Treuhandfonds von über fünfzig Millionen Dollar verbunden war, der zu Alisons achtundzwanzigstem Geburtstag auf sie überschrieben werden sollte. Doch Eleanor hatte sich deshalb nie an ihren Vermögensverwalter gewandt, und das Geld wäre trotz allem an Alison gegangen, hätte diese nicht darauf verzichtet.
Julia hatte nicht so viel Glück gehabt. Eleanor hatte ihr diese Moralklausel ebenfalls auferlegt, vor zwanzig Jahren, und es so unmöglich gemacht, dass sie auch nur einen Penny von dem Fond erhielt, der zu ihrem achtundzwanzigsten Geburtstag an sie hätte gehen sollen. Und nun war das Geld in einem Treuhandvermögen angelegt, verwaltet von den Anwälten.
“Du warst in vieler Hinsicht eine herzlose Hexe, Mutter”, schimpfte Julia. “Und ich werde genauso wie du. Das muss dich doch sehr stolz machen.”
Glücklicherweise hatte Julia das Geld nie benötigt. Ihr Ehemann Grant Fairmont hatte in der Schiffsindustrie ein Vermögen gemacht und bei seinem Tod alles ihr hinterlassen. Trotzdem gefiel es Julia nicht, das Familienvermögen in den Händen von Anwälten zu wissen, die sich daraus satte Gehälter fürs Nichtstun zahlten. Das war nicht richtig. Das war nicht mal amerikanisch, und Julia hatte bereits Schritte unternommen, um den Fehler ihrer Mutter zu korrigieren.
Wahrscheinlich saß Eleanor senkrecht in ihrem Grab und heulte auf.
Julia schnaufte und hielt sich die Hand ans Ohr. “Lauter, Mom, ich kann dich nicht verstehen!”