22. KAPITEL
War sie bereits zu weit gegangen? Marnie hätte ihre letzte Bemerkung am liebsten zurückgenommen und ihm gesagt, er solle ruhig seine Reise antreten. Sie würde ihm beim Packen helfen. Er wäre zurück, bevor ihn überhaupt jemand vermissen würde, und alles wäre in bester Ordnung. Aber sie konnte sich einfach nicht beruhigen. “Bleib bei mir”, schluchzte sie.
Es kam tief aus ihrem Bauch heraus. Sie konnte nichts dagegen tun, genauso wenig wie gegen das Brennen in ihrer Kehle. Gleich würde sie losheulen.
“Fahr nicht”, brachte sie noch heraus.
Er sah sie erstaunt an. Was war nur mit ihr los? Er war ratlos. So hilflos und ängstlich kannte er sie gar nicht. Er presste die Lippen zusammen und betrachtete sie mit gerunzelter Stirn.
Und dann geschah etwas Merkwürdiges. Andrew war derjenige, der zuerst schwach wurde. Nicht etwa, dass er weinte. Er umfasste ihre Arme so heftig, dass ihr beinahe die Luft wegblieb. “Andrew?” Sie hatte sich seine Atemlosigkeit oder den schmerzvollen Ausdruck also nicht eingebildet.
“Sag nichts mehr.” Er riss sie so stürmisch und überraschend in seine Arme, dass sie nicht reagieren konnte. “Ich muss fahren, aber für deine Sicherheit ist gesorgt. Es ist alles in die Wege geleitet. Dir wird nichts passieren.”
Er war offensichtlich überzeugt von dem, was er sagte, das hörte sie an seiner Stimme, doch verstanden hatte sie nur den ersten Teil. Er würde seine Pläne nicht ändern und nach Mexiko reisen. Sie konnte nichts dagegen tun.
Marnie schmiegte sich fest an seine Brust. “Ich weiß.”
“Es wird schon alles gut”, flüsterte er. “Ich werde zu dir zurückkommen.”
Er umfasste ihre Schultern und schob sie ein Stück von sich, um ihr in die Augen zu sehen. “Das kannst du mir glauben”, betonte er.
Marnie schmiegte sich erneut an ihn, kroch förmlich in seine Arme, seufzend genoss sie die tröstliche Hitze seines Körpers. Sein Gürtel hatte sich gelöst, und sie schob die Hände unter den Bademantel, presste sich fest an seine Brust, schob die Hüften gegen seine, sehnsüchtig, voller Verlangen.
“Ah, das fühlt sich gut an”, flüsterte sie.
Sie konnte sich einfach nicht mehr zurückhalten.
Er stöhnte auf, und es hörte sich so unvorstellbar erotisch an. Sie spürte, wie er hart wurde, und der Druck an ihrem Bauch entfachte ihre Leidenschaft nur noch mehr.
Sie fürchtete sich so vor diesem Mann und begehrte ihn gleichzeitig bedingungslos. War das eine Überraschung? Ihr ganzes Leben lang hatte sie davon geträumt, mit ihm zusammen zu sein, und jetzt, wo sich ihr Traum erfüllt hatte, wollte er sie verlassen, und sie wusste nicht, wohin zum Teufel er ging – und warum.
“Wohin das auch immer führen soll”, stöhnte Andrew, “wir müssen damit aufhören.”
“Ja, aber nicht heute Abend. Du gehst weg, und was danach passiert, ist völlig unsicher, Andrew. Ich brauche das.”
Sie machte sich wieder an die Knöpfe ihrer Bluse, und bevor sie alle geöffnet hatte, half er ihr bereits, sie auszuziehen. Dann kam ihre Hose an die Reihe. Er war so erregt, dass sie einen kurzen Moment zurückwich. Erinnerungen wurden wach an hässliche Szenen, bei denen Männer sie begehrt und gleichzeitig beschimpft hatten. Männer wie Butch, die Lust auf sie hatten und sich deshalb selbst hassten.
Doch dies hier war anders. Er war anders.
Sein Bademantel rutschte zu Boden, Andrew beugte sich über sie und öffnete den Verschluss ihres BHs. Beim Anblick ihrer nackten Brüste seufzte er genüsslich auf. Diesmal zögerten sie nicht so lange wie beim letzten Mal. Er brachte sie mit seinen Händen zum Wahnsinn. Zärtlich begann er seine süße Folter, setzte seine Lippen und Zähne ein, biss sanft in ihre Brustknospen und brachte sie vor Lust zum Stöhnen.
“Ich möchte dich lieben”, sagte er leise. “Wir wissen nicht, was noch passiert, und ich brauche das.”
Sie ließ sich in den Polstersessel fallen und zog ihn zu sich herunter, zwischen ihre Beine. Das Gefühl seines Körpers auf ihr sandte heiße Schauer durch ihre Lenden. Sie konnte nicht stillhalten. Sie konnte nicht mehr warten. Es war verrückt, aber sie kam bereits zum Höhepunkt, als er in sie eindrang. Seine Bewegungen vertieften das Gefühl noch weiter. Es war wie ein Wasserfall, der durch die glatte Oberfläche eines Sees brach, bis hinunter zum Boden, bevor sich die Wucht in Wellen und Blasen auflöste.
Alles zog sich plötzlich zusammen, und Marnie vergaß zu atmen. Er nahm sie fest in seine Arme, sie ließ sich zitternd fallen, noch immer spürte sie die Zuckungen der Lust in sich. Auch wenn es um ihr Leben gegangen wäre, sie hätte sich in diesem Moment nicht rühren können. Sie hatte keine Ahnung, ob sie überhaupt jemals wieder in der Lage wäre, sich zu bewegen.
Irgendwann später, als ihre Erregung in einen angenehmen Zustand der Erschöpfung abgeflaut war, legte sie ihm die Arme um den Nacken und barg ihr Gesicht an seiner Schulter. Sie fragte sich, wie viel Zeit ihnen blieb, bis er gehen musste. Heute Nacht würde es keinen Schlaf geben, aber das war ihr egal. Sie wollte seine Hitze und Stärke spüren und jeden Trost nehmen, den er ihr geben konnte.
Morgen würde alles anders aussehen. Er wäre in einem anderen Land, und sie hatte ihre eigenen Pläne, auch wenn die Suche nach ihrer Großmutter nicht dazu gehörte. Das würde sie dem Experten überlassen, zumindest fürs Erste.
Erschrocken richtete Marnie sich im Bett auf, als sie das Tageslicht hinter den Balkonfenstern erblickte. Sie hatte erwartet, dass Andrew noch vor Morgengrauen gehen würde, hatte aber gehofft, dass er sie wecken und sich verabschieden würde, bevor er aufbrach. Sie zog seinen Bademantel über, der ihr viel zu groß war, und ging suchend im Schlafzimmer und im Bad umher. Offensichtlich hatte er bereits eine Tasche gepackt. Sonst hätte sie ihn sicher gehört.
Auf dem Nachttisch fand sie das Handy, von dem er gesprochen hatte, zusammen mit einer Nachricht, in der er erklärte, dass es eine Notruftaste hatte, mit der sie in Gefahrensituationen den Detektiv erreichen würde. Sie könne auch im internationalen Netz damit telefonieren. Er hatte ihr eine Nummer hinterlassen, unter der auch er im Notfall zu erreichen wäre. Das erleichterte sie. Ihre Glückskette war nirgends zu sehen. Er hatte sie nicht auf dem Kopfkissen liegen lassen, so wie sie befürchtet hatte.
Marnie fasste sich an den Hals und verspürte eine seltsame Leere. Den Ring hatte sie seit ihrer Kindheit immer getragen. Es war ganz normal, dass sie sich ohne ihn nackt fühlte.
Sie zog den Bademantel enger um sich und verknotete den Gürtel, während sie überlegte, was sie wohl als Nächstes tun sollte. Es war noch nicht mal sieben, und das Licht, das von draußen durch die Scheiben fiel, war noch dunstig vom bewölkten Himmel. Sie bezweifelte, dass jetzt schon jemand im Haus wach war. Wenn sie schnell handelte, konnte sie ihr Vorhaben durchführen, während die anderen noch schliefen.
Kurz darauf befand sie sich schon auf der Treppe nach unten. Leise schlich sie durch die Villa, blieb an jedem Fenster stehen, um hinauszublicken. Der Garten war riesig, obwohl das Gebäude auf einem Felsen errichtet worden war. Steingärten wechselten sich mit terrassenförmig angelegtem Rasen ab, und auf jeder Veranda standen Palmentöpfe, Hängefarne und plätschernde Brunnen. Sie hatte mitbekommen, dass ab und zu eine kleine Mannschaft kam, um die gröbsten Arbeiten zu verrichten, den Rest erledigte ein einzelner Gärtner.
Nach diesem Mann hielt sie Ausschau.
Als sie die ganze Etage überprüft hatte, stellte sie sich tief enttäuscht im Wohnzimmer ans Fenster. Sie hatte gehofft, den Mann zu treffen, den Andrew für heute angekündigt hatte. Vielleicht war es noch zu früh, oder er kam erst morgen. Sie meinte sich allerdings zu erinnern, dass Andrew von heute Morgen gesprochen hatte. Doch auf dem Grundstück war niemand.
Sie drehte sich gerade vom Fenster weg, als sie eine Bewegung wahrnahm. Ein Schatten? War es auf der Terrasse gewesen? Es hätte alles Mögliche sein können, auch ein vorbeifliegender Vogel. Sie entriegelte die Verandatür und sah sich nach allen Seiten um, bevor sie nach draußen ging.
Es herrschte gerade Ebbe, sodass die Brandung nur gedämpft zu hören war, doch Marnie dachte, sie hätte noch ein anderes Geräusch vernommen, Schritte auf einem Steinboden.
Es klang, als liefe jemand auf der Terrasse unter ihr herum, dort, wo sie gestanden hatten, als der Pflanzenkübel auf sie heruntergefallen war. Sie ging zum Geländer und sah hinunter, und da hörte sie die Schritte wieder, nur waren sie diesmal hinter ihr. Ihr Puls begann zu rasen.
Sie erwartete das Schlimmste. Für einen Augenblick wusste sie nicht, wie sie reagieren sollte. Sie hatte keine Möglichkeit, sich zu verteidigen. Wenn sie hinunterfiel, wäre das ein Sturz in sechs Meter Tiefe auf harte Schieferkacheln. Dreh dich um und nimm dir seine Augen vor, dann renne!
Sie wirbelte herum und konnte sich gerade noch bremsen, als sie das dumme Grinsen auf seinem Gesicht erkannte. “Bret?”
Alisons Bruder stolzierte auf sie zu und begutachtete ihren übergroßen Bademantel. “Na, wenn das nicht Ali ist”, sagte er. “Wie ich sehe, läufst du immer noch gern im Morgenrock herum.”
“Ich habe gerade draußen etwas gehört.”
“Also musstest du gleich rausstürmen und das untersuchen?”
Bret kam noch näher und grinste spöttisch. Er trug sein übliches Strandoutfit – Cargoshorts, ein Tanktop und Lederflipflops.
“Ich muss wieder reingehen”, sagte sie leise. Plötzlich fühlte sie sich wie ein in die Enge getriebenes Wild. Vielleicht sollte sie ihm sagen, was mit dem letzten Idioten passiert war, der sie bedrängt hatte. “Geh mir aus dem Weg.”
Natürlich tat er das nicht. Als sie um ihn herumgehen wollte, stellte er sich ihr in den Weg. Er hatte sie bisher nicht berührt, aber es schien nicht viel zu fehlen.
“Erinnerst du dich, was letztes Mal passiert ist, als du deinen Bademantel angehabt hast?”
So wie er sie dabei ansah, vermutete Marnie, dass er von Sex sprach, aber sie wagte es nicht, darauf zu antworten. Sie hatte keine Ahnung, was zwischen ihm und seiner Schwester vorgefallen war.
“Ich hatte gerade einen Wachstumsschub”, sagte er. “Und du hast damit gedroht, Mom davon zu erzählen, hast es aber nie getan. Das war das letzte Mal, dass du deinen widerlichen kleinen Bruder gequält hast, war es nicht so, Ali?”
“Ich weiß nicht, wovon du redest.”
“Das letzte Mal, dass du über Bret gelacht hast, weil er pervers ist.”
Sie sah das wilde Aufblitzen in seinen Augen und wusste, dass sie hier verschwinden musste. Er wollte keinen Sex, er wollte Rache. Er hasste seine Schwester. “Wirst du mir jetzt aus dem Weg gehen?”
“Warum so eilig? Wo ist denn das Männlein heute Morgen? Zum Segeln raus gefahren?”
“Er musste geschäftlich weg.”
“Tatsächlich? Gutes Timing.”
Bret wollte nach ihrem Gürtel greifen, aber sie schlug seine Hand weg. Dieser Lustmolch wollte ihr doch tatsächlich den Bademantel wegreißen? Zum Teufel. Vielleicht musste sie sich doch seine Augen vornehmen.
“Spielen wir jetzt die Unerreichbare?” Er lachte und stürzte sich auf sie.
Marnie sprang zur Seite und schrie laut auf, aber es war nicht Bret, der ihr einen Schreck einjagte. Ein Mann war auf die Terrasse gesprungen. Er trug Arbeitshandschuhe und Kleidung für die Gartenarbeit, aber sie hatte ihn vorher noch nie gesehen.
“Waren Sie das gerade, junge Frau?” Der Mann blieb zögernd stehen und blickte Bret misstrauisch an. “Ich dachte, ich hätte jemanden schreien hören.”
Bret warf wütend die Arme hoch. “Ja, sie hat geschrien. Sie haben sie nämlich fast zu Tode erschreckt. Wer, zum Teufel, sind Sie?”
Marnie ging schnell zu dem Mann hinüber, der außerhalb von Brets Reichweite stand. Die Handschuhe und sein um den Kopf gebundenes Tuch deuteten darauf hin, dass er zum Gärtnerteam gehörte. “Wie heißen Sie?”, erkundigte sie sich.
“Diego Sanchez”, erwiderte er. “Ich arbeite für Horton Landscaping. Kann ich irgendwas für Sie tun? Wenn nicht, dann muss ich noch ein paar Arbeiten auf der Terrasse erledigen. Die Pflanzen müssen gestutzt werden.”
“Natürlich, kümmern Sie sich ruhig um die Terrasse hier. Ich werde Ihnen nicht im Weg sein.” Sie sah Bret an. “Wenn du mich dann entschuldigst, kleiner Bruder. Ich gehe ins Haus, um mich anzuziehen.”
Mit einem kühlen Lächeln auf dem Gesicht verzog sie sich. Wenn sie sich nicht täuschte, dann arbeitete Sanchez für keine Gartenpflegefirma. Andrew hatte wie versprochen den Detektiv engagiert, und plötzlich wünschte sie, sie könnte tun, worum er sie gebeten hatte – sich verkriechen und in Sicherheit bringen. Aber sie musste sich anziehen und das Haus verlassen. Aber sie nahm sich vor, äußerst vorsichtig zu sein. Es gab offene Fragen, die sie bereits seit Monaten quälten, und sie hatte sich fest vorgenommen, die Antworten darauf zu finden, sollte sie jemals nach Mirage Bay zurückkommen. Jetzt, wo Andrew weg war, bot sich ihr vielleicht die einzige Gelegenheit dazu.