21. KAPITEL

Andrew kam aus der Dusche und trat auf den kühlen Marmorfußboden. Seine Haut war erhitzt und leicht gerötet, nachdem er sich ausführlich abgeschrubbt hatte. Zuerst warf er einen prüfenden Blick zum Badezimmerfenster, durch das fahles Licht in den Raum fiel. Es war blass gelblich, und an dem Winkel der Schatten konnte er erkennen, dass es die späte Nachmittagssonne sein musste. Wahrscheinlich war es ungefähr vier Uhr.

Dann nahm er sich ein Handtuch vom Regal. Er schlang es um seine Hüften, verknotete es und griff nach einem zweiten für seine tropfnassen Haare. Heute Mittag war er in einem Polstersessel eingeschlafen, während er darauf wartete, dass Marnie von ihrem Einkaufstrip zurückkam. Leider war er jedoch nicht durch ihr Eintreffen geweckt worden. Ein widerlicher Traum von Bret und Alison hatte ihn verschwitzt und übellaunig aufwachen und sofort unter die Dusche huschen lassen, wo er das Wasser so heiß wie möglich aufdrehte. Er hatte das Gefühl, von den Gedanken an dieses perverse Szenario vollkommen beschmutzt zu sein.

Er hätte gern geglaubt, dass es für die Fotos eine plausible Erklärung gab, fürchtete aber das Schlimmste. Bret war zweifellos ein durchgedrehtes Ekelpaket, aber was er von Alison halten sollte, wusste Andrew einfach nicht mehr. Er hatte ihr schon immer eine ganze Menge zugetraut, aber Inzest und Pornografie gehörten nicht dazu. Schlimmer noch, soweit er beurteilen konnte, brachte ihn diese Entdeckung in seiner Untersuchung kein Stück weiter, sondern hatte ihn lediglich mit Informationen versorgt, auf die er getrost hätte verzichten können. Trotzdem konnte er es nicht völlig außer Acht lassen. Wenn er es genau betrachtete, sollte er im Moment wahrscheinlich überhaupt nichts außer Acht lassen.

Andrew hatte sich gerade fertig rasiert und tupfte sich etwas Aftershave auf die Wangen, als er hörte, dass jemand das Schlafzimmer betrat. Er zog sich einen Bademantel über und ging zur Tür, um sie einen Spaltbreit zu öffnen. Es war Marnie, beladen mit Einkaufstüten. Sie und Julia schienen erfolgreich gewesen zu sein.

Er beobachtete sie, wie sie die Tüten aufs Bett fallen ließ, die Schultern rollte und sich streckte wie eine Tänzerin nach einer harten Übungsstunde. Sie wirkte angespannt. Es schien, als bedrücke sie etwas, sie sah nervös aus. Und irgendwie verändert, völlig verändert. Andrew zog sich der Magen zusammen, als er bemerkte, dass sie das Haar extrem kurz und glatt trug.

Es dauerte einen Moment, bis ihm klar wurde, was sie tatsächlich damit gemacht hatte. Die langen dunklen Locken waren im Nacken zu einem Knoten zusammengebunden. Sie hatte sie streng aus dem Gesicht gekämmt und gebändigt.

Er stieß den Atem aus, den er angehalten hatte. Verflucht.

Sie verwandelte sich vor seinen Augen. Inzwischen sah sie nicht mehr so jung aus, so wahnsinnig jung. Ihre kurze aquamarinblaue Jacke und die dazu passenden Hosen sahen sexy und sehr elegant aus, ihre Füße steckten in unglaublich hohen, spitzen Pumps aus weichem silberfarbenem Leder. Es war genau das richtige Outfit für eine Frau mit Stil und Geld. Mit sehr viel Stil und sehr viel Geld. Er wusste nicht, ob er das nun gut fand.

Himmel, wies er sich zurecht. Es wäre nicht nur dumm, sondern auch egoistisch, wenn es ihm nicht gefallen würde.

Die dunklen Schatten unter ihren Augen sagten ihm, dass sie ebenfalls nicht gut geschlafen hatte. Verdammt, warum sollte es auch nur ihm so ergehen? Bei ihr sahen die Augenränder geheimnisvoll und erotisch aus. Er fürchtete, selbst wenn sie betrunken wäre oder ein ausschweifendes Leben führen würde, sähe sie immer noch gut aus. Bis auf ein paar goldene Armreife und ihre Glückskette trug sie keinen Schmuck.

Trotzdem wirkte sie irgendwie verändert.

Es verfehlte nicht seine Wirkung auf ihn. Er beobachtete sie angespannt.

Sie legte die Jacke auf dem Bett ab und begann ihre Bluse aufzuknöpfen, ein dünnes weißes Ding mit Biesen wie bei einem altmodischen Unterkleid. Der Ausschnitt war so tief, dass man den Ansatz ihrer Brüste erkennen konnte. Ihre Haut am Dekolleté schien zu glühen, und er konnte den Blick nicht von der zarten, weichen Stelle abwenden, die im Licht sanft schimmerte.

Himmel, noch mal, Villard. Halte sie auf. Sofort. Wenn du zulässt, dass sie noch mehr Knöpfe öffnet, wirst du ihr noch die Bluse vom Körper reißen, ihren wilden, hungrigen Mund küssen und dich wieder auf sie stürzen. Du musst ihr einiges berichten, und vielleicht ergibt sich keine andere Gelegenheit mehr dafür.

Er wollte etwas sagen, bekam jedoch keinen Ton heraus. Stattdessen räusperte er sich.

Sie riss den Kopf hoch und entdeckte ihn. “Andrew? Warum sagst du nicht, dass du hier bist?”

Sie mussten reden, aber etwas in ihrem Gesichtsausdruck ließ ihn zurückschrecken. Es war sehr intensiv, ein Aufblitzen von Angst und Misstrauen, das ihn völlig überraschte.

“Das kann ich nicht leiden”, sagte Marnie und fingerte an den Blusenknöpfen herum, um sie wieder zu schließen.

Andrew sah sie verwirrt an. “Was kannst du nicht leiden?”

“Wenn du dich an mich heranschleichst, mich beobachtest. Du weißt, was ich meine.”

Offensichtlich nicht. Er betrachtete sie schweigend und forschend, als hätte er es mit einem unberechenbaren Tier zu tun. Die Knöpfe waren winzig und machten sie verrückt. Sie schaffte es nicht, sie wieder zu schließen. Sie stieß wütend die Luft aus.

Entschlossen ging er zur Hausbar hinüber und goss ein Glas Rotwein ein. Marnie schien ihn kaum wahrzunehmen. Sie hatte ihn nie zuvor Alkohol trinken sehen.

“Sagst du mir vielleicht, was los ist?”, fragte er.

Sie stand neben dem Bett und war sich unangenehm bewusst, dass ihre Bluse halb offen stand. Warum zum Teufel wandte er sich nicht ab, damit sie sie in Ruhe zuknöpfen konnte? Am liebsten hätte sie ihn darum gebeten, aber die offene Bluse war nicht das eigentliche Problem, und natürlich hatte er das auch bemerkt. Er wusste, dass etwas nicht stimmte, aber so gern sie ihn mit den vernichtenden Beweismitteln konfrontieren wollte, fragte sie sich, ob das klug wäre.

Stellte sie nun für ihn eine Bedrohung dar, jetzt, wo sie die Wahrheit kannte?

Er hielt ihr das Glas hin, und ihr wurde klar, dass er es für sie eingegossen hatte.

“Nein danke”, sagte sie brüsk. “Ich habe schon den ganzen Tag getrunken.”

“Wirklich?”

“Ja, wirklich, das gehört zum Einkaufsritual.” Sie zeigte auf die Taschen auf dem Bett und fragte sich, ob sie immer noch ein bisschen betrunken war. Damit könnte sie sich vielleicht herausreden. “Außerdem tut das Ganze dann nicht so weh.”

Er goss bereits Fruchtsaft in ein zweites Glas. Die Flüssigkeit hatte ein tiefes dunkles Rot wie Granatapfel, und der Anblick machte Marnie durstig.

“So wie ich Julia einschätze, hat sie für alles bezahlt”, sagte er, nachdem er einen Schluck probiert hatte. “Ich hoffe, dass sie auf diese Weise ihren Schmerz mildern kann.”

Es sollte ein Witz sein, doch Marnie hatte gerade zu viel von Julias Problemen kennengelernt, als dass sie darüber hätte lachen können. Es war ein merkwürdiges Gefühl, dass plötzlich Andrew der Feind und Julia ihre Verbündete war. Das Leben konnte sich von einer Sekunde auf die andere vollkommen verändern, so plötzlich wie ein aufkommender Sturm. Und genauso war es mit den Menschen, die man kannte.

Andrew genoss seinen Drink sichtlich. Es hätte genauso gut Wein im Glas sein können, so wie er damit umging. Er beugte sich darüber und atmete das fruchtige Aroma ein. Dann ließ er die Flüssigkeit sogar noch etwas im Mund auf den Gaumen einwirken, ehe er sie schluckte. Marnie musste wider Willen feststellen, dass dieses Ritual sehr erotisch wirkte. Er umfasste den Stiel des Glases mit seinen langen, starken schönen Fingern, die eine Frau in den Wahnsinn treiben konnten.

Wie gut sie darüber Bescheid wusste – sie und mindestens noch zwei weitere Frauen.

Sie raffte ihre Bluse zusammen, weil sie sich plötzlich wieder so entblößt vorkam. Allein mit ihm in diesem Zimmer, fühlte sie sich nicht sicher. So verrückt es auch scheinen mochte, sie wünschte sich, irgendwo zu sein, wo man ihr Schreien hören könnte, von wo aus sie zur Not weglaufen konnte.

Marnies Reaktion zeigte Andrew überdeutlich, dass sie irgendetwas verstört hatte, dass sie noch mehr beschäftigte als die Sorge um ihre Großmutter. Er hoffte, sie würde seinem Vorhaben zustimmen oder zumindest ein offenes Ohr dafür haben. Es gab nur eine Möglichkeit, einen Patienten ohne Familienangehörige in irgendwelchen medizinischen Einrichtungen aufzuspüren. Er musste einen Detektiv engagieren.

“Ich wünschte, ich hätte bessere Neuigkeiten”, begann er. “Ich habe sie nicht gefunden, und es ist doch nicht so leicht, wenn man sich nicht so gut auskennt. Ich möchte jemanden anheuern, vorher wollte ich aber mit dir darüber sprechen.”

“Jemanden anheuern?”

“Wir brauchen jemanden, der sich professionell darum kümmert. Ich kann nicht die Fragen stellen, die ich möchte, ohne zu viel Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Das wäre für uns beide zu riskant. Für einen Privatdetektiv ist das kein Problem. Außerdem verfügt der über die entsprechenden Kontakte und hat Zugang zu den Akten und Datenbanken.”

“Kennst du so jemanden?”

“Wenn man in der Musikbranche arbeitet, muss man solche Leute kennen”, versicherte er ihr. “Rockstars brauchen oft diskrete Hilfe, und sie geben sich nur mit den Besten zufrieden.”

Sie schien nicht besonders begeistert von diesem Vorschlag. “Keiner auf dem Flohmarkt konnte dir irgendwas über Gramma Jo sagen?”

“Sie wollte womöglich nicht, dass die anderen wissen, wohin sie geht. Ich bin sicher, dass wir sie mithilfe eines Profis finden werden.”

“Meinst du nicht, es ist riskant, jemanden anzuheuern? Vielleicht schadet es Julia oder Bret. Und, Gott bewahre, Tony Bogart würde es erfahren.”

“Ein seriöser Privatermittler kümmert sich nur um seinen Fall. Die pikanten Einzelheiten des Privatlebens der Fairmonts interessieren ihn nicht. Das würde ihn nur ablenken.”

“Na gut”, sagte sie und seufzte. “War es das, worüber du mit mir reden wolltest?”

“Zum Teil.” Er machte sich immer noch Sorgen um sie. Sie hatte sich über irgendetwas aufgeregt, doch es blieb ihm nicht mehr genug Zeit, ihr auf den Zahn zu fühlen. In Bezug auf seine eigenen Nachforschungen trat er auf der Stelle. Inzwischen war er bei dem Rückzugsplan angelangt, doch auch der gestaltete sich schwierig. Es war unerlässlich, die Einzelheiten für sich zu behalten, nicht mal Marnie durfte davon erfahren. Er konnte ihr nicht alles verraten, trotzdem war er auf ihre bedingungslose Unterstützung angewiesen.

“Ich mache mir Sorgen um deine Sicherheit”, sagte er. “Und zwar seit dieser Pflanzenkübel dich fast getroffen hätte.” Er kam zu ihr herüber und setzte sich neben sie aufs Bett. “Bogart macht mir auch Sorgen. Ich dachte, er wäre nur eifersüchtig. Inzwischen bin ich mir nicht mehr so sicher. Der Typ ist gefährlich, Marnie, und wenn er herausfindet, dass ich weg bin, verfolgt er dich womöglich. Ich möchte, dass du dich von ihm fernhältst. Am besten bleibst du hier im Haus.”

“Du meinst, ich soll das Haus nicht verlassen? Überhaupt nicht?”

“Versprich mir einfach, dass du nicht auf eigene Faust nach deiner Großmutter suchst. Das ist zu gefährlich.”

“Du meinst, jemand will mir was antun?”

“Ich weiß es nicht genau. Ich will nur sichergehen, dass dir nichts passiert, wenn ich nicht da bin.”

“Wenn du nicht da bist?”

“Ich muss nach Mexiko. Es gibt Probleme mit einem Konzert, das dort stattfinden soll, und meine Assistentin wird nicht allein damit fertig.” Er sah, wie ihr Blick immer misstrauischer wurde. Verdammt, das würde scheußlich werden. Er spürte es.

“Was für ein Problem gibt es denn?”

“Eine Art Aufruhr. Der Sänger der Band, die zum Auftakt spielen soll, liegt im Krankenhaus. Vielleicht muss ich die ganze Südamerika-Tour aus dem Programm nehmen. Ich habe einen Nachtflug gebucht.”

“Du fliegst heute Abend nach Mexiko?”

“Ich werde nicht lange brauchen. Vielleicht bin ich sogar schon morgen wieder zurück.” Nur eine Notlüge, sagte er sich.

Sie war bereits vom Bett aufgesprungen und lief barfuß auf und ab. Er glaubte, sie befürchte weitere Annäherungsversuche seinerseits. Aber da täuschte er sich gewaltig. Das wurde ihm klar, als sie stehen blieb und sich zu ihm umdrehte. Ihr vorwurfsvoller Blick sagte ihm, dass er der Grund ihrer Verärgerung war.

Marnie ging zu ihrer Handtasche und zog etwas heraus. Dann marschierte sie an Andrew vorbei zur Hausbar, griff nach der geöffneten Weinflasche und nahm einen Schluck.

“Hör zu”, sagte sie frustriert und wütend. “Bevor du irgendwohin gehst, haben wir noch eine Angelegenheit zu klären.”

“Was für eine Angelegenheit?”

Sie öffnete die Hand und zeigte ihm die Ohrstecker mit den rosafarbenen Diamanten. “Das waren ihre Ohrringe. Regines. Ich will sie nicht, vielen Dank.”

Mit einem leisen Klicken fielen die Diamanten auf die Glasplatte der Hausbar, gefolgt von einem Plopp, als sie erneut den Korken von der Flasche löste.

“Diese Ohrringe haben meiner Mutter gehört”, sagte Andrew. “Und sie bedeuten mir sehr viel.”

“Aber du hast sie Regine geschenkt. Wie konntest du sie dann unter solchen Umständen an mich weitergeben?”

“Unter welchen Umständen?”

“Unter denen sie gestorben ist.” Marnie durchquerte das Zimmer, holte die Akte und überreichte ihm die Berichte der Polizei. “Erklär mir das mal.”

Seine Gesichtszüge verhärteten sich, als er sah, was sie ihm gegeben hatte. “Woher hast du das?”

Marnie schüttelte den Kopf. Er war derjenige, der gelogen hatte. Sie schuldete ihm keine Erklärung. “Du hast behauptet, Regines Tod sei ein Unfall gewesen. In dieser Akte steht, dass du angeklagt wurdest, sie ermordet zu haben.”

“Die Anklage wurde fallen gelassen, weil ich ein Alibi hatte. Woher hast du diesen Bericht? Nein, sag es mir nicht. Von Julia, nicht wahr?”

Er warf die Papiere beiseite und ging zum Kamin hinüber, wo ein kleines Feuer knisterte. “Sie wollte mich nicht in der Nähe ihrer kostbaren Tochter haben. Offensichtlich hat sich daran nichts geändert. Meinst du, sie hat nur zufällig den Teil des Berichts weggelassen, in dem steht, dass die Anklage wieder fallen gelassen wurde?”

“Was für ein Alibi hattest du denn? Du warst also doch nicht da, als Regine ertrunken ist?”

“Nein, ich war da, halb ohnmächtig auf der Liege neben dem Pool. Alison war an dem Abend vorbeigekommen, um mit Regine einen zu trinken, und ich hatte einige Drinks zu viel, wie so oft in dieser Zeit.”

“Was hat Alison denn in New York gemacht?”

“Sie wohnte im Familienapartment und studierte an der Juilliard. Kaum war sie eingezogen, rief sie an und meinte, sie wolle unbedingt Regine kennenlernen, weil sie ein großer Fan von ihr sei. Ich wollte das eigentlich nicht, aber sie ließ nicht locker, und irgendwann wusste ich keine Ausrede mehr. Sie freundeten sich sofort an, wahrscheinlich, da bin ich sicher, weil Alison gar nicht aufhören konnte, von Regines neuer CD zu schwärmen.”

Der Zynismus über Alisons Motive war nicht zu überhören, aber sie wollte seine Rolle dabei nicht aus den Augen verlieren. “Du sagst, du hattest an diesem Abend zu viel getrunken?”

Er nickte. “Regine wollte schwimmen. Sie fragte mich, ob ich mitkommen wolle, aber ich war nicht in der Lage dazu. Alison musste ein paar Anrufe erledigen und sie ging ins Haus, um ungestört zu sein. Ich streckte mich auf einer der Liegen am Pool aus. Das Nächste, an das ich mich erinnere, ist, dass Alison mich schüttelte. Sie war ganz aufgelöst und sagte, sie habe Regine gefunden, wie sie mit dem Gesicht nach unten im Wasser trieb.”

So wie er darüber sprach, schien es, als ginge ihm der Tod seiner ehemaligen Verlobten immer noch sehr nahe. Marnie sprach ihm ihr Beileid aus, aber es fehlte das aufrichtige Mitgefühl in ihrer Stimme.

Er starrte ins Feuer. “Sie war bereits tot.”

“Warum bist du dann angeklagt worden?”

“Wegen meiner eigenen Dummheit, nehme ich an. Ich konnte mich an den ganzen Abend nur noch verschwommen erinnern. Alison verschwand, bevor die Sanitäter eintrafen. Sie musste noch etwas Dringendes erledigen, und ich sagte ihr, sie solle gehen, was ich nicht hätte tun sollen. Ich war immer noch völlig benebelt. Offensichtlich bin ich zusammengebrochen und habe den Sanitätern erzählt, es wäre meine Schuld, dass Regine tot ist. Sie dachten, das wäre ein Geständnis, und verständigten die Polizei, die mich sofort mit aufs Revier nahm und einsperrte. Als Alison auftauchte und alles erklärte, wurde die Anklage fallen gelassen.”

“Alison hat alles erklärt?”

“Sie hat an der Terrassentür gestanden, während sie telefonierte. Mich konnte sie auf dem Liegestuhl sehen, aber Regine war wohl außerhalb ihres Sichtfelds. Sie hat der Polizei erklärt, dass ich eingeschlafen sei und mich nicht von der Stelle gerührt habe. Ein Bluttest hat bestätigt, dass ich einen entsprechend hohen Alkoholpegel hatte.”

Marnie brauchte einen Moment, um das zu verdauen. Es klang irgendwie plausibel, aber sie hatte immer noch nicht alles verstanden. “Warum hast du mir das nicht erzählt?”

“Es ist kein Thema, über das ich gern spreche. Ich war stockbesoffen, als Regine ertrank. Wenn ich nüchtern gewesen wäre, wäre sie jetzt noch am Leben. Jetzt, in diesem Moment. Ich fühle mich für ihren Tod verantwortlich.”

Er klang so angespannt, als drohe er jeden Moment zusammenzubrechen. Sie hörte die Wut und die Reue in seiner Stimme.

“Du solltest wirklich versuchen, es zu vergessen”, beruhigte sie ihn schließlich. “Sicher bin ich nicht die Erste, die das sagt. Was geschehen ist, kannst du nicht mehr rückgängig machen, und es war ein Unfall.”

Er schwieg so lange, dass Marnies Gedanken zu rasen begannen. “Kann es vielleicht auch Selbstmord gewesen sein?”

“Nein, Regine hat sich nicht das Leben genommen. Das hat jemand anders für sie erledigt.”

Er hob den Kopf, und sie sah, wie er die Kiefer zusammenpresste. Marnie wusste, sie sollte nichts überstürzen, aber die Frage rutschte einfach heraus. “Jemand hat sie umgebracht? Wer?” Dann beantwortete sie die Frage selbst. “Alison?”

Er nickte. “Ich habe mich lange Zeit danach ständig in einem Alkoholnebel befunden, habe versucht, die Schuldgefühle und alle Gedanken daran zu ertränken. Alison war direkt zur Stelle, um mir dabei zu helfen, und anfangs war ich auch dankbar dafür. Erst als wir verheiratet waren und ich nüchtern wurde, dämmerte es mir. Regine stand Alisons großen Ambitionen im Weg, ihrer Karriere als Popstar – und ich war ihr Mittel zum Zweck.”

Er atmete zitternd ein. “Sie kannte keine moralischen Grenzen, kümmerte sich nur um ihre eigenen Bedürfnisse.”

Jetzt verstand Marnie die Ablehnung in seinem Blick, die unverhüllte Abneigung. Er hatte Gründe, Alison zu hassen, nachvollziehbare Gründe. Ihretwegen würde er sein ganzes Leben mit Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen ringen. Hatten ihn diese Emotionen letztlich vielleicht dazu getrieben, seinem Hass auf Alison Luft zu machen?

Wieder schossen die Gedanken wie wild durch ihren Kopf. Vielleicht war es nicht Alisons Treuhandfonds, der ihn interessierte. Vielleicht waren es Rachegefühle gewesen, die ihn zu Alisons Mörder werden ließen.

Erneut rückte sie von ihm ab, Richtung Tür. “Für manche wäre das ein Motiv, Andrew. Man könnte glauben, du hättest Alison für das bestrafen wollen, was sie Regine deiner Meinung nach angetan hat. Ist Alison deshalb ins Meer gefallen und ertrunken? Weil sie Regine umgebracht hat?”

Er wandte sich zu Marnie um und sah sie wütend an. “Wenn ich Alison hätte töten wollen, dann hätte ich sie an dem Abend mit meinen bloßen Händen umgebracht. Sie wäre in dem Moment tot gewesen, in dem ich herausgefunden habe, was sie getan hat. Ich hätte nicht fünf Jahre gewartet, um sie von der Jacht zu stoßen.”

Er kochte vor Wut. Marnie spürte seine Verzweiflung, und sie hörte sie in seiner Stimme. Er hatte es nicht getan. Vielleicht wünschte sie sich nur sehnlichst, dass es so war, aber das reichte, um ihre Angst zu besiegen.

Sie ging zum Bett hinüber und setzte sich auf die Kante. Sie fühlte sich vollkommen ausgelaugt. Julia hatte ihr einen Ausweg angeboten, aber diese Möglichkeit war nun vertan. Sie war gefangen. Sie war hier, mit ihm – und sie würde bleiben.

Sie ließ den Kopf sinken und seufzte.

“Geht es dir gut?”, fragte er.

“Nein”, entgegnete sie und schwieg. Unter den gegebenen Umständen war es unmöglich, sich gut zu fühlen, aber sie hatte ihre Entscheidung getroffen, und zumindest drehte sich jetzt nicht mehr das Zimmer um sie. Das war ihre Welt. Er war sozusagen der vertraute Fremde, dem sie ihr Schicksal anvertraut hatte.

Schließlich stellte sie die einzige vernünftige Frage, die ihr einfiel. “Fliegst du wirklich nach Mexiko wegen eines Rockkonzerts?”

“Warum sollte ich sonst fliegen?”

“Ich weiß nicht. Vielleicht um Alison zu finden? Das müsste doch dein Ziel sein, wenn du der Meinung bist, dass sie noch lebt? Sie zu finden? Andrew, bitte, sag mir die Wahrheit.”

Andrew versuchte, ruhig zu antworten. “Hör zu. Ich werde nicht nach Alison suchen. Die Chancen, dass sie noch am Leben ist, sind sehr gering, und wir müssen uns mit ganz anderen Gefahren auseinandersetzen. Und davon gibt es eine ganze Menge. Darf ich jetzt zu Ende erzählen, was ich dir zu sagen habe?”

“Andrew, hat dieser Trip mit einem Rockkonzert zu tun oder nicht?”

Ihre Augen blitzten. Blaues Feuer. Sie würde keine Ruhe geben.

“Ja, es geht um ein Rockkonzert. Ich hätte dich gebeten, mich zu begleiten, aber das wird eine hässliche Angelegenheit, und um ehrlich zu sein, ich möchte mir keine Sorgen um dich machen müssen.”

Sie schwieg nachdenklich. Schließlich nickte sie. Er wertete das als Zustimmung.

“Ich möchte, dass du in Sicherheit bist, während ich weg bin”, sagte er. “Können wir darüber reden?”

Sie presste widerwillig ihre Lippen zusammen. Bisher war sie nicht überzeugt, am wenigsten von seinen Fähigkeiten, ihr Sicherheit zu gewähren.

“Der Detektiv arbeitet mit einem Partner zusammen”, erklärte er. “Ich möchte sie beide engagieren, einen, um deine Großmutter ausfindig zu machen, den anderen, damit er dich im Auge behält, bis ich zurückkomme. Ich habe bereits alles vorbereitet. Wenn du zustimmst, wird sich morgen jemand als Gärtner vorstellen, der sich um das Grundstück kümmert, und nachts wird er das Haus beobachten. Niemand wird erfahren, warum er tatsächlich hier ist, aber du bekommst ein spezielles Handy, auf dem du lediglich eine Taste drücken musst, wenn du Hilfe brauchst und ihn erreichen willst.”

“Morgen kommt ein Detektiv hierher? Wie hast du das so schnell organisiert?”

Andrew rieb Daumen und Zeigefinger aufeinander, um in der weltweit gängigen Geste die Macht des Geldes darzustellen. “Ich bitte dich nur darum, dass du seine Tarnung nicht auffliegen lässt.”

“Selbstverständlich nicht.” Sie berührte ihre Kehle und bedeckte einen roten Fleck mit der Hand. Ein weiterer Fleck bildete sich auf ihrer Wange, es war kaum zu übersehen, wie nervös sie war. “Dazu bestand gar kein Anlass, Andrew. Um mich selbst mache ich mir keine Sorgen.”

“Was ist es denn?”

“Ich habe ein ungutes Gefühl bei alledem.” Sie stand vom Bett auf und begann wieder hin und her zu laufen. “Irgendwie ist das nicht in Ordnung.”

Er runzelte die Stirn. “Kannst du vielleicht ein bisschen genauer werden?”

“Mir gefällt der Gedanke nicht, dass irgendein Fremder meiner Großmutter hinterherjagt. Ich sollte sie suchen. Und was deine Reise betrifft, die du mitten in der Nacht plötzlich antrittst, irgendwohin, wo Leute durchdrehen – das ist einfach verrückt.”

“Der Privatdetektiv ist kein Fremder. Er ist ein Profi, und zwar der beste, den man für Geld engagieren kann. Und ich weiß es zu schätzen, dass du dir Sorgen um meine Sicherheit machst. Das ist wirklich süß von dir, aber es besteht kein Anlass. Ich kann auf mich aufpassen.”

Sie blickte ihn wütend an. “Süß? Ich? Wohl kaum. Ich bin keine Wahrsagerin wie meine Großmutter. Ich bin auch keineswegs abergläubisch, wirklich, aber das, was du da vorhast …”

Sie schüttelte den Kopf, nicht in der Lage, es richtig zu erklären. Sie machte sich anscheinend tatsächlich Sorgen um ihn. Er hätte sie daran erinnern können, dass er ihretwegen mal vier stramme junge Männer in die Flucht geschlagen hatte, aber wahrscheinlich wollte sie lieber nicht mehr daran denken, und er beabsichtigte nicht, sie in Verlegenheit zu bringen.

“Ich habe an der Uni in Cambridge geboxt”, sagte er, “und ich war ziemlich gut. Ich bin außerdem ausgebildet in Selbstverteidigung, und ich werde eine Waffe dabeihaben.”

“Was für eine Waffe?”

“Eine Pistole, halb automatisch.”

“Kannst du die mit ins Flugzeug nehmen?”

“Der Revolver und ich reisen getrennt.”

Sie hob die Augenbrauen. “Und das soll mich jetzt beruhigen?”

Einen langen Moment sah sie ihn forschend an, bis er es schließlich nicht mehr aushielt. Es war, als würde sie ihn mit einem Dolch durchstoßen. Mein Gott, ihre Blicke waren intensiv. Vielleicht war sie keine Wahrsagerin, aber sie besaß die unheimliche Gabe, in seinem Gesicht zu lesen. Und sie hatte vollkommen recht, wenn sie ein ungutes Gefühl wegen dieser Reise verspürte. Ihr Instinkt täuschte sie keineswegs.

Verwirrt beobachtete er, wie sie sich mit beiden Händen in den Nacken griff und die Kette um ihren Hals öffnete.

“Was tust du da?”, fragte er. Er spürte seinen Pulsschlag bis zum Hals. Das war nie ein gutes Zeichen.

Sie kam mit ausgestreckter Hand auf ihn zu, die zarte goldene Kette hing zwischen ihren Fingern. “Ich möchte, dass du die mitnimmst, nur für den Fall.”

“Deinen Talisman? Das kann ich nicht. Die ist von deiner Großmutter.”

“Nimm sie, trag sie. Ich möchte es so. Verdammt noch mal.”

Sie hatte einen wilden, unerbittlichen Gesichtsausdruck, doch er konnte unter dieser Fassade tiefere Gefühle erkennen, Angst, ja sogar Schmerz. Sie wollte wirklich nicht, dass er ging, und sie rang um Haltung.

Er nahm die Kette. “Danke”, sagte er, weil er nicht wusste, wie er reagieren sollte. “Ich werde sie bei mir tragen. Das verspreche ich.”

“Na gut, dann”, sagte sie heiser.

Bitte, lass sie jetzt nicht weinen. Ich weiß nie, wie ich reagieren soll, wenn diese Frau weint.

Er beobachtete sie, hoffte, dass sie den Kampf gegen ihre Tränen gewinnen würde. Er verstand immer noch nicht ganz, weshalb sie ihm ihren Glücksbringer gegeben hatte. Er musste ihr alles bedeuten. Abgesehen von der Erinnerung an ihre Großmutter hatte der Penny ihr das Leben gerettet.

Sie atmete tief durch und richtete sich entschlossen auf.

Erleichtert wollte er schon die Kette in seiner Bademanteltasche verschwinden lassen, doch sie kam ihm zuvor und hielt seine Hand fest, wie bei einem Kind, das man vor einer Dummheit zu bewahren versucht.

Wieder sah sie ihn wild entschlossen an. “Ich möchte, dass du sie trägst. Die Kette ist lang genug. Keiner wird sie unter deiner Kleidung sehen können. Hier.”

Sie nahm ihm das Schmuckstück ab und drehte ihn mit dem Rücken zu sich. Er war so überrumpelt, dass er nicht protestierte. Eine Art Lähmung hatte ihn befallen. Er war ihre Puppe, konnte sich nicht rühren, wenn sie nicht seinen Arm bewegte. Merkwürdig. Er spürte ihren Atem in seinem Nacken, als sie die Kette an seinem Hals befestigte, sich auf die Zehenspitzen stellte und über seine Schulter lugte, um zu sehen, wo der Anhänger lag.

Ihre Finger fühlten sich warm und seidig an, und ihr Atem zitterte leicht, als er sein Haar und das Gesicht streifte. Ihre Haut duftete nach Lilien. Sie machte ihn nervös.

“So.” Ihre Stimme klang tief und merkwürdig kurzatmig. “Vielleicht kann ich mich jetzt wieder ein bisschen beruhigen.”

Ja, vielleicht, aber konnte er das? Als er sich umdrehte, wandte sie den Blick ab. Er fasste sie unters Kinn und wollte ihr danken, als er das merkwürdige Aufglimmen in ihren Augen sah. Was war das für eine Mischung? Schmerz, Angst, Verlangen. Es schien in ihr zu brennen. Er war bestürzt.

“Ich kann dich nicht gehen lassen”, sagte sie. “Ich habe Angst.”

Sein Magen zog sich zusammen. “Himmel, Marnie.”