15. KAPITEL

“Um Himmels willen, Rebecca!”, rief Julia. “Wie viele Kalorien haben denn diese Apfelcroissants?”

“Kalorien? Ich weiß nicht genau. Die sind ohne Zucker.”

Rebecca ließ von dem frischen Obst ab, das sie gerade auf einer Platte dekorativ anordnete, und griff nach der Packung mit den Croissants, um nachzulesen, was die Nährwerttabelle sagte. Aber Julia wollte sich selbst überzeugen. Sie stellte ihren Kaffeebecher auf die Anrichte, wo Rebecca das Frühstücksbuffet angerichtet hatte, und riss ihr die Tüte aus der Hand.

“Ohne Zucker?” Energisch zog Julia ihre Lesebrille von ihrem Pagenschnittpony herunter auf die Nase, um die Liste der Zutaten zu studieren. “Die Kalorien sind nicht im Zucker, sie sind im Fett. Sieh dir das an – dreihundertfünfzig Kalorien pro Stück. Nur ein einziges Croissant! Die Dinger kann ich nicht essen, und du solltest besser auch die Finger davonlassen.”

Marnie stand schweigend am Fenster, eine Tasse mit dampfendem schwarzem Kaffee in der Hand. Rebecca tat ihr leid, und sie wäre ihr gerne zu Hilfe gekommen. Die blasse Assistentin wurde vor Scham tiefrot, ihr Gesicht leuchtete wie kalifornischer Mohn.

Marnie umfasste ihre Kaffeetasse und stellte sich genüsslich vor, wie sie der anmaßenden Julia den heißen Inhalt über den Kopf schüttete. Doch heute Morgen konnte sie sich keine leichtsinnigen Handlungen erlauben. Sie hätte nicht einmal zum Frühstück hier unten bei “ihrer Familie” sein sollen.

Als sie erwacht war, hatte Andrew sich bereits angezogen und das Haus verlassen. Er hatte ihr eine Nachricht hinterlassen, die besagte, dass er sich um die Angelegenheit kümmern würde, über die sie gesprochen hatten. Marnie nahm an, er wolle wegen der Geschehnisse der letzten Nacht Nachforschungen anstellen. Er hatte ihr ebenfalls nahegelegt, in ihrem Zimmer zu bleiben und sich vom Rest der Familie fernzuhalten. Sie solle behaupten, dass sie sich noch immer nicht ganz wohlfühle und sich ausruhen müsse. Er bestand darauf, dass niemand von dem Anschlag erfuhr, der auf sie verübt worden war.

Marnie blickte durchs Fenster zur Terrasse hinaus. Alle Spuren des zersplitterten Tontopfes auf den Fliesen waren beseitigt. Andrew hatte noch gestern Nacht alles aufgeräumt. Das stand in seiner Nachricht. Er war wirklich sehr gründlich gewesen, und vielleicht sollte sie froh sein, dass er sich solche Mühe machte. Er war entschlossen, dafür zu sorgen, dass ihm bei seinem Vorhaben niemand in die Quere kam, keine Sicherheitsleute oder Polizisten, nicht mal eine besorgte Julia – und ein Teil dieses Vorhabens war es, zu beweisen, dass Marnie den Mord an Butch nicht begangen hatte. Sie sollte wirklich dankbar sein – und kooperativ.

Doch sie konnte einfach diese nagenden Zweifel nicht besiegen. Zwar gab es keine direkten Verdachtsmomente, doch heute Morgen musste sie einfach dieses Schlafzimmer verlassen, in dem er sie eingesperrt hatte. Sie musste einfach raus, sich selbst ein bisschen umsehen, mit den Familienangehörigen reden und sich einen Eindruck von der allgemeinen Stimmung verschaffen.

Wegen ihrer verrückten Übereinkunft war Andrew für sie die einzige Bezugsperson geworden, und sie benötigte ganz dringend noch einen anderen Blickwinkel. Sie war viel zu isoliert, und er hatte zu viel Macht. Sie hatte keine Ahnung, worin seine Nachforschungen bestanden und ob er irgendwelche Fortschritte gemacht hatte. Er sprach nicht darüber, und sie wagte es nicht nachzufragen. Vielleicht fielen ihr nicht die richtigen Fragen ein, oder sie war sich unsicher, ob sie darüber reden sollte. Irgendwie war sie zu seiner Komplizin geworden in einem merkwürdigen Pakt des Schweigens.

Vielleicht könnte sie in Rebecca sogar eine Gleichgesinnte finden, doch Marnie musste auch bei ihr vorsichtig sein. Sie hatte von Anfang an unterschiedliche Signale von dieser Frau erhalten, besonders in Bezug auf Bret. Die beiden mochten sich womöglich auf irgendeine Weise gegen Alison verschworen haben, auch wenn das weit hergeholt schien.

Sie hob die Tasse an ihre Lippen und pustete, um den dampfenden Inhalt ein wenig abzukühlen. Der Kaffee duftete herrlich, aber er war noch zu heiß zum Trinken.

Sie hatte vorsichtigerweise Make-up benutzt, um die kleinen Hautabschürfungen an Wange und Hals zu verdecken. Glücklicherweise gab es keine weiteren sichtbaren Verletzungen. Den Schnitt an der Schläfe hatte sie mit einem Pflaster abgedeckt und das Haar darübergekämmt. Wenn es irgendjemand bemerken sollte, würde sie behaupten, sie habe den Medizinschrank offen gelassen und sich an der Tür gestoßen. Wichtig war, es nicht zu kompliziert zu machen, vor allem, wenn man ständig lügen musste. Sie hasste Lügen, und dabei basierte ihre ganze Existenz zurzeit auf einem riesengroßen Schwindel.

Doch zu ihrer Erleichterung war heute Morgen niemandem etwas Besonderes aufgefallen. Niemand hatte eine Bemerkung gemacht. Julias größte Sorge schien, ob ihre erste Party seit der Renovierung von Sea Clouds ein Erfolg gewesen war.

“Heute Morgen gibt es aber nichts besonders Aufregendes”, beschwerte sich Julia und betrachtete die Auslage an Essen mit gerümpfter Nase. “Ich habe gestern Abend verdammt noch mal zu viel gegessen. Hat dir das Dinner gestern gefallen, Alison? Ich hoffe doch, dass dir nicht vom Buffet übel geworden ist.”

Marnie sah auf, als sie bemerkte, dass Julia mit ihr sprach. “Das Essen war exzellent, und die Party auch. Wenn überhaupt, dann war es zu gut, zu viel Aufregung für jemand, der sich so lange zurückgezogen hat wie ich.”

Seitdem sie mit dem Frühstück begonnen hatten, versuchte sie Julia ständig davon zu überzeugen. Nein, Andrew und ich sind nicht frühzeitig gegangen, weil es uns nicht gefallen hat. Ich bekam Kopfschmerzen, und wir dachten, ein bisschen frische Luft würde helfen. Ja, die Dave Matthews Band war ein echter Erfolg. Überhaupt die beste Party seit eh und je, wirklich.

Julia griff nach dem Teller mit dem Obst, nahm ihren Kaffeebecher und brachte alles zu dem großen schmiedeeisernen Tisch. Sie nahm sich ein paar Melonenscheiben und Ananasringe und suchte sich schließlich noch eine riesige rote Erdbeere aus.

“Komm, setz dich, Alison, iss etwas Obst. Oder würdest du lieber draußen sitzen? Wir können auch auf der Terrasse essen.”

“Ich bin nicht richtig angezogen für draußen”, entgegnete sie und deutete auf ihre nackten Schultern. Das rückenfreie Sonnenkleid war das Einzige in Alisons Schrank, das ihr richtig passte. “Es sieht windig aus draußen.”

Julia zog die Stirn kraus. “Geht es dir auch wirklich wieder gut? Du siehst nicht unbedingt aus wie das blühende Leben. Hast du Make-up aufgetragen?”

Marnie berührte automatisch ihre Wange. “Nur ein bisschen. Ich dachte, ich könnte ein bisschen Farbe gebrauchen.”

Während Julia sie betrachtete, kam Marnie ein Gedanke. Sie verstand nicht, wie Julia nicht bemerken konnte, dass sie nicht ihre Tochter war, ihr eigen Fleisch und Blut. Marnie erinnerte sich, einmal gelesen zu haben, dass Mütter das T-Shirt ihres Kindes allein am Geruch erkennen konnten, weil eine so starke Verbindung zwischen ihnen bestand. Das war reiner Instinkt. Eine Mutter erkannte ihr Kind. Wie kam es, dass Julia nichts von dem Schwindel bemerkte, den sie ihr auftischten?

Bei den Fairmonts lag etwas fürchterlich im Argen, befand Marnie. Julia war egozentrisch und hypernervös, Bret ein rebellischer Mistkerl und wahrscheinlich stark alkoholgefährdet, und Alison … Nun, Alison war nicht anwesend, um ein Urteil zuzulassen, doch wenn sie tatsächlich getan hatte, was Andrew vermutete, dann war sie womöglich noch gefährlicher als der Rest ihrer Familie.

Marnie hatte schon als Kind begeistert gelesen, doch es war nie Geld für Bücher da gewesen. Deshalb hatte sie sich immer auf alles gestürzt, was Gramma Jo von der Leihbücherei mitgebracht hatte. Meist waren das knallharte Bücher über authentische Kriminalfälle gewesen. Gramma gefielen vor allem die Geschichten, in denen es um Serienkiller oder Psychopathen ging. Woher dieses Faible kam, war Marnie ein Rätsel, aber zumindest konnte man dabei eine Menge lernen. Sie erinnerte sich gelesen zu haben, dass Psychopathen oft Bindungsprobleme hatten. Sie waren nicht in der Lage, sich in andere Personen einzufühlen und normale Freundschaften zu schließen. Niemand wusste genau, warum. Manche von ihnen waren als Kinder missbraucht worden, aber nicht alle.

Marnie hatte sich immer gefragt, ob es möglich war, in einer wohlhabenden, alteingesessenen und privilegierten Familie Bindungsprobleme zu entwickeln. Jetzt, wo sie mit den Fairmonts zusammenlebte, musste sie diese Frage mit Ja beantworten.

“Ich habe ein paar Bagels getoastet”, sagte Rebecca, die offensichtlich versuchte, Julia mit einem Teller der belegten Brötchen wieder milde zu stimmen. “Die sind mit wenig Fettgehalt und der Rahmkäse darauf ebenfalls.”

“Vielen Dank, Rebecca, aber ich wollte kein Bagel”, erklärte Julia kühl. “Es sieht wohl so aus, als müsstest du sie allein essen, aber vielleicht war das ja so geplant?”

Marnie krallte wütend die Finger um ihren Kaffeebecher. Sie ging hinüber und nahm Rebecca den Teller ab.

“Ich liebe Bagels”, sagte sie. “Und vielleicht nehme ich noch eines von diesen Croissants. Nein, ist schon in Ordnung, Rebecca, ich bediene mich selbst. Du hast schon genug getan.”

Marnie zuckte mit einem kurzen Blick in Julias Richtung lässig die Schultern, als wolle sie sagen, was kann eine Frau, die gern isst, denn schon machen. Sie ging zur Anrichte, vor der sich Rebecca völlig verwirrt verkrochen hatte.

Marnie nahm eine glänzende unbenutzte Tasse und schwenkte sie in Rebeccas Richtung. “Kann ich dir etwas Kaffee einschenken, wenn ich schon hier stehe?”

Rebecca sah aus, als wage sie nicht, darauf zu antworten.

Julia schnaufte und legte die Melonenscheibe wieder weg, offensichtlich nicht in der Lage, in Gegenwart solcher Schwachsinnigen zu essen. Sie nahm ihren Kaffee und ging zum Fenster, wo Marnie zuvor gestanden hatte.

Das alles überraschte Marnie nicht besonders. Andrew hatte sie bereits darauf vorbereitet – und nun erlebte sie es selbst –, dass Julia trotz ihres tadellosen Benehmens in der Öffentlichkeit privat eine richtige Hexe sein konnte. Wenn sie schlecht gelaunt war, fluchte sie wie ein Seemann und beleidigte jeden, der ihr gerade in die Quere kam. Rebecca schien unglücklicherweise ihre ständige Zielscheibe zu sein. Nie konnte sie etwas recht machen. Mit Bret schien es genauso zu sein. Nur Alison war offensichtlich vor Julias Anfeindungen gefeit. Obwohl sie wegen ihrer Heirat mit Andrew von ihrer Mutter verstoßen worden war, schien sie irgendwie eine Sonderstellung bei ihr zu haben.

Als sie ihn einmal darauf ansprach, schwor Andrew, auch keine Erklärung dafür zu haben. Er sei nicht einmal sicher, dass die wahre Alison den Grund für Julias Verhalten gekannt habe. Jedenfalls war es eine konfliktreiche und außerordentlich komplizierte Mutter-Tochter-Beziehung.

Marnie kam zum Tisch zurück, ein Apfelcroissant in der Hand.

“Ich muss ein bisschen Sport treiben nach all dem Essen und Alkohol gestern Abend”, sagte Julia. “Habt ihr Mädchen nicht Lust, mit mir heute in den Fitnessraum zu gehen? Wir strampeln uns die Kalorien herunter, und fühlen uns danach alle besser.”

Sie schenkte Marnie und Rebecca ein breites Lächeln, offenbar bereit, ihnen zu vergeben, wenn sie sich im Gegenzug mit ihr im Fitnessraum marterten. Zweifellos wäre es für Julia auch eine wunderbare Gelegenheit, ihr Können an den Geräten vorzuführen.

Marnie biss in ihr Croissant und antwortete noch beim Kauen, entschlossen, den Widerstand zu zeigen, von dem Rebecca nur träumen konnte. “Tut mir leid, kann nicht”, sagte sie. “Ich muss den BMW ausleihen, um ein paar Besorgungen zu machen.”

Julia brachte ein vornehmes Schulterzucken zustande. “Natürlich, meine Liebe. Du kannst den Wagen nehmen, wann immer du möchtest. Das weißt du ja. Wie sieht es mit dir aus, Rebecca? Ein bisschen Training würde uns beiden guttun, oder?”

Marnie biss schnell noch einmal ab. Ansonsten hätte sie eine Bemerkung darüber gemacht, was der widerwärtigen Julia noch so alles guttun könnte.

Rebecca lächelte verlegen und entschuldigte sich. “Ich erwarte einen Anruf von deinem Steuerberater. Es gab eine Nachfrage vom Finanzamt, die man nicht aufschieben kann. Aber ich werde später den Fitnessraum im zweiten Stock benutzen. Ich war vor Kurzem schon mal da oben. Danke für den Vorschlag.”

Bei der Erwähnung des zweiten Stocks wurde Marnie plötzlich bewusst, dass diejenige, die gestern den Pflanzenkübel heruntergestoßen hatte, jetzt hier im Raum sein konnte. Sie war sich sicher, dass es eine Frau war, und auch wenn zahlreiche weibliche Gäste auf der Party gewesen waren, ihre beiden Gegenüber wohnten hier und kannten sich in der Villa gut aus.

Irgendwie konnte sie sich nicht vorstellen, dass Julia mit Tontöpfen warf. Sie hatte bestimmt viel effektivere Methoden, sich ihrer Feinde zu entledigen, zum Beispiel sie in Grund und Boden zu beleidigen. Und Rebecca schien ihr kaum der boshafte Typ zu sein, aber wer wusste das schon?

“Wirklich lecker, der Bagel, danke, Rebecca”, sagte Marnie und nahm nachdrücklich ihr benutztes Geschirr mit, als sie vom Tisch aufstand, in der vergeblichen Hoffnung, Julia auf diese Weise verständlich zu machen, dass Rebecca ihre Assistentin war und nicht ihre Sklavin.

Als Marnie ihr Geschirr neben das Waschbecken stellte, fragte sie sich, was Andrew wohl bei seinen Recherchen im zweiten Stock gefunden haben mochte, wenn er überhaupt fündig geworden war. Sie hatte so getan, als schliefe sie bereits, als er letzte Nacht zurückgekommen war. Ein dummes Verhalten, wie sie jetzt fand, aber sie war sich zu dem Zeitpunkt immer noch nicht klar gewesen, ob sie ihm trauen konnte.

Heute Morgen hatte sie ihn nicht mehr getroffen, doch sie würde ihn auf jeden Fall zur Rede stellen, sobald er zurückkam. Sie war ebenfalls oben gewesen, um sich umzusehen. Sie hätte sich jederzeit damit herausreden können, dass sie etwas trainieren wollte. Doch nun hatte sie andere Pläne. Sie würde sich nicht nur aus dem Zimmer wagen, sondern aus dem Haus. Andrew schien nicht bereit, über seine Nachforschungen zu sprechen, also hatte Marnie beschlossen, auf eigene Faust ein paar Erkundigungen einzuziehen. Beginnend mit dem Hauptgrund, weshalb sie überhaupt zugestimmt hatte, nach Mirage Bay zu kommen.

Woran Marnie sich sofort wieder erinnerte, als sie aus dem Wagen stieg, war die Hitze. An diesem Februarnachmittag war es quälend heiß und sehr trocken gewesen. Die Luft hatte von den Waldbränden auf den Bergen nach versengtem Land gerochen, und der heiße Sand, den die Devil Winds hereingebracht hatten, brannte sich in ihre Haut.

Doch die dichte Eiche hinter Grammas Cottage war kühl, dunkel und üppig grün, und der Tidesee glatt wie ein Spiegel. Nur ein spindeldürres Wesen, eine Schnake, glitt über die Wasseroberfläche und störte die unheimliche Ruhe.

Die Flut würde erst zum Abend genug Wasser zum Schwimmen hereingeschwemmt haben, doch Marnie konnte nicht warten. Sie würde sich wie ein Seehund auf dem Rücken treiben lassen. Das dünne Leinenhemd, das sie an so glühend heißen Tagen wie diesem gerne trug, streifte sie ab, ohne sich darüber Gedanken zu machen, ob sie unbeobachtet war …

Das Geräusch einer Autotür, die zugeschlagen wurde, riss Marnie in die Gegenwart zurück. Sie hatte die Tür selbst geschlossen. Dies war ihr Zuhause.

Sie schlug sich mit der Faust gegen die Brust, und Tränen stiegen ihr in die Augen, trotz ihres angestrengten Versuchs, sie zurückzuhalten. Sie hatte geglaubt, diesen Ort nie wiedersehen zu können. Das alte Zedernholzhaus, in dem sie aufgewachsen war und das immer noch so aussah, als würde es jeden Moment einstürzen. Die vordere Veranda war an einer Seite ein paar Zentimeter heruntergesackt, und das Vordach neigte sich in der Mitte wie ein Sonnensegel. Wahrscheinlich Termiten. Sie fraßen sich bereits durch dieses Gebäude, solange sich Marnie nur erinnern konnte.

Aber dieses Cottage hätte auch nur aus einem Haufen verrottender Holzplanken bestehen können und wäre für Marnie doch immer noch der schönste Anblick von allen gewesen. Sie verband mit ihm Erinnerungen an die besten und sorglosesten Tage ihrer Kindheit. Nichts hatte sich verändert, seit sie diesen Ort verlassen hatte. Nur sie selbst. Sie war auch einmal unschuldig gewesen.

Sie hatte versprochen, sich nicht mit ihrer Großmutter zu treffen, doch sie hatte nicht gesagt, dass sie dem Cottage fernbleiben würde, und jetzt war niemand hier.

Marnie lief auf die Veranda zu, der Staub wirbelte unter ihren Sandalen auf. Die Luft an diesem Morgen roch bereits nach der Hitze, die der Tag bringen würde. Die sengende Sonne hatte den Lehmweg in eine Staubwüste verwandelt, und die hölzerne Veranda knarrte, bevor Marnie einen Fuß darauf gesetzt hatte. Sie liebte heiße Sommertage, selbst wenn sie einen austrockneten wie eine Rosine.

Als sie plötzlich ein Lachen aus dem Inneren des Hauses hörte, hielt sie kurz inne. Es klang nicht nach ihrer Großmutter. Sie stieg langsam die Treppe hoch und bemerkte, dass die Tür nur angelehnt war. War jemand ins Haus eingebrochen?

Sie wurde wütend. Was konnte Gramma Jo schon besitzen, das für irgendjemanden von Interesse wäre? Sie war alt und arm. Es machte Marnie rasend, dass die Schwächsten ständig Angriffsziel wurden, nur weil sie sich am wenigsten verteidigen konnten. Das war fürchterlich und unmenschlich.

Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und wägte ihre Möglichkeiten ab. Sie sollte jetzt nichts Unüberlegtes tun. Vielleicht befand sich ihre Großmutter zusammen mit dem Eindringling im Haus. Allerdings bezweifelte Marnie dies. Jemand hatte ihre Abwesenheit ausgenutzt, um ins Haus zu gelangen.

Sie schlich über die ächzende Veranda zur Tür. Als sie einen Blick durch die schmale Öffnung warf, erkannte sie schockiert, dass es sich bei den Eindringlingen um einen Mann und eine Frau handelte, die in einer heißen Umarmung gefangen waren. Der Mann stand mit dem Rücken zur Tür und bedeckte die Frau fast völlig, sodass Marnie keinen von beiden erkennen konnte. Sie drückten sich an die hintere Wand der Hütte und küssten sich leidenschaftlich. Sie waren noch immer angezogen, doch das sollte nicht mehr lange so bleiben. Er hatte ihre Bluse aufgeknöpft, und sie zerrte hektisch an seinen Gürtelschlaufen, um ihm die Hose herunterzuziehen.

Marnie war sich jetzt sicher, dass ihre Großmutter nicht da war und die Eindringlinge den Augenblick nutzten. Doch sie hatten nicht vor, ihr Heim auszurauben. Sie machten daraus ein billiges Stundenhotel.

Marnie hämmerte gegen den Türrahmen. “Hallo? Ist jemand zu Hause? Josephine Hazelton?”

Aus dem Inneren der Hütte war daraufhin hektisches Gerangel zu hören. Die Frau quietschte auf und knöpfte sich in Windeseile die Bluse zu, während der Mann aus der Hintertür raste und verschwunden war, ehe Marnie ihn erkennen konnte.

Sie klopfte erneut. “Hallo? Wer ist denn da?”

Sie dachte erst, seine Partnerin würde auch versuchen, sich aus dem Staub zu machen, aber einen Augenblick später wurde die Tür aufgerissen. Die Kleidung der jungen Frau war wieder ordentlich zugeknöpft, und obwohl sie gerade in flagranti überrascht worden war, besaß Marnies Gegenüber noch nicht einmal genug Anstand, verlegen auszusehen. Das Lächeln auf ihrem Gesicht war herausfordernd, und Marnie erkannte verblüfft, wer da vor ihr stand.