30. KAPITEL

Als Marnie sich der Villa näherte, entdeckte sie schon aus der Ferne den Übertragungswagen des lokalen Fernsehsenders, der vor den Toren von Sea Clouds parkte. Daneben standen noch ein weiterer Transporter und ein Geländewagen, die ebenfalls zum Fernsehteam zu gehören schienen.

Ein paar Leute, die aussahen, als seien sie Journalisten, standen herum, unterhielten sich und tranken Kaffee. Marnie erkannte unter ihnen die große rotblonde Reporterin vom Lokalfernsehen. Einige trugen Kameras mit eindrucksvollen Teleobjektiven und sahen verdächtig nach Sensationspresse aus.

Gab es in Mirage Bay Paparazzi?

Entweder war gerade etwas Berichtenswertes in Sea Clouds passiert, oder die Nachricht von der Doppelmordanklage gegen Alison Fairmont-Villard war eine noch größere Sensation, als Marnie erwartet hatte. Schon als sie gestern das Gerichtsgebäude verlassen hatte, war sie von Fernsehteams umgeben gewesen. Merkwürdig, dass die Presse überhaupt so schnell von der Sache Wind bekommen hatte. Jemand musste ihnen einen Tipp gegeben haben, wahrscheinlich Bogart, auch wenn Marnie sich nicht erklären konnte, was er sich davon wohl versprach.

Marnie drückte auf die Fernbedienung. Als sich die Tore zur Villa zu öffnen begannen, wurde die Meute auf sie aufmerksam. Ein paar Presseleute rannten auf sie zu und versuchten ihr den Weg abzuschneiden. Es war nicht einfach, an ihnen vorbeizukommen, ohne sie anzufahren, aber sie hatte nicht die Absicht, sich von ihnen aufhalten zu lassen. Einer der Journalisten kam nahe genug, um gegen ihren Kotflügel zu treten, bevor sie ihm durch das Tor entwischen konnte. Ihr Herz klopfte dabei wild.

Verdammt noch mal. Was sollte das denn?

Sie lenkte den Wagen um die Kurve zu den Garagen hinüber, weil sie nicht nahe des Eingangs parken wollte, wo sie den Fotografen ausgeliefert gewesen wäre. Die Tore schlossen sich automatisch, aber sie war sich nicht sicher, ob nicht der eine oder andere Sensationsreporter mit auf das Grundstück gehuscht war. Glücklicherweise war die Garage sicher. Marnie wartete, bis das Tor wieder ganz unten war, bevor sie aus dem Wagen stieg.

Kurz darauf stürmte sie in die Küche, wo Rebecca gerade das Mittagessen vorbereitete. “Wo ist Julia?”

Rebecca blickte über ihre Schulter, während sie das Frühlingsgemüse für den Salat im Sieb wusch. “Deine Mutter? Die ist oben in ihrem Zimmer und macht sich fertig zum Ausgehen. Alison, stimmt was nicht?”

“Die Barbaren warten vor dem Tor!”, rief Marnie ihr im Hinausgehen zu.

Julia stand vor ihrem Schlafzimmerspiegel, als sie ohne anzuklopfen bei ihr hereinplatzte.

“Was ist da draußen los?”, wollte Marnie wissen. “Da sind lauter Fernsehteams.”

“Da bist du ja, meine Liebe. Komm her.” Julia streckte, nachdem sie sich von ihrer Überraschung erholt hatte, die Hand aus, aber Marnie reagierte nicht auf die Geste.

“Hast du gehört, was ich gesagt habe?”

“Natürlich”, erwiderte Julia gereizt und sah sie mit blitzenden Augen an. “Und jetzt komm her. Ich denke, wir sollten ein Foto von uns machen lassen, meinst du nicht? Eine Mutter-Tochter-Aufnahme? Das haben wir seit deiner Kindheit nicht mehr getan. Wir sollten uns schämen!”

“Eine Mutter-Tochter-Aufnahme?” Der Gedanke kam ihr pervers vor, aber Julia schien den ungläubigen Ausruf von Marnie anders zu interpretieren. Am liebsten hätte Marnie ihr eine Ohrfeige verpasst, um sie zur Besinnung zu bringen, aber sie befürchtete, dass Julia dann wie Glas zerbrechen würde. Sie hatte sich zum Ausgehen fertig gemacht und trug ein schickes dreiteiliges Sommerkostüm mit Bustier. Aber ihr Haar wirkte zu steif, das Make-up zu perfekt und maskenhaft. Ihr Aufzug erinnerte Marnie irgendwie an eine Rüstung.

In ihren Riemchensandaletten und dem engen Rock stöckelte Julia über den Marmorfußboden auf Marnie zu, ergriff ihre Hand und zog sie zum Spiegel zurück. “Siehst du?”, sagte sie nur.

Ihre Stimme hörte sich heiser an, und ihre Augen glänzten verdächtig, als sie sich und ihre Tochter nebeneinander im Spiegel betrachtete. Marnies Haar stand nach allen Seiten ab, und Julias Lächeln wirkte wie eingefroren. Nicht gerade die beste Mutter-Tochter-Aufnahme, aber eine gewisse Ähnlichkeit war nicht zu leugnen. Inzwischen wusste Marnie ja auch, warum. Was sie ebenfalls wusste, war, dass sie in echten Schwierigkeiten steckten. Hier war etwas fürchterlich faul.

“Da draußen stehen Nachrichtenreporter”, sagte Marnie, entschlossen, sich diesmal Gehör zu verschaffen. “Ist irgendetwas vorgefallen, während ich weg war?”

“Die Polizei war heute Morgen hier. Die CSI – na ja, du weißt schon, die Spurensucher, wie aus der Fernsehserie, die dein Bruder so liebt. Sie haben dein Zimmer noch einmal durchsucht und sind dann durch unsere Abfalleimer gegangen. In deinem haben sie was gefunden und es mitgenommen, ein Kleidungsstück.”

Himmel noch mal. Marnie hatte nicht bemerkt, dass etwas aus ihrem Kleiderschrank fehlte. Doch war jetzt tatsächlich der richtige Zeitpunkt, sich mit solchen Einzelheiten aufzuhalten – oder gar ihre Mutter zur Rede zu stellen? Es blieb ihr keine andere Wahl. Den richtigen Zeitpunkt würde es dafür wohl nie geben. Für niemanden von ihnen.

“Was genau haben sie denn im Müll gefunden?”, wollte sie wissen. “Und wie ist das dahin gekommen?”

“Das weiß ich nicht, Alison. Man hat mir nicht erlaubt, dabei zu sein. Sie sagten, ich würde sie bei der Untersuchung behindern. Deshalb haben sie mich wieder aus dem Zimmer geschickt und mir mehr oder weniger zu verstehen gegeben, dass ich ihnen aus dem Weg gehen soll.”

“War Bret da? Weiß er, was passiert ist?”

“Dein Bruder hat mir vorgeschlagen, zusammen mit ihm einen Strandspaziergang zu machen, während die Durchsuchung lief. Es war wohltuend.”

Wohltuend? “Ist Bret jetzt zu Hause?”

“Nein, er hat ein Vorstellungsgespräch in der Redaktion eines Männermagazins. Kannst du dir das vorstellen? Wenn er den Job bekommt, wird er nach New York ziehen. Er sagt, das sei schon immer sein großer Traum gewesen. Zu guter Letzt scheinen sich die Dinge für unsere Familie doch immer ins Positive zu entwickeln, nicht wahr? In der Beziehung hatte die Familie großes Glück.”

Marnie starrte sie ungläubig an. Angesichts Julias merkwürdig leerem Lächeln wurde ihr fast übel. “Was ich nicht verstehe”, sagte sie, “warum nimmst du das alles nicht ernst? Ich bin wegen zweifachen Mordes angeklagt. Vielleicht muss ich ins Gefängnis, mich erwartet womöglich die Todesstrafe.”

Julia seufzte. “Jetzt werde bitte nicht melodramatisch. Du wirst nicht ins Gefängnis kommen, nicht für eine Sekunde. Dafür sorgt dein Anwalt schon.”

Marnie verschwendete ihre Zeit nicht weiter mit Diskutieren. Menschen wie Julia glaubten, Geld könne alle Probleme lösen, oft genug war es ja auch so. Diejenigen, die es hatten, kauften das, was sie haben wollten, von denen, die nichts hatten. Ein trauriges Vermächtnis des Amerikanischen Traums. Aber diesmal würde es nichts bringen, den richtigen Anwalt zu bezahlen. Das hier war fürchterlich kompliziert.

“Es wird schon wieder alles gut”, sagte Julia.

“Nein, das wird es nicht. Du musst dich jetzt bitte hinsetzen. Ich habe dir etwas zu sagen.”

Julia blinzelte. “Kann das nicht warten? Ich bin auf dem Weg zum Lunch, und ich brauche diese Ablenkung dringend.”

Marnie baute sich vor ihr auf und versperrte Julia den Ausgang. “Nein, das kann nicht warten. Setz dich. Hast du gehört? Setz dich jetzt bitte.”

Einen kurzen Moment erschien die wahre Julia unter der polierten Oberfläche, als sie Marnie einen wütenden Blick zuwarf. Ihre Augen blitzten auf. Sie war verärgert, aufgebracht. Gut, nun würden sie vielleicht ein Stück weiterkommen.

“Ich sitze.” Julia ließ sich auf eine Couch neben dem Fenster nieder, öffnete ihre Guccitasche und nahm das Kosmetiketui heraus. “Beeil dich”, sagte sie und öffnete die Puderdose, um sich im Spiegel zu betrachten.

“Ich habe LaDonna Jeffries oder Marnie Hazelton nicht getötet.”

Julia korrigierte den Lippenstift mit ihrem Fingernagel. “Natürlich nicht. Das habe ich auch nie vermutet. Niemand glaubt das. Du bist vollkommen unschuldig. Diese Anklage ist einfach lächerlich.”

“Ich bin unschuldig, aber nicht so, wie du denkst.” Marnie zögerte und fragte sich, wie sie es ihr am schonungsvollsten beibrachte, doch dann wurde ihr klar, dass das sowieso unmöglich war. Warum sollte sie außerdem Rücksicht nehmen? Hatte Julia etwa versucht, das Kind zu schonen, das sie nicht wollte?

Der Ärger stieg wieder in ihr auf. “Ich habe LaDonna nicht getötet, weil sie mal meine beste Freundin war, und ich habe Marnie Hazelton nicht umgebracht, denn ich bin Marnie Hazelton.”

Julia blickte von ihrem Spiegel auf. Ihre Lider zuckten leicht. “Was hast du gesagt?”

“Ich bin nicht Alison. Dein Sohn hat ja schon die ganze Zeit daran gezweifelt, seit Andrew und ich hier angekommen sind.” Sie entdeckte ein kurzes Aufflammen von Verzweiflung in Julias Blick und zögerte, kämpfte immer noch gegen den Wunsch an, ihr das zu ersparen. “Bret hatte recht. Ich bin es nicht.”

“Was zum Teufel redest du denn da? Geht es dir auch gut?”

Marnie hätte fast gelacht. “Himmel, nein, es geht mir überhaupt nicht gut, aber jetzt fühle ich mich schon ein wenig besser.” Wenn Marnie ehrlich war, verspürte sie immer noch den Drang, einfach zu schweigen. Sicher würde Julia sie die Scharade fortführen lassen, sie sogar noch dazu ermuntern, aber Marnie konnte nicht weiter mit dieser Lüge leben. Natürlich würde ihr Geständnis für Andrew und sie schwerwiegende Konsequenzen haben, aber sie hatte keine Wahl. Andrew war verschwunden. Marnie musste der Tatsache ins Auge sehen, dass er genau wusste, was hier gerade geschah, und sie dennoch im Stich ließ. Vielleicht war das alles sogar von Anfang an Teil seines Plans gewesen. Seines großen Plans, in dem sie nichts weiter darstellte als eine Schachfigur. Wie auch immer, Andrew war jedenfalls nicht hier, und sie musste sich allein verteidigen, koste es, was es wolle.

Julia unterbrach Marnie nicht, während diese von ihrem morgendlichen Besuch bei ihrer Pflegegroßmutter berichtete. Sie saß Marnie vollkommen angespannt und mit versteinerten Gesichtszügen gegenüber und hörte ihr zu. Marnie schauderte unter ihrem eisigen Blick, in dem sie nichts als Ablehnung las.

“Ich weiß, was vor zweiundzwanzig Jahren in dem Haus meiner Großmutter geschah”, sagte Marnie schließlich. “Du warst schwanger, und zwar nicht von deinem Ehemann. Du warst verzweifelt – das kann ich gut nachempfinden. Dieses Gefühl kenne ich nämlich bestens.”

Sie fuhr fort, Julia von den Geschehnissen des zweiten Februar zu erzählen. Nichts, an das sie sich erinnern konnte, ließ sie aus. Egal wie schwer verdaulich die Wahrheit auch sein mochte, Marnie wusste, dass sie Julia schockieren musste, um sie wachzurütteln. Als sie ihren Bericht schließlich beendet hatte, blickte Julia sie voller Verachtung an. Sie hatte die Hände zu Fäusten geballt, und ihr Gesicht war kalkweiß vor Wut.

“Warum bist du hergekommen?”, wollte sie wissen. “Was willst du von mir? Wenn du glaubst, du kannst dich über Alisons Erbe hermachen, hast du dich getäuscht. Eher würde ich einen Killer anheuern, als dass du einen Cent davon bekommst.”

Julias Wut wirkte ansteckend. In Marnies Innerem brannte es wie ein Höllenfeuer. Am liebsten hätte sie diese Frau mit bloßen Händen erwürgt. Wie konnte sie es wagen, sie so zu beschimpfen und ihr solche Vorwürfe zu machen, nach allem, was geschehen war?

Julia war aufgesprungen. Ihre Designertasche fiel auf den Boden, und sie warf die Puderdose aufs Bett. “Kapierst du nicht, was du getan hast?”, rief sie aufgebracht. “Du hast dich mit Andrew verschworen, um mich auf grausamste Art und Weise zu täuschen. Du gibst dich als Alison aus! Damit ich glaube, meine Tochter wäre noch am Leben! Du hast mir Hoffnungen gemacht.”

Marnie schnürte es die Kehle zu. Sie hörte den Schmerz in Julias Stimme, konnte jedoch keinen Funken Mitleid für sie empfinden. Gefährlich leise erwiderte sie: “Ich bin deine Tochter. Verstehst du nicht, was du mir angetan hast?”

Julias wütender Gesichtsausdruck wich einem entsetzten Blick. Sie ließ die Mundwinkel hängen und wandte sich ab.

Marnie fragte sich, ob Julia jemals darüber nachgedacht hatte, wie es Marnie an diesem Februartag wohl ergangen war. Doch Julia schien völlig außerstande, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, ein Charakterzug, den sie ihrem Sohn vererbt hatte. Marnie empfand es als zutiefst unangenehm, mit diesen Leuten verwandt zu sein. Selbst Alison, ihre Halbschwester schien genauso krankhaft veranlagt gewesen zu sein wie der Rest der Familie Fairmont. Sie waren verdorben. Alle. Emotional verkrüppelt.

Als sich Julias und Marnies Augen trafen, lag kein Bedauern im Blick der Mutter. Sie war offensichtlich nicht gewillt, sich für irgendetwas zu entschuldigen, geschweige denn Erklärungen zu liefern. “Hat Andrew sie umgebracht?”, wollte sie wissen. “Kannst du mir das wenigstens sagen?”

“Ich weiß es nicht”, musste Marnie zugeben. “Im Moment habe ich keine Ahnung, wo er sich aufhält und was er getan hat. Ich schwöre es.”

“Was willst du von mir? Du bist hier, erzählst mir diese Geschichte. Irgendwas willst du doch.”

Marnie wünschte, sie könnte einfach den Raum verlassen und nie wieder ein Wort mit dieser Frau wechseln, aber sie hatte die Warnung ihrer Großmutter im Kopf – und die Angst, was mit Gramma Jo passieren würde, wenn Marnie ins Gefängnis musste. Bestimmt würde sie das Heim wieder verlassen müssen.

“Ich bin keine kaltblütige Mörderin”, begann Marnie. “Butch hat mich angegriffen, und ich habe mich verteidigt. Aber die Polizei wird mir nicht glauben, dass ich Marnie Hazelton bin, wenn ich es nicht beweisen kann.”

“Und wie soll ich dir dabei helfen?”

“Es gibt keine Fingerabdrücke von mir, keine Dokumente. Es ist, als würde ich nicht existieren. Gramma meint, sie hätte eine Geburtsurkunde für mich ausgefüllt und sie dir gegeben. Hast du sie noch?”

Julia wurde vor Schreck aschfahl. “Das kann doch nicht dein Ernst sein. Ist dir klar, was passiert, wenn du verkündest, dass du meine Tochter bist? Wenn die Medien das herausfinden? Kannst du dir diesen Skandal vorstellen? Seit Jahrzehnten werden die Namen Fairmont und Driscoll mit Wohltätigkeitsarbeit verbunden. Wir sind eine ehrenwerte Familie. Erwartest du etwa von mir, dass ich das alles aufgebe?”

“Du hast mich aufgegeben”, entgegnete Marnie. “Zu dumm, dass du mich nicht ganz losgeworden bist. Dann hättest du jetzt nicht diesen ganzen Ärger am Hals.”

Julia ging zur Kommode hinüber, auf der drei Karaffen mit Weinbrand in verschiedenen bernsteinfarbenen Schattierungen standen. Sie füllte sich einen Schwenker bis fast zum Rand, trank die Hälfte des Schnapses in einem Zug leer und stellte das Glas mit einem Knall wieder ab.

“Unser Gespräch ist beendet.”

“Beendet?” Marnie sah sie starr vor Schreck an. Warf Julia sie tatsächlich hinaus? Ihr Leben lag in den Händen dieser Frau. Ohne Julia hatte Marnie keinen richtigen Anwalt, keinerlei Unterstützung. Sie besaß nicht mal Geld, außer dem wenigen, das sich in ihrer Tasche befand. Und das gehörte Andrew. Sie musste Julia begreiflich machen, in welcher Lage sie sich befand. Ein Skandal war nicht zu vergleichen mit dem, was Marnie erwartete.

“Wie können wir fertig sein?”, sagte sie. “Was soll ich denn machen?”

“Das ist mir egal. Mein Leben ist ruiniert. Verlass bitte mein Haus. Ich möchte allein sein.”

Marnie nickte. Ihre Panik war jetzt erneut blanker Wut gewichen, sie kochte innerlich. Julia hatte sich nie um ihren Bastard gekümmert, warum sollte sich das ausgerechnet jetzt ändern. Es gab nichts, was Marnie sagen oder tun konnte, um die Liebe ihrer Mutter zu gewinnen. Für Julia existierte nur ihre vornehme, heile Welt. Marnie hatte dort nie hineingepasst und würde es auch nie tun. Julia hatte versucht, sie abzutreiben, und als das fehlgeschlagen war, hatte sie sie verstoßen. Marnie verstand, dass Frauen manchmal gezwungen waren, schreckliche Entscheidungen zu treffen. Sie mussten es tun, um ihr eigenes Leben zu retten. Aber Julia hatte ein hilfloses Kind im Stich gelassen, und das offensichtlich nur, weil sie den Anblick der Deformationen nicht ertragen konnte, die sie durch ihre Unverantwortlichkeit selbst verschuldet hatte.

“Ich bin schon weg”, verkündete Marnie. Sich Julias Gnade ausliefern? Auf keinen Fall. Sie drehte sich auf dem Absatz um und verließ das Zimmer. Mit dieser herzlosen Hexe und ihrer Familie war sie fertig. Fertig.

Marnie hatte ihre Koffer herausgeholt und begonnen zu packen. Währenddessen zerbrach sie sich verzweifelt den Kopf darüber, welche Möglichkeiten ihr blieben.

“Kann ich mal mit dir reden?”, rief Julia von draußen.

Marnie wandte sich vom Terrassenfenster ab, aus dem sie das halbe Dutzend Leute beobachten konnte, das immer noch vor dem Eingangstor stand, obwohl bereits die Sonne unterging.

Julia an ihrer Tür konnte nichts Gutes bedeuten.

Marnie öffnete ihr und bemerkte, dass sie so etwas wie ein Friedensangebot mitbrachte, ein Tablett mit Essen.

“Rebecca meint, du wärst heute nicht unten gewesen, um zu essen”, sagte Julia. “Wahrscheinlich bist du schon am Verhungern. Ich habe etwas für dich vorbereitet.”

Marnie warf einen skeptischen Blick auf die Krabben und den marinierten Spargelsalat. “Du hast das gemacht? Ich habe vorhin gesehen, wie Rebecca den Salat wusch.”

“Was soll das heißen? Ich kann auch einen Salat zubereiten.”

“Ich habe keinen Hunger”, sagte Marnie, aber ihr knurrender Magen verriet sie.

“Natürlich willst du was essen”, widersprach Julia. “Lass mich rein. Ich muss mit dir über unser Gespräch von vorhin reden. Vielleicht habe ich eine Lösung, die für uns beide vorteilhaft ist.”

Misstrauisch trat Marnie zur Seite und ließ sie herein. Julia stellte das Tablett auf den Tisch neben dem Kamin.

“Bedien dich”, sagte sie. “Bitte. Ich möchte gern, dass du was isst. Währenddessen kann ich dir meinen Vorschlag unterbreiten.”

Marnie war nicht ganz wohl bei dem Gedanken, dass Julia ihr irgendeinen Lösungsvorschlag machte, aber ihr knurrender Magen zwang sie in die Knie. Sie ließ sich aufs Sofa sinken und machte sich hungrig über die Speisen auf dem Tablett her. Die Krabben waren köstlich, aromatisch und saftig, der Spargel knackig, und die Soße schmeckte leicht nach Zitrone. “Das ist sehr lecker.”

“Ich werde es Rebecca sagen”, erklärte Julia mit einem Schulterzucken. “Sie hat es zubereitet.”

“Dachte ich mir.” Marnie beschäftigte sich eingehend mit ihrer Mahlzeit und genoss jeden Bissen. Die Möglichkeit, dass sie gerade vergiftet wurde, versuchte sie weitestgehend auszublenden.

Julia wanderte im Zimmer auf und ab, sah sich unauffällig ein bisschen um und ließ Marnie Zeit zum Essen.

Schließlich hielt Marnie es nicht länger aus. “Weshalb willst du mich denn nun sprechen?”

Julias Gesicht blieb ernst. Offensichtlich machte ihr die Situation zu schaffen. “Ich bin sicher, dass Alison nicht mehr lebt, und ich habe den Verdacht, dass Andrew es war. Das habe ich von Anfang an vermutet. Er hatte ein Motiv und die Möglichkeit. Ich habe darüber nachgedacht, und dabei ist mir ein Gedanke gekommen. Andrew hat mir eine Tochter genommen, aber er hat mir eine andere gegeben.”

Marnie legte ihre Gabel zur Seite. Wovon zum Teufel redete sie?

“Ich möchte dich zur Tochter haben. Ich will, dass du Alison bist. Du hast bereits dein ganzes Leben umgekrempelt, um in ihre Rolle zu schlüpfen. Warum solltest du nicht damit weitermachen. Es wäre wirklich ein wundervolles Leben – und eines, das du verdienst, nach allem, was du durchgemacht hast.”

“Weiterhin als Alison leben?”

“Und als meine Tochter.”

“Was ist mit Andrew? Welche Rolle spielt er dabei?”

“Diese Entscheidung musst du fällen. Um ehrlich zu sein, es wäre mir lieb, wenn du ihn verlassen würdest. Ich glaube, du bist bei ihm nicht sicher, nicht mal hier. Ein Mann, der seine vermisste Frau durch eine andere ersetzt, ist zu allem fähig. Aber das ist deine Sache. Ich werde dir da nicht reinreden.”

“Und was müsste ich machen?” Sie zögerte, dann wiederholte sie Julias Worte von vorhin. “Du bist hierhergekommen, also willst du doch irgendwas.”

“Ich möchte, dass du den Prozess durchziehst und dich von James Brainard verteidigen lässt. Es ist einfach unmöglich, dass er dich nicht freibekommt. Er ist der Meinung, dass sie die zweite Anklage fallen lassen. Es gibt keine richtigen Beweise. Und er ist sicher, dass er die erste abwehren kann.”

“Und wenn er gewinnt und ich frei bin?”

“Der Trustfond gehört dir. Mehr als fünfzig Millionen Dollar, alles deins, niemand wird es dir streitig machen. Ich bitte dich nur, niemandem deine wahre Identität preiszugeben, vor allem nicht Bret. Ich habe meine besonderen Gründe, dich darum zu bitten. Und natürlich möchte ich, dass wir weiterhin eine Beziehung pflegen. Es gibt so viel, was ich dir zu geben habe, was ich dir beibringen kann. Und ich sehe das als meine Chance, wiedergutzumachen, was ich …”

Marnie musste nicht lange darüber nachdenken. Andrew hatte sie ohnehin verloren, und bereits bevor sie nach Mirage Bay gekommen war, war ihr klar gewesen, dass Geld ihr Leben nur komplizierter machen würde. Zumindest dafür waren die Fairmonts das beste Beispiel.

“Ich wünschte, ich könnte darauf eingehen, aber das kann ich nicht”, sagte sie entschieden. “Ich weiß, dass es alles so viel leichter machen würde.”

Julia versteifte sich. Offensichtlich war sie es nicht gewohnt, bei jemandem abzublitzen. “Warum kannst du es nicht tun?”

Marnie war überrascht, dass Julia das nicht verstand. “Ich will mein Leben nicht als jemand anders leben, ständig lügen müssen und den anderen etwas vormachen, immer wieder auf der Hut sein müssen, dass ich mich nicht verrate. Keine noch so große Geldsumme kann das ausgleichen. Egal, welcher Situation ich mich stellen muss, ich tu es lieber offen und direkt. Ich weiß, wer ich bin. Vielleicht ist das aus deiner Perspektive nicht viel, aber zumindest kann ich mich darauf verlassen.”

Ohne jede Verbitterung fügte sie hinzu: “Das ist nicht böse gemeint, Julia, aber ich weiß verdammt noch mal überhaupt nicht, wer deine Tochter Alison wirklich war.”

Julia atmete tief durch. “Lass dir bitte etwas Zeit, darüber nachzudenken.”

“Ich brauche nicht darüber nachzudenken.”

“Na gut, dann bereite dich darauf vor, dich folgender Situation offen und direkt zu stellen. Ich feure deinen Anwalt und ziehe die Kaution zurück. Viel Glück, Marnie.”

Gleich nach diesem Schuss ließ sie die nächste Bombe platzen. “Ach, und übrigens hat James heute Nachmittag angerufen. Er sagte, bei der Pistole in deinem Nachttisch handelt es sich eindeutig um die Mordwaffe – und das Labor hat herausgefunden, dass der Knopf, der am Tatort lag, eindeutig zu der blauen Strickjacke gehört – deiner blauen Strickjacke –, die man im Müll hinter dem Haus gefunden hat.” Sie lächelte kalt. “Er meint, die Staatsanwältin verlangt die Todesstrafe. Natürlich ist das nur ein Bluff, aber andererseits … Man weiß ja nie.”

Marnie drehte sich der Magen um. Sie befürchtete, die Krabben und der Spargelsalat würden wieder retourkommen. Sie lehnte sich auf der Couch zurück, atmete tief durch und betete, dass sie sich nicht übergeben musste. Julia spielte ein skrupelloses Spiel mit ihr, aber das durfte sie nicht weiter verwundern. Nichts, was sie tat, durfte sie verwundern. Die Frau hatte eine Menge zu verlieren.

Julia ging zur Tür und blieb stehen, als sie die Koffer entdeckte, die Marnie bereits aus dem Schrank geholt hatte. “Koffer?”

“Ich bin auf dem schnellsten Wege draußen”, versicherte Marnie ihr. “Gib mir eine Stunde, mehr benötige ich nicht.”

“Die Presseleute sind immer noch da draußen. Wenn sie dich mit dem Gepäck aus dem Haus gehen sehen, erregt das Aufsehen. Ich denke dabei nicht allein an mich, wirklich. Das wäre auch für dich ungünstig. Sie werden dich verfolgen und dir die Hölle heiß machen.”

Da hatte sie wohl recht, vor allem, wenn man bedachte, was vorhin bei ihrer Rückkehr nach Hause los gewesen war. “Was schlägst du vor?”

“Bleib hier, bis sich alles etwas beruhigt hat. Und erzähle keinem dieser Geier, wer du wirklich bist. Wenn du dein Geheimnis nicht deinetwegen bewahren willst, dann tu es für mich.”

“Warum sollte ich irgendetwas für dich tun?”, fragte Marnie.

“Weil ich deine Mutter bin.”

“Du warst mir nie eine Mutter und wirst es auch nie sein. Ich bin dir nichts schuldig.”

Einen kurzen Moment erschien ein verletzter Ausdruck auf Julias Gesicht, bevor sie wieder ihre unbewegte Maske aufsetzte. “Ganz wie du wünschst”, sagte sie und verließ das Zimmer.