10. KAPITEL
Tony hätte Andrew Villard am liebsten dafür gedankt, dass er der einfachste Überwachungsfall seiner Laufbahn war. Er hatte in seinem Mietwagen in einer Seitenstraße am Fuß des Berges gesessen, als Villard vorbeifuhr. Tony hatte den Mercedes-Geländewagen gleich als eines der Autos aus dem Fairmontstall erkannt. Eine kleine Leihgabe des Hauses im Wert von mehreren hunderttausend Dollar. Und bestimmt leicht zu ersetzen, dachte er säuerlich, so wie alles, was Reiche besitzen. Alles nur Spielzeug, das man wegwarf, wenn es langweilig wurde.
Er war Villard in einigem Abstand gefolgt, immer darauf bedacht, ein paar Autolängen Sichtschutz zu halten. Tony hatte die ganze Nacht darauf warten müssen, bis jemand das Fairmontanwesen verließ. Leider war es Andrew. Es würde ihm nicht so viel Spaß machen, ihn zu nerven, wie Alison, doch Tony hatte eine kleine Überraschung parat.
Er nahm sich Zeit und schlenderte lässig über die verwitterten Holzplanken. Im Gegensatz zu den meisten anderen Einheimischen konnte er von sich nicht behaupten, Salzwasser in den Adern zu haben. Er mochte den Geruch bei Ebbe nicht. Doch er wollte diesen Moment auskosten, sich Zeit lassen, damit Villard ordentlich ins Schwitzen geriet. Einen Verdächtigen einzuschüchtern liebte jeder Kriminalbeamte, der seine Abzeichen wert war, auch wenn die meisten es nicht zugeben würden.
Angst hatte keinen speziellen Geruch. Das war ein Märchen. Aber Angst konnte man sehen. Die Augen glänzten unnatürlich, und die Haut wurde aschfahl. Die Leute trockneten aus wie eine Schnecke in der Sonne und begannen dann, sich die Lippen zu lecken. Manche brachten nicht mal einen richtigen Satz heraus.
Tony liebte es, diese Anzeichen zu beobachten. Es war eine der wenigen Situationen, die ihm das Gefühl verliehen, die Szene zu beherrschen. Fast so gut wie den Finger auf den Abzugshebel zu legen. Der Anblick eines Revolvers wirkte bei solchen Arschlöchern, die nicht den nötigen Respekt zeigten, wahre Wunder.
Es war keine Frage, wie die Hierarchie im wirklichen Leben aussah: Das Gesetz regierte. Selbst die Reichen befanden sich in dieser Hackordnung weit unten. Sicher, sie hatten ihre Bonzen-Anwälte, doch heutzutage, mit den öffentlichen Verhandlungen und Fernsehgerichten, hatte das auch nichts mehr zu bedeuten. Jeder musste sich der Medienmacht beugen, und es gab kaum etwas, das Tony mehr liebte, als zuzusehen, wie so ein Bonze öffentlich vorgeführt wurde.
Villard sprang von der Jacht und kam auf ihn zu. Er sah allerdings nicht aus wie ein Mann, der sich in die Enge getrieben fühlte. Na gut, Tony war immer bereit, es auf die harte Tour zu machen, vor allem wenn er bewaffnet war und der andere nicht. Villard trug Kakishorts, ein weißes T-Shirt und Segelschuhe. Etwas schwierig, bei den wenigen Klamotten noch eine Waffe unterzubringen, es sei denn, die Kanone steckte in seinem Hintern.
Tony blieb stehen und wartete, bis Villard zu ihm kam. Das war auch so ein kleiner Trick, doch irgendetwas an Villards Haltung gefiel ihm nicht. Er besaß nicht den kalten harten Blick eines Killers. Das war noch so ein Märchen. Mörder hatten tränende Augen wie Wiesel, und im Grunde waren es Feiglinge. Doch Villard machte den Eindruck, als könne er sich ganz gut wehren – und als würde er einen Scheißdreck auf irgendwelche Hierarchien geben.
Er durfte ihn nicht unterschätzen.
“Haben Sie hier ein Schiff, oder stehe ich unter Bewachung?”, fragte Villard.
Tony grinste. “Haben Sie denn was getan, das Anlass zu einer Überwachung gäbe? Ich höre mir gern Ihr Geständnis an.”
Villard warf ihm nur einen geringschätzigen Blick zu. “Dies ist ein Privatklub, und irgendwie habe ich meine Zweifel, dass Sie hier Mitglied sind.”
Arrogantes Arschloch. Tony setzte eine entschuldigende Miene auf. “Das Tor war nicht verschlossen, und ich habe Sie eben gerade gesehen. Ich parke auf der anderen Straßenseite.” Er trat einen Schritt zurück, grinste und trat von einem Fuß auf den anderen, als hätte er vor, gleich wieder zu gehen. “Und Sie haben ja gesagt, wenn ich Fragen bezüglich Ihrer Frau hätte, solle ich mich an Sie wenden.”
“Was ist mit meiner Frau?”
“Nun, ich wollte es eigentlich gar nicht erwähnen”, begann er und schielte neugierig zu seinem Gegenüber hin, “aber ich konnte nicht umhin, festzustellen …”
“Was festzustellen?”
“Dass da irgendwas mit ihr nicht stimmt.”
“Wovon reden Sie überhaupt?”
Tony zuckte mit der Schulter. “Sie wissen doch, was ich meine. Sie ist ganz anders.”
Villard sah ihn ungerührt an. “Niemand wird erwarten, dass sie genauso ist wie früher. Sie hat eine Menge durchgemacht.”
“Mir machen Sie nichts vor. Ich kannte diese Frau, und sie hat sich verändert. Sie mag es nicht, wenn man sie ansieht. Sie wendet sich dann immer ab. Alison hat sich sonst immer gern bewundern lassen.”
“Ich denke, wir sollten diese Unterhaltung beenden.” Villard ging wieder zu seinem Einmaster hinüber. Er begann die Halteleinen zu lösen.
Tony schlenderte hinter ihm her. “Fahren Sie raus?”
“Ich habe plötzlich das Bedürfnis nach frischer Luft.”
“Tatsächlich? Ich dachte schon, es hätte was mit dem Bedürfnis zu tun, zum Tatort zurückzukehren.”
“Es gibt keinen Tatort, Bogart, es sei denn, Sie wissen etwas, was ich nicht weiß.” Villard drehte sich um. “Und außerdem könnte es ja genauso gut sein, dass Sie es sind, der zum Tatort zurückkommt, oder?”
“Ich? Warum sollte ich Alison was antun? Übrigens wollte ich Ihnen noch zu Ihrer Hochzeit gratulieren. Hätte ich gestern machen sollen. Wie unhöflich von mir.”
Villard sah ihn verächtlich an. “Himmel noch mal, sind Sie immer noch scharf auf meine Frau? Das ist ja erbärmlich, Bogart. Werden Sie erwachsen, und machen Sie, dass Sie wegkommen.”
Tony wollte lachen, aber er brachte nur ein peinliches Krächzen heraus. Seine Stimme versagte wie bei einem Teenager. Wut stieg in ihm auf. Verdammter Mist.
Als Tony sich wieder gefangen hatte, stand Villard bereits auf dem Boot und bereitete sich darauf vor, den Hafen zu verlassen. Tony schwieg und beobachtete, wie leicht und routiniert Villard die Jacht manövrierte. Er sah aus wie ein Profi, jemand, der das Segeln von der Pike auf gelernt hatte. Wahrscheinlich kannte er alle Strömungen – und die richtige Stelle, an der man jemanden über Bord werfen konnte, sodass er nie wieder gefunden wurde.
Nur dass dieser Jemand wieder aufgetaucht war – und zwar lebend. Von Villard selbst entdeckt. Das passte für Tony irgendwie nicht ins Bild, aber deshalb war er ja zum FBI gegangen. Er liebte ein gutes Rätsel.
Tony spürte das Vibrieren seines Handys in der Gürteltasche. Er blickte aufs Display, sah, dass es ein unbekannter Anrufer war, und presste die Annahmetaste. Das könnte sein anonymer Informant sein.
“Bogart”, meldete sich Tony. Überrascht bemerkte er, dass seine Hand leicht zitterte. Er hatte schon öfter mit Informanten gearbeitet, doch bei keinem Fall war Tony so sehr an der Sache persönlich interessiert gewesen. Das war seine Chance, auf den verschiedensten Ebenen Gerechtigkeit einzufordern.
“Sie hat zwei Morde auf dem Gewissen”, flüsterte jemand an seinem Ohr, “und sie wird bald wieder töten. Diesmal hat sie jemanden ins Visier genommen, den Sie kennen und lieben.”
“Wer hat zwei Morde auf dem Gewissen?”, fragte Tony.
“Das wissen Sie doch bereits”, ertönte die Stimme spöttisch.
“Reden Sie von Alison Fairmont? Wen hat sie noch im Visier?”
“Das wissen Sie auch schon. Haben Sie was an den Ohren?”
Die Verbindung wurde unterbrochen, und Tony tippte den Code ein, der seinen Handyservice aufforderte, die Nummer des Anrufers auszumachen. Diese Einrichtung war normalerweise für Fälle von telefonischen Drohungen und Belästigungen gedacht, doch das war die einzige Möglichkeit, die Tony im Moment hatte. Seit er vom FBI beurlaubt worden war, hatte er keinen Zugang mehr zu deren elektronischen Überwachungssystemen.
Der Anrufer klang wie eine Frau, aber es gab eine Menge Möglichkeiten, seine Stimme zu verstellen. Jemand, den er kannte und liebte? Tony musste lachen. So jemanden gab es nicht, wenn er sich selbst mal aus dem Spiel ließ.
Sein Grinsen verschwand, als er sah, wie Villard das Boot aus dem Hafen des Jachtklubs lenkte und in Richtung der Riffs fuhr. Das wurde ja immer interessanter. Vielleicht sollte er Villard ja dankbar sein, dass er seine schöne Frau aus dem Wasser gezogen und nach Hause gebracht hatte, sodass Tony die Möglichkeit erhielt, ihr alles heimzuzahlen.
Von wem auch immer dieses Haus entworfen wurde, er hatte die Straßenschilder vergessen.
Marnie hatte sich auf der Suche nach Julias Zimmer in Sea Clouds verlaufen. Ihr Hautausschlag war endlich zurückgegangen, die Nerven etwas beruhigt, aber das hatte fast vierundzwanzig Stunden gedauert. Andrew hatte sie immer entschuldigt, doch heute Morgen war er mit dem Versprechen, etwas über ihre Großmutter herauszufinden, früh aus dem Haus gegangen.
Jetzt war es fast zwei Uhr nachmittags, und das Haus kam ihr ungewöhnlich ruhig vor. Marnie wollte wissen, wohin denn alle verschwunden waren. Sie hielt es nicht mehr länger aus, einfach herumzusitzen und auf Andrew zu warten.
Sie glaubte, es wäre eine gute Idee, sich ein bisschen mit Julia zu beschäftigen. Vielleicht fanden sie ja sogar irgendwie eine gemeinsame Basis. Doch dazu müsste sie erst mal ihr Zimmer finden. Wenn sie früher als Kind das Gebäude von außen betrachtet hatte, war ihr Blick immer auf diesen Raum im ersten Stock mit den riesigen Palladiofenstern und den romantischen schmiedeeisernen Balkonen, von denen aus man den Ozean überblickte, gefallen. Doch dieses Zimmer hier drinnen zu suchen, war wie ein Gang durch ein Labyrinth.
Der erste Stock bestand aus zwei Flügeln mit Räumen, die einen spektakulären Ausblick sowohl aufs Meer als auch auf die Berge boten. Auf dem Weg von dem einen Flügel in den anderen kam Marnie an dunklen Nischen mit unbewohnten Gästezimmern vorbei. Schließlich fand sie einen breiten Flur, an dessen Ende sich eine Doppeltür befand. Das sah sehr vielversprechend aus.
Sie hatte die ganze Nacht wach gelegen, sich über ihre Entscheidung Gedanken gemacht und über diese groteske Lüge, mit der sie lebte. Doch das war wohl unvermeidlich. Sie konnte Julia nicht die ganze Wahrheit sagen, doch sie könnte ihr vielleicht gestehen, dass sie befürchtete, ihren Erwartungen nicht zu entsprechen. Das stimmte ja auch, und eine richtige Tochter hätte unter diesen Umständen sicher dasselbe empfunden.
Als Marnie sich der Flügeltür näherte, hörte sie von drinnen Stimmen.
“Da ist was ganz offensichtlich nicht in Ordnung. Merkst du das nicht? Sie verläuft sich im Haus. Manchmal sieht sie sich um, als wäre sie noch nie hier gewesen.”
Marnie ging weiter und horchte. Es war Brets Stimme.
“Du kannst nicht von ihr erwarten, dass sie die alte Alison ist, nach allem, was sie durchgemacht hat”, entgegnete Julia.
“Wer sagt denn, dass ich die alte Alison gern wiederhätte? Ich habe dieses Miststück gehasst – und sie mich. Aber irgendwas stimmt an ihr nicht. Findest du das nicht komisch, dass sie sich an uns, ihre Familie erinnert, aber das Haus vergessen hat, in dem sie aufgewachsen ist?”
“Bret, du sollst deine Schwester nicht Miststück nennen. Das ist eine widerliche Gossensprache.”
“Woher wollen wir denn wissen, dass sie meine Schwester ist?”
Marnie betrat den Raum und zögerte kurz. Sie fragte sich, wie sie reagieren sollte, wenn sie entdeckt wurde. Julia saß an ihrem mit einer Marmorplatte bedeckten Schreibtisch vor dem Balkon, von dem aus man das Meer überblicken konnte. Das war tatsächlich der Raum, den sich die viel jüngere Marnie damals vorgestellt hatte. Das Innendekor erinnerte sie an eine mediterrane Luxusvilla. Weitläufig und elegant, überall Säulen und Bögen. Wenn sie auf den glänzenden Marmorboden blickte, wurde ihr fast schwindlig.
Bret saß zurückgelehnt in einem Sessel, die Füße auf dem Schreibtisch seiner Mutter, wahrscheinlich, um sie zu ärgern. Keiner der beiden hatte Marnie, die noch hinter ihnen an der Tür stand, bemerkt.
Julia kritzelte ein paar Notizen auf ihren Block. “Daran sollte besser kein Zweifel bestehen”, erwiderte sie. “Ich plane nämlich für das kommende Wochenende einen nachträglichen Hochzeitsempfang für sie und Andrew. Das wollte ich ihnen heute Abend beim Dinner sagen.”
Marnie konnte nicht glauben, was sie da hörte.
Bret schien ebenso erstaunt zu sein. “Du schmeißt eine Party für die beiden? Ich würde sie an deiner Stelle nicht auf die Gesellschaft loslassen. Das wäre ja schrecklich.”
Julia sah von ihren Notizen auf. “Was willst du damit sagen?”
“Sie ist doch peinlich. Hast du gesehen, wie sie ihr Glas beim Dinner gehalten hat? Das war ein 1996er Chevalier Montrachet, und sie hatte ständig die Finger um den Kelch, sodass der Wein ganz warm wurde. Alison hätte so was nie getan”, betonte er. “Und sie war auch nicht so verklemmt und verängstigt. Sondern hat sich verhalten wie eine richtige Fairmont.”
Julia legte den Füller zur Seite. “Das ist doch verrückt. Glaubst du ernsthaft, Andrew würde eine Hochstaplerin ins Haus bringen? Ihm ist doch klar, dass ich in dem Fall sofort die Polizei rufen würde. Er wäre dann nämlich der Erste, den man verdächtigen würde, ihr was angetan zu haben.”
Marnie fragte sich gerade, ob sie es schaffen könnte, ungesehen wieder hinauszugehen.
Da wirbelte Bret herum, der ihre Anwesenheit wohl gespürt haben musste. “Hast du gelauscht? Was hast du denn alles mitbekommen, du hinterhältiges kleines Miststück?”
“Ich habe nicht gelauscht, sondern stand hier sichtbar für jeden. Und mitbekommen habe ich alles, was du über mich erzählt hast, du hinterhältiger Mistkerl!”
Marnie sah ihn wütend an. Sie hatte Bret noch nie ausstehen können. Er war einfach nur ein eingebildeter Lackaffe, der sich schon damals immer zu gut für die “normalen” Leute in Mirage Bay gefühlt hatte. Damals hatte sie sich oft vorgestellt, ihm einfach mal den Stinkefinger zu zeigen, aber auf ihn loszugehen und ihm eine zu verpassen, war ihr nie in den Sinn gekommen.
Warum eigentlich nicht?
Bret wich noch nicht einmal aus. Vielleicht war er zu überrascht, als Marnie auf ihn zukam und ihm mit der flachen Hand ins Gesicht schlug.
Das laute Klatschen war äußerst befriedigend. Marnie spürte die feurige Hitze in ihren Fingern und wusste, dass sie ihm wehgetan hatte. Ihre Hand brannte.
Bret berührte die hellroten Striemen ihrer Finger auf seinem Gesicht. “Du dumme Fotze”, flüsterte er. “Ich wünschte bei Gott, dass du ertrunken wärst.”
Julia sprang auf und warf fast ihren Stuhl dabei um. Sie stellte sich zwischen die beiden Kampfhähne, wie eine Mutter, die es schon gewohnt war, den Streit ihrer Kinder zu schlichten.
“Bret, denk nicht einmal daran, zurückzuschlagen”, warnte sie ihren Sohn. Sie umfasste seine Faust und schob sie weg.
Er knurrte frustriert. “Himmel noch mal, beschützt du sie immer noch, nachdem sie dich im Stich gelassen hat? Was willst du denn, verdammt noch mal? Ich bin der treue Sohn, das einzige Kind, das dir nicht den Rücken gekehrt hat, aber das interessiert dich wohl einen Scheiß, was?”
Bret gab Julias Stuhl einen heftigen Stoß und marschierte aus dem Zimmer. Marnie spürte eine solche Feindseligkeit von ihm ausgehen, als er an ihr vorbeistürmte, dass ihr Puls wie verrückt hämmerte. Sie musste sich vor diesen Leuten vorsehen. Das war ihr noch nie so deutlich geworden wie jetzt.
Julia wurde ganz still und blickte zum Ozean hinaus. Marnie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie trat von einem Bein aufs andere und war schon drauf und dran, ebenfalls zu gehen, als Julia sich zu ihr umdrehte. “Wo willst du hin?”, fragte sie. “Komm her zu mir und lass mich dich ansehen.”
Marnie hob den Kopf und sammelte all ihren Mut zusammen. Sie fühlte sich wie eine Marionette, als sie zu Julia hinüberging. Ihr Top und die Jeans saßen schlecht und waren viel zu weit. Heute Morgen hatte ihr Andrew nicht dabei geholfen, ihre Kleidung auszuwählen. Wahrscheinlich sah sie aus wie jemand von der Straße, und im Moment fühlte sie sich wie nie zuvor wie eine Hochstaplerin.
“Deine Kleidung ist katastrophal. Was hast du dir dabei gedacht, das Spitzentop mit Jeans zusammen zu tragen? Diese Sandalen finde ich auch schrecklich, sie sehen ja aus wie diese Gesundheitsschuhe.”
Marnie berührte ihr burgunderfarbenes Seidentop. “Das macht doch jeder.”
“Was macht jeder?”
“Jeans mit Spitzentops zu tragen. Die kann man doch mit allem kombinieren.”
“Das ist also ein Modetrend? So was hat dich doch nie vorher interessiert. Du hattest immer genauso wie ich einen angeborenen Sinn für Stil.” Julia beschrieb einen eleganten Bogen mit den Armen und deutete auf ihr Outfit, ein Sonnenkleid in Weiß und Marineblau mit Epauletten.
“Ich habe abgenommen”, sagte Marnie. “Nichts passt mir im Moment, und irgendwie habe ich kein besonderes Interesse mehr an Kleidern.”
“Na, das ist nicht zu übersehen.”
“Er versucht dich gegen mich aufzuwiegeln”, sagte Marnie gepresst.
“Bret?”
“Ja, Bret! Und ich bin ein leichtes Opfer, weil ich immer noch nicht ganz fit bin. Ich habe mich noch nicht vollständig erholt, aber …” Sie starrte die Frau vor sich an, die sie zu überzeugen versuchte, und hatte dabei das Gefühl, als hätte sich eine Tür zwischen ihr und Julia Fairmont geschlossen.
“Hör zu”, sagte sie dann. “Wenn du nicht glaubst, dass ich deine Tochter bin, dann sag es jetzt, und ich werde gehen. Andrew und ich verlassen dann dieses Haus, und du wirst keinen von uns beiden jemals wiedersehen.”
Julia sah sie überrascht und argwöhnisch an. Sie ging zu dem zarten Stuhl, den Bret umgeworfen hatte, richtete ihn auf und schob ihn unter den Schreibtisch. Beide Möbelstücke waren sicher teure Antiquitäten, vermutete Marnie. Sie wusste nicht, wie sie Julias Schweigen deuten sollte, und Angst stieg in ihr auf, als die Frau einen Augenblick die Rückenlehne umfasste und den Kopf senkte. Vielleicht hatte sie der Streit von eben beunruhigt, oder sie dachte nach, was sie als Nächstes tun sollte.
Noch schlimmer, Marnie hatte keine Ahnung, welche Reaktion sie sich von Julia eigentlich wünschte. Es wäre vielleicht für alle leichter, wenn sie Andrew und sie wieder verstoßen würde.