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 Das unwürdige Melodram vom Zank um den Knochen

«Ich finde, Sie haben schreckliches Wetter mitgebracht, Lord Peter», bemerkte Mrs. Frobisher-Pym in scherzhaft tadelndem Ton. «Wenn es so weiterregnet, sieht es für die Beerdigung böse aus.»

Lord Peter Wimsey warf einen Blick aus dem Fenster des Frühstückszimmers auf den durchweichten grünen Rasen und die Büsche mit den Lorbeerblättern, die steif und glänzend wie Regenmäntel der unbarmherzig niederströmenden Flut trotzten.

«Gräßlich, wie man bei Begräbnissen immer so ungeschützt herumsteht», pflichtete er ihr bei.

«Eben. Das finde ich ja auch so schlimm für die alten Leute. In so einem Dörfchen wie hier ist das doch so ziemlich die einzige Freude, die sie im Winter haben. Es gibt ihnen Gesprächsstoff für Wochen.»

«Ist das eigentlich ein besonderes Begräbnis?»

«Mein lieber Wimsey», sagte sein Gastgeber, «man sieht, daß Sie in Ihrem kleinen London überhaupt nicht im Bilde sind. So ein Begräbnis hat es in Little Doddering überhaupt noch nie gegeben. Es ist ein Ereignis.»

«Wahrhaftig?»

«Du meine Güte, ja doch! Vielleicht erinnern Sie sich noch an den alten Burdock.»

«Burdock? Mal überlegen. Ist er nicht gewissermaßen der hiesige Gutsherr?»

«War», verbesserte ihn Mr. Frobisher-Pym. «Jetzt ist er tot – vor ungefähr drei Wochen in New York gestorben, und nun wird er zur Beisetzung hierher überführt. Die Burdocks leben seit Hunderten von Jahren im großen Gutshaus, und alle wurden auf dem hiesigen Friedhof beigesetzt, bis auf den einen natürlich, der im Krieg gefallen ist. Burdocks Sekretär hat die Nachricht von seinem Tod herübergekabelt und angekündigt, daß die Leiche hergeschickt wird, sobald sie mit dem Einbalsamieren fertig sind. Das Schiff trifft heute morgen in Southampton ein, glaube ich. Jedenfalls kommt der Tote heute abend mit dem Zug um halb sechs aus London an.»

«Gehst du zum Bahnhof, Tom?»

«Nein, meine Liebe. Das wird wohl auch nicht erwartet. Natürlich wird das ganze Dorf auf den Beinen sein. Joliffs Leute haben ihren großen Auftritt; sie haben sich vom jungen Mortimer extra für die Gelegenheit zwei Pferde ausgeliehen. Hoffentlich schlagen die nur nicht über die Stränge und schmeißen den Leichenwagen um. Mortimers Gäule sind im allgemeinen etwas temperamentvoll.»

«Aber wir müssen doch den Burdocks gewissermaßen die Ehre erweisen, Tom.»

«Wir gehen morgen zur Beerdigung, das genügt. Das sind wir wohl der Familie schuldig, aber was den Alten selbst angeht, wäre Ehre gewiß das Letzte, was ihm jemand erweisen wollen würde.»

«Tom, er ist tot!»

«Das wurde auch Zeit. Nein, Agatha, man braucht jetzt nicht so zu tun, als ob der alte Burdock etwa kein gehässiger, übellauniger, niederträchtiger alter Lump gewesen wäre, auf den die Welt gut und gern verzichten kann. Nach dem letzten Skandal, den er angezettelt hat, konnte er sich hier nicht mehr halten und mußte nach Amerika gehen, und trotzdem wäre er wahrscheinlich hinter Gittern gelandet, wenn er nicht das Geld gehabt hätte, um die Leute auszubezahlen. Darum ärgere ich mich ja auch so sehr über Hancock. Ich habe nichts dagegen, daß er sich Priester nennt, obwohl es dem guten alten Weeks genügte, als Geistlicher bezeichnet zu werden – dabei war er immerhin Chorherr –, und mich stören auch seine Gewänder nicht. Er kann sich einen Union Jack um den Leib wickeln, wenn er will – das macht doch mir nichts aus. Aber wenn er den alten Burdock im Südschiff aufbahren will, mit Kerzen drumherum, und Hubbard von der ‹Roten Kuh› und der junge Duggins sollen die halbe Nacht für ihn beten, da ist für mich die Grenze. Die Leute mögen das nämlich nicht – zumindest die ältere Generation; für die jungen Leute mag es ja noch angehen; die brauchen ihren Spaß; aber etlichen von den Bauern hier wird das ein Ärgernis sein. Immerhin kannten sie Burdock ein bißchen zu gut. Simpson – das ist hier der Ortsvorsteher – kam gestern abend ziemlich bestürzt zu mir, um mit mir darüber zu reden. Einen vernünftigeren Menschen als Simpson kenne ich nicht. Ich habe ihm versprochen, mit Hancock zu reden, und das habe ich heute morgen auch getan, aber ebensogut hätte ich gegen die Kirchentür anreden können.»

«Mr. Hancock ist einer von diesen jungen Männern, die alles besser zu wissen glauben», sagte seine Frau. «Ein verständiger Mensch hätte auf dich gehört, Tom. Du bist Friedensrichter und wohnst schon dein Leben lang hier, da sollte man doch annehmen, daß du dich in dieser Gemeinde um einiges besser auskennst als er.»

«Er hat sich auf den lächerlichen Standpunkt gestellt», fuhr Mr. Frobisher-Pym fort, «daß man um so mehr für einen Menschen beten müsse, je sündiger er gelebt habe, worauf ich sagte: ‹Ich glaube, soviel können Sie und ich zusammen gar nicht beten, um Burdock da rauszuholen, wo er jetzt ist.› Haha! Darauf meinte er: ‹Da bin ich ganz Ihrer Meinung, Mr. Frobisher-Pym; darum habe ich auch eine achtköpfige Nachtwache arrangiert, die für ihn die ganze Nacht betet.› Ich muß zugeben, darauf wußte ich keine Antwort mehr.»

«Acht Leute?» entfuhr es Mrs. Frobisher-Pym.

«Nicht alle gleichzeitig, wenn ich ihn richtig verstanden habe, sondern in Schichten zu je zwei. ‹Also›, sagte ich, ‹Sie sollten aber meines Erachtens bedenken, daß Sie damit den Nonkonformisten Wasser auf ihre Mühlen gießen.› Das stritt er natürlich auch gar nicht ab.»

Wimsey bediente sich von der Marmelade. Die Nonkonformisten suchten offenbar immerzu Wasser für ihre Mühlen. Was sie darin mahlen wollten, wurde nie erklärt, oder was sie mit dem Mahlgut anfangen sollten. Doch da er selbst im Weihrauch der Hochkirche aufgewachsen war, kannte er die Eigentümlichkeiten dieses Glaubensstreits und antwortete nur: «Extreme Ansichten sind in so einem Dörfchen immer vom Übel. Den schlichten Dorfvätern, dem Dorfschmied, dessen Töchterlein im Kirchenchor den hundertsten Psalm singt und so weiter, geht das gegen den Strich. Hat denn die Familie Burdock da nicht mitzureden? Es sind doch ein paar Söhne da, oder?»

«Jetzt nur noch die zwei. Aldine ist ja im Krieg gefallen, und Martin ist irgendwo im Ausland. Er ist nach diesem Krach mit seinem Vater fortgegangen, und ich glaube, seitdem war er nie mehr in England.»

«Worum ging der Krach?»

«Ach, das war eine schändliche Geschichte. Martin hatte ein Mädchen in Ungelegenheiten gebracht – eine Filmschauspielerin oder Sekretärin oder irgend etwas in der Art – und wollte sie unbedingt heiraten.»

«Oh!»

«Ja, das war so ungehörig von ihm», nahm die Dame des Hauses jetzt den Faden auf, «denn er war doch mit der Delaprime-Tochter so gut wie verlobt – ich meine die mit der Brille. Es hat einen fürchterlichen Skandal gegeben. So ein paar entsetzlich vulgäre Leute kamen hierher und drängten sich ins Haus, um den alten Mr. Burdock zu sprechen. Und ich muß ihm zugute halten, daß er ihnen da die Stirn geboten hat – er war ja nicht der Mann, der sich ins Bockshorn jagen ließ. Er hat ihnen gesagt, das Mädchen sei ganz allein selbst schuld, und sie könnten Martin ja verklagen, wenn sie Lust hätten – er lasse sich jedenfalls nicht seines Sohnes wegen erpressen. Der Butler hat natürlich an der Tür gelauscht und es dann im ganzen Dorf herumerzählt. Und dann kam Martin Burdock nach Hause und hat mit seinem Vater einen Krach angefangen, der meilenweit zu hören war. Er sagte, das Ganze sei erlogen, und er wolle das Mädchen sowieso heiraten. Ich verstehe nicht, wie man in so eine Erpresserfamilie einheiraten kann.»

«Aber meine Liebe», sagte Mr. Frobisher-Pym freundlich, «ich glaube, da bist du weder ganz gerecht gegen Martin noch gegen die Eltern seiner Frau. Wie mir Martin erzählt hat, waren es hochanständige Leute, wenn auch natürlich unter seinem Stand, und sie waren auch nur gekommen, um sich ganz freundschaftlich nach Martins ‹Absichten› zu erkundigen. Das würdest du doch selbst tun, wenn es eine Tochter von uns wäre. Der alte Burdock hat das natürlich als Erpressung ausgelegt. Er war so einer, der meinte, man könne alles mit Geld bezahlen; und er hielt es für das absolute Recht seines Sohnes, ein Mädchen zu verführen, das für seinen Lebensunterhalt arbeiten muß. Ich will nicht sagen, daß Martin völlig im Recht war –»

«Ich fürchte, Martin ist ein Apfel, der nicht weit vom Stamm gefallen ist», versetzte die Dame. «Er hat das Mädchen jedenfalls geheiratet, und warum hätte er das tun sollen, wenn er nicht mußte?»

«Nun, du weißt aber, daß sie nie Kinder hatten», sagte Mr. Frobisher-Pym.

«Das mag sein. Ich zweifle ja auch nicht einen Augenblick daran, daß das Mädchen mit seinen Eltern unter einer Decke steckte. Und du weißt, daß die Familie Martin Burdock seither immer in Paris gelebt hat.»

«Stimmt», räumte ihr Gatte ein. «Das Ganze war jedenfalls eine rundherum unerfreuliche Geschichte. Es hat auch einige Schwierigkeiten gegeben, Martins Adresse herauszufinden, aber sicher wird er jetzt in Kürze hier eintreffen. Wie ich höre, produziert er gerade irgendeinen Film, da kann er vielleicht nicht rechtzeitig fort, um zum Begräbnis hier zu sein.»

«Wenn er ein normales Gefühl im Leib hätte, würde er sich nicht durch einen Film davon abhalten lassen», verfügte Mrs. Frobisher-Pym kategorisch.

«Meine Liebe, es gibt noch so etwas wie Verträge, bei deren Nichterfüllung hohe Strafen zu bezahlen sind. Und ich glaube nicht, daß Martin es sich leisten kann, eine hohe Summe zu verlieren. Es ist nicht anzunehmen, daß sein Vater ihm etwas hinterlassen hat.»

«Dann ist Martin also der jüngere Sohn?» fragte Wimsey höflich interessiert, obwohl er dieser abgedroschenen Dorfoperette wenig abgewinnen konnte.

«Nein, er ist der älteste. Das Haus ist natürlich unveräußerlicher Familienbesitz, und die Ländereien gewissermaßen auch. Aber es steckt kein Geld in dem Land. Der alte Burdock hat sein Vermögen während des großen Booms mit Kautschukaktien gemacht, und dieses Geld wird der bekommen, dem er es vermacht hat – und wer weiß, wer das ist, denn ein Testament hat man bisher nicht gefunden. Wahrscheinlich hat er alles Haviland zugesprochen.»

«Dem jüngeren Sohn?»

«Ja. Er spielt irgendeine Rolle in der Wirtschaft – Direktor einer Firma –, hat etwas mit Seidenstrümpfen zu tun, glaube ich. Niemand weiß so recht etwas über ihn. Er ist sofort gekommen, als er vom Tod seines Vaters hörte, und wohnt jetzt bei den Hancocks. Das Gutshaus ist ja zugeschlossen, seit der alte Burdock vor vier Jahren nach Amerika ging. Ich denke, Haviland findet es nicht der Mühe wert, es wieder aufzumachen, bevor sie wissen, was Martin damit vorhat. Deshalb wird der Tote ja auch in der Kirche aufgebahrt.»

«Das macht gewiß auch weniger Umstände», meinte Wimsey.

«O ja, das schon – aber wissen Sie, ich finde, Haviland sollte da doch etwas mehr Gemeinsinn an den Tag legen. Wenn man bedenkt, welche Stellung die Burdocks hier immer eingenommen haben, könnten die Leute mit Recht einen anständigen Empfang nach dem Begräbnis erwarten. Das gehört sich so. Aber diese Geschäftsleute haben weniger mit der Tradition im Sinn als wir hier draußen. Und da Haviland nun bei den Hancocks zu Gast ist, kann er natürlich nicht gut etwas gegen die Kerzen und Gebete und dergleichen sagen.»

«Das vielleicht nicht», sagte Mrs. Frobisher-Pym, «aber es wäre schon passender gewesen, wenn Haviland zu uns gekommen wäre, statt zu den Hancocks zu gehen, die er nicht einmal kennt.»

«Meine Liebe, du vergißt diesen unerfreulichen Disput, den ich einmal mit Haviland hatte, weil er auf meinen Ländereien gejagt hat. Nach dem Briefwechsel zwischen uns bei seinem letzten Besuch hier konnte ich ihm schlecht meine Gastfreundschaft anbieten. Sein Vater hat sich in dieser Angelegenheit durchaus so verhalten, wie es sich gehört, das will ich ihm zugestehen, aber Haviland war mir gegenüber ausgesprochen unhöflich, und ich kann die Worte, die da gefallen sind, nicht gut übersehen. Aber wir dürfen Sie nicht mit unserem Dorfklatsch langweilen, Lord Peter. Was hielten Sie übrigens von einem kleinen Rundgang nach dem Frühstück? Ein Jammer, daß es so regnet – und den Garten bekommen Sie um diese Jahreszeit auch nicht von seiner besten Seite zu sehen –, aber ich habe einen Wurf Cockerspaniels, auf den Sie vielleicht mal einen Blick werfen möchten.»

Lord Peter äußerte großes Interesse an den Spaniels, und ein paar Minuten später stapfte er den aufgeweichten Kiesweg hinunter, der zu den Zwingern führte.

«Es geht doch nichts über ein gesundes Landleben», meinte Mr. Frobisher-Pym. «Ich finde London im Winter immer so bedrückend. Man weiß nichts mit sich anzufangen. Mal für einen oder zwei Tage hinfahren und ab und zu ein Theaterbesuch, das geht ja noch, aber wie ihr das tagaus, tagein aushaltet, das geht über meine Begriffe. Ich muß mal mit Plunkett über diesen Bogengang reden», fügte er hinzu. «Er gerät völlig außer Fasson.»

Mit diesen Worten brach er eine herunterhängende Efeuranke ab. Die Pflanze schüttelte sich rachsüchtig und ließ Wimsey einen kleinen Regenschauer in den Nacken tropfen.

Die Spanielmutter bewohnte mit ihrer Familie einen gemütlichen, luftigen Verschlag in den Stallungen. Ein jüngerer Mann in Reithosen und Gamaschen kam den Besuchern zur Begrüßung entgegen und holte die kleinen Hundebündel zur Begutachtung hervor. Wimsey setzte sich auf einen umgedrehten Eimer und nahm sie der Reihe nach in Augenschein. Die Hündin war nach vorsichtigem Beschnuppern seiner Stiefel und einem kurzen Knurren wohl doch zu der Ansicht gekommen, daß er vertrauenswürdig war, und sabberte ihm freundlich die Knie voll.

«Lassen Sie mich mal sehen», sagte Mr. Frobisher-Pym. «Wie alt sind sie jetzt?»

«Dreizehn Tage, Sir.»

«Hat sie genug Milch?»

«Ja, Sir. Sie kriegt von diesem Malzfutter. Scheint ihr gut zu bekommen, Sir.»

«Ah, ja. Plunkett war da etwas skeptisch, aber ich habe schon viel Gutes davon gehört. Plunkett hat für Experimente nichts übrig, und im allgemeinen bin ich da ganz seiner Meinung. Wo ist Plunkett denn übrigens?»

«Er fühlt sich heute morgen nicht besonders, Sir.» «Das tut mir aber leid, Merridew. Wieder sein Rheuma?»

«Nein, Sir. Soweit ich Mrs. Plunkett verstanden habe, hat er einen kleinen Schock erlitten.»

«Einen Schock? Was für einen Schock? Es ist doch hoffentlich nichts mit Alf oder Elsie passiert?»

«Nein, Sir. Es ist nur – wie ich gehört habe, hat er etwas gesehen, Sir.»

«Was soll das heißen – etwas gesehen?»

«Nun, Sir – so etwas wie eine Warnung, wie er sagt.»

«Eine Warnung? Du lieber Himmel, Merridew, so was darf er sich aber nicht in den Kopf setzen. Ich muß mich über Plunkett sehr wundern; ich hatte ihn immer für einen vernünftigen Menschen gehalten. Was sagt er denn, was für eine Warnung das gewesen sein soll?»

«Das weiß ich nicht, Sir.»

«Er hat doch sicher gesagt, was er da gesehen haben will.»

Merridews Miene wurde ein wenig störrisch.

«Ich kann es wirklich nicht sagen, Sir.»

«So geht das nicht. Ich muß mal mit Plunkett reden. Ist er in seinem Cottage?»

«Ja, Sir.»

«Da gehen wir gleich mal hin. Sie haben doch keine Einwände, Wimsey? Ich kann nicht zulassen, daß Plunkett sich da in eine Krankheit hineinsteigert. Wenn er einen Schock erlitten hat, sollte er lieber zum Arzt. Also, machen Sie weiter, Merridew, und sehen Sie zu, daß sie es schön warm und gemütlich hat. Durch diese Steinböden kommt es gern feucht herauf. Ich spiele mit dem Gedanken, das alles hier betonieren zu lassen, aber das kostet natürlich Geld. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen», sagte er, während er seinen Gast am Gewächshaus vorbei auf das gepflegte Cottage zuführte, das inmitten seines eigenen Kräutergärtchens stand, «was da wohl passiert sein könnte, daß es Plunkett so umwirft. Hoffentlich nichts Ernstes. Er kommt natürlich in die Jahre, aber trotzdem sollte er etwas Besseres wissen, als an Warnungen zu glauben. Sie machen sich keine Vorstellung davon, was für haarsträubende Ideen diese Leute manchmal haben. Übrigens vermute ich, daß er in Wahrheit im Müden Wandersmann war, und irgend jemand hatte seine Wäsche draußen hängen, die er auf dem Heimweg gesehen hat.»

«Keine Wäsche», korrigierte Wimsey ihn. Seine angeborene Kombinationsgabe ließ ihn die Unlogik dieser Überlegung gleich erkennen, wenngleich er sich verärgert sagte, daß dies ja nun wirklich nicht wichtig sei. «Es hat gestern abend in Strömen geregnet, und außerdem ist heute Donnerstag. Aber Dienstag und Mittwoch war es schön, also wird alle Wäsche schon an diesen Tagen getrocknet worden sein. Wäsche war es demnach nicht.»

«Hm, na ja – dann eben etwas anderes – ein Pfosten, oder der weiße Esel der alten Mrs. Gidden. Plunkett schaut gelegentlich ein bißchen zu tief ins Glas, das muß ich leider sagen, aber er hält die Zwinger gut in Schuß, und da sieht man eben über manches hinweg. Die Leute in dieser Gegend sind sehr abergläubisch, und wenn sie einem erst vertrauen, können sie einem die aberwitzigsten Sachen erzählen. Sie würden staunen, wie weit vom Schuß wir hier in puncto Zivilisation sind. Sehen Sie, nicht hier, aber in Abbotts Bolton, gerade fünfzehn Meilen entfernt, darf man zum Beispiel keinen Hasen schießen, wenn einem sein Leben lieb ist. Hexen und so, wenn Sie verstehen.»

«Es würde mich nicht wundern. In manchen Gegenden Deutschlands erzählen einem die Leute noch was von Werwölfen.»

«Das glaube ich. So, da sind wir.» Mr. Frobisher-Pym klopfte mit seinem Spazierstock energisch an die Tür des Cottage und trat gleich darauf unaufgefordert ein.

«Sind Sie da, Mrs. Plunkett? Dürfen wir reinkommen? Aha, guten Morgen. Wir stören hoffentlich nicht, aber Merridew sagt, daß es Plunkett nicht besonders geht. Das ist Lord Peter Wimsey – ein alter Freund von mir; das heißt, ich bin ein alter Freund von ihm. Ha-ha!»

«Guten Morgen, Sir; guten Morgen, Mylord. Plunkett wird sich über Ihren Besuch sicher freuen. Treten Sie näher. Plunkett, Mr. Pym ist da und will dich besuchen.»

Der ältere Mann, der vor dem Feuer kauerte, wandte ihnen ein todtrauriges Gesicht zu und tippte sich, halb im Aufstehen, kurz an die Stirn.

«Na, Plunkett, was haben wir denn für Kummer?» erkundigte Mr. Frobisher-Pym sich in dem herzlich-herablassenden Ton, der dem Landadel am Krankenbett eines Abhängigen eigen ist.

«Hab’s sehr bedauert, Sie nicht draußen zu sehen. Wieder mal das alte Leiden, was?»

«Nein, Sir, nein. Danke, Sir. So fehlt mir eigentlich gar nichts. Aber ich hab eine Warnung bekommen und bin nicht mehr lange von dieser Welt.»

«Nicht mehr lange von dieser Welt –? Unsinn, Plunkett! So dürfen Sie nicht reden. Ihnen hat nur etwas schwer im Magen gelegen, weiter wird’s nichts sein. Da fühlt man sich schon komisch, das weiß ich selbst. Ich kann Ihnen sagen, wenn ich eine von meinen Gallenkoliken habe, wird’s mir immer ganz anders. Versuchen Sie’s mal mit einem Löffel Rizinus oder so einer guten alten Quecksilberpille und einem Abführmittel. Etwas Besseres gibt es nicht. Und dann sagen Sie kein Wort mehr von Warnungen und von Sterben.»

«Für meine Krankheit gibt es keine Medizin, Sir. Wer gesehen hat, was ich gesehen habe, Sir, der ist noch nie davongekommen. Aber wenn Sie und der andere Herr schon einmal hier sind, Sir, könnten Sie mir vielleicht einen Gefallen tun.» «Natürlich, Plunkett, was Sie wollen. Worum geht’s denn?»

«Nur um mein Testament, Sir. Das hat ja sonst immer der alte Pfarrer aufgesetzt, aber der neue junge Herr mit seinen Kerzen und dem ganzen Zeug, der gefällt mir nicht. Da habe ich nicht das Gefühl, daß er es auch richtig gut und legal machen kann, Sir, und ich will doch nicht, daß es Streit gibt, wenn ich mal nicht mehr bin. Und wo mir nun nicht mehr viel Zeit bleibt, wär’s mir schon lieb, Sir, wenn Sie für mich mit Feder und Tinte schreiben könnten, daß ich meine ganze kleine Habe meiner Sarah hinterlassen will, und nach ihr soll es gerecht zwischen Alf und Elsie aufgeteilt werden.»

«Natürlich mache ich das für Sie, Plunkett, jederzeit. Aber es ist blanker Unsinn, jetzt schon von Testamenten zu reden. Mein Gott, mich würd’s nicht wundern, wenn wir noch alle vor Ihnen unter die Erde kämen.»

«O nein, Sir. Ich war immer ein kerngesunder Mensch, Sir, das will ich nicht leugnen. Aber ich bin gerufen worden, Sir, und nun muß ich gehen. Irgendwann sind wir ja alle mal dran, das weiß ich. Aber schrecklich ist es doch, wenn man die Todeskutsche sieht und weiß, daß sie nach einem geschickt worden ist und daß die Toten darin sind, die keine Ruhe in ihrem Grab finden.»

«Nun machen Sie aber einen Punkt, Plunkett! Sie wollen mir doch nicht erzählen, daß Sie an diesen alten Unsinn von der Totenkutsche glauben. Ich hatte Sie für einen gebildeten Menschen gehalten. Was würde denn Alf dazu sagen, wenn er Sie solche Albernheiten von sich geben hörte?»

«Ach, Sir, die jungen Leute wissen auch nicht immer alles, und es gibt mehr Dinge in Gottes Welt, als man in Büchern nachlesen kann.»

«Na ja», meinte Mr. Frobisher-Pym, der diesem Stichwort nicht widerstehen konnte, «wir wissen, daß es mehr Dinge gibt im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt, Horatio. Ganz recht. Aber das gilt heutzutage nicht mehr», fuhr er inkonsequenterweise fort. «Es gibt keine Geister mehr im zwanzigsten Jahrhundert. Denken Sie nur mal in aller Ruhe über die Geschichte nach, dann wird Ihnen schon aufgehen, daß Sie sich geirrt haben. Wahrscheinlich gibt es dafür eine ganz simple Erklärung. Mein Gott, ich erinnere mich noch, wie meine Frau einmal nachts aufgewacht ist und eine Heidenangst hatte, weil sie meinte, jemand hätte sich an unserer Schlafzimmertür erhängt. So was Dummes, denn ich lag doch wohlbehalten neben ihr im Bett – geschnarcht soll ich haben, sagt sie, ha-ha! –, und wenn es jemanden gelüstet hätte, sich aufzuhängen, wäre er dafür nicht ausgerechnet zu unserer Schlafzimmertür gekommen. Na ja, aber sie war ganz außer sich und hat sich an mich geklammert, und als ich hinging, um nachzusehen, was sie da so erschreckt hatte, was meinen Sie, was es war? Meine Hose, die ich an den Trägern da aufgehängt hatte, mit den Socken noch in den Hosenbeinen! Ich hab was zu hören bekommen, weil ich meine Sachen nicht ordentlich weggehängt hatte!»

Mr. Frobisher-Pym lachte, und Mrs. Plunkett sagte pflichtschuldigst: «Da siehst du’s.» Doch ihr Mann schüttelte nur den Kopf.

«Das mag ja sein, Sir, aber ich hab die Todeskutsche gestern nacht mit eigenen Augen gesehen. Die Kirchenuhr hatte gerade Mitternacht geschlagen, da sehe ich sie den Weg an der alten Klostermauer vorbei heraufkommen.»

«Und wieso lagen Sie um Mitternacht noch nicht im Bett?»

«Nun ja, Sir, ich war noch bei meiner Schwester, weil sie ihren Sohn jetzt da hat, der Urlaub von seinem Schiff hat.»

«Und dann haben Sie sicher auf sein Wohl getrunken, nicht wahr, Plunkett?» Mr. Frobisher-Pym wackelte drohend mit dem Zeigefinger.

«Nein, Sir, ich streite ja nicht ab, daß ich ein Gläschen Bier oder auch zwei getrunken habe, aber nicht so viel, daß ich blau gewesen wäre. Meine Frau kann Ihnen bestätigen, daß ich stocknüchtern war, als ich nach Hause kam.»

«Stimmt, Sir. Plunkett hatte gestern abend nicht zuviel getrunken, das kann ich beschwören.»

«Na schön. Und was haben Sie dann gesehen, Plunkett?»

«Die Todeskutsche hab ich gesehen, Sir, wie ich gesagt habe. Den Weg ist sie heraufgekommen, ganz gespenstisch weiß, Sir, und kein Geräusch hat sie gemacht, Sir, leise wie der Tod – und der war’s ja auch, Sir.»

«Da ist wohl irgendein Fuhrwerk auf dem Weg nach Lymptree oder Herriotting hier durchgefahren.»

«Nein, Sir – es war kein Fuhrwerk. Ich hab die Pferde gezählt – vier weiße Pferde, und kein Huf und kein Zaumzeug zu hören. Und das waren keine –»

«Vier Pferde! Hören Sie mal, Plunkett, da müssen Sie aber wirklich doppelt gesehen haben. Hier in der ganzen Umgebung fährt keiner mit vier Pferden herum, höchstens Mr. Mortimer aus Abbotts Bolton, und der läßt seine Gäule nicht um Mitternacht durch die Gegend kutschieren.»

«Es waren aber vier Pferde, Sir. Ich hab sie ganz deutlich gesehen. Und es war auch nicht Mr. Mortimer, denn der fährt einen Kremser, aber das war ein großer, schwerer Kutschwagen, ohne Lichter daran, aber trotzdem leuchtete er ganz wie von selbst, hell wie der Mond.»

«So ein Unsinn, Mann! Den Mond konnte man letzte Nacht gar nicht sehen. Es war stockfinster.»

«Ich weiß, Sir, aber die Kutsche, die hat trotzdem geleuchtet wie der Mond.»

«Und ohne Lampen? Ich frage mich ja, was die Polizei dazu sagen würde.»

«Diese Kutsche könnte ein sterblicher Polizist nicht anhalten, Sir», sagte Plunkett verächtlich, «und kein sterblicher Mensch kann ihren Anblick ertragen. Und ich sage Ihnen, Sir, das war noch nicht das Schlimmste. Die Pferde –»

«Fuhr sie eigentlich langsam?»

«Nein, Sir, im Galopp, aber die Hufe berührten nicht mal den Boden. Kein Ton zu hören, und ich sehe die schwarze Straße, und die weißen Hufe zwei Handbreit darüber. Und die Pferde hatten keine Köpfe.»

«Keine Köpfe?»

«Nein, Sir.»

Mr. Frobisher-Pym lachte.

«Jetzt hören Sie aber auf, Plunkett, Sie erwarten doch nicht, daß wir Ihnen das abnehmen. Keine Köpfe? Wie sollte denn selbst ein Gespenst mit Pferden ohne Köpfe fahren? Wo waren denn die Zügel festgemacht, he?»

«Sie dürfen gern lachen, Sir, aber wir wissen, daß bei Gott alles möglich ist. Vier weiße Pferde waren es. Ich hab sie deutlich gesehen, aber sie hatten keine Köpfe und nicht mal Hälse. Die Zügel hab ich auch gesehen, Sir, glänzend wie Silber, aber die liefen nur bis zu den Ringen am Kummet und nicht weiter. Und wenn ich auf der Stelle tot umfallen müßte, Sir, das hab ich mit eigenen Augen gesehen.»

«Hatte dieses wunderliche Vehikel auch einen Kutscher?»

«O ja, Sir, ein Kutscher war auch darauf.»

«Und ebenfalls ohne Kopf, nehme ich an?»

«Ja, Sir, auch ohne Kopf. Jedenfalls hab ich über seinem Mantel, der so einen altmodischen Umhang an der Schulter hatte, nichts mehr gesehen.»

«Nun, Plunkett, ich muß sagen, Sie schildern das sehr ausführlich. Wie weit weg war diese – äh – Erscheinung, als Sie sie sahen?»

«Ich kam gerade am Kriegerdenkmal vorbei, Sir, da sah ich sie den Weg heraufkommen. Kann nicht mehr als zwanzig bis dreißig Meter weit weg von mir gewesen sein. Im Galopp sind sie vorbeigefahren und dann nach links um die Kirchhofmauer herum.»

«Hm, ja, das klingt schon merkwürdig, aber es war eine dunkle Nacht, und auf die Entfernung werden Ihre Augen Ihnen einen Streich gespielt haben. Also, wenn Sie meinen Rat hören wollen, denken Sie einfach nicht mehr daran.»

«Ha, Sir! Sie haben gut reden, aber jeder weiß, daß ein Mensch, der die Todeskutsche der Burdocks sieht, noch in derselben Woche sterben muß. Es hat gar keinen Sinn, sich dagegen aufzulehnen, Sir; es ist einfach so. Und wenn Sie so freundlich wären, mir den Gefallen mit dem Testament zu tun, Sir, würde ich froher sterben, weil ich dann wüßte, daß Sarah und die Kinder mein bißchen Geld auch wirklich bekommen.»

Mr. Frobisher-Pym tat ihm den Gefallen, obwohl es ihm sehr gegen den Strich ging, weshalb er beim Schreiben abwechselnd schalt und dem Mann gut zuredete. Wimsey setzte dann noch seinen Namen als zweiter Zeuge darunter und versuchte seinerseits Trost zu spenden.

«Ich würde mich an Ihrer Stelle nicht über diese Kutsche aufregen», sagte er. «Verlassen Sie sich darauf, wenn es die Kutsche der Burdocks war, dann ist sie nur gekommen, um die Seele des alten Gutsherrn zu holen. Sie konnte ja für ihn nicht gut nach New York fahren, nicht? Sie bereitet sich nur auf das morgige Begräbnis vor.»

«Das kann schon stimmen», räumte Plunkett ein. «Sie ist ja schon oft hier in der Gegend gesehen worden, wenn einer von den Burdocks geholt wurde. Aber es bringt furchtbares Unglück, wenn man sie sieht.»

Der Gedanke an das Begräbnis schien ihn jedoch ein wenig aufzumuntern. Die Besucher forderten ihn noch einmal auf, nicht mehr daran zu denken, und verabschiedeten sich.

«Ist das nicht prächtig», meinte Mr. Frobisher-Pym, «was die Einbildungskraft aus diesen Leuten macht? Und störrisch sind sie. Mit denen könnten Sie diskutieren, bis Sie schwarz werden.»

«Ja, ja. Wissen Sie was, wir gehen mal zur Kirche und sehen uns die Stelle an. Mich würde interessieren, wieviel er von dort, wo er stand, wirklich sehen konnte.»

Die Pfarrkirche von Little Doddering steht, wie so viele ländliche Kirchen, in einiger Entfernung von den Häusern. Die Hauptstraße von Herriotting, Abbotts Bolton und Frimpton führt am Westtor des Friedhofs vorbei, eines großen Gottesakkers voller alter Grabsteine. An der Südseite trennt ein schmaler, düsterer, von alten Ulmen überdachter Weg die Kirche von den noch viel älteren Ruinen des Klosters Doddering. Neben der Hauptstraße, ein Stückchen hinter der Stelle, wo der alte Klosterweg einmündet, steht das Kriegerdenkmal, und von da führt die Straße dann geradewegs nach Little Doddering hinein. Um die beiden übrigen Seiten des Kirchhofs herum führt ein anderer Weg, von den Dorfbewohnern einfach Back Lane – Hinterer Weg – genannt. Dieser zweigt ungefähr hundert Meter nördlich der Kirche von der Straße nach Herriotting ab, mündet am anderen Ende in den Klosterweg und führt von da auf verschlungenen Pfaden nach Shootering Underwood, Hamsey, Thripsey und Wyck.

«Egal, was Plunkett da gesehen zu haben glaubt», sagte Mr. Frobisher-Pym, «es muß jedenfalls von Shootering gekommen sein. Der Back Lane führt nur an ein paar Feldern und Cottages vorbei, und man kann wohl davon ausgehen, daß jemand, der aus Richtung Frimpton gekommen wäre, die Hauptstraße genommen hätte. Dieser Weg ist bei dem vielen Regen in einem sehr schlechten Zustand, und ich fürchte, mein lieber Wimsey, daß nicht einmal Sie mit Ihren detektivischen Fähigkeiten imstande wären, auf dieser modernen Asphaltstraße Radspuren zu finden.»

«Kaum», meinte Wimsey, «besonders im Falle einer Geisterkutsche, die über der Erde dahinfährt, ohne sie zu berühren. Aber Ihre Überlegungen klingen vollkommen vernünftig, Sir.»

«Wahrscheinlich sind da ein paar verspätete Fuhren zum Markt gefahren», fuhr Mr. Frobisher-Pym fort, «und alles übrige ist Aberglaube und, wie ich fürchte, das heimische Bier. Plunkett kann auf diese Entfernung gar nicht alle diese Einzelheiten wie Kutscher und Kummet und so weiter gesehen haben. Und wenn das Ding keinen Laut von sich gegeben hat, wie will er es dann überhaupt bemerkt haben, wo er doch schon an der Einmündung vorbei war und in die andere Richtung ging? Verlassen Sie sich darauf, er hat die Räder gehört und sich den Rest eingebildet.»

«Sehr wahrscheinlich», sagte Wimsey.

«Ich meine», sagte sein Gastgeber, «wenn diese Fuhre wirklich ohne Beleuchtung herumgefahren ist, sollte man sich natürlich darum kümmern. Das ist sehr gefährlich bei den vielen Autos, die heutzutage herumfahren, und ich habe da schon öfter einmal deutlich werden müssen. Erst vor kurzem habe ich genau deswegen einen Mann zu einer Geldstrafe verurteilt. Möchten Sie mal gern die Kirche sehen, wenn wir schon hier sind?»

Lord Peter, der wußte, daß es in ländlichen Gemeinden immer als schicklich gilt, sich die Kirche anzusehen, legte eifriges Interesse an den Tag.

«Sie steht heutzutage immer offen», sagte der Friedensrichter, indem er ihn zum Westportal führte. «Der Pfarrer ist nämlich der Ansicht, daß Kirchen immer für ein stilles Gebet offen zu sein haben. Natürlich, er kommt ja aus der Stadt. Hier sind die Leute immer draußen auf dem Feld, und man kann nicht von ihnen erwarten, daß sie in Arbeitskleidung und lehmigen Stiefeln in die Kirche kommen. Das würden sie für unschicklich halten, und sie haben ja auch anderes zu tun. Außerdem, habe ich zu ihm gesagt, stellen Sie sich doch mal vor, welche Möglichkeiten Sie da für ungehöriges Betragen geben. Aber er ist ein junger Mann und wird noch vieles aus Erfahrung lernen müssen.»

Er stieß die Tür auf. Ein eigenartiger, stickiger Geruch nach kaltem Weihrauch, Feuchtigkeit und Ofenheizung schlug ihnen beim Eintreten entgegen – gewissermaßen ein konzentrierter Extrakt englischer Hochkirche. Die beiden Altäre, blumengeschmückt und vergoldet, nahmen sich zwischen den dunklen Schatten und der bedrückenden Architektur des kleinen normannischen Bauwerks wie zwei grelle Flecke aus und zeugten von derselben Widersprüchlichkeit: Das Warme und Menschliche wirkte hier exotisch und fremd, das Kalte und Abweisende hingegen dem Ort und den Menschen angemessen.

«Hier im Südschiff die Jungfrauenkapelle, wie Hancock sie nennt, ist natürlich neu», sagte Mr. Frobisher-Pym. «Es hat einige Opposition dagegen gegeben, aber der Bischof übt Nachsicht gegenüber der Hochkirchenpartei – zu große Nachsicht, wie manche finden. Aber was spielt es letzten Endes schon für eine Rolle? Ich für meinen Teil kann bei zwei Kommuniontischen genausogut beten wie bei einem. Und Hancock versteht sich sehr gut auf den Umgang mit den jungen Burschen und Mädchen, das muß ich ihm lassen. Die Jugend im Motorradzeitalter noch für die Religion zu interessieren, ist immerhin einiges. Diese Gerüstböcke in der Kapelle sind wohl für Burdocks Sarg gedacht. Ah, und da ist der Herr Pfarrer!»

Ein magerer Mann im Priesterrock war aus einer Tür neben dem Hochaltar getreten und kam auf sie zu, in der Hand einen großen eichenen Kerzenständer. Er begrüßte sie mit einem etwas zu routinierten Willkommenslächeln. Wimsey schätzte ihn sofort als ernsten, unruhigen und nicht allzu intelligenten Menschen ein.

«Die Kerzenständer sind gerade erst gekommen», bemerkte er nach den üblichen Vorstellungsfloskeln. «Ich hatte schon Angst, sie würden nicht mehr rechtzeitig eintreffen. Aber nun ist ja alles gut.»

Er stellte den Kerzenständer neben das Gerüst und ging sogleich daran, den messingnen Dorn mit einer langen Kerze aus ungebleichtem Wachs zu schmücken, die er einem Päckchen auf der nächststehenden Kirchenbank entnahm.

Mr. Frobisher-Pym sagte nichts. Wimsey fühlte sich seinerseits verpflichtet, Interesse zu zeigen, und tat dies.

«Es ist wirklich sehr schön», sagte Mr. Hancock, dergestalt ermutigt, «zu sehen, wie die Menschen wieder ein echtes Interesse für die Kirche zu entwickeln beginnen. Ich hatte wirklich fast gar keine Schwierigkeiten, Gebetswachen für die kommende Nacht zu finden. Wir haben insgesamt acht, die sich immer zu zweit abwechseln, und zwar ab heute abend um zehn – bis dahin bin ich selbst an der Reihe – bis morgen früh um sechs, wenn ich komme, um die Messe zu lesen. Die Männer sind bis zwei Uhr dran, dann werden meine Frau und Tochter sie ablösen, und von vier bis sechs übernehmen dann freundlicherweise Mr. Hubbard und der junge Rawlinson.»

«Welcher Rawlinson ist das?» erkundigte sich Mr. FrobisherPym.

«Der Sekretär von Mr. Graham aus Herriotting. Es stimmt zwar, daß er kein Mitglied dieser Gemeinde ist, aber er ist hier geboren und will sich freundlicherweise an der Totenwache beteiligen. Er kommt mit seinem Motorrad her. Schließlich nimmt Mr. Graham seit vielen Jahren die Interessen der Familie Burdock wahr, und da wollen sie zweifellos auf irgendeine Weise ihren Respekt zeigen.»

«Na, dann will ich nur hoffen, daß er am Morgen wach genug sein wird, um seine Arbeit zu tun, nachdem er die ganze Nacht herumgezogen ist», meinte Mr. Frobisher-Pym schroff. «Mr. Hubbard, nun ja, der muß selbst wissen, was er tut, aber mir erscheint das schon als eine merkwürdige Beschäftigung für einen Wirt. Aber wenn es ihm Freude macht und Ihnen auch, kann man nichts dagegen sagen.»

«Eine wunderschöne alte Kirche haben Sie hier, Mr. Hancock», sagte Wimsey rasch, um der sich anbahnenden Kontroverse zu begegnen.

«O ja, sehr schön», sagte der Pfarrer. «Haben Sie die Apsis gesehen? Man findet es selten, daß eine Dorfkirche eine so vollkommene romanische Apsis hat. Vielleicht möchten Sie einmal mitkommen und sie sich ansehen?» Vor einer Nische hing eine brennende Lampe von der Decke, und der Pfarrer beugte im Vorbeigehen das Knie. «Sie sehen, man hat uns Reservation eingeräumt. Der Bischof –» Er plauderte munter weiter, während sie den Altarraum hinaufgingen, und unterbrach sich nur hin und wieder, um Wimsey auf die schönen Miserikordien («Das war natürlich die ursprüngliche Klosterkirche.») und ein herrlich gemeißeltes Taufbecken («Man findet sie selten so gut erhalten.») aufmerksam zu machen. Wimsey half ihm noch, die restlichen Kerzenständer aus der Sakristei zu holen, und als diese an ihren Plätzen standen, ging er zu Mr. Frobisher-Pym zurück, der an der Tür stand.

«Haben Sie nicht gesagt, daß Sie heute abend bei den Lumsdens zum Essen eingeladen sind?» fragte der Friedensrichter, als sie nach dem Mittagessen noch zusammensaßen und rauchten.

«Wie kommen Sie hin? Möchten Sie den Wagen haben?» «Mir wäre eines Ihrer Pferde lieber», antwortete Wimsey. «Ich habe in der Stadt so wenig Gelegenheit zum Reiten.» «Aber gewiß, mein lieber Junge, gewiß. Ich fürchte nur, es wird ein ziemlich nasser Ritt. Nehmen Sie Polly Flinders; ihr tut ein bißchen Bewegung gut. Ist Ihnen das auch wirklich lieber? Haben Sie Ihre Reitsachen bei sich?»

«Ja – ich habe eine alte Hose mitgebracht, und mit diesem Regenmantel werde ich schon nicht zu Schaden kommen. Abendanzug wird nicht von mir erwartet. Wie weit ist es übrigens von hier bis Frimpton?»

«Neun Meilen über die Hauptstraße, und leider alles asphaltiert, aber auf beiden Seiten ist ein schöner breiter Grasstreifen. Und Sie können eine Meile abkürzen, wenn Sie über die Allmende reiten. Wann möchten Sie denn aufbrechen?»

«Hm, so gegen sieben, denke ich. Und, Sir – wird Ihre Gattin es wohl sehr ungezogen von mir finden, wenn ich ziemlich spät zurückkomme? Der gute Lumsden und ich waren zusammen im Krieg, und wenn wir erst von den alten Zeiten anfangen, kann sich das bis in den Morgen hineinziehen. Sie sollen nicht denken, daß ich Ihr Haus mit einem Hotel verwechsle, aber –»

«Natürlich nicht, natürlich nicht! Das ist vollkommen in Ordnung. Meine Frau wird sich nicht im mindesten daran stören. Wir möchten doch, daß Sie Ihren Besuch bei uns genießen und alles tun, was Ihnen Spaß macht. Ich gebe Ihnen den Hausschlüssel und werde dafür sorgen, daß die Kette nicht vorgelegt wird. Vielleicht würde es Ihnen nichts ausmachen, das selbst zu tun, wenn Sie zurückkommen?»

«Selbstverständlich nicht. Und das Pferd?»

«Ich sage Merridew, er soll Sie erwarten. Er schläft über dem Stall. Ich wünschte nur, das Wetter würde sich bessern. Aber leider fällt das Barometer weiter. Mein Gott, ja! Schlechte Aussichten für morgen. Übrigens werden Sie an der Kirche wahrscheinlich dem Leichenzug begegnen. Er müßte etwa um diese Zeit da sein, wenn der Sarg pünktlich eintrifft.»

Der Sarg war anscheinend pünktlich eingetroffen, denn als Lord Peter sich im leichten Galopp dem Westportal der Kirche näherte, sah er dort einen pompös geschmückten Leichenwagen vorgefahren und eine kleine Menschenmenge darum versammelt. Die Kutschen für die Trauergäste standen daneben, und der Kutscher der zweiten schien gewisse Schwierigkeiten mit seinen Pferden zu haben, woraus Wimsey richtig schloß, daß es sich um das von Mr. Mortimer geliehene Gespann handelte. Er zügelte Polly Flinders, so gut es ging, und blieb in respektvollem Abstand am Rande der Versammlung stehen, um zuzusehen, wie der Sarg vom Leichenwagen gehoben und zum Portal getragen wurde, wo Mr. Hancock ihn im vollen Ornat, begleitet von einem Rauchfaßträger und zwei Fackelträgern, in Empfang nahm. Die Wirkung wurde ein wenig durch den Regen beeinträchtigt, der die Fackeln ausgelöscht hatte, doch die Dorfbevölkerung schien das Schauspiel in vollen Zügen zu genießen. Mitfühlende Kommentare galten einem schwergewichtigen Mann in sehr korrektem schwarzen Anzug und Zylinder, in dessen Begleitung sich ein Frau in Pelz und überaus schicker Trauertracht befand. Es war Haviland Burdock vom Seidenstrumpf, der jüngere Sohn des Verstorbenen. Nach dem Sarg wurden unzählige weiße Kränze heruntergereicht und jedesmal mit beifälliger Bewunderung kommentiert. Der Kirchenchor stimmte etwas holprig ein Lied an, und die Prozession zog in die Kirche ein. Polly Flinders schüttelte energisch den Kopf, und Wimsey, der das als Signal zum Aufbruch verstand, setzte seinen Hut wieder auf und machte sich gemächlich auf den Weg nach Frimpton.

Er folgte der Hauptstraße, die sich etwa vier Meilen weit durch eine schöne bewaldete Landschaft wand, bis sie auf die Allmende von Frimpton stieß, um die sie einen weiten Bogen schlug, um endlich ins Dorf einzumünden. Wimsey zögerte kurz, weil es schon dunkel wurde und der Weg ihm ebenso fremd war wie sein Reittier. Es schien aber ein gut markierter Reitweg über die Allmende zu führen, und so entschloß er sich dann doch, diesen zu nehmen. Polly Flinders schien den Weg ganz gut zu kennen, denn sie fiel ohne Zögern in einen leichten Galopp. Nach etwa anderthalb Meilen kamen sie ohne Zwischenfälle wieder auf die Hauptstraße. Eine Wegegabel stiftete hier kurz Verwirrung, aber Taschenlampe und Wegweiser lösten das Problem; weitere zehn Minuten brachten den Reisenden ans Ziel.

Major Lumsden war ein großer, fröhlicher Mann – nicht minder fröhlich durch den Verlust eines Beins im Krieg. Er hatte eine große, fröhliche Frau, ein großes, fröhliches Haus und eine große, fröhliche Familie. Wimsey fand sich bald vor einem Feuer wieder, das so groß und fröhlich war wie alles übrige in diesem Haus, und plauderte über einem Whisky-Soda mit seinen Gastgebern. Er schilderte mit ungehöriger Lust das Burdock-Begräbnis und erzählte dann die Geschichte mit der Geisterkutsche. Major Lumsden lachte. «Das ist schon eine komische Gegend hier», meinte er. «Und der Polizist ist nicht besser als alle andern. Weißt du noch, Liebes, wie ich mal raus mußte, um auf Pogsons Hof ein Gespenst zur Strecke zu bringen?»

«O ja!» rief seine Frau begeistert. «Die Mädchen hatten ihren großen Auftritt. Trivett – das ist der hiesige Polizist – kam atemlos hierher und fiel in der Küche in Ohnmacht, und dann saßen sie alle heulend und wehklagend um ihn herum und stärkten ihn mit unserm besten Cognac, während Dan hinging, um der Sache auf den Grund zu gehen.»

«Und, hast du das Gespenst zur Strecke gebracht?» «Nicht direkt das Gespenst, aber wir haben im leeren Haus ein Paar Stiefel und eine halbe Fleischpastete gefunden und konnten somit alles getrost auf einen Landstreicher schieben. Immerhin muß ich sagen, daß hier wirklich merkwürdige Dinge vor sich gehen. Zum Beispiel voriges Jahr diese Feuer auf der Allmende. Dafür gab’s nie eine Erklärung.»

«Zigeuner, Dan.»

«Möglich. Aber keiner hat sie je gesehen. Und die Feuer gingen in den unmöglichsten Situationen an, manchmal im strömenden Regen; und bevor man ihnen auch nur nahekommen konnte, waren sie wieder aus, und nur ein nasser schwarzer Fleck war übrig. Und da ist noch eine Stelle auf der Allmende, die den Tieren nicht geheuer ist – in der Nähe des sogenannten Totenpfahls. Meine Hunde trauen sich nicht in seine Nähe. Komische Viecher. Ich habe dort noch nie etwas gesehen, aber selbst am hellichten Tag scheinen sie etwas gegen diese Stelle zu haben. Die Allmende hat keinen guten Ruf. War früher mal ein beliebter Ort für Straßenräuber.»

«Hat die Burdock-Kutsche etwas mit Straßenräubern zu tun?»

«Nein. Die stammt von einem liederlichen, längst verblichenen Burdock, soviel ich weiß. Gehörte zum Höllfeuerclub oder so. Die übliche Geschichte. Die Leute hier glauben natürlich alle daran. Hat auch etwas Gutes. Da bleiben die Dienstboten abends im Haus. Na ja, aber jetzt werden wir uns mal was zu essen genehmigen, ja?»

«Erinnerst du dich noch an diese elende alte Mühle», fragte Major Lumsden, «und die drei Ulmen neben dem Schweinekoben?»

«Großer Gott, ja! Ich weiß noch, daß du sie uns freundlicherweise aus der Landschaft geschossen hast. Sie machten uns nun mal verdammt zu auffällig.»

«Sie haben uns aber sehr gefehlt, als sie weg waren.»

«Gott sei Dank hast du sie nicht verfehlt, als sie noch da waren. Aber ich sage dir mal, was du verfehlt hast.»

«Was denn?»

«Die alte Muttersau.»

«Himmel, ja! Weißt du noch, wie der alte Piper sie eingefangen hat?»

«Das kann man wohl sagen. Da fällt mir etwas ein. Du kanntest doch Bunthorne …»

«Ich sage gute Nacht», erklärte Mrs. Lumsden, «und lasse euch damit allein.»

«Erinnerst du dich noch», fragte Lord Peter Wimsey, «an diesen peinlichen Moment, als Popham durchdrehte?»

«Nein. Da hatte man mich gerade mit einem Gefangenentrupp nach hinten geschickt. Aber ich hab davon gehört. Ich hab nur nie mehr erfahren, was aus ihm geworden ist.»

«Ich habe ihn nach Hause schicken lassen. Er ist jetzt verheiratet und wohnt irgendwo in Lincolnshire.»

«Ach was? Na ja, er konnte wohl nichts dafür. War doch noch ein halbes Kind. Was ist aus Philpotts geworden?»

«Ach Gott, Philpotts …»

«Gib mal dein Glas her, Alter.»

«Ach was, Junge. Die Nacht ist noch jung …»

«Wirklich? Aber sag mal, warum bleibst du nicht einfach heute nacht hier? Meine Frau würde sich freuen. Ich habe dich im Handumdrehen untergebracht.»

«Nein, vielen herzlichen Dank. Ich muß mich auf den Heimweg machen. Habe schließlich versprochen, zurückzukommen und die Kette vorzulegen.»

«Natürlich, wie du meinst, aber es regnet immer noch. Keine schöne Nacht, um auf einem offenen Pferd heimzureiten.»

«Das nächste Mal nehme ich eins mit Dach. Wir sterben schon nicht. Regen soll gut für den Teint sein – läßt die Rosen wachsen. Du brauchst deinen Diener nicht zu wecken. Ich kann den Gaul selbst satteln.»

«Mein lieber Mann, das macht doch gar keine Mühe.» «Nein, wirklich nicht, Alter.»

«Na schön, dann komme ich aber mit und fasse mit an.» Eine Regenbö wehte zur Haustür herein, als sie sich in die Nacht begaben. Es war schon ein Uhr morgens vorbei und stockfinster. Major Lumsden wollte Wimsey noch einmal zum Bleiben überreden.

«Nein, danke. Wirklich. Es könnte die alte Dame kränken. Und so schlimm ist es gar nicht – naß, aber nicht kalt. Auf, Polly, rück mal ein Stückchen rüber, mein Mädchen.»

Er legte den Sattel auf und zurrte ihn fest, während Lumsden die Laterne hielt. Das Pferd, gesättigt und ausgeruht, kam tänzelnd aus seiner Box, den Kopf nach vorn gereckt und mit geblähten Nüstern in den Regen schnuppernd.

«Also, adieu, mein Alter. Besuch uns mal wieder. War prima.»

«Und wie! Himmel noch mal, ja. Beste Empfehlungen an Madame. Ist das Tor offen?»

«Ja.»

«Na, dann mach’s gut.»

«Du auch.»

Polly Flinders, die Witterung des heimischen Stalls in der Nase, schickte sich an, mit den neun Meilen Weg kurzen Prozeß zu machen. Sowie sie zum Tor hinaus waren, schien die Nacht auch heller, obwohl der Regen noch immer herunterströmte. Irgendwo hinter den jagenden Wolken war ein Mond versteckt, der hin und wieder einen blassen Fleck an den Himmel malte und einen noch blasseren Schimmer auf die Straße warf. Wimsey, den Kopf voller Erinnerungen und den Magen voller Whisky, summte im Reiten vor sich hin.

Als er an die Gabelung kam, zögerte er kurz. Sollte er die Abkürzung über die Allmende nehmen oder sich an die Straße halten? Nach kurzem Überlegen entschied er sich, die Allmende aus dem Spiel zu lassen – nicht wegen ihres finsteren Rufs, sondern wegen der Fahrrinnen und Karnickellöcher. Er ruckte am Zügel, rief seinem Reittier ein Wort der Aufmunterung zu und folgte weiter der Straße. Die Allmende lag jetzt rechts von ihm; links lagen Felder, gesäumt von hohen Hecken, die einen gewissen Schutz vor dem peitschenden Regen boten.

Er hatte die Steigung und die Stelle, wo der Reitweg wieder auf die Straße trifft, hinter sich, als ein kurzes Zucken und dann ein Stolpern seine Aufmerksamkeit unangenehm auf Polly Flinders lenkte.

«Mach keine Sachen, Polly», sagte er tadelnd.

Polly schüttelte den Kopf, setzte sich in Bewegung und versuchte ihren gemächlichen Schritt wieder aufzunehmen. «Hoppla!» sagte Wimsey besorgt. Er brachte das Pferd zum Stehen.

«Lahmt auf der linken Vorderhand», sagte er im Absteigen.

«Wenn du dir was gestaucht hast, mein Mädchen, und das vier Meilen von zu Hause, wird Vati sich aber freuen.» Zum erstenmal fiel ihm auf, wie sonderbar einsam diese Straße war. Er war noch nicht einem einzigen Auto begegnet. Ebensogut hätten sie sich in der afrikanischen Wildnis befinden können.

Er ließ seine Hand forschend am linken Vorderbein hinuntergleiten. Das Pferd stand ganz still, ohne zu zucken oder zu schnauben. Wimsey war ratlos.

«Wenn wir noch in der guten alten Zeit lebten», sagte er, «würde ich denken, du hast sicher einen Stein mitgenommen. Aber was –»

Er hob den Huf des Pferdes hoch und untersuchte ihn mit Fingern und Taschenlampe. Seine Diagnose war richtig gewesen. Ein Stahlbolzen, wahrscheinlich von einem vorbeifahrenden Wagen gefallen, hatte sich fest zwischen Hufeisen und Strahl eingeklemmt. Knurrend tastete er nach seinem Taschenmesser. Es war zum Glück noch eines von der guten alten Sorte, die außer Klingen und Korkenziehern auch über eine raffinierte Vorrichtung zum Entfernen von Fremdkörpern aus Pferdehufen verfügte.

Die Stute stupste ihn zärtlich an, als er sich ans Werk machte. Es war keine leichte Arbeit, denn er mußte sich die Taschenlampe unter den Arm klemmen, um die eine Hand für das Werkzeug und die andere für den Huf frei zu haben. Er fluchte leise ob dieser Schinderei vor sich hin, doch als er einmal den Kopf hob, um die Straße hinunterzusehen, glaubte er plötzlich den Schimmer einer Bewegung wahrzunehmen. Seine Sicht war allerdings behindert, denn an dieser Stelle erhoben sich hohe Bäume beiderseits der Straße, die hier von der Grenze der Allmende an ziemlich steil abfiel. Es war kein Auto; dafür war das Licht zu schwach. Vielleicht ein Fuhrwerk mit abgedunkelter Laterne. Doch es schien sich schnell zu bewegen. Er wunderte sich kurz, dann beugte er sich wieder über seine Arbeit.

Der Bolzen widersetzte sich seinen Bemühungen, und das Pferd, an einer empfindlichen Stelle berührt, zuckte zurück und versuchte den Fuß auf den Boden zu stellen. Er beruhigte es mit besänftigenden Worten und tätschelte ihm den Hals. Dabei entglitt ihm die Taschenlampe. Er fluchte ungehalten, stellte den Huf auf den Boden und hob die Lampe vom Grasbankett auf, wohin sie gerollt war. Als er sich wieder aufrichtete, blickte er noch einmal die Straße hinunter, und da sah er es.

Unter dem tropfenden Dunkel der Bäume kam sie dahergeglitten, schimmernd in blassem, mondweißem Licht. Kein Hufegetrappel war zu hören, kein Räderrumpeln, kein Klirren von Zaumzeug und Geschirr. Er sah die weißen, glatten, glänzenden Schultern mit den Kummeten, matt leuchtenden Ringen gleich, die nichts umschlossen. Er sah die glänzenden Zügel, deren abgeschnittene Enden frei durch die Ringe vor- und rückwärts glitten. Die Hufe, die nie den Boden berührten, liefen schnell – auf vier mal vier lautlosen Füßen glitten die schimmernden Leiber heran wie Rauchschwaden. Der Kutscher beugte sich vor und schwang die Peitsche. Er hatte kein Gesicht, keinen Kopf, doch seine ganze Haltung verriet allergrößte Eile. Im strömenden Regen war die Kutsche kaum zu sehen, doch Wimsey sah verschwommen die wirbelnden Räder sowie still und steif im Fenster etwas Mattes, Weißes. Das Gespann flog im wilden Galopp vorüber – kopfloser Kutscher und kopflose Pferde und lautlose Kutsche. Ihre Vorbeifahrt erzeugte einen feinen Lufthauch und ein Geräusch, das weniger ein Ton als eine bloße Schwingung war – gefolgt von einem heulenden Windstoß aus Süden und einem heftigen Regenschauer.

«Großer Gott!» stöhnte Wimsey. Und dann: «Wieviel Whisky haben wir denn eigentlich getrunken?»

Er drehte sich um und schaute mit angestrengtem Blick die Straße zurück. Dann fiel ihm plötzlich das Pferd wieder ein, und ohne sich noch länger mit der Taschenlampe abzumühen, hob er den Fuß hoch und arbeitete nach Gefühl weiter. Der Bolzen machte keine weiteren Umstände und fiel fast augenblicklich in seine Hand. Polly Flinders seufzte dankbar und schnaubte ihm ins Ohr.

Wimsey führte sie ein paar Schritte vorwärts. Sie setzte den Huf sicher und kräftig auf. Der unverzüglich entfernte Bolzen hatte keine wunde Stelle hinterlassen. Wimsey saß auf und gab der Stute die Zügel frei – aber plötzlich zog er ihren Kopf herum.

«Das will ich doch mal sehen», sagte er entschlossen. «Auf, mein Mädchen! Wir lassen uns nicht von kopflosen Pferden unterkriegen. Ohne Kopf herumzurennen gehört sich einfach nicht. Hopp, mein Pferdchen. Jetzt geht’s über die Allmende. An der Wegegabel kriegen wir sie.»

Ohne die allermindeste Rücksicht auf seinen Gastgeber oder dessen Eigentum lenkte er das Pferd auf den Reitweg und trieb es zum Galopp an.

Zuerst glaubte er ein blasses, weißes Flattern zu sehen, das sich vor ihm auf der Straße dahinbewegte. Aber bald entfernten Straße und Reitweg sich voneinander, und er verlor es aus den Augen. Er wußte jedoch, daß es keine Nebenstraße gab. Falls seinem Reittier kein Unglück zustieß, mußte er die Kutsche abfangen können, bevor sie die Straßengabel erreichte. Polly Flinders jagte mit der aus Vertrautheit geborenen Gelassenheit über den unebenen Weg dahin. Nach weniger als zehn Minuten klapperten ihre Hufe wieder auf dem Asphalt. Er zügelte sie, drehte sie in Richtung Little Doddering und spähte die Straße entlang. Noch sah er nichts. Entweder war er der Kutsche weit voraus, oder sie war mit unvorstellbarer Geschwindigkeit hier schon vorbei, oder – Er wartete. Nichts. Der starke Regen hatte sich gelegt, und der Mond kämpfte sich wieder durch die Wolken. Die Straße lag völlig verlassen da. Er sah über die Schulter zurück. Ein kleiner Lichtstrahl bewegte sich dicht über dem Boden, schwenkte herum, blinkte grün und rot und wieder weiß und kam auf ihn zu. Bald erkannte er, daß es ein Polizist war, der ein Fahrrad schob.

«Eine schlimme Nacht, Sir», sagte der Polizist höflich, aber mit einem fragenden Unterton in der Stimme.

«Widerlich», sagte Wimsey.

«Mußte zu allem Überfluß vorhin noch einen Platten flikken», ergänzte der Polizist.

Wimsey drückte Mitgefühl aus. «Sind Sie schon lange hier?» fügte er hinzu.

«Knapp zwanzig Minuten.»

«Haben Sie etwas aus Richtung Little Doddering hier vorbeikommen sehen?»

«Hier ist nichts vorbeigekommen, solange ich hier war. Meinen Sie etwas Bestimmtes, Sir?»

«Ich meine, ich hätte –» Wimsey stockte. Er hatte eigentlich keine große Lust, sich zum Narren zu machen. «Eine Kutsche mit vier Pferden», sagte er zögernd. «Sie ist vor einer knappen Viertelstunde auf dieser Straße an mir vorbeigefahren – drüben auf der anderen Seite der Allmende. Ich – bin zurückgekommen, um sie mir anzusehen. Sie kam mir ungewöhnlich vor–» Er merkte, daß seine Geschichte nicht sehr überzeugend klang.

Der Polizist antwortete schnell und in ziemlich scharfem Ton: «Hier ist nichts vorbeigekommen.»

«Wissen Sie das sicher?»

«Ja, Sir; und wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, würden Sie jetzt besser nach Hause reiten. Ist ein einsames Stück Straße hier.»

«Ja, finden Sie auch?» meinte Wimsey. «Schön, dann gute Nacht, Sergeant.»

Er wandte den Kopf der Stute wieder in Richtung Little Doddering und ritt sehr still davon. Er sah nichts, hörte nichts und begegnete nichts und niemandem. Die Nacht war jetzt heller, und auf dem Rückweg fand er noch einmal bestätigt, daß es hier keinerlei Nebenstraßen gab. Was immer er gesehen hatte, es war irgendwo entlang der Allmende einfach verschwunden; es war weder der Hauptstraße noch irgendeiner anderen gefolgt.

Wimsey kam am andern Morgen ziemlich spät zum Frühstück herunter und traf seine Gastgeber in einiger Erregung an.

«Es ist etwas Unfaßliches passiert», sagte Mrs. FrobisherPym.

«Ungeheuerlich!» ergänzte ihr Gatte. «Ich habe Hancock ja gewarnt. Er kann nicht sagen, ich hätte ihn nicht gewarnt. Aber so sehr man seine Umtriebe mißbilligen mag, für solch schändliches Betragen gibt es keine Entschuldigung. Wenn ich diese Halunken erst mal in die Finger kriege, egal wer sie sind –»

«Was gibt’s denn?» fragte Wimsey, indem er sich von den gebratenen Nieren auf der Anrichte bediente.

«Ein Skandal größten Ausmaßes», erklärte Mrs. FrobisherPym. «Der Pfarrer ist sofort zu Tom gekommen – ich hoffe übrigens, wir haben Sie nicht gestört mit all dem Trubel. Jedenfalls, als Mr. Hancock heute morgen zur Kirche kam, um die Frühmesse zu lesen –»

«Nein, nein, meine Liebe, das berichtest du falsch. Laß es mich erzählen. Als Joe Grinch – das ist der Kirchendiener, der als erster da sein muß, um die Glocke zu läuten –, als er ankam, stand das Südportal weit offen, und niemand war in der Kapelle, obwohl sie doch beim Sarg hätten sein müssen. Er hat sich natürlich sehr gewundert, aber angenommen, daß Hubbard und der junge Rawlinson es wohl leid gewesen und nach Hause gegangen waren. Er ist also weiter zur Sakristei gegangen, um seine Gewänder und so weiter zurechtzulegen, und zu seinem großen Erstaunen hörte er da von drinnen Frauenstimmen rufen. Er war so verdutzt, daß er gar nicht mehr wußte, wo er war, aber er ist dann doch hingegangen und hat die Tür aufgeschlossen –»

«Mit seinem eigenen Schlüssel?» fragte Wimsey dazwischen.

«Der Schlüssel steckte. In der Regel hängt er an einem Nagel unter einem Vorhang bei der Orgel, aber heute steckte er im Schloß – wo er nicht hingehört. Und in der Sakristei fand er Mrs. Hancock und ihre Tochter, halbtot vor Angst und Empörung.»

«Heilige Neune!»

«Das kann man wohl sagen. Und sie hatten eine haarsträubende Geschichte zu erzählen. Sie hatten um zwei Uhr die anderen beiden Beter abgelöst und sich vor dem Sarg hingekniet, ganz wie geplant, um die entsprechenden Gebete zu verrichten – was das auch immer für welche sind. Sie waren, soweit sie das noch sagen können, etwa zehn Minuten dort, als sie am Hochaltar ein Geräusch hörten, als ob dort jemand herumschliche. Miss Hancock ist ein sehr beherztes Mädchen. Sie stand auf und ging im Dunkeln das Kirchenschiff hinauf, gefolgt von Mrs. Hancock, die, wie sie sagt, nicht gern allein gelassen werden wollte. Als sie am Altargitter waren, rief Miss Hancock laut: ‹Wer ist da?› In dem Moment hörten sie ein Rascheln, und dann klang es so, als ob etwas umgeworfen würde. Miss Hancock schnappte sich mutig einen Stab des Kirchendieners, der an einem der Chorstühle steckte, und rannte vorwärts, weil sie dachte, da wolle jemand das Kirchengerät vom Altar stehlen. Zum Beispiel ist darunter ein sehr schönes Kreuz aus dem fünfzehnten Jahrhundert –»

«Das Kreuz ist doch jetzt unwichtig, Tom. Es wurde ja nicht gestohlen.»

«Das nicht, aber Miss Hancock glaubte es. Jedenfalls, als sie an die Altarstufen kam, immer noch dicht gefolgt von Mrs. Hancock, die sie inständig bat, vorsichtig zu sein, da muß jemand aus einem der Chorstühle herausgesprungen sein, der sie bei den Armen packte und in die Sakristei ‹abführte›, wie sie es nennt. Und bevor sie auch nur zum Schreien Luft holen konnte, wurde Mrs. Hancock neben ihr in die Sakristei gestoßen und die Tür zugeschlossen.»

«Beim Zeus! Sie erleben ja aufregende Zeiten in diesem Dorf.»

«Nun ja», sagte Mr. Frobisher-Pym. «Natürlich lebten die beiden in Todesängsten, denn sie konnten ja nicht wissen, ob diese Verbrecher nicht wiederkommen und sie ermorden würden, und zumindest mußten sie ja annehmen, die Kirche würde ausgeplündert. Aber die Sakristeifenster sind sehr schmal und zudem vergittert, so daß sie nichts anderes tun konnten als warten. Sie versuchten zu horchen, aber viel hörten sie nicht. Sie konnten nur hoffen, daß ihre Ablösung für vier Uhr etwas früher eintreffen und die Diebe auf frischer Tat ertappen würde. Aber sie warteten und warteten, und es schlug vier Uhr und fünf Uhr, und niemand kam.»

«Was ist denn aus Rawlinson und diesem Dingsda geworden?»

«Das konnten sie zunächst nicht feststellen, und Grinch auch nicht. Aber sie haben sich sehr genau in der Kirche umgesehen, und anscheinend war nichts gestohlen und auch nichts zerstört worden. Gerade in dem Moment kam dann der Pfarrer dazu, und sie erzählten ihm alles. Er war natürlich über die Maßen schockiert, und sein erster Gedanke war – nachdem er gesehen hatte, daß alles Kirchengerät noch da war und auch der Opferstock nicht aufgebrochen war –, daß irgendwelche Kensititen die Hostien aus dem Was-weiß-ich gestohlen haben könnten.»

«Aus dem Tabernakel», half Wimsey nach.

«Ja, so heißt er wohl. Das war seine größte Sorge, und er hat ihn aufgeschlossen und nachgesehen, aber die Hostien waren noch alle da, und da es nur den einen Schlüssel dazu gibt und er ihn immer an seiner Uhrkette hängen hat, konnte es wohl auch nicht sein, daß jemand die geweihten Hostien gegen ungeweihte vertauscht oder irgendeinen Streich in der Art gespielt haben könnte. Daraufhin schickte er also Mrs. und Miss Hancock nach Hause und sah sich auch einmal außerhalb der Kirche um, und das erste, was er da sah, war das Motorrad vom jungen Rawlinson, das beim Südportal in den Büschen lag.»

«Oho!»

«Sein nächster Gedanke war also, nach Rawlinson und Hubbard zu suchen. Aber da brauchte er nicht einmal weit zu suchen. Er war erst bis zum Heizungskeller an der Nordseite gekommen, als er dort einen furchtbaren Krach hörte. Drinnen brüllten Leute herum und hämmerten gegen die Tür. Er rief also Grinch, und wie sie durch das kleine Fenster sahen, bitte sehr, da waren es Hubbard und der junge Rawlinson, die da herumtobten und gotteslästerlich fluchten. Offenbar waren sie genau auf die gleiche Weise überfallen worden, aber schon bevor sie in die Kirche kamen. Rawlinson hatte, soweit ich verstanden habe, den Abend bei Hubbard verbracht, und sie hatten ein paar Stunden unten in der Bar geschlafen, um das Haus nicht zu früh zu wecken – sagen sie zumindest, aber wenn die Wahrheit an den Tag käme, möchte ich behaupten, daß sie gezecht haben; und wenn das Hancocks Vorstellung von einer geziemenden Vorbereitung auf Kirchenbesuch und Beten ist, kann ich nur sagen, meine ist das nicht. Jedenfalls sind sie dann kurz vor vier aufgebrochen, Hubbard auf dem Gepäckträger von Rawlinsons Motorrad. Sie mußten am Südportal absteigen, weil es zugedrückt war, und während Rawlinson sein Motorrad den Weg hinaufschob, sprangen zwischen den Bäumen plötzlich zwei oder drei Mann hervor – so genau konnten sie das nicht sehen. Es gab ein Handgemenge, aber wegen des Motorrads und infolge ihrer Überraschung konnten sie sich nicht gut wehren, und die Männer hatten ihnen Decken über die Köpfe geworfen oder irgend so etwas. Im einzelnen weiß ich das nicht so genau. Jedenfalls wurden sie in den Heizungskeller verfrachtet und dort zurückgelassen. Meines Wissens sind sie da vielleicht noch immer, falls der Schlüssel nicht inzwischen gefunden wurde. Es müßte eigentlich noch ein Zweitschlüssel da sein, aber was aus dem geworden ist, weiß ich nicht. Sie haben heute morgen danach geschickt, aber ich habe ihn schon lange nirgends mehr gesehen.»

«Dann steckte er diesmal also nicht im Schloß?»

«Nein, sie mußten nach dem Schlosser schicken. Ich gehe jetzt mal hin, um zu sehen, was inzwischen unternommen wurde. Möchten Sie mitkommen, wenn Sie fertig sind?»

Wimsey bejahte. Wenn es irgendwo ein Problem gab, war er immer Feuer und Flamme.

«Sie sind ziemlich spät wiedergekommen», meinte Mr. Frobisher-Pym leutselig, als sie aus dem Haus traten. «Haben wohl die alten Zeiten hochleben lassen, wie?»

«Allerdings», sagte Wimsey.

«Hoffentlich hat die alte Mähre Sie so getragen, wie sich’s gehört. Ein einsames Stück Straße, was? Aber Sie sind wohl niemand Schlimmerem als sich selbst begegnet, wie man so sagt?»

«Nur einem Polizisten», log Wimsey. Er war wegen der Geisterkutsche noch nicht ganz mit sich im reinen. Zweifellos würde Plunkett sehr erleichtert sein, wenn er erführe, daß er nicht der einzige war, der eine «Warnung» erhalten hatte. Aber – war es denn wirklich die Geisterkutsche gewesen oder nur eine Täuschung, hervorgerufen durch den Whisky und die Erinnerung? Im kalten Licht des Tages war Wimsey sich da nicht mehr so sicher.

Als der Friedensrichter und sein Gast bei der Kirche ankamen, hatte sich dort schon ein kleiner Menschenauflauf gebildet, in dem besonders der Pfarrer auffiel, der in Priesterrock und Birett wild herumgestikulierte, sowie der Polizist, der seinen Uniformrock schief zusammengeknöpft hatte und in seiner würdevollen Haltung stark beeinträchtigt wurde durch die Dorfjugend, die sich um seine Beine drängte. Er hatte soeben die Aussagen der beiden aus dem Heizungskeller befreiten Männer aufgenommen. Der jüngere von diesen beiden, ein gesund und frech aussehender Bursche von etwa fünfundzwanzig Jahren, war gerade dabei, sein Motorrad zu starten. Er grüßte Mr. Frobisher-Pym freundlich. «Schätze, wir haben uns ganz schön blamiert, Sir. Aber Sie entschuldigen mich, ja? Muß zurück nach Herriotting. Mr. Graham wird sich nicht gerade freuen, wenn ich zu spät zur Arbeit komme. Ich denke, da haben sich ein paar so Schlauberger einen Spaß auf unsere Kosten erlaubt.» Er grinste, während er den Gashebel herumwarf und in einer ganz und gar unnötigen Qualmwolke, die Mr. Frobisher-Pym niesen machte, davonknatterte. Sein Leidensgefährte, ein großer, dicker Mann, im Aussehen ganz der vergnügte Schankwirt, der er war, grinste den Friedensrichter verlegen an.

«Also, Hubbard», sagte letzterer, «hoffentlich hat Ihr Abenteuer Ihnen Spaß gemacht. Ich muß schon sagen, daß es mich ein bißchen wundert, wenn ein großer, starker Mann wie Sie sich so einfach in den Kohlenkeller sperren läßt wie ein ungezogener Bengel.»

«Ja, Sir, ich war ja selbst ganz verdattert», erwiderte der Wirt durchaus gutmütig. «Als mir die Decke da über den Kopf kam, war ich der verdattertste Mensch in der ganzen Grafschaft. Ich kann mich allerdings erinnern, daß ich denen ein paar ganz schöne Tritte vors Schienbein verpaßt habe», fügte er mit erinnerungsseligem Lachen an.

«Wie viele waren es denn?» fragte Wimsey.

«Drei oder vier, würde ich sagen, Sir. Aber schließlich hab ich sie nicht gesehen und nur reden hören. Zwei haben jedenfalls mich gepackt, da bin ich ganz sicher, und der junge Rawlinson meint, daß es bei ihm nur einer war, aber der war dafür bärenstark.»

«Wir müssen jeden Stein umdrehen, um herauszubekommen, wer diese Leute waren», sagte der Pfarrer erregt. «Ah, Mr. Frobisher-Pym, kommen Sie doch mal und sehen Sie sich an, was die in der Kirche getrieben haben. Es ist genau, wie ich es mir vorgestellt habe – ein antikatholischer Protest. Wir müssen schon froh und dankbar sein, daß sie nicht noch mehr angestellt haben als das.»

Er führte sie hinein. Jemand hatte ein paar Hängelampen in dem düsteren kleinen Altarraum angezündet. In ihrem Licht sah Wimsey, daß der Adler, der das Chorpult bildete, eine gewaltige rot-weiß-blaue Schleife um den Hals hängen hatte, an der ein großes Plakat baumelte – offensichtlich aus der Redaktion der Lokalzeitung geklaut-: «VATIKAN BANNT UNZÜCHTIGE KLEIDUNG». Auf jedem der Chorstühle saß ein Teddybär in liebenswürdiger Stumpfheit, alle scheinbar in die Chorbücher vertieft, die sie verkehrtherum hielten, während vor jedem auf der Bankleiste eine Ausgabe der Sporting Times lag. Auf der Kanzel hatte eine Schelmenhand einen vielsagenden Eselskopf aufgestellt, elegant mit einem Nachthemd dekoriert und mit einem wunderschönen, aus Goldpapier ausgeschnittenen Heiligenschein gekrönt.

«Ist das nicht schändlich?» fragte der Pfarrer.

«Nun ja, Hancock», antwortete Mr. Frobisher-Pym, «ich muß sagen, für meinen Geschmack haben Sie das selbst herausgefordert – obschon ich natürlich völlig Ihrer Meinung bin, daß man so etwas keinesfalls dulden darf und die Übeltäter entdeckt und streng bestraft werden müssen. Aber Sie müssen verstehen, daß diese Leute viele Ihrer Praktiken bestenfalls für papistischen Unfug halten, und wenn das auch keine Entschuldigung ist –»

Die tadelnde Stimme bellte weiter und weiter.

«… was ich wirklich nur als Sakrileg empfinden kann, diese Sache mit dem alten Burdock – dessen Leben …»

Der Polizist hatte inzwischen die schaulustigen Dorfbewohner aus dem Weg gestoßen und stand nun neben Lord Peter am Zugang zum Altarraum.

«Waren Sie das heute früh da draußen auf der Straße, Sir? Aha! Ich hab mir doch gedacht, daß mir Ihre Stimme bekannt vorkommt. Sind Sie gut nach Hause gekommen, Sir? Ist Ihnen nichts begegnet?»

In seinem Ton lag eine Spur mehr als nur höfliches Interesse. Wimsey drehte sich rasch um.

«Nein, mir ist nichts – mehr begegnet. Wer fährt eigentlich hier in der Gegend nachts in einer Kutsche mit vier weißen Pferden herum, Sergeant?»

«Ich bin noch nicht Sergeant, Sir – mit meiner Beförderung hat es noch eine Weile Zeit. Also, Sir, mit diesen weißen Pferden, das kann ich nicht so recht sagen. Mr. Mortimer drüben in Abotts Bolton hat ein paar schöne Grauschimmel, und er ist der größte Pferdezüchter weit und breit – aber, nun ja, Sir, ich glaube nicht, daß er bei solchem Regen herumfahren würde, nicht wahr, Sir?»

«Vernünftig würde man das jedenfalls nicht nennen.»

«Eben, Sir. Und –» Der Konstabler beugte sich dicht an Wimsey heran und flüsterte ihm ins Ohr –, «und außerdem hat Mr. Mortimer einen Kopf auf den Schultern – und seine Pferde übrigens auch.»

«Nun denn», meinte Wimsey, ein wenig erschrocken ob dieser zutreffenden Bemerkung, «haben Sie denn je ein Pferd ohne gesehen?»

«Nein, Sir», antwortete der Polizist mit Nachdruck, «ich hab noch nie ein lebendes Pferd ohne gesehen. Aber das bringt ja nichts, wie man so schön sagt. Nun zu der Geschichte hier in der Kirche, das ist doch nur ein Lausbubenstreich, sonst gar nichts. Wissen Sie, Sir, die wollten nichts Böses; nur ihren Unfug treiben. Der Pfarrer mag ja reden, Sir, aber das waren keine Kensititen oder so was, das sieht man doch mit einem Blick. Reiner Schabernack und sonst gar nichts.»

«Zu dem Schluß war ich auch schon gekommen», sagte Wimsey interessiert, «aber ich würde ganz gern wissen, wie Sie darauf kommen.»

«Meine Güte, Sir, fühlt das denn nicht ein Blinder mit dem Stock? Wenn das Kensititen gewesen wären, hätten sie es dann nicht auf die Kreuze und Bilder und Lampen und – das da – abgesehen gehabt?» Damit streckte er einen schwieligen Finger in Richtung Tabernakel aus. «Nein, Sir, die Burschen, die das gemacht haben, die haben die sogenannten heiligen Bildnisse nicht angerührt – und den Kommuniontisch haben sie auch in Ruhe gelassen. Darum sag ich, das war hier kein Religionskrieg, sondern nur sozusagen ein Streich. Und Mr. Burdocks Leiche haben sie auch mit Respekt behandelt, wie Sie sehen, Sir. Das zeigt doch, daß sie eigentlich gar nichts Schlimmes wollten, oder?»

«Ganz Ihrer Meinung», sagte Wimsey. «Überhaupt haben sie geradezu peinlich darauf geachtet, nichts anzurühren, was Kirchgängern wirklich heilig ist. Sagen Sie, wie lange sind Sie schon auf diesem Posten, Konstabler?»

«Im Februar sind’s drei Jahre, Sir.»

«Haben Sie schon mal daran gedacht, nach London zu gehen und sich bei der Kriminalpolizei zu versuchen?»

«Hm, ja, Sir, das hab ich – aber die warten ja nicht nur darauf, daß einer sozusagen daherkommt.»

Wimsey nahm eine Visitenkarte aus der Brieftasche.

«Wenn Sie es je ernsthaft erwägen», sagte er, «geben Sie diese Karte Chefinspektor Parker und plaudern Sie ein bißchen mit ihm. Sagen Sie ihm, daß ich finde, Sie können hier nicht genug zeigen, was in Ihnen steckt. Er ist nämlich ein sehr guter Freund von mir und wird Ihnen eine gute Chance geben, das weiß ich.»

«Ich habe schon von Ihnen gehört, Mylord», sagte der Konstabler geschmeichelt, «und das ist wirklich sehr freundlich von Eurer Lordschaft. So, aber jetzt gehe ich am besten mal weiter. Überlassen Sie das nur mir, Mr. Frobisher-Pym, Sir; der Sache werden wir schon bald auf den Grund kommen.»

«Das will ich hoffen», antwortete der Friedensrichter. «Und derweil will ich auch annehmen, Mr. Hancock, daß Sie einsehen, wie unangebracht es ist, nachts die Kirchentüren offen zu lassen. So, kommen Sie, Wimsey; jetzt wollen wir die Leute mal die Kirche wieder fürs Begräbnis in Ordnung bringen lassen. Was haben Sie denn da gefunden?»

«Nichts», sagte Wimsey, der in der Jungfrauenkapelle interessiert zu Boden geschaut hatte. «Ich hatte schon gefürchtet, Sie hätten hier den Holzwurm drin, aber wie ich sehe, ist es nur Sägemehl.» Er wischte sich, während er sprach, den Finger ab und folgte Mr. Frobisher-Pym aus dem Gotteshaus.

Wer sich in einem Dorf aufhält, von dem wird erwartet, daß er an den Interessen und Vergnügungen der Gemeinde Anteil nimmt. Demgemäß wohnte Lord Peter pflichtschuldigst der Beisetzung des Gutsherrn Burdock bei und sah mit eigenen Augen, wie der Sarg wohlbehalten der Erde übergeben wurde – bei Regen, gewiß, aber dennoch unter Anteilnahme einer großen und ehrerbietigen Trauergemeinde. Nach der Zeremonie wurde er Mr. und Mrs. Haviland Burdock förmlich vorgestellt und sah seinen schon früher gewonnenen Eindruck bestätigt, daß die Dame gut, um nicht zu sagen zu gut gekleidet war – wie man es wohl von einer Dame erwarten konnte, deren Garderobe sich auf dem Fundament von Seidenstrümpfen aufbaute. Sie war eine gutaussehende Frau von einer auffallenden, großspurigen Art, und die Hand, die Wimseys Hand umfaßte, war geradezu schmerzhaft mit Diamanten gespickt. Haviland schien zu Freundlichkeit aufgelegt zu sein – und schließlich haben Seidenstrumpfhersteller ja auch keinen Grund, gegenüber reichen Männern blauen Blutes zu etwas anderem aufgelegt zu sein. Er schien Wimseys Ruf als Antiquitätenliebhaber und Büchersammler zu kennen und lud ihn herzlich ein, mitzukommen und sich das alte Gutshaus anzusehen.

«Mein Bruder Martin ist noch im Ausland», sagte er, «aber er würde Sie sicherlich gern hereinbitten und Ihnen das Anwesen zeigen. Wie ich höre, stehen in der Bibliothek einige schöne alte Bücher. Wir bleiben noch bis Montag – wenn Mrs. Hancock so gütig ist, so lange unsere Gastgeberin zu sein. Wie wär’s, wenn Sie morgen nachmittag kämen?»

Wimsey sagte, es werde ihm eine Freude sein.

Mrs. Hancock mischte sich ein und fragte, ob Lord Peter nicht zuvor noch zum Tee ins Pfarrhaus kommen wolle. Wimsey sagte, das sei sehr freundlich von ihr.

«Dann ist das abgemacht», sagte Mrs. Burdock. «Sie und Mr. Pym kommen zum Tee, und dann sehen wir uns zusammen das Haus an. Ich habe es ja selbst noch kaum gesehen.»

«Es lohnt sich anzusehen», sagte Mr. Frobisher-Pym. «Schönes altes Haus, aber es zu erhalten kostet einiges Geld. Ist noch nichts von dem Testament aufgetaucht, Mr. Burdock?»

«Bisher überhaupt nichts», antwortete Haviland. «Das ist schon merkwürdig, denn Mr. Graham – das ist sein Anwalt, Lord Peter – hat mit Sicherheit eins aufgesetzt, und zwar kurz nach dem unglücklichen Zerwürfnis des armen Martin mit unserm Vater. Er erinnert sich noch genau daran.»

«Weiß er denn nicht mehr, was darin steht?»

«Er wird es wohl wissen, aber er hält es für einen Verstoß gegen die guten Sitten, darüber zu sprechen. Er ist noch einer vom alten Schrot und Korn. Der arme Martin hat ihn immer einen alten Gauner genannt – aber er war mit Martin ja auch nicht so recht einverstanden, und da war Martin natürlich nicht ganz unvoreingenommen. Und außerdem ist das ja alles, wie Mr. Graham richtig sagt, Jahre her, und es wäre ohne weiteres denkbar, daß der alte Herr das Testament später vernichtet oder in Amerika sogar ein neues aufgesetzt hat.»

«Der ‹arme Martin› scheint ja hier nicht eben beliebt gewesen zu sein», meinte Wimsey zu Mr. Frobisher-Pym, als sie sich von den Burdocks verabschiedet hatten und auf dem Heimweg waren.

«N-nein», sagte der Friedensrichter. «Jedenfalls nicht bei Graham. Ich persönlich mochte den Jungen eigentlich recht gern, obwohl er ein kleiner Bruder Leichtsinn war. Ich nehme an, daß er mit der Zeit etwas reifer geworden ist – und mit der Ehe. Schon komisch, daß sie das Testament nicht finden. Aber wenn es zur Zeit des Krachs abgefaßt wurde, ist es bestimmt zu Havilands Gunsten.»

«Ich glaube jedenfalls, daß Haviland das glaubt», sagte Wimsey. «Seine ganze Art strömte so etwas wie sittsame Befriedigung aus. Wahrscheinlich hat der diskrete Graham ziemlich klar zum Ausdruck gebracht, daß der Vorteil nicht auf Seiten des unaussprechlichen Martin liegt.»

Der darauffolgende Morgen war schön, und Wimsey, der in Little Doddering war, um Ruhe und frische Luft zu genießen, bat noch einmal um Polly Flinders. Sein Gastgeber tat ihm den Gefallen gern und bedauerte nur, daß er ihn nicht begleiten könne, da er an einer Sitzung des Stiftungsrats für das Armenhaus teilnehmen müsse.

«Aber Sie könnten sich auf der Allmende einmal so richtig austoben», schlug er vor. «Sie reiten nach Petering Friars, biegen ab über die Allmende, bis Sie zum Totenpfahl kommen, und kehren über die Straße nach Frimpton zurück. Das gibt einen schönen Rundritt – ungefähr neunzehn Meilen. Dann sind Sie, wenn Sie es gemächlich angehen, zum Mittagessen gut wieder zurück.»

Wimsey ging auf den Plan ein – um so bereitwilliger, als er mit seinem eigenen stillen Vorhaben voll und ganz übereinstimmte. Er hatte einen bestimmten Grund, warum er die Straße nach Frimpton auch einmal bei Tageslicht sehen wollte.

«Aber seien Sie vorsichtig am Totenpfahl», meinte Mrs. Frobisher-Pym besorgt. «Die Pferde scheuen häufig davor. Ich weiß auch nicht, warum. Die Leute sagen natürlich –»

«Alles Unsinn», erklärte ihr Gatte. «Die Dorfbewohner haben etwas gegen diese Stelle, und das macht die Pferde nervös. Es ist schon erstaunlich, wie sich die Gefühle des Reiters auf sein Reittier übertragen. Ich hatte am Totenpfahl noch nie Schwierigkeiten.»

Es war ein ruhiger und selbst im November hübscher Weg nach Petering Friars. Wimsey fühlte sich so richtig wohl, während er in der Wintersonne über die gewundenen Feldwege von Essex dahinzuckelte. Ein scharfer Galopp über die Allmende ließ seine Stimmung himmelhoch fliegen. Den Totenpfahl und seinen unheimlichen Ruf hatte er schon ganz vergessen, als ein heftiges Erschrecken und Scheuen, das ihn beinahe aus dem Sattel warf, ihn gewaltsam in die Wirklichkeit zurückrief. Mit einiger Mühe brachte er Polly Flinders wieder unter Kontrolle und zum Stehen.

Er hatte, einem beiderseits von Farn und Ginster gesäumten Reitweg folgend, den höchsten Punkt der Gemeindewiese erreicht. Ein Stückchen weiter vorn schien ein anderer Reitweg einzumünden, und genau dort, wo die beiden Wege zusammentrafen, stand etwas, was er zunächst für einen verfallenen Wegweiser hielt. Der Pfosten war allerdings für einen Wegweiser etwas zu kurz und dick und hatte auch keine Schilder. Dafür schien er aber auf der ihm zugewandten Seite eine Inschrift zu tragen.

Er beruhigte die Stute und drängte sie sanft auf den Pfosten zu. Sie machte ein paar zögernde Schritte, dann versuchte sie schnaubend und zitternd zur Seite auszubrechen.

«Komisch!» sagte Wimsey. «Wenn das mein Gemütszustand ist, der sich dem Reittier mitteilt, sollte ich besser mal zum Arzt. Meine Nerven müssen ja in Fetzen hängen. Komm, mein Mädchen! Was ist denn mit dir los?»

Polly Flinders rührte sich mit allen Zeichen des Bedauerns, aber auch der Entschiedenheit, nicht vom Fleck. Er versuchte ihr behutsam die Fersen zu geben, doch sie wich mit zurückgelegten Ohren nur weiter zur Seite aus, und er sah das Weiße eines protestierenden Auges. Er glitt vom Sattel, faßte ins Zaumzeug und versuchte sie weiterzuführen. Nach einigem guten Zureden folgte das Pferd ihm auch mit weit ausgestrecktem Hals und vorsichtigen Schritten, als ginge es auf Eiern. Nach einem Dutzend solcher tastenden Schritte blieb es, an allen Gliedern zitternd, von neuem stehen. Er legte ihm die Hand an den Hals und fand ihn schweißnaß.

«Zum Teufel aber auch!» sagte Wimsey. «Hör mal zu, ich will gefälligst lesen, was da auf dem Pfosten steht. Wenn du schon nicht mitkommst, wirst du wenigstens stehenbleiben?»

Er ließ den Zügel fallen. Die Stute stand mit hängendem Kopf da. Er ließ sie stehen und ging weiter, allerdings von Zeit zu Zeit einen Blick nach hinten werfend, ob sie auch keine Anstalten machte, die Flucht zu ergreifen. Polly stand jedoch ganz still da und trat nur unruhig von einem Fuß auf den andern.

Wimsey erreichte den Pfosten. Es war ein gedrungener Pfeiler aus frisch geweißtem altem Eichenholz. Auch die Inschrift darauf war erst kürzlich mit schwarzer Farbe erneuert worden. Sie lautete:

AN DIESER STELLE WURDE
 GEORGE WINTER BEI DER VERTEIDIGUNG
 DES EIGENTUMS SEINES HERRN
 MEUCHLINGS ERMORDET VOM
 SCHWARZEN RALPH
 AUS HERRIOTTING
DER DAROB AM 9. NOVEMBER 1674
AM ORT SEINES VERBRECHENS
IN KETTEN GEHÄNGT WURDE
FÜRCHTET DIE GERECHTIGKEIT

«Wie hübsch», sagte Wimsey. «Das muß zweifellos der Totenpfahl sein. Polly Flinders scheint die allgemeine Abneigung der Einheimischen gegen diesen Ort zu teilen. Nun, Polly, wenn das deine Gefühle sind, will ich ihnen keine Gewalt antun. Aber darf ich bitte fragen, wie es kommt, daß du bei einem bloßen Pfosten so empfindlich bist, während eine Todeskutsche mit vier kopflosen Pferden dich völlig kalt läßt?»

Die Stute nahm die Schulter seines Jacketts behutsam zwischen die Lippen und knabberte daran herum.

«Ganz recht», sagte Wimsey. «Verstehe vollkommen. Du würdest schon, wenn du könntest, aber du kannst wirklich nicht. Aber diese Pferde, Polly – hatten sie etwa keinen Schwefelgeruch aus den allertiefsten Abgründen bei sich? Kann es sein, daß sie wirklich nichts anderes ausdünsteten als ehrlichen, vertrauten Stallgeruch?»

Er saß auf, wandte Pollys Kopf nach rechts und lenkte sie in einem weiten Bogen um den Totenpfahl herum, bevor er sie wieder auf den Reitweg brachte.

«Die übernatürliche Erklärung ist damit, glaube ich, ausgeschieden. Nicht a priori, das wäre unredlich, aber unter Berufung auf Pollys Sinne. Bleiben als weitere Möglichkeiten Whisky oder Hokuspokus. Nähere Untersuchung scheint angezeigt.»

Er sann weiter so vor sich hin, während die Stute ruhig ihres Weges ging.

«Angenommen, ich wollte aus irgendwelchen Gründen die Leute in der Gegend durch die Erscheinung einer Kutsche mit Pferden ohne Kopf erschrecken, dann würde ich mir eine dunkle, regnerische Nacht aussuchen. Gut! So eine Nacht war es. Und wenn ich nun schwarze Pferde nähme und ihre Leiber weiß anmalte – arme Viecher, wie wäre ihnen zumute! Nein. Wie machen sie diesen Trick bei Maskelyne und Devant, wo sie Leute enthaupten? Weiße Pferde natürlich – und schwarze Kapuzen über die Köpfe. Richtig! Und Leuchtfarbe aufs Geschirr sowie hier und da einen Tupfer auf die Leiber, des guten Kontrastes wegen und damit die ganze Chose nicht unsichtbar bleibt. Soweit keine Schwierigkeit. Aber sie müssen lautlos laufen. Na gut, warum nicht? Vier schwarze Säcke, gefüllt mit Kleie, schön hochgezogen und um die Fesseln festgebunden, damit läuft ein Pferd lautlos genug, vor allem, wenn noch ein bißchen Wind dazu weht. Lappen um die Ringösen am Geschirr, damit sie nicht klimpern, desgleichen um die Enden der Zugriemen, damit da nichts quietscht. Einen Kutscher im weißen Mantel und schwarzer Maske dazu, das Ganze vervollständigt durch eine Kutsche mit Gummirädern, die mit Phosphorfarbe angestrichen und gut geölt ist – das ist sicher gespenstisch genug, um einen wohlgetränkten Herrn um halb zwei Uhr morgens auf einer einsamen Straße zu erschrecken.»

Hochzufrieden mit dieser Überlegung klopfte er sich gutgelaunt mit der Reitpeitsche an den Stiefel.

«Aber hol’s doch alles miteinander der Kuckuck! Die sind kein zweites Mal an mir vorbeigekommen. Wohin sind sie verschwunden? Eine Kutsche mitsamt Pferden kann sich schließlich nicht in Luft auflösen. Es muß ja doch einen Nebenweg geben – oder, meine liebe Polly Flinders, du nimmst mich die ganze Zeit auf den Arm.»

Der Reitweg mündete schließlich an der nun schon vertrauten Straßengabel, wo Wimsey den Polizisten getroffen hatte, in die Straße ein. Während sie gemächlich heimwärts zockelten, suchte Seine Lordschaft die Hecken auf der linken Seite nach dem Feldweg ab, den es nach allem menschlichen Ermessen geben mußte. Aber nichts belohnte seinen suchenden Blick. Eingezäunte Felder und Wiesen mit Vorhängeschlössern an den Gattern bildeten die einzigen Lücken in der Hecke, bis er sich wieder an der Stelle befand, von wo aus er zwei Nächte zuvor die Allee hinuntergeschaut und die Todeskutsche im Galopp die Straße heraufkommen gesehen hatte.

«Verflixt!» sagte Wimsey.

Zum erstenmal fiel ihm die Möglichkeit ein, daß die Kutsche vielleicht kehrtgemacht haben und durch Little Doddering zurückgefahren sein könnte. Mittwoch nachts war sie jedenfalls bei der Kirche von Little Doddering gesehen worden. Aber auch bei der Gelegenheit war sie schon in Richtung Frimpton davongejagt. Überhaupt kam Wimsey bei näherem Hinsehen zu dem Schluß, daß sie zunächst aus Richtung Frimpton gekommen, über den Back Lane – gegen den Uhrzeigersinn, versteht sich – um die Kirche herumgefahren und dann über die Landstraße dahin zurückgekehrt sein mußte, woher sie kam. Aber in diesem Falle – «Kehr noch einmal um, Whittington», sagte Wimsey, und Polly Flinders machte gehorsam auf der Straße kehrt. «Über eine dieser Wiesen ist sie gefahren, oder ich heiße Kasimir.»

Er zügelte Polly in ein langsames Schrittempo und ritt am rechten Grasbankett entlang, den Blick auf den Boden geheftet wie ein Schotte, der einen Shilling verloren hat.

Das erste Gatter führte auf ein umgepflügtes, geeggtes und mit Winterweizen besätes Feld. Klar, daß da seit vielen Wochen nichts mehr mit Rädern drübergefahren war. Das zweite Gatter sah schon verheißungsvoller aus. Es führte auf ein Stück Brachland, und die Zufahrt wies unzählige Radspuren auf. Bei näherem Hinsehen aber stellte sich heraus, daß dies das einzige Gattertor zu diesem Grundstück war. Es war wohl nicht anzunehmen, daß die Kutsche auf ein Feld gefahren war, das keinen Ausgang hatte. Wimsey entschloß sich, weiterzusuchen.

Das dritte Gatter war in schlechtem Erhaltungszustand. Traurig hing es in den Angeln. Eine Haspe war nicht mehr vorhanden, und Gatter und Pfosten waren mit etlichen Drahtwindungen zusammengebunden. Wimsey stieg ab, um diese in Augenschein zu nehmen, und konnte sich überzeugen, daß ihre rostige Oberfläche in letzter Zeit nicht mehr angetastet worden war.

Es blieben nur noch zwei Gatter bis zur Straßengabel. Das eine führte wieder auf einen gepflügten Acker, dessen Furchen keinerlei Spuren aufwiesen, aber beim Anblick des letzten Gatters machte Wimseys Herz einen Hüpfer.

Es führte auch wieder auf einen gepflügten Acker, aber um diesen herum führte ein breiter, festgefahrener Weg voller Fahrrinnen und Wasserpfützen. Das Gatter war nicht abgeschlossen, sondern hatte nur ein einfaches Schnappschloß mit Klinke. Wimsey besah sich die Einfahrt ganz genau, und siehe, zwischen den breiten, von Bauernfuhrwerken stammenden Radfurchen fanden sich vier schmale – mit den unverkennbaren Abdrücken von Gummireifen. Er drückte das Tor auf und ritt hindurch.

Der Weg führte um zwei Seiten des Ackers herum; dann kam ein zweites Gatter und dahinter ein zweites Feld mit langen Reihen Mangold und ein paar Scheunen. Pollys Huftritte lockten einen Mann mit einem Pinsel in der Hand aus der nächstgelegenen Scheune; er blieb vor der Tür stehen und sah Wimsey entgegen.

«Morgen!» sagte dieser betont freundlich.

«Morgen, Sir.»

«Schöner Tag, nach diesem Regen.»

«O ja, Sir.»

«Es ist hoffentlich nicht verboten, hier durchzureiten?»

«Wo wollen Sie denn hin, Sir?»

«Ich dachte eigentlich – hallo!»

«Stimmt was nicht, Sir?»

«Ich glaube, der Gurt ist verrutscht. Es ist nämlich ein neuer.»

(Das stimmte.) «Lieber mal nachsehen.»

Der Mann kam näher, um den Gurt in Augenschein zu nehmen, aber Wimsey war schon abgesessen und zog an dem Riemen, den Kopf unter dem Bauch des Pferdes.

«Ja, dem fehlt ein Stückchen. Oh, herzlichen Dank. Ist das hier übrigens eine Abkürzung nach Abbots Bolton?»

«Nicht zum Dorf, Sir, obwohl Sie da über diesen Weg auch hinkommen. Erführt zu Mr. Mortimers Ställen.»

«Ach so. Ist das hier sein Land?»

«Nein, Sir, es gehört Mr. Topham, aber Mr. Mortimer hat diesen Acker und den nächsten gepachtet, um Futter anzubauen.»

«Aha.» Wimsey warf einen Blick über die Hecke. «Luzerne wahrscheinlich. Oder Klee.»

«Klee, Sir. Und der Mangold ist für die Kühe.»

«Oh, dann hält Mr. Mortimer auch Kühe, nicht nur Pferde?»

«Ja, Sir.»

«Fabelhaft. Zigarette?» Wimsey war in seiner Neugier zur Scheune geschlendert und spähte geistesabwesend in das dunkle Innere. Sie enthielt einige landwirtschaftliche Geräte und einen Einspänner altertümlicher Bauart, der allem Anschein nach gerade einen neuen schwarzen Anstrich erhielt. Wimsey nahm ein Schächtelchen Zündhölzer aus der Tasche. Die Schachtel war aber anscheinend feucht geworden, denn nach ein paar vergeblichen Versuchen gab er es auf und riß ein Streichholz an der Scheunenwand an. Die Flamme warf ihren Schein auf den altertümlichen Einspänner und zeigte, daß er stilwidrig mit Gummi bereift war.

«Mr. Mortimer führt ein Gestüt, wie ich höre», sagte Wimsey obenhin.

«O ja, Sir, ein sehr gutes.»

«Er hat nicht zufällig ein paar Grauschimmel, wie? Meine Mutter – eine königliche Frau mit viktorianischen Ansichten und so weiter – hat eine Vorliebe für Grauschimmel. Sie hält sich nämlich einen Zweispänner.»

«So, Sir? Also, da könnte Mr. Mortimer der Dame wohl zu Diensten sein, denke ich. Er hat ein paar Graue.»

«Was Sie nicht sagen. Ich muß ihn wirklich einmal aufsuchen. Ist das weit von hier?»

«Über die Felder fünf bis sechs Meilen, Sir.»

Wimsey sah auf die Uhr.

«Ach du meine Güte! Ich fürchte, das ist zu weit für heute morgen. Ich habe nämlich fest versprochen, zum Mittagessen wieder zu Hause zu sein. Muß ein andermal wiederkommen. Vielen, vielen Dank. Ist der Gurt jetzt in Ordnung? Doch, wirklich, ich stehe tief in Ihrer Schuld. Genehmigen Sie sich was zu trinken – und sagen Sie Mr. Mortimer, er soll die Grauschimmel nicht verkaufen, bevor ich sie gesehen habe. Also, guten Morgen, und nochmals tausend Dank.»

Er drehte Polly Flinders in Richtung Heimat und ritt in gemütlichem Trab davon. Erst als er außer Sichtweite der Scheune war, hielt er an und bückte sich vom Sattel hinunter, um nachdenklich seine Stiefel zu betrachten. Sie waren über und über mit Kleie beklebt.

«Das muß ich mir in der Scheune geholt haben», sagte Wimsey. «Sonderbar, aber wahr. Warum sollte Mr. Mortimer mitten in der Nacht seine Grauschimmel mit einem alten Einspänner durch die Gegend jagen – und obendrein mit umwickelten Hufen und ohne Köpfe? Nett ist so etwas nicht. Plunkett hat den Schrecken seines Lebens bekommen. Und ich mußte mich für betrunken halten – eine Vorstellung, die ich gar nicht leiden kann. Ob ich das mal der Polizei erzählen sollte? Aber gehen Mr. Mortimers Streiche mich eigentlich etwas an? Was meinst du dazu, Polly?»

Die Stute schüttelte beim Klang ihres Namens energisch den Kopf.

«Du meinst nicht? Vielleicht hast du recht. Sagen wir, daß Mr. Mortimer es nur auf Grund einer Wette getan hat. Was habe ich mich in seine Vergnügungen einzumischen? Trotzdem», schloß Seine Lordschaft, «freut es mich zu wissen, daß es nicht Lumsdens Whisky war.»

«Das ist die Bibliothek», sagte Haviland, indem er seine Gäste in den Raum geleitete. «Ein schöner Raum – und eine schöne Büchersammlung, wie man mir sagt, obwohl die Literatur nicht so recht mein Gebiet ist. Der alte Herr hatte allerdings auch nicht besonders viel dafür übrig, fürchte ich. Hier wäre eine Renovierung dringend erforderlich, wie Sie sehen. Ich weiß nicht, ob Martin das in die Hand nehmen wird. Das ist eine Sache, die natürlich Geld kostet.»

Wimsey schauderte es ein wenig, als er sich umsah – noch mehr aus Mitleid als vor Kälte, obwohl ein weißer Novembernebel sich vor den hohen Fenstern kräuselte und feucht durch die Rahmenritzen hereindrang.

Es war ein langgestreckter, modriger Raum im kalten neoklassizistischen Stil. Auch ohne die Zeichen der Vernachlässigung, die einem Bücherliebhaber das Herz brachen, bot die Bibliothek an diesem sonnenlosen grauen Nachmittag einen traurigen Anblick. Die gegipsten Wände, die bis auf halbe Höhe von Bücherregalen verdeckt waren, reichten bis zu einer schimmligen Decke hinauf. Grotesk geformte Nässeflecken zierten sie, und da und dort waren häßliche Risse, wo der Gips in gelben Flocken abblätterte. Eine feuchte Kühle entströmte den Büchern, den sich abschälenden Lederrücken, den grünlichen Schimmelflecken, die sich grausig von einem Band über den andern ausbreiteten. Der eigenartige Modergeruch faulenden Leders und nassen Papiers verschlimmerte die ohnehin schon freudlose Atmosphäre dieses Ortes.

«Mein Gott», entfuhr es Wimsey, während er sich todtraurig in diesem Grabgewölbe vergessener Gelehrsamkeit umschaute. Mit seinen hochgezogenen Schultern, die aussahen wie die Halsfedern eines frierenden Vogels, der langen Nase und den halbgeschlossenen Augen ähnelte er einem verwahrlosten Reiher, der grübelnd vor der Leblosigkeit eines winterlichen Tümpels steht.

«Wie kalt das hier ist!» rief Mrs. Hancock. «Sie sollten wirklich einmal mit Mrs. Lovall schelten, Mr. Burdock. Als ihr aufgetragen wurde, hier nach dem Rechten zu sehen, habe ich gleich zu meinem Mann gesagt – nicht wahr, Philip? –, daß Ihr Vater sich die faulste Frau in ganz Little Doddering ausgesucht hat. Sie hätte doch hier mindestens zweimal die Woche ein kräftiges Feuer machen müssen! Es ist wahrhaftig eine Schande, wie sie hier alles hat verkommen lassen.»

«Ja, nicht?» pflichtete Haviland ihr bei.

Wimsey sagte nichts. Er schlenderte an den Regalen entlang und nahm hin und wieder ein Buch herunter, um es sich anzusehen.

«Dieser Raum war schon früher sehr bedrückend», fuhr Haviland fort. «Ich weiß noch, daß er mir als Kind etwas Angst machte. Martin und ich haben hier zwar immer in den Büchern herumgeschmökert, aber ich glaube, wir hatten jedesmal Angst, irgend etwas oder jemand könnte uns aus den dunklen Ecken anspringen. Was haben Sie denn da, Lord Peter? Ach so, Foxes Buch der Märtyrer. Du lieber Gott! Wie mir früher immer vor den Bildern gegraut hat! Und Pilgers Wanderfahrt war dabei, mit einem ausgesprochen grusligen Bild des breitbeinig über dem ganzen Weg stehenden Apollyon, von dem ich nachts Alpträume hatte. Mal sehen. Es stand immer hier in dieser Nische, glaube ich. Ja, da ist es. Wie das doch die alten Zeiten wieder zurückbringt! Ist es übrigens wertvoll?»

«Nein, nicht besonders. Aber diese Erstausgabe von Burton ist Geld wert; allerdings furchtbar fleckig – Sie sollten sie mal zum Reinigen weggeben. Und das hier ist ein außerordentlich schöner Boccaccio; geben Sie gut darauf acht.»

«Giovanni Boccaccio – Danse Macabre. Jedenfalls ein guter Titel. Ist das derselbe Boccaccio, der die ungezogenen Geschichten geschrieben hat?»

«Ja», sagte Wimsey ein wenig kurz angebunden. Er konnte es nicht leiden, wenn einer so über Boccaccio sprach.

«Hab sie ja nie gelesen», erklärte Haviland mit einem augenzwinkernden Blick zu seiner Frau, «aber ich hab sie in den Schaufenstern von so gewissen Läden stehen sehen – daher nehme ich an, daß sie es in sich haben, wie? Der Pfarrer macht schon ein ganz schockiertes Gesicht.»

«Oh, nicht im mindesten», erklärte Mr. Hancock mit gewissenhaft an den Tag gelegter Weltoffenheit. «Et ego in Arcadia – das heißt, man kommt nicht ohne klassische Ausbildung in den Kirchendienst, und dabei macht man Bekanntschaft mit noch viel weltlicheren Autoren als selbst Boccaccio. Diese Holzschnitte erscheinen meinem ungeübten Auge sehr schön.»

«Das sind sie auch», sagte Wimsey.

«Ich erinnere mich da noch an ein anderes altes Buch mit herrlichen Bildern», sagte Haviland. «Irgendeine Chronik – was war das noch für ein Name –, eine Stadt in Deutschland – Sie wissen es sicher –, woher dieser Henker kam. Neulich haben sie doch sein Tagebuch veröffentlicht. Ich hab’s gelesen, aber es war eigentlich gar nicht so aufregend; nicht halb so grausam wie der alte Harrison Ainsworth. Wie heißt denn nur noch diese Stadt?»

«Nürnberg?» soufflierte Wimsey.

«Natürlich, das ist es – die Nürnberger Bilderbogen. Ob das wohl noch an seinem alten Platz steht? Es stand immer hier drüben beim Fenster, wenn ich mich recht erinnere.»

Er ging voran in eine der Nischen, die sich bis dicht zum Fenster hinzog. Hier schien die Feuchtigkeit ihr schlimmstes Werk verrichtet zu haben. Eine Scheibe war zerborsten, und es hatte hereingeregnet.

«Na, wo ist es denn geblieben? Es war ein großes Buch mit geprägtem Ledereinband. Ich würde das Ding so gern noch einmal sehen. Hab es seit Ewigkeiten nicht mehr zu Gesicht bekommen.»

Sein Blick glitt ziellos über die Regale. Wimsey mit dem Instinkt des Bücherliebhabers war dann der erste, der die Nürnberger Bilderbogen, am äußersten Ende des Regals gegen die Wand geklemmt, entdeckte. Er schob einen Finger hinter den Buchrücken, doch als er merkte, daß das verrottende Leder bei der geringsten Berührung zu zerfallen drohte, zog er das danebenstehende Buch heraus und benutzte für die Nürnberger Bilderbogen die ganze Hand.

«Hier ist es – in ziemlich schlechtem Zustand, leider. Hoppla!»

Als er das Buch von der Wand nahm, löste sich mit ihm ein zusammengefaltetes Blatt Pergamentpapier und fiel zu seinen Füßen. Er bückte sich und hob es auf.

«Sagen Sie mal, Burdock – ist das nicht das Schriftstück, nach dem Sie suchen?»

Haviland Burdock, der auf einem der unteren Regale herumgesucht hatte, richtete sich, das Gesicht rot vom Bücken, rasch auf.

«Donnerwetter!» rief er, indem er vor Aufregung zuerst noch röter und dann blaß wurde. «Sieh dir das an, Winnie! Es ist Vaters Testament. Das ist doch unglaublich! Wer wäre je auf die Idee gekommen, ausgerechnet hier danach zu suchen?»

«Ist es wirklich das Testament?» rief Mrs. Hancock.

«Ich halte jeden Zweifel für ausgeschlossen», bemerkte Wimsey kühl. «Letzter Wille und Testament von Simon Burdock.» Er stand da und drehte das verschmutzte Dokument von einer Seite auf die andere, um abwechselnd die Urkunde und dann wieder die leere Rückseite des zusammengefalteten Pergaments anzusehen.

«Na, so was!» sagte Mr. Hancock. «Wie sonderbar! Es sieht ja fast nach Vorsehung aus, daß Sie dieses Buch heruntergenommen haben.»

«Was steht denn in dem Testament?» fragte Mrs. Burdock aufgeregt.

«Verzeihung», sagte Wimsey, indem er es ihr reichte. «Ja, wie Sie sagen, Mr. Hancock, es sieht fast so aus, als ob es mir zugedacht gewesen wäre, es zu finden.» Er blickte wieder auf die Nürnberger Bilderbogen und zog mit dem Finger traurig die Umrisse eines Nässeflecks nach, der schon den Einband hatte verfaulen lassen und bis zu den Innenseiten vorgedrungen war, wo er den Kolophon fast zerstört hatte.

Haviland Burdock hatte inzwischen das Testament auf dem nächsten Tisch ausgebreitet. Seine Frau sah ihm über die Schulter. Die Hancocks, die ihrer Neugier kaum noch Herr wurden, standen dicht dabei und warteten auf das Ergebnis. Wimsey begutachtete derweil mit mühsam zur Schau gestelltem Desinteresse an dieser Familienangelegenheit die Wand, an der die Bilderbogen gelehnt hatten, befühlte ihre feuchte Fläche und untersuchte die Nässeflecken. Sie hatten das Aussehen eines grinsenden Gesichts angenommen. Er verglich sie mit ihren Entsprechungen auf dem Buchdeckel und schüttelte ob der Verschandelung traurig den Kopf.

Mr. Frobisher-Pym, der sich schon vor einer Weile von ihnen abgesondert und sich in ein altes Buch von Farriery vertieft hatte, kam jetzt zurück und erkundigte sich nach dem Grund der Aufregung.

«Hören Sie sich das an!» rief Haviland. Seine Stimme klang ruhig, aber der unterdrückte Triumph schwang unverkennbar darin und sprühte aus seinen Augen.

«‹Ich vermache alles, was mir bei meinem Tode gehört -› jetzt kommt eine lange Aufzählung von Besitztümern, die nicht wichtig ist – ‹meinem ältesten Sohn Martin -›»

Mr. Frobisher-Pym stieß einen Pfiff aus.

«Hören Sie weiter! ‹- meinem ältesten Sohn Martin für so lange, wie mein Leib sich über der Erde befindet. Sowie ich aber begraben werde, bestimme ich hiermit, daß mein gesamtes Eigentum uneingeschränkt meinem jüngeren Sohn Haviland zufallen soll -›»

«Großer Gott!» sagte Mr. Frobisher-Pym.

«Es steht noch eine Menge mehr darin», sagte Haviland, «aber das ist das Wesentliche.»

«Lassen Sie mich mal sehen», sagte der Friedensrichter.

Er nahm das Testament aus Havilands Hand und las es stirnrunzelnd.

«Stimmt», sagte er. «Kein Zweifel möglich. Martin hat alles besessen und wieder verloren. Wie sonderbar! Bis gestern gehörte ihm noch alles, und niemand wußte es. Jetzt gehört es Ihnen, Burdock. Das ist jedenfalls das merkwürdigste Testament, das ich je gesehen habe. Man stelle sich das nur einmal vor! Bis zum Begräbnis war Martin der Erbe. Und jetzt – nun, Burdock, ich muß Ihnen wohl gratulieren.»

«Danke», sagte Haviland. «Das kommt sehr unerwartet.» Er lachte unsicher.

«Aber was für eine seltsame Vorstellung!» rief Mrs. Burdock.

«Wenn Martin nun nach Hause gekommen wäre! Man möchte es fast für einen Segen halten, daß er nicht gekommen ist, nicht wahr? Ich meine, das wäre doch alles sehr unangenehm geworden. Was wäre zum Beispiel passiert, wenn er versucht hätte, das Begräbnis zu verhindern?»

«Ach ja!» rief Mrs. Hancock. «Aber hätte er da denn überhaupt etwas machen können? Wer entscheidet über das Begräbnis?»

«Normalerweise die Testamentsvollstrecker», antwortete Mr. Frobisher-Pym.

«Und wer ist das in diesem Fall?» fragte Wimsey.

«Ich weiß es nicht. Lassen Sie mich mal nachsehen.» Mr. Frobisher-Pym nahm sich die Urkunde noch einmal vor. «Aha! Ja, da steht es. ‹Ich ernenne meine beiden Söhne Martin und Haviland zu gemeinsamen Vollstreckern dieses meines Testaments.› Was für eine ungewöhnliche Bestimmung.»

«Ich nenne das eine bösartige, unchristliche Bestimmung», rief Mrs. Hancock. «Das hätte ja furchtbar böses Blut geben können, wenn das Testament nicht – dank einer guten Fügung – verlorengegangen wäre.»

«Still doch», ermahnte ihr Mann sie.

«Ich fürchte», sagte Haviland bitter, «daß mein Vater genau dies beabsichtigt hatte. Wozu soll man leugnen, daß er ein gehässiger Mensch war? Er war es, und ich glaube, er hat sowohl Martin als auch mich gehaßt wie die Pest.»

«Sagen Sie so etwas nicht», flehte der Pfarrer.

«Ich sage es aber. Er hat uns das Leben zur Hölle gemacht, und offenbar wollte er das noch über seinen Tod hinaus tun. Wenn er gesehen hätte, wie wir uns gegenseitig an die Kehle gegangen wären, hätte es ihn nur allzusehr gefreut. Lassen Sie nur, Herr Pfarrer, es hat keinen Sinn, sich da etwas vorzumachen. Er haßte unsere Mutter und war eifersüchtig auf uns. Das weiß jeder. Wahrscheinlich kam es seinem bösartigen Sinn für Humor entgegen, sich vorzustellen, wie wir uns um seine Leiche balgen würden. Zum Glück hat er sich dann selbst einen Streich gespielt, indem er das Testament hier versteckte. Jetzt ist er begraben; und das Problem hat sich von selbst gelöst.»

«Sind Sie dessen völlig sicher?» fragte Wimsey.

«Aber natürlich», antwortete der Friedensrichter. «Das Erbe fällt an Mr. Haviland Burdock, sobald die Leiche seines Vaters unter der Erde liegt. Und gestern wurde sie beerdigt.»

«Aber sind Sie dessen sicher?» wiederholte Wimsey. Er sah spöttisch vom einen zum andern, und so etwas wie ein Grinsen kräuselte seine breiten Mundwinkel.

«Dessen sicher?» rief der Pfarrer. «Mein lieber Lord Peter, Sie waren doch selbst beim Begräbnis zugegen! Sie haben gesehen, wie er begraben wurde.»

«Ich habe seinen Sarg unter die Erde gehen sehen», antwortete Wimsey sanft. «Daß die Leiche darin war, ist nur eine unbestätigte Vermutung.»

«Ich finde diesen Scherz ziemlich unpassend», sagte Mr. Frobisher-Pym. «Es besteht kein Grund zu der Annahme, daß die Leiche nicht im Sarg war.»

«Ich habe sie sogar im Sarg gesehen», sagte Haviland, «und meine Frau ebenfalls.»

«Und ich auch», sagte der Pfarrer. «Ich war zugegen, als sie aus dem provisorischen Behältnis, in dem sie aus den Staaten herübergekommen war, in einen richtigen, von Joliffe gelieferten Sarg aus Blei und Eiche umgebettet wurde. Und wenn noch weitere Zeugen benötigt werden, können Sie jederzeit Joliffe selbst und seine Leute fragen, denn sie haben die Leiche hineingelegt und den Sarg zugeschraubt.»

«Trotzdem», sagte Wimsey. «Ich streite ja nicht ab, daß die Leiche im Sarg war, als er in die Kapelle gestellt wurde. Ich bezweifle nur, daß sie noch darin war, als der Sarg in die Erde gelassen wurde.»

«Das ist eine unerhörte Behauptung, Lord Peter», sagte Mr. Frobisher-Pym heftig. «Darf ich fragen, ob Sie irgend etwas haben, worauf Sie sich da stützen? Und wenn die Leiche nicht im Grab liegt, würde es Ihnen vielleicht etwas ausmachen, uns zu sagen, wo sie sich nach Ihrer Meinung befindet?»

«Keineswegs», sagte Wimsey. Er setzte sich auf die Tischkante, ließ die Beine herunterbaumeln und blickte auf seine Hände, während er seine Theorie Punkt für Punkt an den Fingern darlegte.

«Ich glaube», sagte er, «daß die Geschichte mit dem jungen Rawlinson beginnt. Er arbeitet als Sekretär in der Kanzlei von Mr. Graham, der dieses Testament aufgesetzt hat, und ich vermute, er weiß etwas über seinen Inhalt. Mr. Graham kennt die Bestimmungen natürlich auch, aber irgendwie verdächtige ich ihn nicht, da die Finger im Spiel zu haben. Nach allem, was ich so höre, ist er nicht der Mann, der Partei ergreifen würde – zumindest nicht Mr. Martins Partei.

Als nun die Nachricht von Mr. Burdocks Tod aus den Staaten herübertelegrafiert wurde, sind dem jungen Rawlinson vermutlich die Bestimmungen dieses Testaments wieder eingefallen, und er fand wohl, daß Mr. Martin – der im Ausland war und so weiter – dadurch benachteiligt wurde. Rawlinson muß Ihrem Bruder übrigens sehr zugetan sein –»

«Es war schon immer Martins Art, sich mit jungen Taugenichtsen abzugeben und mit ihnen seine Zeit zu verplempern», stimmte Haviland ihm mürrisch zu.

Der Pfarrer schien zu finden, daß diese Feststellung der Korrektur bedürfe, und sagte leise, er habe gehört, daß Martin stets gut zur Dorfjugend gewesen sei.

«Eben», sagte Wimsey. «Ich glaube also, daß der junge Rawlinson nun Martin eine gleichwertige Chance verschaffen wollte, an sein Erbe heranzukommen, verstehen Sie? Er wollte nichts über das Testament ausplaudern – das ja vielleicht noch auftauchen würde oder auch nicht –, und vielleicht dachte er, es könne selbst dann noch Schwierigkeiten geben, wenn es auftauchte. Jedenfalls kam er zu dem Schluß, daß es das beste wäre, die Leiche einfach zu stehlen und über der Erde aufzubewahren, bis Martin käme und sich selbst um die Angelegenheit kümmern könnte.»

«Das ist eine unglaubliche Unterstellung», begann Mr. Frobisher-Pym.

«Ich gebe ja zu, daß ich im Irrtum sein kann», sagte Wimsey, «aber so stelle ich mir das nun einmal vor. Jedenfalls hat es Hand und Fuß – nicht wahr? Nun, und als der junge Rawlinson dann aber sah, daß die Durchführung dieses Vorhabens für ihn allein zu schwer war, schaute er sich nach jemandem um, der ihm helfen könnte. Und er verfiel auf Mr. Mortimer.»

«Mortimer?»

«Ich kenne Mr. Mortimer nicht persönlich, aber nach allem, was ich höre, ist er kein Spielverderber und hat bestimmte Möglichkeiten, die nicht jeder hat. Rawlinson und Mortimer steckten die Köpfe zusammen und entwarfen einen Schlachtplan. Natürlich haben Sie, Mr. Hancock, ihnen mit Ihrer Aufbahrungsidee sehr dabei geholfen. Ohne das weiß ich nicht, ob sie es geschafft hätten.»

Mr. Hancock gab verlegene Schnalzgeräusche von sich.

«Ihr Gedanke war dieser: Mortimer sollte eine alte Kutsche und vier weiße Pferde zur Verfügung stellen, mit Leuchtfarbe und schwarzen Tüchern so präpariert, daß sie die Todeskutsche der Burdocks darstellen konnten. Der Vorzug dieser Idee war, daß niemand allzu große Neigung verspüren würde, sich diese Kutsche genauer anzusehen, wenn sie zu unchristlicher Stunde in der Nähe des Friedhofs herumstand. Inzwischen mußte der junge Rawlinson dafür sorgen, daß er in die Totenwache in der Kapelle einbezogen wurde, und einen zu jeder Schandtat bereiten Kumpan finden, der mit ihm Wache halten und sich an dem Spielchen beteiligen würde. Er verabredete sich mit dem Wirt und erzählte Mr. Hancock etwas, damit er die Wache von vier bis sechs bekam. Ist es Ihnen nicht merkwürdig vorgekommen, Mr. Hancock, daß er so erpicht darauf war, den weiten Weg von Herriotting herüberzukommen?»

«Mir ist Eifer in meiner Gemeinde nicht unbekannt», versetzte Mr. Hancock steif.

«Gut, aber Rawlinson gehörte nicht zu Ihrer Gemeinde. Jedenfalls wurde der Plan ausgefeilt, und Mittwoch nacht fand die Generalprobe statt, bei der Ihr guter Plunkett den Schrecken seines Lebens bekam, Sir.»

«Wenn ich das fürwahr halten müßte –» sagte Mr. FrobisherPym.

«Donnerstag nacht», fuhr Wimsey fort, «waren die Verschwörer zur Tat bereit und versteckten sich vor zwei Uhr morgens auf der Kanzel. Sie warteten, bis Mrs. und Miss Hancock die Wache übernommen hatten, dann machten sie Lärm, um auf sich aufmerksam zu machen. Als die beiden Damen nahten, um zu sehen, was da los war, sprangen sie hervor und sperrten sie in die Sakristei.»

«Mein Gott!» rief Mrs. Hancock.

«Das war der Zeitpunkt, zu dem die Todeskutsche am Südportal vorfahren sollte. Sie kam über den Back Lane, glaube ich, obwohl ich das nicht sicher sagen kann. Dann nahmen Mortimer und die beiden andern die einbalsamierte Leiche aus dem Sarg und legten dafür Säcke mit Sägemehl hinein. Ich weiß, daß es Sägemehl war, weil ich am Morgen Reste davon auf dem Boden der Jungfrauenkapelle gefunden habe. Sie haben die Leiche in die Kutsche gelegt, und Mortimer ist damit weggefahren. Er ist mir morgens um halb drei auf der Straße nach Herriotting begegnet, demnach können sie mit dieser Arbeit nicht viel Zeit vertan haben. Mortimer könnte allein gewesen sein, vielleicht hatte, er aber auch noch jemanden bei sich, der sich um die Leiche kümmerte, während er selbst mit einer schwarzen Maske den kopflosen Kutscher spielte. Das weiß ich nicht so sicher. Jedenfalls sind sie kurz vor der Straßengabel bei Frimpton durch das letzte Gatter in die Felder eingebogen und zu Mr. Mortimers Scheune gefahren. Dort haben sie die Kutsche stehen gelassen – das weiß ich, weil ich sie gesehen habe, und ich habe auch die Kleie gesehen, mit deren Hilfe sie die Hufe der Pferde leise gemacht hatten. Ich vermute, daß sie dort mit einem Auto weitergefahren sind und die Pferde anderntags abgeholt haben – aber das sind Einzelheiten. Ich weiß auch nicht, wohin sie die Leiche dann gebracht haben, aber ich bin sicher, wenn Sie hingehen und Mr. Mortimer danach fragen, wird er Ihnen versichern können, daß sie sich noch über der Erde befindet.»

Wimsey machte eine Pause. Mr. Frobisher-Pym und die Hancocks machten verwirrte und ärgerliche Gesichter, aber Havilands Gesicht war grün. Auf Mrs. Havilands Wangen wurden die Rougeflecken sichtbar, und ihr Mund war eingefallen. Wimsey nahm die Nürnberger Bilderbogen in die Hand und strich liebevoll nachdenklich über den Deckel, während er fortfuhr.

«Inzwischen besorgten der junge Rawlinson und sein Spießgeselle natürlich das Tarnmanöver in der Kirche, um den Eindruck eines protestantischen Frevels zu erwecken. Nachdem sie alles hübsch hergerichtet hatten, brauchten sie sich nur noch selbst im Heizungskeller einzuschließen und den Schlüssel zum Fenster hinauszuwerfen. Dort werden Sie ihn wahrscheinlich finden, Mr. Hancock, wenn Sie mal nachsehen. Fanden Sie die Geschichte von den zwei bis drei Angreifern nicht auch ein bißchen lahm? Hubbard ist ein schwerer, starker Mann, und Rawlinson ist ein kräftiger junger Bursche – und trotzdem wurden sie nach ihren eigenen Worten in den Heizungskeller gesteckt wie hilflose kleine Kinder, ohne daß einer von ihnen auch nur einen Kratzer abbekommen hat. Denken Sie an die Männer in Steifleinen, Sir, denken Sie an die Männer in Steifleinen!»

«Hören Sie mal, Wimsey», sagte Mr. Frobisher-Pym, «sind Sie auch sicher, daß Sie nicht phantasieren? Man brauchte schon sehr klare Beweise, um –»

«Gewiß», sagte Wimsey. «Besorgen Sie sich eine Verfügung vom Innenministerium. Lassen Sie das Grab öffnen. Sie werden bald sehen, ob es die Wahrheit oder nur ein Ausfluß meiner kranken Phantasie ist.»

«Ich finde diese ganze Unterhaltung ekelhaft», rief Mrs. Burdock. «Hör gar nicht zu, Haviland. Ich kann mir nichts Herzloseres mehr vorstellen, als am Tag nach Vaters Begräbnis dazusitzen und so eine widerwärtige Geschichte zu erfinden. Sie ist es nicht wert, sich auch nur einen Augenblick damit zu befassen. Du wirst doch sicher nicht zulassen, daß die Grabesruhe deines Vaters gestört wird? Das ist abscheulich! Das wäre Grabschändung.»

«Es ist wirklich sehr unerfreulich», sagte Mr. Frobisher-Pym ernst, «aber wenn Lord Peter diese erstaunliche Theorie, an die ich kaum glauben kann, allen Ernstes vorbringt –»

Wimsey zuckte mit den Schultern.

«– dann fühle ich mich verpflichtet, Mr. Burdock, Sie daran zu erinnern, daß Ihr Bruder bei seiner Rückkehr darauf bestehen könnte, die Angelegenheit zu untersuchen.»

«Aber das kann er doch gar nicht, oder?» fragte Mrs. Burdock.

«Natürlich kann er das, Winnie», fauchte ihr Mann wütend.

«Er ist einer der Testamentsvollstrecker. Er hat dasselbe Recht, den alten Herrn ausgraben zu lassen, wie ich ein Recht habe, es zu verbieten. Stell dich nicht so dumm an.»

«Wenn Martin einen Funken Anstand besäße, würde er es auch verbieten», erklärte Mrs. Burdock.

«Ja nun», meinte Mrs. Hancock, «so schockierend das alles sein mag, so muß man hier doch auch an das Geld denken. Mr. Martin könnte sich gegenüber seiner Frau und seiner Familie, sollte er je eine haben, verpflichtet sehen –»

«Das Ganze ist einfach lächerlich», befand Haviland entschieden. «Ich glaube kein Wort davon. Wenn ich es glaubte, wäre ich natürlich der erste, der in der Angelegenheit etwas unternehmen würde – nicht nur aus Gerechtigkeit gegenüber Martin, sondern auch für mich selbst. Aber wenn man von mir verlangt, zu glauben, daß ein verantwortungsbewußter Mann wie Mortimer eine Leiche stehlen und eine Kirche schänden würde – man muß es ja nur einmal deutlich aussprechen –, dann sieht man gleich, wie absurd und undenkbar das ist.

Ich nehme an, daß Lord Peter Wimsey, der dem Vernehmen nach viel mit Verbrechern und Polizisten verkehrt, so etwas für vorstellbar hält. Ich selbst kann darauf nur erwidern, ich nicht. Es tut mir leid, daß sein Verstand gegen jedes Gefühl des Anstands schon so abgestumpft ist. Das wär’s. Guten Tag.»

Mr. Frobisher-Pym sprang auf.

«Nun kommen Sie, Burdock, nicht diese Töne. Ich bin sicher, daß Lord Peter keine Unhöflichkeit beabsichtigte. Ich muß zwar sagen, daß er sich in meinen Augen gründlich irrt, aber auf mein Wort, in den letzten Tagen ging es in diesem Dorf so drunter und drüber, daß es mich nicht wundert, wenn jemand auf den Gedanken kommt, es könnte etwas dahinterstecken. So, und nun sollten wir das alles vergessen – und könnten wir dieses entsetzlich kalte Zimmer nicht verlassen? Es ist fast Abendessenszeit. Meine Güte, was soll denn Agatha von uns denken?»

Wimsey streckte Burdock die Hand hin, der sie widerstrebend nahm. «Entschuldigung», sagte Wimsey. «Wissen Sie, ich leide nämlich an einer Hyperthrophie der Einbildungskraft. Wahrscheinlich eine Schilddrüsenüberfunktion. Nehmen Sie’s nicht ernst. Ich entschuldige mich und so weiter.»

«Ich finde nicht, Lord Peter», sagte Mrs. Burdock bissig, «daß Sie Ihrer Phantasie auf Kosten des guten Geschmacks nachgeben sollten.»

Wimsey folgte ihr in einiger Verwirrung aus der Bibliothek. Ja, er war so sehr durcheinander, daß er die Nürnberger Bilderbogen unterm Arm mit hinausnahm, was doch unter den gegebenen Umständen wirklich ein sonderbares Verhalten war.

«Ich bin zutiefst bestürzt», sagte Mr. Hancock.

Er war nach dem Sonntagabendgottesdienst zu den FrobisherPyms gekommen und saß aufrecht auf seinem Stuhl, das schmale Gesicht vor Kummer gerötet.

«Ich hätte so etwas nie von Hubbard geglaubt. Das war für mich ein schmerzlicher Schlag. Es ist nicht nur diese große Schlechtigkeit, einen Leichnam aus dem Gotteshaus selbst zu stehlen, obwohl das schon schwerwiegend genug ist. Hinzu kommt auch noch diese betrübliche Heuchelei seines Betragens – die Verhöhnung geheiligter Dinge –, das Benutzen der heiligen Dienste seiner Religion zur Verfolgung weltlicher Ziele. Er war doch sogar noch bei der Beerdigung, Mr. Frobisher-Pym, und hat dabei alle Zeichen der Trauer und Ehrerbietung an den Tag gelegt! Und selbst jetzt scheint er die Sündigkeit seines Betragens kaum einzusehen. Das tut mir sehr weh, als Priester und als Hirte – wirklich sehr, sehr weh.»

«Nun, Hancock», meinte Mr. Frobisher-Pym, «Sie sollten da nicht so hart sein. Hubbard ist kein schlechter Kerl, aber Sie können von einem Menschen seiner Klasse keine besondere Feinfühligkeit erwarten. Die Frage ist, was sollen wir da unternehmen? Mr. Burdock muß natürlich Bescheid bekommen. Eine überaus peinliche Situation. Meine Güte! Hubbard hat das ganze Komplott gestanden, sagen Sie? Wie kommt er denn dazu?»

«Ich habe es ihm auf den Kopf zugesagt», antwortete der Pfarrer. «Als ich mir Lord Peters Bemerkungen noch einmal durch den Kopf gehen ließ, war mir gar nicht wohl in meiner Haut. Mir schien – ich kann nicht sagen, warum –, daß in der Geschichte ein Körnchen Wahrheit stecken könnte, so weit hergeholt sie auch zu sein schien. Es hat mich so beschäftigt, daß ich gestern abend noch eigenhändig den Boden der Jungfrauenkapelle gefegt habe, und da habe ich im Kehricht eine ganz schöne Menge Sägemehl gefunden. Das hat mich dann veranlaßt, nach dem Schlüssel zum Heizungskeller zu suchen, und siehe, den fand ich ein Stückchen abseits in einem Gesträuch – keinen Steinwurf vom Fenster des Heizungskellers entfernt. Ich habe Rat im Gebet gesucht – und bei meiner Frau, auf deren Meinung ich sehr viel gebe, und dann habe ich mich entschlossen, nach der Messe mit Hubbard zu reden. Ich war schon sehr erleichtert, daß er wenigstens nicht zum Abendmahl kam. In meiner Gemütsverfassung hätte ich da doch Skrupel gehabt.»

«Ganz recht, ganz recht», sagte der Friedensrichter ein wenig ungehalten. «Sie haben es ihm also auf den Kopf zugesagt, und er hat gestanden?»

«Das hat er. Und leider muß ich sagen, daß er keinerlei Reue an den Tag legte. Gelacht hat er sogar. Es war eine sehr schmerzliche Unterredung.»

«Das kann ich mir sehr gut vorstellen», meinte Mrs. Frobisher-Pym mitfühlend.

«Wir müssen Mr. Burdock aufsuchen», sagte der Friedensrichter im Aufstehen. «Was auch immer der alte Burdock mit seinem schändlichen Testament bezweckt haben mag oder nicht, fest steht, daß Hubbard, Rawlinson und Mortimer ein großes Unrecht begangen haben. Ehrlich gesagt, ich weiß nicht einmal, ob es eine strafbare Handlung ist, eine Leiche zu stehlen. Das muß ich nachsehen. Aber ich würde sagen, es ist eine. Wenn es ein Eigentumsrecht an einer Leiche gibt, dann steht es wohl der Familie oder den Testamentsvollstreckern zu. Und ein Sakrileg ist es auf alle Fälle, ganz zu schweigen von dem Skandal in der Gemeinde. Ich muß sagen, Hancock, daß uns so etwas in den Augen der Nonkonformisten gar nicht guttut. Aber das wissen Sie zweifellos selbst. Nun, jedenfalls ist das eine unerfreuliche Aufgabe, und je eher wir sie in Angriff nehmen, desto besser. Ich fahre mit Ihnen zum Pfarrhaus und helfe Ihnen, es den Burdocks beizubringen. Wie steht es mit Ihnen, Wimsey? Sie haben letzten Endes doch recht behalten, und ich finde, Burdock müßte sich bei Ihnen entschuldigen.»

«O nein, ich halte mich da heraus», sagte Wimsey. «Sehen Sie, ich bin dort nicht gerade eine persona grata. Für die Familie Haviland Burdock bedeutet das ja wohl einen großen finanziellen Verlust.»

«So ist es. Höchst unangenehm. Na ja, vielleicht haben Sie recht. Kommen Sie, Herr Pfarrer.»

Wimsey und seine Gastgeberin saßen noch eine halbe Stunde am Feuer und diskutierten die Angelegenheit, als plötzlich Mr. Frobisher-Pym den Kopf zur Tür hereinsteckte und sagte:

«Wissen Sie was, Wimsey – wir fahren alle zusammen zu Mortimer. Könnten Sie nicht mitkommen und den Wagen lenken? Merridew hat sonntags immer seinen freien Tag, und ich selbst fahre nicht gern bei Nacht, schon gar nicht in diesem Nebel.»

«Wird gemacht», sagte Wimsey. Er lief nach oben und war Sekunden später mit einem schweren ledernen Fliegermantel und einem Päckchen unterm Arm wieder unten. Er grüßte die Burdocks knapp, setzte sich hinters Lenkrad und steuerte den Wagen vorsichtig durch den Nebel in Richtung Herriotting.

An der Stelle unter den Alleebäumen, wo ihm die Geisterkutsche begegnet war, lächelte er grimmig vor sich hin. Als sie an dem Gatter vorbeikamen, durch das die raffinierte Erscheinung verschwunden war, konnte er sich einen Hinweis darauf nicht verkneifen und wurde durch ein Knurren von Haviland belohnt. An der bewußten Straßengabel nahm er die rechte Abzweigung nach Frimpton hinein und fuhr gemächlich noch etwa sechs Meilen weiter, bis ein Zuruf von Mr. FrobisherPym ihn ermahnte, von jetzt an auf die Abbiegung zu Mortimers Anwesen zu achten.

Mr. Mortimers Haus stand mit seinen ausgedehnten Stallungen und Scheunen etwa zwei Meilen von der Straße abgesetzt. In der Dunkelheit konnte Wimsey nicht viel davon sehen, aber er bemerkte, daß im Erdgeschoß alle Fenster erhellt waren, und als auf das gebieterische Läuten des Friedensrichters die Tür aufging, schlug ihnen aus dem Innern lautes Lachen entgegen, dem sie entnehmen konnten, daß Mr. Mortimer sich seine Missetat wohl nicht allzusehr zu Herzen nahm.

«Ist Mr. Mortimer zu Hause?» fragte Mr. Frobisher-Pym, ganz im Ton eines Mannes, mit dem nicht zu spaßen ist.

«Ja, Sir. Würden Sie bitte nähertreten?»

Sie traten in eine große Diele alten Stils, die hell erleuchtet war und durch eine schwere Eichenblende vor der Haustür eine sehr gemütliche Note bekam. Als Wimsey blinzelnd aus der Dunkelheit ins Helle kam, sah er einen großen, kräftigen Mann mit rötlichem Gesicht und ausgestreckten Händen auf sie zukommen.

«Frobisher-Pym! Alle Welt! Wie nett von Ihnen, mal herüberzukommen! Wir haben ein paar alte Freunde von Ihnen hier. Oh!» (Letzteres in verändertem Ton.) «Burdock! So, so …»

«Zum Teufel mit Ihnen!» sagte Burdock, indem er sich an dem Friedensrichter vorbeidrängte, der ihn zurückzuhalten versuchte. «Zum Teufel mit Ihnen, Sie Schwein! Schluß mit dieser elenden Farce! Was haben Sie mit der Leiche gemacht?»

«Mit der Leiche?» fragte Mortimer, indem er einigermaßen verdutzt einen Schritt zurücktrat.

«Ja, verdammt noch mal! Ihr Freund Hubbard hat alles ausposaunt. Leugnen hat gar keinen Sinn. Was soll das, zum Teufel? Sie haben die Leiche hier. Wo ist sie? Heraus damit!»

Er trat drohend um die Eichenblende herum ins Licht der Lampe. Da erhob sich unerwartet aus einem tiefen Sessel ein großer, hagerer Mann und kam ihm entgegen.

«Ruhig Blut, alter Freund!»

«Großer Gott!» stieß Haviland hervor, indem er einen Schritt zurückwich und schwer auf Wimseys Zehen landete. «Martin!»

«Jawohl», sagte der andere. «Hier bin ich. Zurückgekommen wie ein falscher Fünfziger. Wie geht’s dir so?»

«Dann steckst du also dahinter!» tobte Haviland. «Das hätte ich mir ja denken können. Du dreckiger Köter! Du findest es wohl noch anständig, wie, deinen Vater aus dem Sarg zu reißen und wie ein Zirkus mit ihm durch die Gegend zu ziehen! Eine Schande ist das. Widerlich. Abscheulich. Du kannst ja keinen Funken Anstand mehr besitzen. Oder wirst du es am Ende leugnen wollen?»

«Hören Sie mal, Burdock!» begehrte Mortimer auf.

«Sie halten den Mund, verdammt noch mal!» versetzte Haviland. «Zu Ihnen komme ich gleich. Jetzt hör mal zu, Martin, ich werde diesem schändlichen Treiben nicht länger zusehen. Du gibst jetzt die Leiche heraus und –»

«Einen Moment, einen Moment», sagte Martin. Er stand lächelnd da, die Hände in die Taschen seines Smokings geschoben. «Dieses éclaircissement scheint sich ja zu einer ziemlich öffentlichen Veranstaltung zu entwickeln. Wer sind diese Leute alle? Oh, ich sehe schon, der Pfarrer ist dabei. Ihnen schulden wir wohl eine Erklärung, Herr Pfarrer. Und, äh – »

«Das ist Lord Peter Wimsey», sprach Mr. Frobisher-Pym dazwischen, «der Ihr – ich muß es leider mit Ihrem Bruder so nennen, Burdock –, der Ihr schändliches Treiben entdeckt hat.»

«Ach du lieber Gott!» rief Martin. «Sagen Sie, Mortimer, Sie wußten wohl nicht, daß Sie es mit Lord Peter Wimsey zu tun hatten, wie? Kein Wunder, daß die Katze so schnell aus dem Sack ist. Der Mann ist als der reinste Sherlock Holmes bekannt. Jedenfalls scheine ich genau im entscheidenden Moment nach Hause gekommen zu sein, so daß wohl noch kein Schaden entstanden ist. Diana, das ist Lord Peter Wimsey. Meine Frau.»

Eine hübsche junge Frau im schwarzen Abendkleid begrüßte Wimsey mit scheuem Lächeln und wandte sich abbittend an ihren Schwager.

«Haviland, wir möchten dir erklären –»

Er beachtete sie nicht.

«Also, Martin, das Spiel ist aus!»

«Das glaube ich auch, Haviland. Aber wozu die ganze Aufregung?»

«Aufregung! Das habe ich gern! Du reißt die Leiche deines eigenen Vaters aus dem Sarg –»

«Nein, nein, Haviland! Davon wußte ich nichts. Das schwöre ich dir. Ich habe die Nachricht von Vaters Tod erst vor ein paar Tagen erhalten. Wir waren weit draußen in der Wildnis – in den Pyrenäen, wo wir einen Film drehten –, und ich bin sofort hergekommen, sowie ich mich freimachen konnte. Mortimer hat das ganze Ding mit Rawlinson und Hubbard allein gedreht. Ich wußte überhaupt nichts davon, bis ich gestern in meiner alten Bleibe in Paris seinen Brief vorfand. Wirklich, Haviland, ich hatte nichts damit zu tun. Wozu auch? Das hätte ich doch nicht nötig gehabt.»

«Was soll das heißen?»

«Nun, wenn ich hiergewesen wäre, hätte ich nur ein Wort zu sagen brauchen, um das Begräbnis zu verhindern. Warum in aller Welt hätte ich mir die Mühe machen und die Leiche stehlen sollen? Ganz abgesehen von der Respektlosigkeit und so weiter. Darum war ich auch zuerst ein bißchen entsetzt, als Mortimer mir davon erzählte, das muß ich schon sagen, aber ich muß auch die Freundlichkeit und die Mühe anerkennen, die sie sich meinetwegen gemacht haben. Ich glaube, Mr. Hancock hat eigentlich den meisten Grund zum Zorn. Aber Mortimer ist so behutsam vorgegangen wie möglich, Sir – wirklich. Er hat den Alten Herrn ganz ehrerbietig und sittsam in der früheren alten Kapelle aufgebahrt und sogar Blumen ringsum aufgestellt und so weiter. Sie werden sicher sehr zufrieden sein.»

«Ja», sagte Mortimer. «Respektlosigkeit war nicht meine Absicht. Kommen Sie, sehen Sie ihn sich an.»

«Das ist ja furchtbar», stöhnte der Pfarrer hilflos.

«Verstehen Sie bitte, die Leute haben in meiner Abwesenheit nur getan, was sie konnten», sagte Martin. «Sowie ich dazu in der Lage bin, werde ich geeignete Anordnungen für ein passendes Grabgewölbe treffen – über der Erde, versteht sich. Oder vielleicht wäre in diesem Falle eine Einäscherung angebracht.»

«Was!» schrie Haviland. «Glaubst du vielleicht, ich werde es zulassen, daß mein Vater unbeerdigt bleibt, nur wegen deiner abstoßenden Geldgier?»

«Mein Lieber, glaubst du vielleicht, ich lasse zu, daß du ihn unter die Erde bringst, nur um mein Eigentum an dich reißen zu können?»

«Ich bin der Testamentsvollstrecker, und ich sage, er wird begraben, ob es dir gefällt oder nicht!»

«Und ich bin ebenfalls Testamentsvollstrecker – und ich sage, er wird nicht begraben. Er kann in allen Ehren über der Erde bleiben, und da bleibt er auch.»

«Aber hören Sie mich doch mal an!» rief der Pfarrer, verzweifelt hin- und hergerissen zwischen diesen beiden ebenso hitzigen wie wütenden jungen Männern.

«Wir werden ja sehen, was Graham dir zu sagen hat», brüllte Haviland.

«Ach ja, der ehrliche Makler Graham», feixte Martin. «Er wußte doch, was in dem Testament stand, oder? Ich nehme an, er hat dir gegenüber nicht zufällig einmal etwas fallenlassen?»

«Nein», versetzte Haviland. «Dafür wußte er zu gut, was für ein Stinktier du bist. Nicht genug, daß du uns mit deiner schändlichen Erpresserehe entehren mußtest–»

«Mr. Burdock, Mr. Burdock –»

«Nimm dich in acht, Haviland!»

«Du hast ja so wenig Anstand im Leib –»

«Schluß jetzt!»

«– daß du sogar schon die Leiche deines Vaters und mir mein Geld stiehlst, um mit deiner verfluchten Frau deinen losen Lebenswandel mit lauter Filmschauspielern und Tänzerinnen fortsetzen zu können –»

«Hör mal zu, Haviland, du läßt gefälligst meine Frau und meine Freunde aus dem Spiel. Wie steht es denn bei dir selbst? Jemand hat mir erzählt, daß Winnie ganz schön umzutreiben versteht – bist du nicht so gut wie bankrott vor lauter Pferdchen und Spieltischen und so weiter? Kein Wunder, daß du versuchst, deinen eigenen Bruder um sein Geld zu bringen. Ich habe noch nie sehr viel von dir gehalten, Haviland, aber bei Gott –»

«Einen Augenblick!» Es gelang Mr. Frobisher-Pym endlich, sich durchzusetzen, teils durch sein autoritätsgewohntes Auftreten, teils, weil die Brüder sich atemlos gebrüllt hatten.

«Einen Augenblick, Martin. Ich nenne Sie Martin, weil ich Sie schon sehr lange kenne und Ihren Vater lange kannte. Ich verstehe Ihren Zorn über die Dinge, die Haviland gesagt hat. Sie waren unverzeihlich, und das wird er sich auch selbst eingestehen, wenn er wieder zu Verstand kommt. Aber Sie dürfen nicht vergessen, wie überaus schockiert und empört er – gleich uns allen – über diese außerordentlich schmerzliche Geschichte war. Und es ist nicht fair, zu sagen, Haviland habe Sie ‹um etwas bringen› wollen. Er wußte nichts von diesem ungerechten Testament und hat natürlicherweise dafür Sorge getragen, daß die Beisetzung auf die übliche Weise vonstatten ging. Sie beide müssen die Zukunft in Freundschaft miteinander regeln, wie Sie es ja auch hätten tun müssen, wenn das Testament nicht versehentlich verlegt worden wäre. Also, Martin – und Sie auch, Haviland –, denken Sie in Ruhe darüber nach. Meine lieben jungen Leute, dieser Auftritt ist einfach erschreckend. So etwas darf wirklich nicht sein. Sicher kann das Vermögen gütlich zwischen Ihnen geteilt werden. Es ist entsetzlich, daß die Leiche eines alten Mannes zum Zankapfel zwischen seinen eigenen Söhnen werden soll, und nur des Geldes wegen.»

«Es tut mir leid», sagte Martin. «Ich habe mich vergessen. Sie haben vollkommen recht, Sir. Vergessen wir die Sache, Haviland. Ich gebe dir die Hälfte des Geldes ab –»

«Die Hälfte des Geldes! Aber es gehört doch alles mir! Du willst mir die Hälfte abgeben? Von meinem eigenen Geld? Wie großzügig!»

«Nein, mein Lieber, es ist im Augenblick mein Geld. Unser Vater ist nämlich noch nicht begraben. Ist es nicht so, Mr. Frobisher-Pym?»

«Doch; das Geld gehört in diesem Augenblick rechtlich Ihnen. Das müssen Sie einsehen, Haviland. Aber Ihr Bruder bietet Ihnen die Hälfte an, und –»

«Die Hälfte! Der Teufel soll mich holen, wenn ich die Hälfte annehme. Der Mann hat versucht, mich darum zu prellen. Ich rufe die Polizei und lasse ihn wegen Kirchenraubes verhaften. Daran hindert mich keiner! Wo ist das Telefon?»

«Entschuldigung», sagte Wimsey. «Ich möchte mich nicht gern noch mehr in Ihre Familienangelegenheiten mischen, als ich es so schon getan habe, aber ich kann Ihnen wirklich nicht raten, die Polizei zu rufen.»

«Sie können mir dazu nicht raten? Was zum Teufel geht das Sie an?»

«Nun», sagte Wimsey abbittend, «wenn die Geschichte mit diesem Testament vor Gericht kommt, werde ich wahrscheinlich als Zeuge auftreten müssen, weil ich das Huhn war, das den Wurm gefunden hat, nicht wahr?»

«Na und?»

«Na ja, und ich könnte dann gefragt werden, wie lange das Testament sich wohl schon an der Stelle befunden hat, an der ich es fand.»

Haviland schien an etwas schlucken zu müssen, was ihm die Sprache verschlug.

«Was soll das heißen, verdammt noch mal?»

«Tja, sehen Sie mal, das ist doch ziemlich merkwürdig, wenn man sich’s überlegt. Ich meine, Ihr verstorbener Vater muß das Testament ja auf dem Bücherregal versteckt haben, bevor er ins Ausland ging. Das ist – wie lange her? Drei Jahre? Fünf Jahre?»

«Ungefähr vier Jahre.»

«Eben. Und seitdem hat Ihre prächtige Hausverwalterin die Nässe in die Bibliothek eindringen lassen, nicht wahr? Kein Feuer, die Fenster zerborsten und so weiter. Ruinös für die Bücher und sehr bedrückend für jemanden wie mich. Ach ja. Und nun nehmen wir einmal an, es würde die Frage nach dem Testament gestellt – und Sie sagen, es hat sich vier Jahre lang dort in der Nässe befunden. Würden die Leute es nicht ein bißchen komisch finden, wenn ich ihnen sagen müßte, daß sich an der Wand neben dem Bücherregal ein großer Nässefleck in Form eines grinsenden Gesichts befindet und ein entsprechendes großes, nasses, grinsendes Gesicht auf den Nürnberger Bilderbogen, aber kein derartiger Fleck auf dem Testament, das vier Jahre lang zwischen den beiden gesteckt hat?»

Mrs. Haviland stieß plötzlich einen spitzen Schrei aus. «Haviland, du Dummkopf! Du Riesendummkopf!»

«Halt den Mund!»

Haviland fuhr mit einem Wutschrei zu seiner Frau herum, die auf einen Sessel sank und sich die Hand vor den Mund preßte.

«Danke, Winnie», sagte Martin. «Nein, Haviland, bemühe dich nicht um eine Erklärung. Winnie hat alles verraten. Du wußtest es also – du kanntest das Testament und hast es absichtlich versteckt und das Begräbnis seinen Gang nehmen lassen. Ich bin euch beiden sehr verbunden – fast so sehr wie dem ach so diskreten Mr. Graham. Ist es eigentlich Betrug oder Untreue oder was, ein Testament zu verstecken? Mr. FrobisherPym weiß das sicher.»

«Großer Gott!» entfuhr es dem Friedensrichter. «Sind Sie sich Ihrer Feststellungen auch ganz sicher, Wimsey?»

«Absolut», sagte Wimsey, indem er die Nürnberger Bilderbogen unter dem Arm hervornahm. «Hier ist der Fleck – sehen Sie selbst. Entschuldigen Sie, daß ich mir Ihr Eigentum kurz ausgeliehen habe, Mr. Burdock. Ich fürchtete nämlich, Mr. Haviland könnte zu stiller nächtlicher Stunde auf diese kleine Unstimmigkeit stoßen und sich rasch entschließen, die Bilderbogen zu verkaufen oder zu verschenken, oder gar finden, daß sie ohne Einband und hintere Seiten besser aussähen. Gestatten Sie, daß ich sie Ihnen zurückgebe, Mr. Martin – unversehrt. Sie werden es mir vielleicht nachsehen, wenn ich sage, daß ich keine der Rollen in diesem Melodram sonderlich schätze. Es wirft, wie Mr. Pecksniff sagen würde, ein betrübliches Licht auf die menschliche Natur. Aber ich habe etwas gegen die Art und Weise, wie ich zu diesem Bücherregal geködert und in die schöne Rolle des unabhängigen Zeugen gedrängt wurde, der das Testament fand. Ich mag ja ein Esel sein, Mr. Haviland Burdock, aber so ein dummer Esel auch wieder nicht. Gute Nacht allerseits. Ich warte draußen im Wagen, bis Sie hier mit allem fertig sind.»

Wimsey stolzierte würdevoll hinaus.

Kurz darauf folgten ihm der Pfarrer und Mr. Frobisher-Pym.

«Mortimer bringt Haviland und seine Frau zum Bahnhof», sagte der Friedensrichter. «Sie fahren sofort nach London zurück. Sie können ihnen das Gepäck morgen nachschicken, Hancock. Wir machen uns jetzt lieber aus dem Staub.»

Wimsey drückte auf den Starter.

In dem Moment kam ein Mann die Treppe heruntergerannt und auf ihn zu. Es war Martin.

«Wissen Sie», sagte er, «Sie haben mir etwas sehr Gutes getan – mehr als ich verdiene. Sie müssen mich für ein Schwein halten. Aber ich werde dafür sorgen, daß der alte Herr anständig beigesetzt wird, und ich werde mit Haviland teilen. Sie dürfen auch über ihn nicht allzu hart urteilen. Er hat so eine schreckliche Frau. Sie hat ihn bis über beide Ohren in Schulden gestürzt. Sein Geschäft ruiniert. Ich will dafür sorgen, daß alles in Ordnung kommt. Gut so? Ich möchte nicht, daß Sie eine gar zu schlechte Meinung von uns mitnehmen.»

«Schon gut», sagte Wimsey.

Er ließ die Kupplung kommen und verschwand im feuchten, weißen Nebel.