9 Das gelehrte Abenteuer mit dem Drachenhaupt
«Onkel Peter!»
«Momentchen, Gherkins. Nein, ich glaube, ich nehme den Catull doch nicht, Mr. Ffolliott. Dreizehn Guineen für ein Buch ohne Titelblatt und letzten Folio sind doch ein bißchen happig, wie? Aber Sie könnten mir den Vitruvius und das Satyricon mal rüberschicken, wenn sie da sind; die möchte ich mir jedenfalls ansehen. So, mein junge, was gibt’s?»
«Komm doch mal und guck dir die Bilder an, Onkel Peter.
Das ist bestimmt ein furchtbar altes Buch.»
Lord Peter Wimsey tastete sich seufzend aus Mr. Ffolliots düsterem Lagerraum, der mit dem Strandgut etlicher Bibliotheken übersät war. Ein unerwarteter Masernausbruch in Mr. Bultridges ausgezeichnetem Internat, der zufällig mit einer Europareise des Herzogs und der Herzogin von Denver zusammenfiel, hatte Seiner Lordschaft die Betreuung seines zehnjährigen Neffen, des Vicomte St. George, besser bekannt als Junker Jerry, Jerrykins oder Gherkins – «Gürkchen» –, auf die Schultern geladen. Lord Peter gehörte nicht zu jenen geborenen Onkeln, die alte Ammen mit ihrem faszinierenden «Sinn für Kinder» entzücken. Eine gewisse Toleranz zu ehrenhaften Bedingungen verdiente er sich jedoch dadurch, daß er die Jugend mit der gleichen peniblen Höflichkeit behandelte, die er auch Erwachsenen angedeihen ließ. Folgerichtig wappnete er sich nun, «Gürkchens» Entdeckung mit dem ihr gebührenden Respekt zu begutachten, obschon natürlich dem Geschmack von Kindern keineswegs zu trauen war und das Buch sich als ein scheußliches Sammelsurium von verschwommenem Mezzotinto oder als ein minderwertiger moderner Nachdruck, angereichert mit leprakranken Klischees, entpuppen konnte. Etwas Besseres war in der dem Straßenstaub ausgesetzten FünfShilling-Auslage eigentlich nicht zu erwarten.
«Onkel! Da ist so ein komischer Mann drin, mit furchtbar langer Nase und Ohren und einem Schwanz und lauter Hundeköpfen am Körper. Monstrum hoc Cracoviae – das ist doch ein Ungeheuer, nicht? Ja, es ist sicher eins. Aber was heißt Cracoviae, Onkel Peter?»
«Oh», sagte Lord Peter sehr erleichtert. «Das Krakauer Monster?» Ein Abbild dieser scheußlichen Mißgeburt ließ immerhin auf ein achtbares Alter schließen. «Laß mich mal sehen. Ja, ganz recht, das ist ein sehr altes Buch – Münsters Cosmographia universalis. Freut mich, daß du einen Blick dafür hast, ob etwas gut ist, Gherkins. Aber was tut Münsters Cosmographia hier draußen zwischen der Ramschware, Mr. Ffolliott?»
«Nun, Mylord», antwortete der Buchhändler, der seinen Kunden zur Tür gefolgt war, «Sie sehen ja, in welch schlechtem Zustand sie ist; die Umschlagdeckel sind lose, und die doppelseitigen Karten fehlen fast alle. Das Buch haben wir vor ein paar Wochen hereinbekommen – mit einer ganzen Sammlung, die wir von einem Herrn aus Norfolk gekauft haben, Dr. Conyers von Yelsall Manor. Natürlich könnten wir das Buch behalten und versuchen, eine komplette Ausgabe zusammenzustellen, falls wir noch ein zweites Exemplar hereinbekommen sollten. Aber wie Sie wissen, ist das ja nicht so ganz unser Gebiet – wir haben uns auf klassische Autoren spezialisiert. Darum haben wir es einfach ins Regal gestellt und verkaufen es für das, was es gewissermaßen im status quo einbringt.»
«Ach, guck doch mal!» rief Gherkins dazwischen. «Da ist ein Bild von einem Mann, der in kleine Stücke gehackt wird. Was steht denn dabei?»
«Ich denke, du kannst Latein.»
«Na ja, aber da sind lauter so komische Schnörkel drin. Was bedeuten die?»
«Das sind nur Zusammenziehungen», gab Lord Peter geduldig Auskunft. «‹Solent quoque hujus insulae cultores› – Es ist bei den Bewohnern dieser Insel der Brauch, ihre Eltern, wenn sie vom Alter gebeugt und zu nichts mehr nütze sind, auf den Markt zu bringen und an die Kannibalen zu verkaufen, die sie töten und aufessen. Solches tun sie auch mit jüngeren Personen, wenn sie von einer schlimmen Krankheit befallen sind.» «Haha!» rief Mr. Ffolliott. «Das war aber nicht nett gegenüber den armen Kannibalen. So bekamen sie immer nur zähes altes oder krankes Fleisch zu essen.»
«Diese Inselbewohner scheinen einen ausgesprochen fortschrittlichen Geschäftssinn gehabt zu haben», pflichtete Seine Lordschaft ihm bei.
Der Vicomte war ganz verzaubert.
«Das Buch gefällt mir», sagte er; «kann ich es bitte von meinem Taschengeld kaufen?»
Schon wieder ein Problem für arme Onkel, dachte Lord Peter und rief sich eilig in Erinnerung, was er über die Cosmographia noch alles wußte, um sicherzugehen, daß die Illustrationen nur ja nichts Anstößiges enthielten, denn er kannte die strengen Grundsätze der Herzogin. Es fiel ihm jedoch nur ein Bild ein, das ein bißchen gewagt war, und die Chancen standen ganz gut, daß die Herzogin nicht gleich darauf stoßen würde.
«Hm», machte er bedächtig, «ich an deiner Stelle wäre schon geneigt, es zu kaufen. Es ist, wie Mr. Ffolliott dir in seiner Ehrlichkeit gesagt hat, nicht mehr gut erhalten – sonst wäre es natürlich auch ungemein wertvoll; aber abgesehen von den fehlenden Blättern ist es ein sehr hübsches, sauberes Exemplar und sollte dir jedenfalls fünf Shilling wert sein, wenn du mit dem Gedanken spielst, dir eine Sammlung zuzulegen.» Bis zu diesem Augenblick hatten die Kannibalen es dem Vicomte zweifellos mehr angetan gehabt als der Zustand der Buchränder, aber die Vorstellung, im nächsten Schuljahr als Sammler seltener Buchausgaben aufzutreten, hatte jetzt etwas unbestreitbar Anziehendes.
«Von den andern Jungen sammelt keiner Bücher», sagte er. «Die sammeln meist Briefmarken. Ich finde Briefmarken ziemlich gewöhnlich, du nicht auch, Onkel Peter? Ich hab mir schon überlegt, ob ich sie nicht aufstecken soll. Mr. Porter, der bei uns Geschichte gibt, hat eine ganze Menge Bücher, wie du, und er spielt prima Fußball.»
Lord Peter interpretierte die Anspielung auf Mr. Porter durchaus richtig und äußerte sich dahingehend, daß Büchersammeln eine sehr wohl männliche Beschäftigung sein könne. Mädchen täten das so gut wie nie, sagte er, weil man dafür soviel über Jahreszahlen, Typographie und andere technische Dinge lernen müsse, die einen männlichen Verstand erforderten.
«Außerdem», fuhr er fort, «ist es ja schon ein sehr interessantes Buch an sich, das sich durchaus zu lesen lohnt.»
«Dann möchte ich es bitte kaufen», sagte der Vicomte und errötete ein wenig ob dieses bedeutenden Geschäftsabschlusses, denn die Herzogin fand es nicht erstrebenswert, daß kleine Jungen allzu verschwenderisch mit dem Geld umgingen, und hielt ihn mit dem Taschengeld entsprechend kurz.
Mr. Ffolliott verneigte sich und trug die Cosmographia fort, um sie einzupacken.
«Bist du auch flüssig?» erkundigte Lord Peter sich taktvoll.
«Oder kann ich dir momentan unter die Arme greifen?»
«Nein, danke, Onkel Peter; ich habe noch die halbe Krone von Tante Mary und vier Shilling von meinem Taschengeld, weil ich doch für unsern Klassenrummel gespart hatte, und der ist ja nun durch die Masern ins Wasser gefallen.»
Nachdem die Transaktion auf diese standesgemäße Weise getätigt war und der angehende Bibliophile den dicken, eckigen Band unverzüglich in seine persönliche Obhut genommen hatte, wurde ein Taxi gechartert, das die Cosmographia durch die üblichen Verkehrsstauungen zum Piccadilly 110a brachte.
«Und wer ist bitte Mr. Wilberforce Pope, Bunter?»
«Ich glaube nicht, daß wir den Herrn kennen, Mylord. Er möchte Eure Lordschaft gern ein paar Minuten in einer geschäftlichen Angelegenheit sprechen.»
«Wahrscheinlich soll ich den entlaufenen Mops seiner Erbtante suchen. Das hat man davon, wenn man sich einen Namen als Spürhund gemacht hat. Führen Sie ihn herein. Gherkins, wenn die Geschäfte dieses Herrn privater Natur sein sollten, ziehst du dich am besten ins Eßzimmer zurück.»
«Ja, Onkel Peter», antwortete der Vicomte brav. Er lag bäuchlings vor dem Kamin in der Bibliothek und kämpfte sich mühsam und mit Hilfe der Herren Lewis & Short, deren monumentales lexikographisches Werk er bisher immer als ein barbarisches Folterinstrument für die höheren Schulklassen betrachtet hatte, durch die aufregendsten Passagen der Cosmographia.
Mr. Wilberforce Pope entpuppte sich als ein etwas beleibter, blonder Enddreißiger mit vorzeitig kahler Stirn, Hornbrille und gewinnendem Auftreten.
«Sie werden meine Zudringlichkeit hoffentlich entschuldigen», begann er. «Wahrscheinlich falle ich Ihnen furchtbar lästig. Aber ich habe Ihre Anschrift Mr. Ffolliott entlockt. Eigentlich ist das aber gar nicht seine Schuld. Sie sind ihm deswegen hoffentlich nicht böse. Ich habe den Ärmsten regelrecht geplagt. Hab mich auf seine Türschwelle gesetzt und mich geweigert, fortzugehen, obwohl der Lehrjunge schon die Läden schloß. Und ich fürchte, wenn Sie erfahren, worum es geht, werden Sie mich erst recht albern finden. Aber Sie dürfen dem armen Mr. Ffolliott wirklich nicht böse sein, nein?»
«Keineswegs», sagte Seine Lordschaft. «Ich meine, es freut mich sehr und so weiter. Kann ich in puncto Büchern irgend etwas für Sie tun? Sind Sie vielleicht Sammler? Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?»
«Nein, nein», antwortete Mr. Pope mit verschämtem Kichern.
«Ein Sammler bin ich nicht direkt. Herzlichen Dank, aber nur ein Schlückchen – nein, das mit dem Schlückchen meine ich ganz wörtlich. Danke; nein –» er blickte sich im Zimmer um, dessen Regale von prachtvollen Ledereinbänden nur so überquollen –, «ein Sammler bin ich ganz gewiß nicht. Aber ich habe ein gewisses Interesse – ein rein sentimentales Interesse – an einem Buch, das Sie gestern erworben haben. Es handelt sich um eine Kleinigkeit. Sie werden es albern finden. Aber wie ich höre, sind Sie der gegenwärtige Besitzer einer Ausgabe von Münsters Cosmographia, die einmal meinem Onkel, Dr. Conyers, gehörte.»
Gherkins sah unvermittelt auf, denn das Gespräch streifte seine höchstpersönlichen Interessen.
«Nun, das stimmt so nicht ganz», sagte Wimsey. «Ich war zwar dabei, aber der eigentliche Käufer ist mein Neffe. Gerald, Mr. Pope interessiert sich für deine Cosmographia. Mein Neffe, Lord Saint George.»
«Guten Tag, junger Mann», sagte Mr. Pope liebenswürdig.
«Ich sehe, der Sammlergeist steckt in der Familie. Und obendrein ein großer Lateiner, wie? Kann jurisjurandum aus dem Stegreif deklinieren, was? Haha! Und was willst du einmal werden, wenn du groß bist? Lordkanzler sicher, oder? Aber nein, ich wette, du möchtest lieber Lokomotivführer werden, nicht?»
«Nein danke», sagte der Vicomte von oben herab.
«Was, kein Lokomotivführer? Hm, nun ja, im Moment sollst du dich auch nur als tüchtiger Geschäftsmann zeigen. Bei einem Buchverkauf. Dein Onkel wird schon darauf achten, daß ich dir einen fairen Preis biete, wie? Haha! Also, nun paß mal auf. Dieses Bilderbuch, das du da hast, hat für mich einen großen Wert, den es sonst für niemanden hat. Als ich noch ein Junge in deinem Alter war, gehörte es nämlich zu meinen allergrößten Freuden. Sonntags habe ich es mir immer geholt und angesehen. Ach Gott, ja! Wie viele glückliche Stunden habe ich über diesen merkwürdigen alten Stichen zugebracht, und den komischen alten Karten mit den Schiffen und Salamandern und ‹Hic dracones› – du weißt vermutlich, was das heißt, wie? Na, was heißt es denn?»
«Hier sind Drachen», antwortete der Vicomte unwillig, aber noch höflich.
«Ganz recht. Ich wußte doch, daß du ein Gelehrter bist.»
«Es ist ein sehr schönes Buch», sagte Lord Peter. «Mein Neffe war ganz hingerissen von dem berühmten Krakauer Monster.»
«Ach ja – ein prächtiges Monster, nicht?» pflichtete Mr. Pope ihm begeistert bei. «Wie oft habe ich mich als Sir Lancelot oder irgendwer sonst auf einem weißen Schlachtroß sitzen sehen, die Lanze eingelegt und das Ungeheuer angreifend, während die gefangene Prinzessin mir zujubelte. Ach ja, die Kindheit! Du durchlebst zur Zeit die glücklichsten Jahre deines Lebens, junger Mann. Du glaubst es mir sicher nicht, aber es ist so.»
«Und was wünschen Sie nun eigentlich genau von meinem Neffen?» fragte Lord Peter ein wenig scharf.
«Sehr richtig, sehr richtig. Also, wie Sie ja wissen, hat mein Onkel, Dr. Conyers, vor ein paar Monaten seine Bibliothek verkauft. Ich war um diese Zeit gerade im Ausland, und erst gestern, als ich ihn in Yelsall besuchen wollte, erfuhr ich, daß auch das geliebte alte Buch mit allen andern zusammen fortgegeben wurde.
Ich kann Ihnen nicht sagen, wie bestürzt ich war. Ich weiß, daß es nicht wertvoll ist – viele Seiten fehlen und so weiter –, aber ich ertrage den Gedanken nicht, daß es fort sein soll. Da bin ich also, aus reiner Sentimentalität, wie gesagt, sofort zu Ffolliott gerannt, um es zurückzuholen. Ich war ganz entsetzt, als ich erfuhr, daß ich zu spät kam, und habe dem armen Mr. Ffolliott keine Ruhe gelassen, bis er mir den Namen des Käufers nannte. Und nun, junger Mann, bin ich hier, um dir ein Angebot zu machen. Also, paß auf: doppelt soviel, wie du dafür bezahlt hast. Das ist doch ein gutes Angebot, nicht wahr, Lord Peter? Haha! Und du tätest mir außerdem einen sehr großen Gefallen.»
Vicomte Saint George machte ein ziemlich verlegenes Gesicht und wandte sich hilfesuchend an seinen Onkel.
«Nun, Gerald», meinte Lord Peter, «das ist natürlich deine Sache. Was sagst du dazu?»
Der Vicomte trat von einem Fuß auf den andern. Die Karriere eines Büchersammlers hatte, wie andere auch, offensichtlich ihre Tücken.
«Bitte, Onkel Peter», druckste er verlegen, «darf ich flüstern?»
«Flüstern gehört sich im allgemeinen nicht, Gherkins, aber du könntest Mr. Pope um Bedenkzeit für sein Angebot bitten. Oder du kannst sagen, daß du zuerst meinen Rat einholen möchtest. Das wäre völlig in Ordnung.»
«Dann möchte ich, wenn Sie nichts dagegen haben, Mr. Pope, zuerst meinen Onkel um Rat bitten.»
«Gewiß, gewiß. Haha!» sagte Mr. Pope. «Sehr gescheit, sich von einem Sammler mit mehr Erfahrung beraten zu lassen, wie? Ja, ja, die junge Generation, nicht wahr, Lord Peter? Schon richtige kleine Geschäftsleute.»
«Dann entschuldigen Sie uns bitte einen Augenblick», sagte Lord Peter und zog seinen Neffen ins Eßzimmer.
«Sag mal, Onkel Peter», begann der junge Sammler atemlos, nachdem die Tür zu war, «muß ich ihm mein Buch geben? Ich finde den Mann gar nicht nett. Ich kann Leute nicht leiden, die einen lateinische Wörter deklinieren lassen wollen.»
«Selbstverständlich mußt du nicht, Gherkins, wenn du nicht willst. Das Buch gehört dir, du hast ein Recht darauf.»
«Was tätest du denn, Onkel Peter?»
Bevor Lord Peter antwortete, schlich er ganz überraschend auf Zehenspitzen zu der Verbindungstür zur Bibliothek und riß sie unvermittelt auf, gerade im richtigen Augenblick, um Mr. Pope dabei zu erwischen, wie er vor dem Kamin kniete und eifrig die Seiten des begehrten Buchs durchblätterte, das noch so dalag, wie sein Besitzer es liegen gelassen hatte. Als die Tür aufging, sprang er auf wie ein ertappter Sünder.
«Fühlen Sie sich ruhig wie zu Hause, Mr. Pope!» rief Lord Peter gastfreundlich und schloß die Tür wieder.
«Was ist denn los, Onkel Peter?»
«Wenn du meinen Rat hören willst, Gherkins, solltest du es dir gut überlegen, bevor du dich mit Mr. Pope auf irgend etwas einläßt. Ich glaube nicht, daß er uns die Wahrheit sagt. Diese Holzschnitte hat er Stiche genannt – allerdings könnte das nur seine Unwissenheit sein. Aber ich kann nicht glauben, daß er in seiner Kindheit alle Sonntagnachmittage die Karten studiert und die Drachen darauf gesucht haben soll, denn wie du selbst schon gemerkt haben wirst, hat der gute alte Münster die Drachen sehr spärlich auf den Karten verteilt. Meist sind es ganz simple Karten – ein bißchen komisch für unsere heutigen Begriffe von Geographie, aber vollkommen klar und nüchtern. Darum habe ich ja auch das Krakauer Monster erwähnt, und siehe da, er hielt es prompt für irgendeine Art Drachen.» «Mensch, Onkel Peter! Das hast du also mit Absicht gesagt?» «Wenn Mr. Pope die Cosmographia haben will, dann aus irgendeinem Grund, den er uns nicht verraten möchte. Und falls dem so ist, hätte ich es mit dem Verkaufen nicht zu eilig, wenn es mein Buch wäre. Verstehst du?»
«Du meinst, an dem Buch ist irgendwas ungeheuer Wertvolles, was wir nicht wissen?»
«Möglich.»
«Wie aufregend! Wie in den Geschichten in der Bibliothek für den Jungen. Was soll ich denn zu ihm sagen, Onkel Peter?»
«Nun, an deiner Stelle würde ich nicht viel herumreden. Ich würde ihm nur sagen, ich hätte mir die Sache überlegt, aber ich hätte das Buch ins Herz geschlossen und möchte es lieber nicht verkaufen. Natürlich dankst du ihm für das Angebot.»
«Ja – äh, könntest du das nicht für mich sagen, Onkel Peter?»
«Ich finde, es sieht besser aus, wenn du es ihm selbst sagst.»
«Na ja, vielleicht. Wird er sehr böse sein?»
«Vielleicht», sagte Lord Peter. «Aber wenn, dann wird er es sich nicht anmerken lassen. So. Fertig?»
Das Beratungskomitee kehrte also in die Bibliothek zurück. Mr. Pope hatte sich klugerweise vom Kamin zurückgezogen und betrachtete ein Bücherregal in einer abgelegenen Ecke.
«Ich danke Ihnen sehr für Ihr Angebot, Mr. Pope», sagte der Vicomte, indem er sicheren Schrittes auf ihn zuging, «aber ich habe es mir überlegt, und ich habe das Buch in – in – ins Herz geschlossen und möchte es lieber nicht verkaufen.»
«Tut mir furchtbar leid», warf Lord Peter ein, «aber mein Neffe läßt sich nicht erweichen. Nein, es geht nicht um den Preis; er möchte einfach das Buch behalten. Ich würde Ihnen gern zu Diensten sein, aber es steht nicht in meiner Macht. Möchten Sie nicht noch etwas zu sich nehmen, bevor Sie gehen? Wirklich nicht? Dann läute bitte mal nach Bunter, Gherkins. Mein Diener wird Sie zum Aufzug bringen. Guten Abend.»
Nachdem der Besucher gegangen war, kam Lord Peter zurück und nahm nachdenklich das Buch zur Hand.
«Wir waren große Dummköpfe, ihn auch nur einen Augenblick damit allein zu lassen, Gherkins. Zum Glück ist nichts passiert.»
«Du meinst nicht, daß er etwas darin gefunden hat, als wir draußen waren, Onkel Peter?» stieß Gherkins mit weit aufgerissenen Augen hervor.
«Da bin ich ganz sicher.»
«Wieso?»
«Er hat mir auf dem Weg zur Tür fünfzig Pfund dafür geboten. Damit hat er sich verraten. Hm. Bunter!»
«Mylord?»
«Legen Sie dieses Buch in den Safe und bringen Sie mir dann den Schlüssel. Und wenn Sie abschließen, schalten Sie lieber alle Alarmanlagen ein.»
«Auwei!» sagte der Vicomte.
Am dritten Morgen nach Mr. Wilberforce Popes Besuch saß der Vicomte in der Wohnung seines Onkels bei einem sehr späten Frühstück, nachdem er eine Nacht erlebt hatte, wie ein Jungenherz sie sich nicht besser wünschen konnte. Er war fast zu aufgeregt, um die gebratenen Nierchen zu essen, die Bunter, untadelig wie stets trotz seines immer dicker und schwärzer werdenden Auges, serviert hatte.
So gegen zwei Uhr morgens hatte Gherkins – der dank eines zu reichlichen und erwachsenen Essens nebst Theaterbesuch am Abend zuvor nicht besonders gut schlief – ein leises Geräusch irgendwo aus der Richtung der Feuerleiter gehört. Er war aus dem Bett gestiegen, ganz leise in Lord Peters Schlafzimmer geschlichen und hatte ihn mit den Worten geweckt: «Onkel Peter, ich glaube, da sind Einbrecher auf der Feuerleiter.» Und statt zu antworten: «Unsinn, Gherkins; mach mal schnell, daß du wieder ins Bett kommst», hatte Onkel Peter sich aufgerichtet und gelauscht und dann gesagt: «Beim Zeus, Gherkins, ich glaube, du hast recht.» Und dann hatte er Gherkins geschickt, Bunter zu rufen. Und bei seiner Rückkehr hatte Gherkins, der seinen Onkel eigentlich immer für einen ziemlich steifen Patron gehalten hatte, ihn wahrhaftig und unverkennbar eine Automatikpistole aus der Nachttischschublade nehmen sehen.
In diesem Augenblick war Lord Peter vom ganz netten Onkel in den Rang eines vergötterten Onkels befördert worden. Er sagte: «Paß auf, Gherkins, wir wissen nicht, wie viele das sind, darum mußt du jetzt schwer auf Draht sein und sofort alles tun, was ich sage – aufs Wort –, auch wenn ich sagen muß: ‹Hau ab.› Versprichst du mir das?»
Gherkins gab dieses Versprechen mit pochendem Herzen, und dann saßen sie wartend im Dunkeln, bis plötzlich unmittelbar über Lord Peters Kopf eine kleine elektrische Klingel losbimmelte und ein grünes Lämpchen aufleuchtete.
«Das Bibliotheksfenster», sagte Seine Lordschaft, indem er die Klingel mittels eines Schalters rasch zum Schweigen brachte.
«Wenn sie das gehört haben, überlegen sie es sich vielleicht noch anders. Wir wollen ihnen ein paar Minuten Zeit lassen.»
Sie gaben ihnen fünf Minuten, dann schlichen sie ganz leise den Flur entlang.
«Gehen Sie andersherum, durchs Eßzimmer, Bunter», sagte Seine Lordschaft. «Auf diesem Weg versuchen sie vielleicht zu flüchten.»
Unendlich behutsam schloß er die Bibliothekstür auf und öffnete sie, und Gherkins bemerkte, wie leise die Schlösser gingen.
Ein Lichtkegel aus einer elektrischen Taschenlampe bewegte sich langsam die Bücherregale entlang. Die Einbrecher hatten offensichtlich von der Gegenattacke nichts gemerkt. Sie schienen überhaupt ihre eigenen Probleme zu haben, die ihre Aufmerksamkeit ganz gefangen hielten. Als Gherkins’ Augen sich an das schummrige Licht gewöhnt hatten, sah er, daß einer der Männer dastand und die Taschenlampe hielt, während der andere die Bücher nacheinander von den Regalen nahm und begutachtete. Es war faszinierend, diese Hände, scheinbar losgelöst vom Körper, im Lichtkegel der Lampe das Regal entlangfahren zu sehen.
Die Männer murrten unzufrieden. Offensichtlich gestaltete ihre Arbeit sich schwieriger als angenommen. Die Angewohnheit früher Schriftsteller, die Titel auf ihren Buchrücken abzukürzen oder überhaupt wegzulassen, machte alles ausgesprochen umständlich. Dann und wann hielt der Mann mit der Lampe die Hand ins Licht. In ihr befand sich ein Zettelchen, das er besorgt mit der Titelseite eines Buchs verglich. Dann wanderte das Buch an seinen Platz zurück, und die langwierige Suche ging weiter.
Plötzlich mußte ein leises Geräusch – Gherkins war überzeugt, daß er nicht der Verursacher war – es mochte vielleicht Bunter im Eßzimmer gewesen sein – ans Ohr des knienden Mannes gedrungen sein.
«Was’n das?» stieß er hervor, und sein erschrockenes Gesicht fuhr herum, so daß es jetzt voll zu sehen war.
«Hände hoch!» sagte Lord Peter und knipste das Licht an.
Der zweite Mann machte einen Satz auf die Eßzimmertür zu, wo ein Krachen und ein Fluch verkündeten, daß er Bunter begegnet sein mußte. Der kniende Mann riß die Hände hoch wie eine Marionette.
«Gherkins», sagte Lord Peter, «meinst du, du könntest mal zu dem Herrn beim Bücherregal gehen und ihn um den Gegenstand erleichtern, der seine rechte Jackentasche so unelegant ausbeult? Moment noch. Gib acht, daß du um keinen Preis zwischen ihn und meine Pistole gerätst, und sieh zu, daß du das Ding ganz vorsichtig herausnimmst. Wir haben gar keine Eile. Hervorragend. Richte sie auf den Fußboden, während du sie mir herbringst, ja? Danke. Bunter ist schon allein zurechtgekommen, wie ich sehe. Jetzt geh mal ins Schlafzimmer, da findest du in meinem Kleiderschrank unten auf dem Boden eine Rolle kräftige Schnur. Oh! Ich bitte um Verzeihung. Natürlich, nehmen Sie bitte, bitte die Hände wieder herunter. Das muß ja furchtbar anstrengend sein.»
Nachdem den Eindringlingen mit einer Akkuratesse, die Gherkins der Tradition eines Sexton Blake würdig fand, die Arme hinter den Rücken gebunden worden waren, hieß Lord Peter seine Gefangenen Platz nehmen und schickte Bunter nach Whisky und Soda.
«Bevor wir die Polizei rufen», sagte Lord Peter, «könnten Sie mir einen großen persönlichen Gefallen tun und mir verraten, was Sie hier suchten und wer Sie geschickt hat. Ah, danke, Bunter. Da unsere Gäste nicht so frei sind, ihre Hände zu benutzen, wären Sie vielleicht so freundlich, ihnen beim Trinken behilflich zu sein. Also dann. Sagen Sie Halt.»
«Sie sind schon’n richtig feiner Herr, Chef», sagte der erste Einbrecher, indem er sich höflich den Mund an der Schulter abwischte, da sein Handrücken ja nicht dafür zur Verfügung stand. «Wenn wir gewußt hätten, was das für’n Ding war, hätten wir jedenfalls die Finger davongelassen. ‹Wie wenn man ’nem Kind den Lutscher wegnimmt, so einfach ist das›, sagt der Kerl zu uns. ‹Der Gentleman ist sowieso nur’n Waschlappen›, sagt er, ‹so’n Salonlöwe mit ’nem Spleen für alte Bücher›, hat er gemeint, ‹und wenn ihr mir das alte Buch da besorgen könnt›, sagt er, ‹kriegt ihr fünfundzwanzig Pfund dafür.› Ha, von wegen! Nix hat er davon gesagt, daß hier ’ne halbe Million so verdammte alte Bücher rumstehen wie’n Regiment Dragoner. Und auch nix davon, daß Sie so’n hübsches kleines Maschinengewehr neben dem Bett liegen haben, und schon gar nix davon, daß Sie so verdammt gute Knoten in ein Stück Schnur machen können. O nein – von den ganzen Sachen hat er nix gesagt!»
«Sehr unsportlich von ihm», sagte Seine Lordschaft. «Sie wissen nicht zufällig den Namen dieses Herrn?»
«Nee – auch davon hat er nix erwähnt. War’n pummeliger, blonder Mann mit Hornbrille und Glatze. So ’ne Art Menschenfreund, schätze ich. ’n Freund von mir, der mal in der Klemme saß, der hat Arbeit von ihm gekriegt, und dann geht der Mann hin zu ihm und meint, ob er ihm nicht’n paar Jungs besorgen kann, die’n kleines Ding für ihn drehen, und mein Freund, der denkt sich nichts Schlimmes dabei, Chef, nur daß da wohl irgend’n Schabernack getrieben werden soll, und haut meinen Kumpel und mich an, und wir treffen den Herrn in ’ner Kneipe in Whitechapel. Da sollen wir ihn auch am Freitagabend wieder treffen, denn bis dahin wollten wir das Buch besorgen.»
«Und bei dem Buch handelt es sich, wenn ich einmal raten darf, um die Cosmographia universalis, ja?»
«Irgend so was war’s, Chef. Ich hab’s mir auf’n Zettel schreiben lassen, den mein Kumpel in der Hand hatte. Was hast du mit dem Zettel eigentlich gemacht, Bill?»
«Also, hören Sie mal zu», sagte Lord Peter, «ich muß wohl leider die Polizei kommen lassen, aber wenn Sie uns behilflich sind, Ihren Auftraggeber zu fassen, dessen Name, wie ich stark vermute, Wilberforce Pope lautet, glaube ich, daß Sie recht glimpflich davonkommen. Rufen Sie die Polizei an, Bunter, und dann tun Sie gleich etwas auf Ihr Auge. Gherkins, wir geben diesen Herren noch etwas zu trinken, und dann denke ich, du solltest lieber wieder ins Bettchen hüpfen. Der Spaß ist vorbei. Nein? Na, dann sei wenigstens so nett und zieh dir einen dicken Mantel an, denn wenn du dir hier eine Erkältung zuziehst, mag ich mir nicht ausmalen, was ich von deiner Mutter zu hören bekomme.»
Die Polizei war dann dagewesen und hatte die Einbrecher mitgenommen, und nun saß Kriminalinspektor Parker von Scotland Yard, der ein guter Freund von Lord Peter war, am Tisch und spielte mit einer Kaffeetasse, während er sich die Geschichte anhörte. «Aber was ist an dem Buch denn eigentlich dran, daß es sich solcher Beliebtheit erfreut?» fragte er.
«Ich weiß es nicht», antwortete Wimsey, «aber nach Mr. Popes kurzem Besuch neulich hat es mich sozusagen gepackt, und ich habe es mir näher angesehen. Ich habe so ein dummes Gefühl, daß es sich zu guter Letzt doch als wertvoll entpuppen könnte. Unvermutete Schönheiten und dergleichen. Wenn Mr. Pope nur ein wenig genauer in seinen Angaben gewesen wäre, hätte er vielleicht etwas von hier mitgenommen, worauf er, wie ich ziemlich sicher annehme, kein Anrecht hat. Jedenfalls, nachdem ich gesehen hatte – nun, was ich eben sah, habe ich gleich an Dr. Conyers in Yelsall geschrieben, den letzten Besitzer –»
«Ist das dieser Krebsspezialist?»
«Ja. Er hat zu seiner Zeit einige bedeutende Forschungen getrieben, glaube ich. Aber jetzt kommt er in die Jahre; an die Achtundsiebzig, soviel ich weiß. Ich hoffe, daß er ehrlicher ist als sein Neffe, wo er doch schon mit einem Fuß im Grab steht und so weiter. Jedenfalls habe ich ihm – mit Gherkins’ Erlaubnis, versteht sich – geschrieben, daß wir das Buch haben und etwas, was wir darin gefunden haben, uns ganz besonders interessiert, und ob er so freundlich sein könnte, uns etwas über die Geschichte dieses Buchs zu erzählen. Außerdem habe ich – »
«Aber was habt ihr denn darin gefunden?»
«Ich glaube, das erzählen wir ihm noch nicht, Gherkins, oder? Ich lasse die Polizei so gern raten. Wie ich vorhin sagen wollte, bevor du mich so roh unterbrachst: Ich habe ihn auch gefragt, ob er etwas vom Angebot seines lieben Neffen weiß, es zurückzukaufen. Seine Antwort ist eben gekommen. Er schreibt, er weiß von nichts besonders Interessantem an dem Buch. Es hat ungezählte Jahre in der Bibliothek herumgestanden, und die Karten müssen schon vor langer Zeit von irgendeinem Familienvandalen herausgerissen worden sein. Er kann sich keinen Reim darauf machen, daß sein Neffe so scharf darauf sein soll, denn als Junge habe er sich bestimmt nie darein vertieft. Überhaupt meint der alte Herr, der einnehmende Wilberforce habe seines Wissens Yelsall Manor noch nie betreten. Soviel zu den feuerspeienden Ungeheuern und den schönen Sonntagnachmittagen.»
«So ein böser Wilberforce!»
«Hm, ja. Da habe ich also nach diesem Spielchen von heute nacht dem alten Herrn telegrafiert, daß wir uns nach Yelsall auf die Socken machen werden, um uns mit ihm mal von Mann zu Mann über dieses Bilderbüchlein und seinen Neffen zu unterhalten.»
«Nimmst du das Buch mit?» fragte Parker. «Ich kann dir eine Polizeieskorte mitgeben, wenn du willst.»
«Keine schlechte Idee», meinte Wimsey. «Wir wissen nichts über den Verbleib des schmeichlerischen Mr. Pope, und ich würde es nicht für unter seiner Würde halten, daß er es noch mal versucht.»
«Sicher ist sicher», sagte Parker. «Ich kann nicht selbst mitfahren, aber ich gebe dir ein paar von meinen Leuten mit.»
«Nett von dir», sagte Lord Peter. «Laß deine Heerscharen aufmarschieren. Ich hole gleich den Wagen vors Haus. Du wirst sicher mitkommen wollen, Gherkins? Weiß der Himmel, was deine Mutter dazu sagen würde. Werde ja nie Onkel, Charles; es ist so furchtbar schwierig, es allen recht zu machen.» Yelsall Manor war einer jener großen, verfallenden Herrensitze, die so beredtes Zeugnis von großzügigeren Zeiten als den eigenen ablegen. Das ursprüngliche Bauwerk aus der späten Tudorzeit war von einem breiten Vorbau im italienischen Stil mit einer Art klassischem Portikus verdeckt, überdacht von einem Giebelfeld und zugänglich über eine halbkreisförmige Treppe. Ursprünglich war der Park wohl nach jenem streng formellen Muster angelegt, bei dem ein Baum dem andern zunickt und jede Hälfte das getreue Spiegelbild der andern ist. Einer der späteren Besitzer aber hatte sich dann zu einer exzentrischeren Form der Landschaftsgärtnerei verstiegen, die man mit dem Namen Capability Brown in Verbindung bringt. Eine chinesische Pagode, ähnlich Sir William Chambers’ Bauwerk in den Kew-Gärten, nur kleiner, erhob sich am äußersten östlichen Ende des Hauses inmitten eines Laurustingebüschs, während auf der rückwärtigen Seite ein großer künstlicher See zum Vorschein kam, von zahlreichen Inselchen übersät, auf denen merkwürdige kleine Tempel, Grotten, Teehäuser und Brücken zwischen dichtem Gesträuch hervorlugten, einstige Schmuckstücke, jetzt aber unansehnlich überwuchert. Ein Bootshaus mit langen, geschwungenen Dachtraufen, wie die chinesischen Landschaftsbilder auf Weidenmustertellern, stand in einer Ecke. Der Bootssteg war verfallen und von häßlichem Unkraut überwachsen.
«Mein unrühmlicher Vorfahr, Cuthbert Conyers, hat sich 1732 hier niedergelassen, nachdem er die Seefahrt aufgegeben hatte», sagte Dr. Conyers mit mattem Lächeln. «Sein älterer Bruder war kinderlos gestorben, und so kehrte das schwarze Schaf in die heimische Hürde zurück, fest entschlossen, ehrbar zu werden und eine Familie zu gründen. Ich fürchte, so ganz ist ihm das nicht gelungen. Es gingen recht sonderbare Gerüchte um, wie er zu seinem Geld gekommen sei. Er soll Pirat gewesen und mit dem berüchtigten Kapitän Blackbeard gefahren sein. Im Dorf nennt man ihn heute noch den Halsabschneider Conyers. Den alten Herrn hat das immer sehr erzürnt, und es gibt eine häßliche Geschichte, wonach er einmal einem Diener, der ihn einen Halsabschneider genannt hatte, die Ohren abgeschnitten haben soll. Dabei war er nicht einmal ein ungebildeter Mensch. Die Parkanlage hinterm Haus stammt von ihm, und er hat auch die Pagode für sein Teleskop gebaut. Angeblich hat er sich mit Schwarzer Magie beschäftigt, und in der Bibliothek stand jedenfalls eine erkleckliche Anzahl astrologischer Werke mit seinem Namen auf dem Vorsatzblatt, aber das Teleskop war vermutlich nur ein Andenken an seine Seefahrerzeit. Jedenfalls wurde er gegen Ende seines Lebens immer wunderlicher und griesgrämiger. Er zerstritt sich mit seiner Familie und setzte seinen jüngeren Sohn mit Frau und Kindern vor die Tür. Ein unangenehmer Zeitgenosse.
Auf dem Sterbebett leistete der Pfarrer ihm Beistand – ein guter, ernster und gottesfürchtiger Mensch, der sich einiges an Beleidigungen angehört haben muß bei dem Versuch, den alten Herrn, wie er es für seine heilige Pflicht hielt, mit seinem schmählich behandelten jüngeren Sohn zu versöhnen. Schließlich gab der ‹Halsabschneider› insofern nach, als er ein Testament aufsetzte, in dem er dem jüngeren Sohn ‹meinen in Münster vergrabenen Schatz› vermachte. Der Pfarrer hielt ihm vor, daß es doch sinnlos sei, jemandem einen Schatz zu vermachen, ohne ihm zugleich auch mitzuteilen, wo dieser zu finden sei, aber darauf lachte der gräßliche alte Seeräuber nur hämisch und meinte, wenn er sich schon die Mühe gemacht habe, den Schatz zusammenzutragen, könne sein Sohn sich wenigstens die Mühe machen, ihn zu suchen. Auf mehr ließ er sich nicht ein, und so ist er dann gestorben und, wie ich fürchte, an einem sehr schlimmen Ort gelandet.
Seitdem ist die Familie ausgestorben, und ich bin der letzte Conyers und somit Erbe des Schatzes, worin dieser auch bestehen und wo er sich befinden mag, denn gefunden wurde er nie. Ich glaube auch nicht, daß er auf besonders ehrliche Weise zustandegekommen ist, doch da es jetzt wohl sinnlos wäre, die ursprünglichen Eigentümer ausfindig machen zu wollen, glaube ich mehr Anrecht darauf zu haben als jeder andere auf der Welt.
Sie halten es vielleicht für unschicklich, Lord Peter, daß ein alter, alleinstehender Mann wie ich so erpicht auf einen Piratenschatz ist, aber ich habe mein ganzes Leben der Erforschung der Krebskrankheit gewidmet und glaube, der Lösung wenigstens eines Teils dieses furchtbaren Problems nahe zu sein. Forschung kostet Geld, und meine bescheidenen Mittel sind nahezu aufgebraucht. Das Anwesen ist bis zum Dach mit Hypotheken belastet, und ich möchte doch so gern meine Experimente noch zu Ende führen, bevor ich sterbe, und eine ausreichende Summe zur Gründung einer Klinik hinterlassen, in der die Arbeit fortgeführt werden kann.
Im letzten Jahr habe ich viel Mühe aufgewendet, um das Rätsel um den Schatz des ‹Halsabschneiders› zu lösen. Einen Großteil meiner Experimentierarbeit konnte ich dabei den tüchtigen Händen meines Assistenten, Dr. Forbes, überlassen, während ich selbst auf Grund der dünnen Hinweise, über die ich verfügte, meine Nachforschungen betrieb. Diese gestalteten sich um so kostspieliger und schwieriger, als der alte Cuthbert in seinem Testament keine Andeutung darüber hinterlassen hatte, ob Münster in Deutschland oder Munster in Irland der Ort ist, an dem der Schatz versteckt liegt. Meine Reisen und Nachforschungen an beiden Orten haben Geld gekostet und mich in meinem Anliegen nicht weitergebracht. Als ich im August entmutigt zurückkehrte, sah ich mich genötigt, meine Bibliothek zu verkaufen, um meine Kosten abzudecken und ein wenig Geld in die Hände zu bekommen, mit dem ich meine betrüblich vernachlässigten Experimente fortführen konnte.»
«Aha», sagte Lord Peter. «Allmählich sehe ich Licht.» Der alte Arzt sah ihn fragend an. Sie waren mit dem Tee fertig und saßen um den großen Kamin im Arbeitszimmer herum. Lord Peters interessierte Fragen nach dem schönen, aber heruntergekommenen alten Haus und Anwesen hatten die Unterhaltung ganz natürlich auf Dr. Conyers’ Familie gebracht und das Problem der Cosmographia, die neben ihnen auf einem Tisch lag, fürs erste vergessen lassen.
«Alles, was Sie sagen, paßt gut in das Puzzle», fuhr Wimsey fort, «und ich glaube, es gibt nicht mehr den mindesten Zweifel, hinter was Mr. Wilberforce Pope her war, obschon ich nicht sagen kann, woher er wußte, daß Sie die Cosmographia hier hatten.»
«Als ich die Bibliothek veräußerte, habe ich ihm einen Katalog zugeschickt», sagte Dr. Conyers. «Ich fand, als Verwandter sollte er das Vorkaufsrecht für alles haben, was ihn interessierte. Ich weiß gar nicht, warum er sich des Buchs nicht gleich versichert hat, statt so ein schockierendes Betragen an den Tag zu legen.»
Lord Peter bog sich vor Lachen.
«Ganz einfach, weil er erst hinterher darauf gestoßen ist», sagte er. «Mein Gott, und wie wütend er gewesen sein muß! Ich verzeihe ihm alles. Obschon», fügte er hinzu, «ich Ihnen keine allzu großen Hoffnungen machen möchte, Sir, denn selbst wenn wir Cuthberts Rätsel gelöst haben, weiß ich nicht, ob wir dem Schatz damit schon viel näher sind.»
«Dem Schatz?»
«Aber ja, Sir. Nun, als erstes möchte ich Sie auf diese Seite hier aufmerksam machen, auf der ein Name an den Rand gekritzelt ist. Unsere Ahnen hatten die etwas unmanierliche Angewohnheit, ihre Besitztümer irgendwo in einer Randbemerkung zu kennzeichnen und nicht, wie es sich für ordentliche Christenmenschen gehört, auf dem Vorsatzblatt. Das ist eine Handschrift etwa aus der Zeit Karls I: ‹Jac: Coniers.› Ich denke, daraus geht eindeutig genug hervor, daß dieses Buch sich schon in der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts im Besitz Ihrer Familie befand und seitdem immer befunden hat. Gut. Nun wenden wir uns Seite 1099 zu, wo wir die Entdeckungen Christoph Columbus’ geschildert finden. Sie beginnt, wie Sie sehen, mit einer Art Karte, auf der einige von Mr. Popes Ungeheuern herumschwimmen und offenbar die Kanarischen Inseln oder, wie sie damals auch hießen, die Glücklichen Inseln dargestellt sind. Die Karte ist so genau oder ungenau, wie Karten um diese Zeit nun einmal waren, aber ich nehme an, die große Insel rechts soll Lanzarote sein und die beiden nächsten dabei Teneriffa und Gran Canaria.»
«Aber was soll die Inschrift in der Mitte?»
«Das ist es ja gerade. Die Schrift ist jünger als Jac Coniers’ Signatur. Ich würde sie um 1700 herum datieren – aber sie kann natürlich auch aus einer noch viel späteren Zeit stammen. Ich meine, ein Mann, der um 1730 schon ein alter Mann war, hat wahrscheinlich auch dann noch in der Art geschrieben, die er sich als junger Mann einmal zugelegt hatte, besonders wenn er, wie Ihr seeräuberischer Vorfahr, den ersten Teil seines Lebens mehr oder weniger im Freien verbracht und nicht viel geschrieben hat.»
«Sag mal, Onkel Peter», mischte der Vicomte sich aufgeregt ein, «soll das heißen, daß der Halsabschneider Conyers das da geschrieben hat?»
«Ich würde ganz schön etwas darauf wetten. Sehen Sie mal, Sir, Sie haben Münster in Deutschland und Munster in Irland abgegrast – aber wie steht es denn mit dem guten alten Sebastian Münster hier in Ihrer Bibliothek daheim?»
«Der Himmel steh mir bei – ist das denn möglich?»
«Es dürfte so gut wie sicher sein, Sir. Sie sehen doch, was hier um den Kopf dieses Seeungeheuers herum geschrieben steht:
Hic in capite draconis ardet perpetuo Sol. Hier im Haupte des Drachen scheint ewig die Sonne.
Ziemlich schuppiges Latein – Seedrachenlatein, würde ich sagen.»
«Ich bin anscheinend schrecklich dumm», sagte Dr. Conyers, «aber ich sehe nicht ganz, wohin uns das bringt.»
«Keineswegs, Sir; denn der alte ‹Halsabschneider› war ziemlich schlau. Sicher hat er sich überlegt, wenn einer das liest, wird er es nur für eine Anspielung darauf halten, daß die Inseln, wie es weiter unten heißt, ‹Fortunatae geheißen werden ob der wunderbaren Temperatur der Luft und ihrer milden Himmel›. Aber der schlaue alte Astrologe in seiner Pagode hatte eine andere Bedeutung im Sinn. Hier ist ein Büchlein aus dem Jahre 1678 – Middletons Praktische Astrologie – gerade so eines jener beliebten Handbücher, die ein Amateur wie der ‹Halsabschneider› benutzt haben würde. Da steht: ‹So du in deinem Zeichen Jupiter oder Venus oder das Haupt des Drachens findest, darfst du darauf vertrauen, daß am bezeichneten Orte ein Schatz zu finden ist … Ist Sol das Zeichen des verborgenen Schatzes, so schließe daraus, daß dort Gold oder Juwelen sind.› Nun, Sir, ich glaube, wir dürfen es daraus schließen.»
«Großer Gott!» rief Dr. Conyers. «Ich glaube wirklich, Sie haben recht. Und ich muß zu meiner Schande gestehen, wenn mir jemand je gesagt hätte, daß es sich für mich lohnen könnte, die Sprache der Astrologie zu erlernen, ich hätte in meiner Überheblichkeit geantwortet, daß meine Zeit zu kostbar sei, um sie mit solchen Narreteien zu verschwenden. Ich stehe tief in Ihrer Schuld.»
«Na ja», meinte Gherkins, «aber wo ist denn nun der Schatz, Onkel Peter?»
«Das ist eben die Frage», antwortete Lord Peter. «Diese Karte sagt nicht viel aus. Es sind keine Längen- und Breitengrade angegeben; und die Ortsangaben beziehen sich, so wie sie dastehen, nicht einmal auf irgendeine Stelle auf einer der Inseln, sondern weisen irgendwohin mitten ins Meer. Außerdem ist es fast zweihundert Jahre her, seit der Schatz versteckt wurde, und er könnte längst von irgendwem gefunden worden sein.» Dr. Conyers erhob sich.
«Ich bin ein alter Mann», sagte er, «aber ich habe noch Kräfte in mir. Wenn ich irgendwie die Mittel zu einer Expedition zusammenbekomme, werde ich nicht ruhen, bis ich alle denkbaren Schritte unternommen habe, um den Schatz zu finden und meine Klinik ins Leben zu rufen.»
«Dann hoffe ich, Sir, daß Sie mir erlauben werden, einen Beitrag zu dem guten Werk zu leisten», sagte Lord Peter.
Dr. Conyers hatte seine Gäste eingeladen, über Nacht zu bleiben, und nachdem der überdrehte Vicomte ins Bett gesteckt war, saßen Wimsey und der alte Herr noch lange da und studierten Karten und lasen Münsters Kapitel De Novis Insulis aufmerksam durch, um dort vielleicht noch einen weiteren Hinweis zu entdecken. Zu guter Letzt aber wünschten sie einander gute Nacht, und Lord Peter begab sich, das Buch unterm Arm, nach oben. Er fand jedoch keine Ruhe, und so saß er, statt sich zu Bett zu legen, noch lange am Fenster seines Zimmers, das auf den See blickte. Der gerade wieder abnehmende Mond segelte zwischen kleinen, luftigen Wölkchen dahin und schien hell auf die scharfen Konturen des chinesischen Teehauses und die zottigen, ungestutzten Büsche. Der ‹alte Halsabschneider› und seine Landschaftsgärtnerei! Wimsey hätte sich gut vorstellen können, wie der alte Seeräuber jetzt in dieser albernen Pagode hinter seinem Teleskop sitzen und sich heimlich über sein rätselhaftes Testament freuen und die Mondkrater zählen würde. «Wenn Luna, dann Silber.» O ja, das Wasser des Sees war silbern genug; ein breiter, glatter Pfad zog sich darüber hinweg, unterbrochen vom düsteren Keil des Bootshauses, den schwarzen Schatten der Inseln und einem verfallenden Springbrunnen fast in der Mitte des Sees – einem sich windenden Himmelsdrachen mit stachligem Rücken und irgendwie lächerlich.
Wimsey rieb sich die Augen. Dieser See kam ihm irgendwie merkwürdig vertraut vor; von einem Augenblick zum andern legte er sich die seltsame Unwirklichkeit eines Ortes zu, den man wiederzuerkennen glaubt, ohne ihn je gesehen zu haben. Es erging ihm wie jemandem, der zum erstenmal den Schiefen Turm von Pisa sieht – er ist seinem Bild viel zu ähnlich, als daß er einem glaubhaft vorkommen möchte. Wimsey glaubte fest, diese längliche Insel rechts zu kennen, die geformt war wie ein geflügeltes Ungeheuer mit seinen beiden kleinen Gebäudegrüppchen. Und die Insel links davon – wie die Britischen Inseln, nur recht verzerrt. Und die dritte Insel zwischen den beiden andern und etwas weiter vorn. Sie bildeten zusammen ein Dreieck mit dem chinesischen Springbrunnen in der Mitte, auf dessen Drachenhaupt unablässig der Mond schien. «Hic in capite draconis ardet perpetuo –»
Lord Peter sprang mit einem lauten Ausruf auf und riß die Tür zum Ankleidezimmer auf. Eine kleine Gestalt, in eine Daunendecke gehüllt, richtete sich von der Fensterbank auf.
«Entschuldige, Onkel Peter», sagte Gherkins. «Ich war so schrecklich wach, daß es gar keinen Zweck hatte, im Bett liegenzubleiben.»
«Komm mal her», sagte Lord Peter, «und sag mir, ob ich verrückt bin oder träume. Schau mal aus dem Fenster und vergleiche das, was du siehst, mit der Karte – Cuthbert Conyers’ Karte von den ‹Neuen Inseln›. Sie sind nämlich von ihm, Gherkins; er hat sie dort angelegt. Liegen sie nicht genau wie die Kanarischen Inseln? Diese drei Inseln im Dreieck und die vierte hier vorn in der Ecke? Und das Bootshaus genau dort, wo auf dem Bild das große Schiff ist. Und der Drachenspringbrunnen genau da, wo der Drachenkopf ist. Dort liegt der verborgene Schatz, mein Sohn! Zieh dich an, Gherkins, und pfeif darauf, daß alle braven Jungen um diese Zeit ins Bett gehören! Wir machen eine Ruderpartie auf dem See, falls es in diesem Bootshaus noch einen Kahn gibt, der sich über Wasser halten kann.»
«Mensch, Onkel Peter! Das ist ja ein richtiges Abenteuer!» «Und was für eins», sagte Wimsey. «Fünfzehn Mann auf des toten Manns Kiste und so weiter! Ho-ho-ho, und ’ne Buddel mit Johnnie Walker! Piratenmannschaft zum mitternächtlichen Auslaufen bereit, um versteckten Schatz zu suchen und die Glücklichen Inseln zu erforschen! Alle Mann an Bord!»
Lord Peter machte den lecken Kahn am knotigen Schwanz des Drachens fest und stieg vorsichtig aus, denn der Fontänensockel war grün und glitschig.
«Deine Aufgabe wird es leider sein, im Kahn zu bleiben und Wasser zu schöpfen, Gherkins», sagte er. «Alle guten Kapitäne deichseln es immer so, daß sie die wirklich interessanten Arbeiten selbst machen. Wir fangen am besten mit dem Kopf an. Wenn der alte Seeräuber ‹Haupt› sagte, dann meinte er wahrscheinlich auch ‹Haupt›.» Er legte, um sich festzuhalten, zärtlich den Arm um den Hals des Monstrums, während er methodisch an den verschiedenen Knoten und Köpfen seiner Anatomie herumdrückte und -zog. «Scheint alles teuflisch fest zu sein, aber irgendwo ist garantiert eine Feder. Du vergißt ja nicht zu schöpfen, nein? Ich fände es einfach häßlich, wenn ich mich mal umdrehte und das Boot wäre weg. Piratenhäuptling auf einsamer Insel ausgesetzt und so weiter. Also, am Hinterkopf ist schon mal nichts. Probieren wir die Augen. Weißt du was, Gherkins, ich bin felsenfest überzeugt, daß sich da was bewegt hat, es ist nur alles furchtbar festgerostet. Wir hätten daran denken können, ein bißchen Öl mitzubringen. Macht aber nichts. Sturheit siegt. Sieh da, es kommt. Es kommt. Ha! Brrrr!»
Mit letzter Kraftanstrengung hatte er den eingerosteten Knopf nach innen gedrückt, und aus dem weit geöffneten Schlund des Drachens jagte ihm eine Wasserfontäne ins Gesicht. Der Springbrunnen, seit vielen Jahren trocken, schoß jubilierend himmelwärts, durchnäßte die Schatzsucher und malte einen Regenbogen ins Mondlicht.
«Das fand der alte Halsabschneider wohl witzig», maulte Wimsey, indem er sich vorsichtig um den Hals des Ungeheuers herum zurückzog. «Und jetzt krieg ich das nicht wieder aus. Na ja, probieren wir mal das andere Auge.»
Ein paar Sekunden drückte er vergebens daran herum. Dann klappten mit einem knirschenden Scheppern die bronzenen Flügel des Ungeheuers zu den Seiten hinunter und gaben ein tiefes, viereckiges Loch frei, und die Fontäne hörte auf zu spritzen.
«Gherkins», sagte Lord Peter, «wir haben es geschafft. – Aber deswegen brauchst du nicht gleich das Schöpfen zu vergessen! – Hier drin ist eine Kiste. Und sie ist verteufelt schwer. Nein, nein, schon gut; ich schaff’s allein. Reich mir mal den Bootshaken herüber. Jetzt will ich nur noch hoffen, daß der alte Sünder wirklich einen Schatz besaß. Wäre ja langweilig, wenn das nur wieder einer seiner dummen Scherze wäre. Egal – halt das Boot ruhig! So. Merke dir, Gherkins, daß man aus einem Bootshaken und zwei kräftigen Hosenträgern jederzeit einen brauchbaren Hebekran machen kann. Verstanden? Recht so. Jetzt ab in Richtung Heimat … Hallo! Was ist denn das?»
Während er das Boot wendete, tat sich deutlich beim Bootshaus etwas. Lichter bewegten sich hin und her, und Stimmen drangen über den See.
«Man hält uns für Diebe, Gherkins. Immer wird man mißverstanden. Bahn frei, meine Lieben!
Rudern, ja rudern, das war mein Verderben; Drum ruder ich mit dir, schäm Mägdlein, nicht mehr.»
«Sind Sie das, Mylord?» fragte eine Männerstimme, als sie ins Bootshaus glitten.
«Ach, das sind ja unsere getreuen Wachhunde!» rief Seine Lordschaft. «Was soll die Aufregung?»
«Wir haben diesen Mann erwischt, wie er um das Bootshaus herumschlich», sagte der Kriminalbeamte. «Er behauptet, der Neffe des alten Herrn zu sein. Kennen Sie ihn, Mylord?»
«Das denke ich schon», sagte Wimsey. «Mr. Pope, wenn ich mich nicht irre. Guten Abend. Suchten Sie vielleicht etwas? Doch nicht zufällig einen Schatz? Wir haben nämlich eben einen gefunden. Oh – sagen Sie das nicht! Maxima reverentia, nicht wahr? Lord Saint George ist noch so zart an Jahren. Und vielen Dank übrigens, daß Sie mir neulich abends Ihre reizenden Freunde zu Besuch geschickt haben. Gewiß, Thompson, ich werde ihn zur Anzeige bringen. Sind Sie auch da, Doktor? Großartig. So, und wenn nun jemand ein Stemmeisen oder so etwas Ähnliches griffbereit hätte, könnten wir mal einen Blick auf Urgroßväterchen Cuthbert werfen. Und wenn sich zeigt, daß nur altes Eisen darin ist, Mr. Pope, dann hatten Sie ungeheuren Spaß für Ihr Geld.»
Aus dem Bootshaus wurde eine Eisenstange geholt und unter die Haspe der Kiste geschoben. Diese knirschte und sprang auf. Dr. Conyers kniete sich zitternd hin und klappte den Deckel zurück.
Es war eine Weile still.
«Die Zeche geht an Sie, Mr. Pope», sagte Lord Peter. «Ich glaube, Doktor, das wird ein ganz hübsches Krankenhaus, wenn es fertig ist.»