7
Die rachsüchtige Geschichte von den vernehmlichen
Schritten
Mr. Bunter zog den Kopf unter dem Kameratuch hervor. «Ich glaube, das wird jetzt genügen, Sir», sagte er ehrerbietig, «sofern Sie nicht noch weitere Patienten – wenn ich sie so nennen darf – zu registrieren wünschen.»
«Heute nicht mehr», antwortete der Arzt. Damit nahm er die letzte der unglücklichen Ratten behutsam vom Tisch und setzte sie mit zufriedener Miene in ihren Käfig zurück. «Vielleicht am Mittwoch, wenn Lord Peter freundlicherweise noch einmal Ihre Dienste entbehren könnte –»
«Wie bitte?» murmelte Seine Lordschaft, indem er die lange, forschende Nase von den in Reih und Glied dastehenden, nicht sehr appetitlich aussehenden Glasgefäßen zurückzog. «Braves Hündchen», fügte er abwesend hinzu. «Wedelt immer mit dem Schwanz, wenn sein Name fällt, wie? Sind das hier Affendrüsen, Hartman, oder eine Südwesterhebung von Kleopatras Zwölffingerdarm?»
«Wieder die Ahnungslosigkeit in Person, wie?» versetzte der junge Arzt lachend. «Mir brauchen Sie nicht den Einfaltspinsel mit Monokel vorzuspielen, Wimsey. Ich durchschaue Sie. Ich sagte nur eben zu Bunter, ich wäre unendlich dankbar, wenn Sie ihn in drei Tagen noch einmal herkommen lassen könnten, um die Fortschritte fotografisch festzuhalten – falls es welche gibt, heißt das.»
«Was fragen Sie erst lange?» antwortete Seine Lordschaft.
«Es ist mir doch stets ein Vergnügen, einem Kollegen behilflich zu sein. Schließlich sind wir beide im selben Geschäft – Mörder zu fangen und so. Alles erledigt? Gut gemacht. Übrigens, wenn Sie diesen Käfig nicht bald mal flicken, geht Ihnen demnächst einer Ihrer Patienten verloren – Nummer fünf. Der vorletzte Draht löst sich langsam – unter freundlicher Assistenz des intelligenten Insassen. Nette Tierchen, wie? Brauchen nie zum Zahnarzt – ich möchte Ratte sein! Draht ist soviel besser für die Nerven als dieser surrende Bohrer.»
Dr. Hartman stieß einen leisen Schrei aus.
«Wie haben Sie das nur wieder gemerkt, Wimsey? Ich dachte, Sie hätten den Käfig nicht einmal angeschaut.»
«Neugierig geboren – durch Übung dazugelernt», sagte Lord Peter gelassen. «Wenn irgendwo etwas verkehrt ist, registriert es das Auge; später kommt dann das Gehirn mit der entsprechenden Warnung hinterher. Gesehen habe ich das schon, als wir hier hereinkamen. Aber begriffen habe ich es erst jetzt. Ich kann nicht behaupten, daß mein Verstand sich unentwegt mit dieser Frage beschäftigt hätte. Zeigt aber immerhin, daß der Patient auf dem Wege der Besserung ist. Alles klar, Bunter?» «Ich hoffe, daß alles zur Zufriedenheit ausgefallen ist, Mylord», antwortete der Diener. Er hatte seine Kamera und Fotoplatten eingepackt und war stillschweigend dabei, in dem kleinen Labor mit der kompakten Einrichtung eines Ozeandampfers die Ordnung wiederherzustellen, die durch das Experiment durcheinandergeraten war.
«Also, Lord Peter», sagte der Doktor, «ich bin Ihnen und Bunter sehr zu Dank verpflichtet. Ich erhoffe mir von diesen Experimenten bedeutende Erkenntnisse, und Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr mir eine gute Fotoserie dabei von Nutzen sein wird. Ich kann mir so ein Ding nämlich nicht leisten», fuhr er mit Blick auf die herrliche Kamera fort, wobei sein mageres junges Gesicht einen wehmütigen Zug bekam, «und im Krankenhaus kann ich diese Arbeit nicht machen.
Keine Zeit; muß ja hier sein. Wenn unsereiner leben will, darf er die Praxis nicht vernachlässigen, nicht einmal in Bloomsbury. Es kommt vor, daß ein Krankenbesuch für eine halbe Krone über Auskommen oder Schuldenmachen entscheidet.» «Wie Mr. Micawber schon sagte», erwiderte Wimsey, «‹Einnahmen zwanzig Pfund, Ausgaben neunzehn Pfund, neunzehn Shilling, sechs Pence: Glückseligkeit; Ausgaben zwanzig Pfund, null Shilling, sechs Pence: Elend.› Wälzen Sie sich nicht vor lauter Dankbarkeit im Staub, alter Freund; es gibt für Bunter nichts Schöneres, als mit Pyrogallol und Fixiersalz zu spielen. Da bleibt er außerdem in Übung. Jede Gelegenheit ist uns willkommen. Fingerabdrücke und Kopierarbeiten bedeuten natürlich den siebenten Himmel, aber auch schon das Knipsen skorbutgeplagter Nagetiere ist besser als nichts, wenn kein Verbrechen lockt. Verbrechen sind überhaupt in letzter Zeit rar.
Wir nagen regelrecht am Hungertuch, nicht wahr, Bunter?
Weiß nicht, wohin es mit London gekommen ist. Ich muß jetzt schon die Nase in die Angelegenheiten meiner Nachbarn stekken, um nicht zu versauern. Neulich habe ich den Postboten zu Tode erschreckt, als ich ihn fragte, wie es seiner Freundin in Croydon geht. Er ist nämlich verheiratet und wohnt in der Great Ormond Street.»
«Woher wußten Sie denn davon?»
«Von Wissen kann eigentlich keine Rede sein. Aber er wohnt einem Freund von mir gegenüber – Inspektor Parker; und seine Frau – nicht Parkers Frau, der ist nämlich nicht verheiratet, sondern die Frau des Postboten – hat Parker neulich gefragt, ob die Flugvorführungen in Croydon eigentlich immer die ganze Nacht durchgehen. Parker war ein bißchen perplex und hat ohne zu überlegen nein gesagt. Kleiner Lapsus, nicht? Da hab ich mir gedacht, ich lasse dem armen Teufel rechtzeitig eine Warnung zukommen. Sehr gedankenlos von Parker.»
Der Doktor lachte. «Sie bleiben doch zum Essen hier, ja?»
fragte er. «Leider gibt’s nur kalten Braten und Salat. Meine Zugehfrau kommt sonntags nicht. Da muß ich dann auch selbst die Tür öffnen. Leider nicht sehr standesgemäß, muß ich sagen, aber da kann man nichts machen.»
«Gern», sagte Wimsey, während sie das Laboratorium verließen und durch einen Hintereingang in die dunkle kleine Wohnung traten. «Haben Sie das hier selbst angebaut?» «Nein», antwortete Hartman. «Das war mein Vormieter. Er war Maler. Deswegen habe ich die Wohnung ja auch genommen. Bei aller Behelfsmäßigkeit ist das doch hier sehr praktisch für mich, obwohl man an einem heißen Tag wie heute unter diesem Glasdach ganz schön ins Schwitzen kommt.
Aber ich brauchte nun mal etwas Ebenerdiges, das außerdem erschwinglich war, und es genügt mir, bis bessere Zeiten kommen.»
«Bis Ihre Experimente mit Vitaminen Sie berühmt gemacht haben, wie?» meinte Peter gutgelaunt. «Sie sind nämlich der kommende Mann, das spüre ich in den Knochen. Jedenfalls haben Sie hier eine ungemein hübsche kleine Küche.» «Sie geht», sagte der Arzt. «Das Labor macht sie ein bißchen düster, aber die Zugehfrau ist ja nur tagsüber hier drin.» Er führte den Gast in ein schmales kleines Eßzimmer, wo der Tisch für einen kalten Mittagsimbiß gedeckt war. Durch das einzige Fenster in der Wand, die der Küche gegenüberlag, sah man auf die Great James Street hinaus. Das Eßzimmer war eigentlich mehr ein Flur mit seinen vielen Türen – der Küchentür, einer Tür in der angrenzenden Wand zur Diele und einer dritten Tür gegenüber, durch die der Besucher einen kurzen Blick in ein Konsultationszimmer mäßiger Größe tun konnte.
Lord Peter Wimsey und sein Gastgeber setzten sich zu Tisch, und der Arzt äußerte die Hoffnung, Mr. Bunter werde ihnen beim Essen Gesellschaft leisten, doch dieses Ansinnen wies der korrekte Diener weit von sich. «Wenn ich von mir aus einen Wunsch äußern dürfte, Sir», sagte er, «würde ich es vorziehen, Ihnen und Seiner Lordschaft in gewohnter Weise aufzuwarten.»
«Zwecklos», sagte Wimsey. «Bunter möchte, daß ich meinen Platz kenne. Ein regelrechter Tyrann. Ich kann meine Seele nicht mehr mein eigen nennen. Nur zu, Bunter; wir wollen uns um alles in der Welt nichts anmaßen.»
Mr. Bunter verteilte den Salat und goß das Wasser mit einer Feierlichkeit ein, die einem uralten Portwein angestanden hätte. Es war ein Sonntagnachmittag im friedvollen Sommer des Jahres 1921. Die schmutzige kleine Straße war nahezu menschenleer. Nur der Eismann schien alle Hände voll zu tun zu haben. Wenn sein blühendes Geschäft ihm gerade einmal etwas Ruhe ließ, lehnte er sich genüßlich an den grünen Laternenpfahl an der Straßenecke. Von der kraftstrotzenden und sonst so stimmgewaltigen Kinderschar von Bloomsbury war heute nichts zu sehen und zu hören; wahrscheinlich saßen sie alle daheim bei Tisch und verzehrten ihr dampfendes, den tropischen Temperaturen höchst unangemessenes Sonntagsmahl.
Die einzigen störenden Geräusche kamen aus der Wohnung über ihnen, wo man schwere Schritte eilig hin und her gehen hörte.
«Wer ist denn das fidele Kerlchen über uns?» erkundigte Lord Peter sich nach einer kleinen Weile. «Kein Frühaufsteher, nehme ich an. Das ist natürlich sonntags morgens sowieso keiner. Ich begreife auch wirklich nicht, was der unergründlichen Vorsehung einfällt, armen Stadtmenschen so einen Tag aufzuerlegen. Ich selbst gehörte jetzt eigentlich auch aufs Land, aber ich muß heute nachmittag einen Freund am Victoria-Bahnhof abholen. An so einem Tag aber auch … Und wer ist die Dame?
Ehefrau oder vollendete Freundin? So oder so scheint sie die geziemend demütige Auffassung von den Aufgaben der Frau im Haus zu haben. Das hier über uns ist sicher das Schlafzimmer, ja?»
Hartman sah Lord Peter einigermaßen überrascht an. «Entschuldigen Sie meine eklige Neugier, altes Haus», sagte Wimsey. «Schlechte Angewohnheit. Geht mich ja nichts an.» «Aber woher wissen Sie –?»
«Geraten», antwortete Wimsey mit entwaffnender Ehrlichkeit. «Ich habe das Quietschen eines eisernen Bettgestells gehört, dann ein Plumpsen, als ob ein schwerer Mann herausgestiegen wäre, aber es könnte natürlich auch eine Couch oder etwas Ähnliches gewesen sein. Jedenfalls ist er in der letzten halben Stunde mit bestrumpften Füßen auf diesen paar Metern da herumgelaufen, während die Frau schon die ganze Zeit, seit wir hier sind, auf hohen Absätzen zwischen Küche und Wohnzimmer hin und her klappert. Daher meine Schlüsse auf die häuslichen Gewohnheiten Ihrer Obermieter.»
«Und ich dachte, Sie hätten meinen lichtvollen Ausführungen über die wohltätige Wirkung des Vitamin B und Linds Skorbutbehandlung mit frischen Zitronen im Jahre 1755 gelauscht», sagte der Arzt gekränkt.
«Habe ich auch», versicherte Lord Peter eilig, «nur habe ich die Schritte eben auch gehört. Der Kerl ist einmal in die Küche getapst – aber nur um Streichhölzer zu holen; dann ist er ab ins Wohnzimmer und überläßt die Verrichtung der wirklich nützlichen Arbeiten ihr. Was wollte ich vorhin sagen? Ach ja. Sie sehen also, wie ich schon vorhin bemerkte, daß man irgend etwas sieht oder hört, ohne sich dessen bewußt zu sein oder sich gar Gedanken darüber zu machen. Hinterher beginnt man dann zu meditieren, und auf einmal ist alles wieder da, so daß man seine Eindrücke irgendwo einordnen kann. Das ist wie mit Bunters fotografischen Platten. Das vollständige Bild ist da, lla- … wie heißt dieses Wort noch, Bunter?»
«Latent, Mylord.»
«Richtig. Bunter ist meine rechte Hand; ohne ihn wäre ich vollkommen hilflos. Das Bild ist latent da, bis man den Entwickler einwirken läßt. Genauso ist es mit dem Gehirn. Alles ohne Netz und doppelten Boden. Kleine graue Zellen sind alles, was man braucht, um sich an etwas zu erinnern. Nur um meine Neugier zu befriedigen: Hatte ich mit den Leuten über Ihnen recht?»
«Vollkommen. Der Mann ist Kontrolleur beim Gaswerk. Ein bißchen mürrisch, aber seiner Frau – auf seine Art – sehr zugetan. Das heißt, es macht ihm gar nichts aus, den ganzen Sonntagmorgen faul im Bett zu liegen und alle Arbeit ihr zu überlassen, aber von allem Geld, das er erübrigen kann, kauft er ihr schöne Hüte und Pelzmäntel und was weiß ich. Sie sind erst seit ungefähr einem halben Jahr verheiratet. Im Frühling haben sie mich mal gerufen, als sie eine kleine Grippe hatte, und da war er fast von Sinnen vor Angst um sie. Sie ist ein hübsches kleines Ding, muß ich sagen – Italienerin. Soviel ich weiß, hat er sie sich in einem Restaurant in Soho angelacht.
Prachtvolle dunkle Haare und Augen; eine Figur wie eine Venus, an allen Stellen die richtigen Konturen; wunderschöne Haut und so weiter. Solange sie in diesem Lokal arbeitete, muß sie dort so eine Art Zugpferd gewesen sein. Sehr lebenslustig.
Einmal war ein früherer Verehrer von ihr hier – unsympathischer kleiner Italiener mit Messer –, flink wie ein Affe. Hätte unangenehm werden können, aber zufällig war ich zur Stelle, und ihr Mann kam auch dazu. In diesen Straßen hier gehen die Leute immerzu aufeinander los. Das ist natürlich gut fürs Geschäft, aber man wird es langsam auch leid, ewig Schädelbrüche und Stiche in den Hals zu flicken. Immerhin bin ich der Meinung, die Kleine kann ja nichts dafür, daß sie hübsch ist, obschon ich auch wieder nicht behaupten kann, daß sie in ihrer Art direkt unnahbar wäre. Trotzdem hat sie aber ihren Brotherton – so heißt er nämlich – richtig gern, glaube ich.»
Wimsey nickte abwesend. «Das Leben ist wohl hier ein bißchen eintönig», meinte er.
«Beruflich gesehen, ja. Geburten, Trunkenheit und verprügelte Ehefrauen sind mein täglich Brot. Und natürlich die üblichen Wehwehchen. Zur Zeit lebe ich hauptsächlich von Kinderdurchfall – kein Wunder bei dieser Hitze. Im Herbst kommen dann Grippe und Husten an die Reihe. Hier und da habe ich mal eine Lungenentzündung. Natürlich auch Wasserbeine und Krampfadern – mein Gott!» brach es plötzlich aus dem Arzt heraus.
«Wenn ich doch nur hier aufhören und meine Experimente machen könnte!»
«Ja!» sagte Peter. «Wo bleibt denn nur der exzentrische alte Millionär mit der geheimnisvollen Krankheit, der in Romanen immer vorkommt? Blitzartige Diagnose – wundersame Heilung – ‹Gott segne Sie, Doktor, hier sind fünftausend Pfund› – Harley Street –»
«Solche Leute wohnen nicht in Bloomsbury», sagte der Arzt. «Es muß faszinierend sein, Diagnosen zu stellen», meinte Peterbedächtig. «Wie machen Sie das eigentlich? Ich meine, gibt es so für jede Krankheit eine bestimmte Liste von Symptomen, etwa wie man beim Bridge ein Treff bietet, um seinem Partner anzuzeigen, daß er Sans Atout bieten soll? Sie sagen nicht einfach: ‹Der und der hat einen Pickel auf der Nase, folglich leidet er an Herzverfettung› –?»
«Das will ich nicht hoffen», antwortete der Arzt trocken. «Oder ist es mehr so, wie wenn man die Spur zu einem Verbrechen findet?» fuhr Peter fort. «Man sieht etwas – ein Zimmer, oder sagen wir eine Leiche, alles irgendwie in heilloser Unordnung, und es sind jede Menge Symptome dafür da, daß etwas nicht stimmt, so daß Sie sich nur noch die heraussuchen müssen, die Ihnen sagen, was los ist?»
«Das kommt der Sache schon näher», sagte Dr. Hartman. «Manche Symptome sind an sich schon charakteristisch – wie das Aussehen des Zahnfleisches bei Skorbut zum Beispiel –, andere wieder in Verbindung mit –»
Er brach ab, und beide sprangen auf, denn aus der Wohnung über ihnen ertönte ein schriller Schrei, gefolgt von einem schweren Plumps. Dann eine laute, wehklagende Männerstimme; Schritte hin und her; und dann, während der Arzt und sein Gast noch wie versteinert dastanden, kam der Mann selbst – fiel vor Eile fast die Treppe herunter und hämmerte an Hartmans Tür.
«Hilfe! Hilfe! Aufmachen! Meine Frau! Er hat sie ermordet!»
Sie stürzten zur Tür und ließen ihn ein. Er war ein großer, blonder Mann in Hemdsärmeln und Strümpfen. Die Haare standen ihm zu Berge, und sein Gesicht drückte fassungslose Verzweiflung aus.
«Sie ist tot – tot! Er war ihr Liebhaber», ächzte er. «Kommen Sie, Doktor, sehen Sie – holen Sie sie fort! Ich habe meine Frau verloren! Meine Maddalena –» Er verstummte und blickte eine Weile nur wild um sich, dann sagte er mit rauher Stimme: «Jemand war da – irgendwie – hat sie erstochen – ermordet. Ich bringe ihn vor Gericht, Doktor! Kommen Sie, schnell – sie wollte gerade das Huhn fürs Mittagessen braten – Oooh!»
Er ließ ein langes, hysterisches Heulen ertönen, das in ein schluchzendes Lachen überging. Der Arzt packte ihn fest am Arm und schüttelte ihn. «Reißen Sie sich zusammen, Mr. Brotherton», befahl er scharf. «Vielleicht ist sie nur verletzt. Aus dem Weg!»
«Nur verletzt?» rief der Mann, indem er sich schwer auf den nächsten Stuhl fallen ließ. «O nein – nein – sie ist tot – die kleine Maddalena – o mein Gott!»
Dr. Hartman hatte sich aus dem Konsultationszimmer rasch ein paar Verbände und Instrumente geschnappt und rannte, dicht gefolgt von Lord Peter, die Treppe hinauf. Bunter blieb noch einen Moment, um den hysterischen Anfall mit kaltem Wasser zu bekämpfen, dann ging er zum Eßzimmerfenster und rief etwas.
«Was ist denn los?» kam eine Stimme von der Straße herauf. «Könnten Sie freundlicherweise einmal heraufkommen, Konstabler?» rief Mr. Bunter. «Hier ist ein Mord geschehen.»
Als Brotherton und Bunter mit dem Polizisten oben ankamen, trafen sie Dr. Hartman und Lord Peter in der kleinen Küche an. Der Arzt kniete neben der Frau. Bei ihrem Eintreten sah er auf und schüttelte den Kopf.
«Sofort tot», sagte er. «Glatt durchs Herz. Armes Kind. Sie kann aber überhaupt nicht gelitten haben. Ah, Konstabler, wie gut, daß Sie da sind. Hier scheint ein Mord passiert zu sein – allerdings fürchte ich, daß der Mann entkommen ist. Wahrscheinlich kann Mr. Brotherton uns Näheres sagen. Er war zur Tatzeit in der Wohnung.»
Der Mann war wieder auf einen Stuhl gesunken und starrte mit einem Gesicht, aus dem alles Leben gewichen zu sein schien, auf die Leiche. Der Polizeibeamte nahm sein Notizbuch zur Hand.
«Also, Sir», sagte er, «dann wollen wir keine Zeit verlieren. Je schneller wir an die Arbeit gehen, desto wahrscheinlicher fangen wir den Mann. So, Sie waren also zur Tatzeit hier, ja?»
Brotherton starrte noch einen Moment vor sich hin, dann gab er sich sichtlich einen Ruck und antwortete mit fester Stimme: «Ich war im Wohnzimmer – hab geraucht und die Zeitung gelesen. Meine – sie – war hier drin und kochte. Da hörte ich sie auf einmal schreien, und wie ich hinrannte, lag sie auf dem Boden. Sie konnte mir gar nichts mehr sagen. Wie ich sah, daß sie tot war, bin ich zum Fenster gerannt, und da hab ich den Kerl noch da über das Glasdach flüchten sehen. Ich hab ihm nachgeschrien, aber dann war er schon verschwunden. Da bin ich nach unten gelaufen –»
«Kleinen Moment», sagte der Beamte. «Sagen Sie, Sir, sind Sie nicht auf den Gedanken gekommen, ihm sofort nachzulaufen?»
«Ich hab zuerst nur an sie gedacht», sagte der Mann. «Ich dachte, sie wäre vielleicht gar nicht tot. Ich hab versucht, sie wieder auf die Beine zu kriegen –» Seine Worte endeten in einem Stöhnen.
«Sie sagen, er ist durchs Fenster hereingekommen?» fragte der Polizist.
«Entschuldigung, Konstabler», unterbrach ihn Lord Peter, der im Geiste offenbar eine Bestandsaufnahme von der Kücheneinrichtung machte. «Mr. Brotherton sagte nur, der Mann sei zum Fenster hinaus geflüchtet. Man sollte da ganz genau sein.»
«Das ist doch dasselbe», sagte der Arzt. «Es ist der einzige Weg, auf dem er hereingekommen sein kann. Diese Wohnungen sind nämlich alle gleich. Die Tür zum Treppenhaus führt ins Wohnzimmer, und da war Mr. Brotherton, also kann der Mann nicht auf diesem Weg hereingekommen sein.»
«Und», sagte Peter, «durchs Schlafzimmerfenster ist er auch nicht hereingekommen, sonst hätten wir ihn sehen müssen. Wir waren nämlich im Zimmer darunter. Es sei denn, er hätte sich vom Dach heruntergelassen. War die Tür zwischen Schlaf- und Wohnzimmer offen?» fragte er plötzlich, an Brotherton gewandt.
Der Mann zögerte kurz. «Ja», sagte er schließlich. «Ja, ich bin sicher, sie war offen.»
«Hätten Sie den Mann gesehen, wenn er durchs Schlafzimmerfenster gekommen wäre?»
«Ich hätte ihn einfach sehen müssen.»
«Also bitte, Sir», sagte der Polizist leicht verärgert, «ich denke, Sie lassen lieber mich die Fragen stellen. Man kann ja wohl davon ausgehen, daß so einer nicht durchs Schlafzimmerfenster einsteigt, wo die ganze Straße es sehen kann.»
«Wie klug von Ihnen, daran zu denken», antwortete Wimsey.
«Natürlich nicht. Ist mir gar nicht eingefallen. Dann muß es also dieses Fenster gewesen sein, wie Sie sagen.»
«Und hier sind sogar seine Fußabdrücke auf der Fensterbank», fuhr der Konstabler triumphierend fort, wobei er auf ein paar verwischte Spuren im Londoner Ruß zeigte. «Stimmt. Hier hat er sich am Regenrohr hinuntergelassen, und dann ist er ab über das Glasdach – wozu gehört dieses Dach eigentlich?»
«Zu meinem Labor», sagte der Arzt. «Himmel! Wenn ich mir vorstelle, wie dieser Mordbube, während wir drinnen beim Essen saßen –»
«Ganz recht, Sir», pflichtete der Konstabler ihm bei. «Also, und dann wird er da über die Mauer in den Hof dahinter gestiegen sein. Dort ist er sicher gesehen worden, keine Bange; es dürfte nicht besonders schwer sein, den Kerl zu fassen, Sir. Ich gehe dort gleich mal hin. Also dann, Sir», wandte er sich an Brotherton, «haben Sie irgendeine Vorstellung, wie der Mann ungefähr ausgesehen hat?»
Brotherton hob sein wütendes Gesicht, und der Arzt griff ein.
«Sie sollten wahrscheinlich wissen, Konstabler», sagte er, «daß es schon einmal einen – hm, nicht direkt Mordanschlag, aber es hätte einer daraus werden können – gegen diese Frau gegeben hat, und zwar vor ungefähr acht Wochen durch einen gewissen Marincetti – einen italienischen Kellner – mit einem Messer.»
«Aha!» Der Polizist leckte eifrig seinen Bleistift an. «Kennen Sie die genannte Person?» fragte er Brotherton.
«Das ist der Mann», sagte Brotherton mit konzentrierter Wut.
«Kommt hierher und stellt meiner Frau nach – hol ihn der Teufel! Ich wollte bei Gott, ich hätte ihn hier tot neben ihr liegen!»
«Ganz recht», sagte der Polizist. «Und nun, Sir–» an den Arzt gewandt –, «haben Sie die Waffe, mit der das Verbrechen begangen wurde?»
«Nein», sagte Hartman, «in der Leiche steckte keine Waffe, als ich hinzukam.»
«Haben Sie sie herausgezogen?» fragte der Konstabler jetzt Brotherton.
«Nein», antwortete der. «Er hat sie mitgenommen.»
«… hat die Waffe mitgenommen», trug der Beamte in sein Notizbuch ein. «Puh! Ganz schön warm hier drinnen, finden Sie nicht, Sir?» fügte er hinzu, indem er sich über die Stirn wischte.
«Das ist vermutlich der Gasofen», sagte Peter nachsichtig.
«Ungemein heiße Geschichte, so ein Gasofen mitten im Juli. Haben Sie was dagegen, wenn ich ihn ausschalte? Es ist ein Hühnchen darin, aber ich glaube kaum, daß Sie –»
Brotherton stöhnte auf, und der Konstabler sagte: «Ganz recht, Sir. Nach so einer Geschichte steht einem Mann wohl kaum noch der Sinn nach Essen. Danke, Sir. Also, Doktor, was meinen Sie, um was für eine Art von Waffe es sich handelte?»
«Es war eine lange, schmale Waffe – etwa in der Art eines italienischen Stiletts, stelle ich mir vor», sagte der Arzt, «ungefähr fünfzehn Zentimeter lang. Sie wurde mit großer Kraft unter die fünfte Rippe gestoßen, und ich würde sagen, sie hat das Herz genau in der Mitte durchbohrt. Wie Sie sehen, ist fast kein Blut da. So eine Wunde führt augenblicklich den Tod herbei. Lag sie, als Sie hinzukamen, schon genauso da wie jetzt, Mr. Brotherton?»
«Auf dem Rücken, genau wie jetzt», antwortete der Ehemann.
«Nun, der Fall scheint völlig klar zu sein», sagte der Polizist.
«Dieser Marinetti oder wie er heißt, hatte etwas gegen die arme junge Frau –»
«Ich glaube, er war ihr Verehrer», warf der Doktor ein.
«Mag schon sein», stimmte der Konstabler ihm zu. «Natürlich, diese Ausländer sind nun mal so – auch die nettesten. Messerstechereien und dergleichen scheinen ihnen sozusagen im Blut zu liegen. Na ja, und dieser Marinetti klettert also hier rein, sieht die arme junge Frau ganz allein am Tisch stehen und das Essen zubereiten, schleicht sich von hinten an, packt sie um die Hüften und ersticht sie – ging ganz leicht; kein Korsett und so –, sie schreit auf, er zieht das Stilett wieder raus und haut ab. Na ja, wir müssen ihn jedenfalls finden, und wenn Sie gestatten, Sir, mache ich mich jetzt auf den Weg. Es kann nicht lange dauern, bis wir ihn haben, Sir. Ich muß hier aber jemanden herschicken, Sir, um die Leute abzuhalten, aber das braucht Sie nicht zu stören. Guten Morgen, meine Herren.»
«Dürfen wir die arme Frau jetzt woandershin legen?» fragte der Arzt.
«Natürlich. Soll ich Ihnen helfen, Sir?»
«Nein. Verlieren Sie keine Zeit. Wir schaffen das schon.» Dr. Hartman wandte sich an Peter, als der Konstabler schweren Schrittes die Treppe hinunterging. «Können Sie mir helfen, Lord Peter?»
«Bunter versteht sich besser auf so etwas», antwortete Wimsey mit zusammengekniffenen Lippen.
Der Arzt sah ihn ein wenig verwundert an, sagte aber nichts, und dann trugen er und Bunter die leblose Gestalt fort. Brotherton folgte ihnen nicht. Er saß da wie ein Häufchen Elend, den Kopf in den Händen vergraben. Lord Peter ging in der Küche umher, drehte die verschiedenen Messer und Küchenutensilien hin und her, sah in den Abfalleimer und schien unter Brot, Butter, Gewürzen, Gemüsen und allem, was in Vorbereitung des Sonntagsessens so herumlag, Inventur zu machen. Im Spülstein lagen halbgeschälte Kartoffeln, rührende Zeugen der so grauenhaft gestörten stillen Häuslichkeit. Das Sieb war mit grünen Erbsen gefüllt. Lord Peter stocherte mit neugierigem Finger in all diesen Sachen herum, starrte auf die glatte Oberfläche einer Schüssel Bratfett, als ob sie eine Wahrsagerkugel wäre, fuhr mit der Hand mehrmals durch eine Schüssel Mehl – dann nahm er seine Pfeife aus der Tasche und stopfte sie langsam.
Der Arzt kam zurück und legte die Hand auf Brothertons Schulter.
«Kommen Sie», sagte er freundlich, «wir haben sie in das andere Zimmer gelegt. Sie sieht sehr friedvoll aus. Sie müssen sich daran trösten, daß sie bis auf den kurzen Augenblick, als sie das Messer sah, nicht gelitten hat. Es ist schrecklich für Sie, aber Sie müssen versuchen, sich jetzt nicht hängenzulassen. Die Polizei –»
«Die Polizei kann sie auch nicht wieder lebendig machen!» versetzte der Mann heftig. «Sie ist tot. Lassen Sie mich allein, verdammt noch mal! Lassen Sie mich in Ruhe, sage ich!»
Er stand mit einer wütenden Gebärde auf.
«Sie dürfen hier nicht so herumsitzen», sagte Hartman bestimmt. «Ich gebe Ihnen etwas zum Einnehmen, und Sie müssen versuchen, ruhig zu bleiben. Dann lassen wir Sie allein, aber solange Sie sich nicht in der Gewalt haben –»
Nach weiterem Zureden ließ Brotherton sich schließlich hinausführen.
«Bunter», sagte Lord Peter, als die Küchentür hinter ihnen zu war, «wissen Sie, warum ich am Erfolg dieser Rattenversuche zweifle?»
«Meinen Sie die von Dr. Hartman, Mylord?»
«Ja. Dr. Hartman hat eine Theorie. Bei allen Untersuchungen, mein lieber Bunter, ist es verflixt gefährlich, eine Theorie zu haben.»
«Das habe ich Sie schon öfter sagen hören, Mylord.»
«Zum Teufel aber auch – Sie wissen das ebensogut wie ich. Was ist an den Theorien des Arztes falsch, Bunter?»
«Sie möchten von mir die Antwort hören, Mylord, daß er nur die Fakten sieht, die in seine Theorie passen.»
«Gedankenleser!» rief Lord Peter verbittert.
«Und daß er sie an die Polizei weitergibt, Mylord.»
«Pst!» sagte Peter, denn soeben kam der Arzt zurück.
«Ich habe ihn endlich dazu gebracht, sich hinzulegen», sagte Dr. Hartman, «und jetzt halte ich es für das beste, ihn allein zu lassen.»
«Wissen Sie was?» sagte Wimsey. «Mir schmeckt diese Idee nicht so recht.»
«Warum? Fürchten Sie, er könnte sich etwas antun?»
«Das wäre ein ebenso guter Grund wie jeder andere», sagte Wimsey, «wenn man schon sonst nichts hat, was man in Worte fassen kann. Mein Rat ist jedenfalls, ihn keine Sekunde aus den Augen zu lassen.»
«Aber wieso? Wenn jemand einen solchen Verlust erlitten hat, ist die Gegenwart anderer Menschen oft nur störend. Er hat mich so sehr gebeten, ihn allein zu lassen.»
«Dann gehen Sie um Gottes willen sofort wieder zu ihm», sagte Peter.
«Aber wirklich, Lord Peter», versetzte der Arzt, «ich glaube doch besser zu wissen, was für meinen Patienten am besten ist.»
«Doktor», erwiderte Wimsey, «es geht hier nicht um Ihren Patienten. Hier ist ein Verbrechen begangen worden.»
«Ein Verbrechen, das keinerlei Rätsel aufgibt.»
«Sogar zwanzig Rätsel auf einmal. Erstens: Wann war der Fensterputzer das letzte Mal hier?»
«Der Fensterputzer?»
«Wer lüftet des Fensterputzers pechschwarzes Geheimnis?» fuhr Lord Peter in leichtem Ton fort, indem er ein Streichholz an seine Pfeife hielt. «Sie sitzen nichtsahnend in der Badewanne, im Zustand mehr oder weniger unschuldiger Natur, und plötzlich erscheint ein vorwitziges Gesicht am Fenster wie der Geist von Hamilton Tighe, und eine rauhe Stimme, schwebend irgendwo zwischen Himmel und Erde, sagt: ‹Guten Morgen, Sir.› Wohin gehen Fensterputzer zwischen einem Besuch und dem nächsten? Halten sie Winterschlaf, wie die fleißigen Bienen? Oder –?»
«Wirklich, Lord Peter», sagte der Doktor, «finden Sie nicht, daß Sie ein bißchen zu weit gehen?»
«Schade, daß Sie es so sehen», antwortete Lord Peter, «aber ich wüßte wirklich gern über den Fensterputzer Bescheid. Sehen Sie mal, wie klar die Scheiben sind.»
«Er war gestern hier, wenn Sie es genau wissen wollen», sagte Dr. Hartman steif.
«Wissen Sie das genau?»
«Er hat die meinen zur gleichen Zeit geputzt.»
«Hab ich mir doch gedacht», sagte Lord Peter. «Wie es im Liede heißt:
Ich dacht’ mir’s doch,
es war ein kleiner Fensterputzer.
In diesem Falle», fuhr er fort, «ist es sogar eine absolute Notwendigkeit, Brotherton keine Sekunde aus den Augen zu lassen. Bunter! Zum Kuckuck, wohin ist der Kerl verschwunden?»
Die Schlafzimmertür ging auf.
«Mylord?» Mr. Bunter erschien ebenso unauffällig wieder, wie er sich unauffällig hinausgestohlen hatte, um ein unauffälliges Auge auf den Patienten zu haben.
«Gut», sagte Wimsey. «Bleiben Sie, wo Sie sind.» Seine Albernheit war verflogen, und er sah jetzt den Arzt an, wie er vor vier Jahren noch einen widerborstigen Untergebenen angesehen haben mochte.
«Dr. Hartman», sagte er, «hier stimmt etwas nicht. Denken Sie einmal zurück. Wir sprachen gerade über Symptome. Dann kam der Schrei. Danach hörte man eilige Schritte. In welche Richtung rannten diese Schritte?–»
«Das weiß ich nun wirklich nicht.»
«Nein? Dabei handelte es sich um ein Symptom, Doktor. Die Schritte geistern mir die ganze Zeit im Unterbewußtsein herum. Jetzt weiß ich auch, warum. Sie liefen aus der Küche.»
«Und?»
«Ha! Und dazu der Fensterputzer –»
«Was soll mit ihm sein?»
«Könnten Sie schwören, daß es nicht der Fensterputzer war, der die Spuren auf der Fensterbank hinterlassen hat?»
«Und der Mann, den Brotherton gesehen hat –?»
«Haben wir schon Ihr Labordach nach seinen Fußspuren untersucht?»
«Aber die Waffe! Wimsey, das ist doch Wahnsinn! Jemand hat die Waffe mitgenommen.»
«Ich weiß. Aber fanden Sie die Ränder der Wunde so glatt, daß sie von einem Stilett stammen konnten? Auf mich wirkten sie reichlich gezackt.»
«Wimsey, worauf wollen Sie hinaus?»
«In dieser Wohnung hier steckt irgendwo ein Hinweis – und ich kann mich um alles in der Welt nicht mehr daran erinnern.
Ich habe ihn gesehen – ich weiß, daß ich ihn gesehen habe. Es wird mir auch gleich wieder einfallen. Lassen Sie Brotherton inzwischen nicht –»
«Was?»
«Das tun, was er vorhat.»
«Aber was ist das?»
«Wenn ich das wüßte, könnte ich Ihnen auch den Hinweis zeigen. Warum konnte er sich zuerst gar nicht entscheiden, ob die Schlafzimmertür nun auf oder zu war? Sehr gute Geschichte, aber nicht ganz durchdacht. Jedenfalls – hören Sie, Doktor, finden Sie irgendeinen Vorwand, ihn seine Sachen ausziehen zu lassen, und bringen Sie mir die. Und schicken Sie Bunter zu mir.»
Der Arzt sah ihn verständnislos an. Dann ging er mit einer Geste des Sichfügens ins Schlafzimmer. Lord Peter folgte ihm und sah Brotherton im Gehen nachdenklich lange an. Schließlich im Wohnzimmer angekommen, setzte er sich auf einen rotsamtenen Sessel, richtete den Blick auf einen goldgerahmten Öldruck und versank ins Grübeln.
Bald darauf kam Bunter herein, die Arme voller Kleidungsstücke, die Wimsey nahm und sehr methodisch, wenn auch lustlos, zu durchsuchen begann. Plötzlich ließ er die Sachen einfach fallen und wandte sich an seinen Diener.
«Nein», sagte er. «Das war auch nur eine Vorsichtsmaßnahme, mein lieber Bunter, aber ich bin auf dem falschen Gleis. Es war nicht hier, wo ich das – nun ja, was ich eben gesehen habe. Es war in der Küche. Aber was war’s bloß?»
«Ich wüßte es auch nicht zu sagen, Mylord, aber ich bin überzeugt, daß auch ich mir sozusagen einer Unstimmigkeit bewußt war – nicht bewußt bewußt, Mylord, wenn Sie mich verstehen, aber doch irgendwie bewußt.»
«Hurra!» rief Wimsey plötzlich. «Ein Hoch auf dieses unterbewußte Dingsda! Also, vergegenwärtigen wir uns die Küche. Ich bin da herausgekommen, weil sich mir alles im Kopf zu drehen anfing. So. Beginnen wir an der Tür. Bratpfannen und Töpfe an der Wand. Gasherd – Backofen an – Hühnchen darin. Halter mit Holzlöffeln an der Wand, Gasanzünder, Topflappen. Sagen Sie ‹warm›, wenn ich der Sache nahekomme. Kaminsims: Gewürzdosen und sonstiger Kram. Irgendwas daran nicht in Ordnung? Nein. Anrichte: Teller, Messer und Gabeln – alle sauber. Mehlstreuer – Milchkrug – Sieb an der Wand – Muskatnußreibe. Dreistöckiger Dampftopf. Hab hineingesehen – keine grausigen Geheimnisse darin.»
«Haben Sie auch in alle Schubladen der Anrichte geschaut, Mylord?»
«Nein. Das könnte man noch tun. Aber die Sache ist einfach, daß mir etwas aufgefallen ist. Was ist mir aufgefallen? Das ist die Frage. Na ja. Weiter im Text – der Freude soll kein Ende sein! Messerbrett. Messerpulver. Küchentisch. Sagten Sie was?»
«Nein», sagte Bunter, der seine hölzerne Untertänigkeit ein wenig abgestreift hatte.
«Bei dem Wort ‹Tisch› schwingt eine Saite. Sehr gut. Auf dem Tisch: Hackbrett; Reste der Schinken- und Kräuterfüllung; ein Päckchen Schmalz; noch ein Sieb; mehrere Teller; Butter in einer Glasschale; Schüssel mit Bratfett –»
«Ah!»
«Bratfett -! Ja, da war –»
«Irgend etwas Unbefriedigendes, Mylord –»
«Etwas mit dem Bratfett! O mein Kopf! Wie heißt das noch in Lieber Brutus, Bunter? ‹Halt dich an den Werkkasten.› Richtig. Halten wir uns an das Bratfett. Ekelhaft glitschiges Zeug – kann man sich schlecht dran halten – Moment!» Eine Pause trat ein.
«Als kleiner Junge», sagte Wimsey, «bin ich immer so gern in die Küche hinuntergegangen und habe mich mit der alten Köchin unterhalten. Ach, war das eine gute alte Seele! Ich sehe sie jetzt noch vor mir, wenn sie ein Hühnchen fertig machte, während ich mit herunterbaumelnden Beinen auf dem Tisch saß. Sie hat die Hühnchen noch immer selbst gerupft und ausgenommen. Das war für mich ein Fest. Kleine Jungen sind schon eine Plage, nicht wahr, Bunter? Rupfen, ausnehmen, waschen, füllen, das Sterzchen durch das Dingsda ziehen, feststecken, Bratschüssel einfetten – Bunter!»
«Mylord?»
«Halte dich an das Bratfett!»
«Die Schüssel, Mylord –»
«Die Schüssel – stellen Sie sich die Schüssel vor –, was stimmte damit nicht?»
«Sie war voll, Mylord.»
«Ich hab’s – ich hab’s – ich hab’s! Die Schüssel war voll – glatte Oberfläche. Himmel! Ich wußte doch, daß da etwas komisch war. Und warum sollte sie nicht voll gewesen sein? Halte dich an –»
«Das Hühnchen war in der Backröhre.»
«Ohne Bratfett!»
«Sehr schlampige Kocherei, Mylord.»
«Das Hühnchen – in der Bratröhre – und ohne Fett. Bunter! Nehmen wir mal an, es wurde überhaupt erst in die Röhre geschoben, nachdem die Frau schon tot war … Hastig hineingestellt von einem, der etwas zu verstecken hatte – gräßlich!»
«Aber aus welchem Grunde, Mylord?»
«Eben, warum? Das ist der springende Punkt. Noch eine kleine Gedankenverbindung zu dem Hühnchen. Gleich hab ich’s. Moment noch. Rupfen, ausnehmen, waschen, füllen, feststecken – feststecken! Mein Gott!»
«Mylord?»
«Kommen Sie, Bunter. Dem Himmel sei Dank, daß wir den Gasherd abgestellt haben!»
Er stürzte durchs Schlafzimmer, ohne den Arzt und seinen Patienten zu beachten, der mit einem erstickten Aufschrei hochfuhr. Er klappte die Backofentür auf und riß die Bratschüssel heraus. Die Haut des Hühnchens hatte gerade angefangen, sich zu verfärben. Mit einem leisen, triumphierenden Stöhnen packte Wimsey den eisernen Ring, der aus dem Flügel schaute, und riß – den fünfzehn Zentimeter langen Bratspieß heraus.
In der Tür kämpfte der Arzt mit dem erregten Brotherton. Wimsey packte den Mann, als er sich losriß, und warf ihn mit einem Jiu-Jitsu-Griff in die Ecke.
«Hier ist die Tatwaffe», sagte er.
«Beweisen Sie das erst mal, Sie verdammter Schnüffler!» stieß Brotherton wütend hervor.
«Das werde ich», sagte Wimsey. «Bunter, rufen Sie den Polizisten herein, den Sie vor der Tür finden werden. Doktor, wir brauchen Ihr Mikroskop.»
In seinem Labor beugte der Arzt sich über das Mikroskop. Auf dem Objektträger befand sich ein Plättchen mit einer dünnen Schicht Blut, das vom Bratspieß stammte.
«Nun?» fragte Wimsey ungeduldig.
«In Ordnung», sagte Hartman. «Die Hitze war noch nicht bis in die Mitte gedrungen. Mein Gott, Wimsey – ja, Sie haben recht – runde Korpuskeln, Durchmesser sieben Mikron – Säugetierblut – wahrscheinlich menschlich –»
«Das Blut der Frau», sagte Wimsey.
«Das war sehr raffiniert, Bunter», sagte Lord Peter, als sie im Taxi zu seiner Wohnung am Piccadilly fuhren. «Wenn dieser Vogel noch ein bißchen länger gebrutzelt hätte, wären die Blutkörperchen ziemlich sicher nicht mehr zu identifizieren gewesen. Aber das beweist nur wieder einmal, daß ungeplante Verbrechen immer noch am sichersten sind.»
«Und worin sehen Eure Lordschaft das Motiv des Mannes?»
«In meiner Jugend», antwortete Wimsey nachdenklich, «hat man immer noch von mir verlangt, die Bibel zu lesen. Das Dumme war nur, daß die Stellen, die mich von allein interessierten, nicht unbedingt die waren, auf die es ihnen ankam. Aber so habe ich das Hohelied ganz schön auswendig gelernt. Schlagen Sie nach, Bunter; in Ihrem Alter kann es Ihnen nicht mehr schaden; da steht etwas sehr Vernünftiges über die Eifersucht.»
«Ich habe das fragliche Werk auch gelesen, Mylord», erwiderte Mr. Bunter mit leichtem Erröten. «Da steht, wenn ich mich recht erinnere: ‹Ihr Eifer ist fest wie die Hölle.›»