12
Das gefährliche Abenteuer in Ali Babas Höhle

Im Vorderzimmer eines düsteren, schmalen Hauses in Lambeth saß ein Mann und blätterte in der Morning Post, während er seinen Räucherhering verzehrte. Er war nicht besonders groß, mager, hatte braunes, etwas zu regelmäßig gewelltes Haar und einen kräftigen, spitz gestutzten braunen Bart. Sein marineblauer Zweireiher mit passenden Socken, Krawatte und Taschentuch war ein wenig zu akkurat, um von wirklich gutem Geschmack zu zeugen, und die braunen Schuhe waren eine Idee zu hell. Er sah nicht aus wie ein Gentleman, nicht einmal wie eines Gentlemans Kammerdiener, und doch ließ etwas in seiner Art darauf schließen, daß ihm die Lebensart guter Häuser nicht fremd war. Sein eigenhändig gedeckter Frühstückstisch war mit einer Liebe zum Detail arrangiert, wie sie gut erzogenen Domestiken eigen ist, und die Art, wie er zum Serviertischchen ging und sich eine Schinkenplatte zurechtschnitt, war die Art eines gehobenen Butlers. Aber für einen zur Ruhe gesetzten Butler war er nicht alt genug. Ein Hausdiener vielleicht, der an eine Erbschaft gekommen war.

Er verzehrte seinen Schinken mit gutem Appetit, und während er seinen Kaffee schlürfte, las er noch einmal aufmerksam die Zeitungsmeldung durch, die er vorhin schon gesehen und sich zum eingehenderen Studium vorgemerkt hatte:

LORD PETER WIMSEYS TESTAMENT
Diener bedacht

£ 10.000 für wohltätige Zwecke

«Das Testament Lord Peter Wimseys, der im Dezember letzten Jahres auf der Großwildjagd in Tanganjika ums Leben kam, wurde gestern mit einer Gesamtsumme von £ 500.000 beglaubigt. Verschiedenen wohltätigen Organisationen wurden darin insgesamt £ 10.000 vermacht, unter anderem (hier folgte eine Aufzählung der einzelnen Vermächtnisse). Sein Diener Mervyn Bunter bekam eine Leibrente von jährlich £ 500 sowie die Nutzung der Wohnung des Erblassers am Piccadilly zugesprochen. (Es folgte eine Reihe kleinerer persönlicher Zuwendungen.) Das übrige Vermögen, darunter die wertvolle Bücher- und Gemäldesammlung in der Wohnung des Verstorbenen, fiel an seine Mutter, die Herzoginwitwe von Denver.

Lord Peter Wimsey war bei seinem Tode 37 Jahre alt. Er war der jüngere Bruder des derzeitigen Herzogs von Denver, eines der wohlhabendsten Peers im Vereinigten Königreich. Lord Peter genoß einen ausgezeichneten Ruf als Kriminologe und hatte aktiven Anteil an der Aufklärung zahlreicher berühmter Verbrechen. Er war ein bekannter Büchersammler und Lebemann.»

Der Mann gab einen Seufzer der Erleichterung von sich. «Kein Zweifel mehr möglich», sagte er laut. «Die Leute ver schenken ihr Geld nicht, wenn sie die Absicht haben, wiederzukommen. Der Kerl ist tot und begraben, das steht fest.

Und ich bin frei.»

Er trank seinen Kaffee aus, räumte den Tisch ab, wusch das Geschirr, nahm seine Melone vom Hutständer und verließ das Haus.

Ein Omnibus brachte ihn nach Bermondsy. Dort stieg er aus und stürzte sich in ein Gewirr düsterer Sträßchen, und nach einer Viertelstunde Fußmarsch erreichte er eine zwielichtig aussehende Kneipe in einem verrufenen Viertel. Er trat ein und bestellte sich einen doppelten Whisky.

Die Kneipe hatte eben erst geöffnet, und doch drängte sich schon eine Anzahl Gäste, die offenbar vor der Tür gestanden und auf das ersehnte Ereignis gewartet hatte, an der Theke. Der Mann mit dem Gehabe des Hausdieners griff nach seinem Glas, wobei er einem geckenhaften Menschen im Glencheckanzug und geschmackloser Krawatte gegen den Ellbogen stieß.

«He!» empörte sich der Stutzer. «Was soll das? Ihresgleichen können wir hier nicht brauchen. Raus!»

Er unterstrich die Aufforderung mit ein paar blumigen Ausdrücken und einem kräftigen Stoß vor die Brust.

«Die Bar ist für alle da, oder?» versetzte der andere, indem er den Schubs mit Zinsen zurückzahlte.

«Na, na!» rief die Bardame. «So was gibt’s hier nicht. Der Herr hat das nicht mit Absicht getan, Mr. Jukes.»

«Hat er nicht?» rief Mr. Jukes. «Aber ich

«Dafür sollten Sie sich auch was schämen», sagte die junge Dame mit zurückgeworfenem Kopf. «Ich will hier keine Schlägerei in meiner Bar – schon gar nicht so früh am Morgen.»

«Es war wirklich nur ein Mißgeschick», sagte der Mann aus Lambeth. «Ich pflege in den besten Häusern zu verkehren und bin kein Freund von Händeln. Aber wenn einer es unbedingt darauf anlegt –»

«Schon gut, schon gut», sagte Mr. Jukes, jetzt etwas friedfertiger. «Ich will Ihnen ja auch nicht unbedingt ein neues Gesicht verpassen – obwohl das ja eigentlich nur zu Ihrem Vorteil sein könnte. Passen Sie nächstes Mal ein bißchen besser auf, ja? Was trinken Sie?»

«Nein, nein», protestierte der andere, «das geht auf mich. Tut mir leid, daß ich Sie gestoßen habe. War keine Absicht. Ich kann’s nur nicht leiden, wenn man mir komisch kommt.»

«Reden wir nicht mehr davon», sagte Mr. Jukes großmütig.

«Ich bezahle das. Noch einen doppelten Whisky, Miss, und das Übliche. Kommen Sie mit da drüben hin, da ist es nicht so voll. Sonst kriegen Sie hier womöglich wieder Scherereien.»

Er führte den andern an ein Tischchen in einer Ecke der Schankstube.

«Alles klar», sagte Mr. Jukes. «Gut gemacht. Ich glaube zwar nicht, daß es hier gefährlich ist, aber man kann nicht vorsichtig genug sein. Also, wie steht’s, Rogers? Haben Sie sich entschieden, ob Sie bei uns mitmachen?»

«Ja», sagte Rogers mit einem Blick über die Schulter. «Ja. Das heißt, wenn kein Haar in der Suppe ist. Ich will mir keinen Ärger einhandeln und mag mich auf keine gefährlichen Spielchen einlassen. Informationen können Sie gern von mir haben, aber es ist hoffentlich klar, daß ich mich an dem, was da vorgeht, nicht aktiv beteilige. Verstanden?»

«Daran dürften Sie sich gar nicht aktiv beteiligen, selbst wenn Sie wollten», sagte Mr. Jukes. «Wo denken Sie hin, Sie kleines Würstchen – Nummer Eins läßt solche Arbeiten nur von Experten machen. Sie brauchen uns nur zu sagen, wo das Zeug ist und wie man herankommt. Den Rest besorgt die Gesellschaft. Eine prima Organisation, das kann ich Ihnen sagen. Sie werden nicht einmal wissen, wer es macht und wie es gemacht wird. Sie kennen niemanden, und niemand kennt Sie – außer Nummer Eins natürlich. Der kennt jeden.»

«Und Sie», sagte Rogers.

«Und ich, klar. Aber ich werde in einen anderen Bezirk versetzt. Wir werden uns ab heute nie mehr begegnen, außer bei den Generalversammlungen, und da tragen wir alle Masken.»

«Das gibt’s doch nicht!» sagte Rogers ungläubig.

«Tatsache. Man wird Sie zu Nummer Eins bringen – er wird Sie sehen, aber Sie ihn nicht. Wenn er dann findet, daß Sie zu gebrauchen sind, werden Sie aufgenommen, und dann bekommen Sie gesagt, wo Sie Ihre Informationen abliefern sollen. Alle vierzehn Tage ist eine Bezirksversammlung, und alle drei Monate eine Generalversammlung, wo der Erlös verteilt wird. Jeder wird mit seiner Nummer aufgerufen und kriegt seinen Anteil auf die Hand. Das ist alles.»

«Na ja, aber wenn nun zwei Leute zusammen auf eine Sache angesetzt werden?»

«Wenn sich das bei Tag abspielt, sind sie so verkleidet, daß ihre eigenen Mütter sie nicht wiedererkennen würden. Aber die meiste Arbeit wird ja nachts gemacht.»

«Aha. Aber sagen Sie mal – wie kann man denn jemanden daran hindern, mir auf dem Heimweg nachzugehen und mich der Polizei zu verraten?»

«Das kann man natürlich nicht verhindern. Ich würde es allerdings auch keinem empfehlen. Den letzten, der auf diese kluge Idee gekommen ist, hat man bei Rotherhithe aus der Themse gefischt, bevor er noch Zeit hatte, sein Wissen an den Mann zu bringen. Nummer Eins kennt eben jeden.»

«Oh! Und wer ist Nummer Eins?»

«Eine Menge Leute würden was darum geben, wenn sie das wüßten.»

«Weiß es denn keiner?»

«Keiner. Nummer Eins ist das reinste Wundertier. Jedenfalls ist er ein Gentleman, soviel kann ich Ihnen sagen, und nach seiner ganzen Art muß er sogar aus den höchsten Kreisen sein. Und Augen hat er überall am Kopf. Und sein Arm reicht von hier bis nach Australien. Aber keiner weiß was über ihn, höchstens Nummer Zwei, und nicht mal bei ihr bin ich da sicher.»

«Machen da etwa auch Frauen mit?»

«Darauf können Sie Gift nehmen. Ohne Frauen geht doch heute gar nichts mehr. Aber deswegen brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Die Frauen sind schon in Ordnung. Die wollen so wenig im Kittchen landen wie Sie und ich.»

«Aber noch eins, Jukes – wie sieht es mit dem Geld aus? Man geht doch ein großes Risiko ein. Ist es das wert?»

«Wert?» Jukes beugte sich über die Marmorplatte des Tischchens und flüsterte.

«Hui!» entfuhr es Rogers. «Und wieviel davon würde zum Beispiel ich bekommen?»

«Sie bekommen den gleichen Anteil wie alle andern, ob Sie an dem betreffenden Ding beteiligt waren oder nicht. Wir sind fünfzig Mitglieder, also würden Sie genau den fünfzigsten Teil kriegen, genau wie Nummer Eins und genau wie ich.»

«Wirklich? Nehmen Sie mich auch nicht auf den Arm?»

«Hand aufs Herz.» Jukes lachte. «Haben Sie was Besseres zu bieten? So was ist einfach noch nie dagewesen. Das größte Ding, das es je gegeben hat. Unsere Nummer Eins ist wirklich ein großer Mann.»

«Und Sie drehen viele Dinger?»

«Viele? Hören Sie mal, erinnern Sie sich vielleicht an das Carruthers-Kollier, und an den Bankraub von Gorleston? Und an den Einbruch von Faversham? Und an den Rubens, der aus der Nationalgalerie verschwand? Und die Frensham-Perlen? War alles die Gesellschaft. Und nichts davon aufgeklärt.»

Rogers leckte sich die Lippen.

«Aber hören Sie», wandte er vorsichtig ein. «Wenn ich nun sozusagen ein Spion wäre, und wenn ich jetzt schnurstracks zur Polizei ginge und ihr alles sagte, was Sie mir eben erzählt haben …?»

«Ha!» rief Jukes. «Na, was dann wohl? Stellen Sie sich doch mal vor, Ihnen passiert auf dem Weg dahin was ganz Häßliches, he – womit ich, wohlgemerkt, überhaupt nichts zu tun hätte –»

«Wollen Sie damit sagen, daß Sie mich beobachten lassen?»

«Darauf können Sie zentnerweise Gift nehmen. Jawohl. Und wenn Ihnen unterwegs nichts passieren sollte, und Sie kämen mit den Polypen hierher, um meine Wenigkeit hopps zu nehmen –»

«Ja?»

«Sie würden mich einfach nicht finden. Ich wäre nämlich längst bei Nummer Fünf gewesen.»

«Und wer ist Nummer Fünf?»

«Ah, das weiß ich nicht. Aber er ist der Mann, der Ihnen im Handumdrehen ein neues Gesicht macht. Plastische Chirurgie nennt man das. Und neue Fingerabdrücke. Überhaupt alles neu. Wir bedienen uns in unserm Unternehmen immer der neuesten Methoden.»

Rogers stieß einen Pfiff aus.

«Also, wie steht’s?» fragte Jukes, indem er seinen Bekannten über sein Glas hinweg lauernd ansah.

«Wissen Sie – Sie haben mir soviel erzählt – bin ich überhaupt noch meines Lebens sicher, wenn ich nein sage?»

«Natürlich – wenn Sie sich benehmen und uns keine Scherereien machen.»

«Hm. Verstehe. Und wenn ich ja sage?»

«Dann sind Sie im Handumdrehen ein reicher Mann mit soviel Geld in der Tasche, daß Sie ein Leben führen können wie ein Gentleman. Und ohne was dafür zu tun, außer uns zu sagen, was Sie so über die Häuser wissen, in denen Sie gedient haben. Das ist im Schlaf verdientes Geld, solange Sie sich nur an die Regeln der Gesellschaft halten.»

Rogers schwieg und überlegte.

«Ich mache mit», sagte er endlich.

«Bravo! Miss – noch einmal dasselbe. Das muß begossen werden, Rogers! Hab doch sofort gewußt, daß Sie ein rechter Kerl sind, gleich als ich Sie das erste Mal sah. Also, auf den Reichtum im Schlaf! Und hüten Sie sich vor Nummer Eins. Apropos Nummer Eins. Am besten stellen Sie sich ihm gleich noch heute abend vor. Was du heute kannst besorgen –»

«Recht haben Sie. Wo muß ich dafür hin? Hierher?»

«Nichts da. Diese kleine Kneipe ist für uns gestorben. Schade, sie ist so hübsch gemütlich, aber da kann man nichts machen. Also, Sie tun folgendes: Um Punkt zehn gehen Sie über die Lambeth Bridge in Richtung Norden» (dieser Wink, daß seine Adresse schon bekannt war, versetzte Rogers einen gelinden Schrecken), «dann sehen Sie dort ein gelbes Taxi stehen, dessen Fahrer etwas an seinem Motor macht. Sie fragen ihn: ‹Ist Ihr Wagen einsatzbereit?› Darauf antwortet er: ‹Kommt drauf an, wohin Sie wollen.› Dann sagen Sie: ‹Bringen Sie mich nach Nummer Eins, London.› Es gibt übrigens einen Laden, der so heißt, aber dahin bringt er Sie nicht. Sie haben keine Ahnung, wohin er Sie wirklich fährt, denn die Taxifenster sind zugehängt, aber das darf Sie nicht stören. Beim ersten Besuch ist das Vorschrift. Später, wenn Sie richtig dazugehören, erfahren Sie den Namen des Hauses. Und wenn Sie da sind, tun Sie, was man Ihnen sagt, und antworten Sie immer nur wahrheitsgemäß, sonst fährt Nummer Eins nämlich mit Ihnen Schlitten. Verstanden?»

«Verstanden.»

«Ist dann alles klar? Und keine Angst?»

«Natürlich hab ich keine Angst.»

«Gut so! Na, dann ziehen wir jetzt besser mal los. Und ich sage Ihnen gleich Lebwohl, weil wir uns nie mehr wiedersehen. Leben Sie wohl – und viel Glück!»

«Leben Sie wohl.»

Sie traten durch die Schwingtür hinaus auf die düstere, schmutzige Straße.

Die beiden Jahre, die dem Beitritt des ehemaligen Hausdieners Rogers zu einer Diebesbande folgten, waren von einer Serie ebenso überraschender wie erfolgreicher Besuche in Häusern feiner Leute gekennzeichnet. Aufsehen erregten unter anderem der Diebstahl der prächtigen Diamantentiara der Herzoginwitwe von Denver; der Einbruch in der ehemaligen Wohnung des verstorbenen Lord Peter Wimsey, bei dem Silber- und Goldwaren im Wert von 7000 Pfund abhanden kamen; der Einbruch im Landhaus des Millionärs Theodore Winthrop – wobei dieser wohlhabende Herr ganz nebenbei als Erpresser der großen Gesellschaft entlarvt wurde, was in Mayfair einen Skandal erster Güte auslöste; sowie der Raub der berühmten achtreihigen Perlenkette vom Hals der Marquise von Dinglewood, als sie gerade im Covent Garden der Schmuckarie aus Margarethe lauschte. Zwar entpuppten sich die Perlen als Imitationen, weil die edle Dame das Originalkollier unter für den Marquis sehr peinlichen Umständen versetzt hatte, doch der Coup war deswegen nicht minder sensationell.

An einem Samstagnachmittag im Januar saß Rogers in seinem Zimmer in Lambeth, als sein Ohr plötzlich ein leises Geräusch an der Haustür wahrnahm. Das Geräusch war noch nicht richtig verhallt, da war Rogers schon mit einem Satz bei der Tür und riß sie auf. Die Straße war menschenleer. Und dennoch sah er auf dem Rückweg in sein Zimmer einen Briefumschlag auf dem Hutständer liegen, der kurz und bündig an «Nr. 21» adressiert war. Da er inzwischen jedoch die etwas dramatischen Methoden der Gesellschaft bei der Postzustellung schon kannte, zuckte er nur mit den Schultern und öffnete den Umschlag.

Der Brief war chiffriert und lautete nach der Entschlüsselung:

«Nr. 21 – außerordentliche Generalversammlung heute abend 23.30 Uhr bei Nummer Eins. Fernbleiben auf eigene Gefahr. Kennwort: ENDSPURT.»

Rogers stand eine Zeitlang nachdenklich da. Dann begab er sich zu einem Zimmer im rückwärtigen Teil des Hauses, in dem sich ein in die Wand eingebauter hoher Tresor befand. Er drehte das Kombinationsschloß und trat in den Tresor, dessen Abmessungen schon eher zu einer kleinen Stahlkammer paßten. Er zog eine Schublade mit der Aufschrift «Korrespondenz» heraus und legte das soeben erhaltene Schreiben zu den übrigen Papieren.

Sekunden später kam er wieder heraus, verstellte das Kombinationsschloß und ging in sein Zimmer zurück.

«Endspurt», sagte er. «Ja – das glaube ich auch.» Er wollte schon die Hand nach dem Telefon ausstrecken – doch dann schien er es sich anders zu überlegen. Er ging die Treppe hinauf in eine Dachstube und kletterte von dort auf den Speicher. Hier kraxelte er zwischen dem Dachgebälk herum bis in die entlegenste Ecke, wo er vorsichtig auf einen Knopf im Holz drückte. Eine Geheimtür sprang auf, und er zwängte sich hindurch und befand sich auf dem Speicher des Nachbarhauses. Bei seinem Eintreten begrüßte ihn ein leises Gurren. Unter dem Oberlicht standen drei Käfige mit je einer Brieftaube darin.

Vorsichtig spähte er aus dem Dachfenster, durch das man aber nur auf die hohe, kahle Rückwand irgendeiner Fabrik schaute. Niemand befand sich auf dem düsteren kleinen Hof darunter, und ein Fenster war weit und breit nicht zu sehen. Er zog den Kopf wieder ein, entnahm seinem Notizbuch einen dünnen Zettel und kritzelte ein paar Buchstaben und Zahlen darauf. Dann ging er zum nächsten Käfig, nahm die Taube heraus und befestigte die Botschaft an ihrem Flügel. Behutsam setzte er den Vogel auf das Fenstersims. Dieser zögerte kurz, trat von einem rosa Fuß auf den andern, breitete dann die Flügel aus und war auf und davon. Rogers sah ihm nach, wie er sich in den schon düster werdenden Himmel über dem Fabrikdach schwang und in der Ferne verschwand.

Er schaute auf die Uhr und ging wieder nach unten. Eine Stunde später ließ er die zweite Taube fliegen, und noch eine Stunde später auch die dritte. Dann setzte er sich hin und wartete.

Um halb zehn stieg er wieder zu der Dachstube hinauf. Es war schon dunkel, aber ein paar frostige Sterne blinkten am Himmel, und ein kalter Luftstrom wehte durchs offene Fenster herein. Er sah einen blassen Schimmer auf dem Boden und faßte danach. Es fühlte sich warm und fedrig an. Die Antwort war da.

Er tastete das weiche Gefieder ab und fand die Botschaft. Bevor er sie jedoch las, fütterte er die Taube und setzte sie in einen der Käfige. Diesen wollte er gerade verschließen, da hielt er inne.

«Wenn mir etwas zustößt, brauchst du ja deswegen nicht zu verhungern, mein Kleines», sagte er.

Er drückte das Fenster ein Stückchen weiter auf und ging wieder hinunter. Der Zettel in seiner Hand trug nur die beiden Buchstaben: «O.K.» Sie schienen in großer Eile geschrieben worden zu sein, denn er bemerkte einen länglichen Tintenklecks in der oberen linken Ecke. Dies nahm er schmunzelnd zur Kenntnis, dann warf er den Zettel ins Feuer, ging in die Küche und bereitete sich ein kräftiges Mahl aus Eiern und Corned Beef zu, wofür er eine frische Dose öffnete. Er aß kein Brot dazu, obwohl auf dem Regal gleich neben ihm ein ganzer Laib lag, und trank Wasser aus der Leitung dazu, das er jedoch erst eine ganze Weile laufen ließ, bevor er davon zu trinken wagte, und auch dann wischte er zuerst noch sorgfältig den Hahn innen und außen ab. Nachdem er fertig gegessen hatte, nahm er aus einer verschließbaren Schublade einen Revolver, prüfte aufmerksam den Mechanismus, ob er auch richtig funktionierte, und lud ihn mit frischen Patronen aus einer noch ungeöffneten Packung. Dann setzte er sich wieder hin und wartete.

Um Viertel vor elf erhob er sich und ging auf die Straße. Er ging mit schnellen Schritten, immer in sicherer Entfernung von den Häusermauern, bis er auf eine gut beleuchtete Verkehrsstraße kam. Dort stieg er in einen Omnibus und sicherte sich den Eckplatz neben dem Schaffner, von wo er jeden, der ein- oder ausstieg, sehen konnte. Nach mehrmaligem Umsteigen erreichte er ein wohlanständiges Wohnviertel in Hampstead. Dort stieg er aus und begab sich, immer noch in vorsichtigem Abstand von den Häusern, zur Heide hinauf.

Es war eine mondlose Nacht, aber nicht völlig finster, und auf einem einsamen Stück Heide sah er mehrere dunkle Gestalten aus verschiedenen Richtungen näherkommen. Er blieb kurz im Schutz eines großen Baumes stehen und setzte sich die schwarze Samtmaske aufs Gesicht, die von der Stirn bis zum Kinn hinunterreichte. An ihrer Unterseite war mit weißem Faden die Nummer 21 deutlich sichtbar aufgestickt.

Schließlich tauchte in einer leichten Senke eine jener hübschen Villen auf, die sich ein wenig vereinsamt über die ländliche Umgebung der Heide verteilten. Eines ihrer Fenster war erhellt. Während er auf die Tür zuging, näherten sich andere dunkle Gestalten, maskiert wie er, und umringten ihn. Er zählte sechs.

Der zuvorderst stehende Mann klopfte an die Tür des einsamen Hauses. Augenblicklich wurde diese einen Spaltbreit geöffnet. Der Mann näherte seinen Kopf der Öffnung. Es wurde etwas geflüstert, dann ging die Tür weit auf. Der Mann trat ein, und die Tür schloß sich wieder.

Nachdem drei Männer eingelassen worden waren, sah Rogers sich als erster in der Reihe stehen. Er klopfte, dreimal laut und zweimal leise. Die Tür ging wieder einen Spaltbreit auf, und in dem Spalt erschien ein Ohr. «Endspurt», flüsterte Rogers. Das Ohr verschwand, die Tür ging auf, und er trat ein.

Ohne ein weiteres Begrüßungswort ging Nummer Einundzwanzig weiter in ein kleines Zimmer auf der linken Seite, das büromäßig mit Schreibtisch, Stahlschrank und ein paar Stühlen ausgestattet war. Am Schreibtisch saß ein schwergewichtiger Mann im Abendanzug, vor sich einen Aktenordner. Der Neuankömmling drückte die Tür vorsichtig hinter sich zu; das Federschloß schnappte ein, und er trat an den Tisch und sagte: «Nummer Einundzwanzig, Sir», dann blieb er respektvoll abwartend stehen. Der Schwergewichtige sah auf, und auf seiner Samtmaske war auffallend weiß die Zahl Eins zu sehen. Seine Augen, die von einem eigenartigen harten Blau waren, musterten Rogers eingehend von oben bis unten. Auf ein Zeichen nahm Rogers seine Maske ab. Nachdem der Präsident sich gewissenhaft von seiner Identität überzeugt hatte, sagte er: «Gut, Nummer Einundzwanzig», und trug etwas in seine Akte ein. Seine Stimme war hart und metallisch wie seine Augen. Rogers schien der forschende Blick hinter dieser schwarzen Maske nervös zu machen. Er trat von einem Fuß auf den andern und senkte den Blick. Nummer Eins gab ihm mit einer Geste zu verstehen, daß er entlassen war, und Rogers setzte mit einem leisen Seufzer, der wie Erleichterung klang, seine Maske wieder auf und verließ das Zimmer. An seiner Stelle trat der nächste ein.

Der Raum, in dem die Gesellschaft ihre Versammlung abhielt, war groß – man hatte die beiden größten Zimmer im ersten Stock zu einem vereinigt. Es war im provinziellen Geschmack des zwanzigsten Jahrhunderts eingerichtet und grell erleuchtet. In einer Ecke plärrte ein Grammophon laute Jazzmusik, zu der an die zehn maskierte Paare tanzten, teils im Abendanzug, teils salopp gekleidet.

In einer anderen Ecke war eine amerikanische Bar aufgebaut. Rogers ging hin und bestellte bei dem maskierten Mann dahinter einen doppelten Whisky, den er, an die Bar gelehnt, langsam trank. Der Raum füllte sich. Bald darauf ging jemand zum Grammophon und stellte es ab. Er sah sich um. Nummer Eins war an der Tür erschienen. Neben ihm stand eine große Frau in Schwarz. Ihre mit einer weißen Zwei bestickte Maske bedeckte Gesicht und Haare vollständig. Nur ihre elegante Haltung und das Weiß ihrer Arme und ihres Dekolletes sowie die dunklen Augen, die durch die Sehschlitze funkelten, verrieten Persönlichkeit und körperliche Attraktivität.

«Meine Damen und Herren.» Nummer Eins stand am oberen Ende des Raums. Die Frau saß neben ihm; ihr Blick war niedergeschlagen, so daß man ihm nichts ansah, aber ihre Hände waren um die Armlehnen ihres Stuhls gekrampft, und ihr ganzer Körper schien aufs äußerste angespannt zu sein.

«Meine Damen und Herren. Zwei Nummern fehlen heute abend in unserm Kreis.» Die Masken bewegten sich; man sah sich um, suchte und zählte. «Ich brauche Ihnen gewiß nichts über den katastrophalen Fehlschlag unseres Unternehmens zur Beschaffung der Pläne für den Court-WindleshamHubschrauber zu sagen. Unsere mutigen und treuen Kameraden, Nummer Fünfzehn und Achtundvierzig, wurden verraten und von der Polizei ergriffen.»

Ein unruhiges Getuschel ging durch die Versammlung.

«Dem einen oder anderen von Ihnen mag der Gedanke gekommen sein, daß selbst die wohlbekannte Standhaftigkeit dieser beiden Kameraden im Verhör versagen könnte. Es besteht jedoch kein Grund zur Besorgnis. Die üblichen Anweisungen wurden herausgegeben, und heute abend habe ich die Nachricht erhalten, daß ihre Zungen nachhaltig stumm gemacht wurden. Sie werden gewiß froh darüber sein, daß diesen beiden tapferen Männern somit die Qual einer so großen Versuchung zur Ehrlosigkeit sowie die Schmach eines öffentlichen Prozesses und das harte Los einer langen Einkerkerung erspart geblieben sind.»

Das erschrockene Einatmen der Anwesenden klang wie das Rascheln eines Gerstenfeldes, über das der Wind streicht.

«Ihre Angehörigen werden auf die übliche Weise diskret entschädigt werden. Ich rufe Nummer Zwölf und Nummer Vierunddreißig auf, sich dieser schönen Aufgabe anzunehmen. Sie werden nach dieser Versammlung zu mir ins Büro kommen und sich ihre Instruktionen holen. Wären die genannten Nummern so freundlich, mir anzuzeigen, daß sie gewillt sind, diesen Auftrag zu übernehmen?»

Zwei Hände wurden erhoben. Der Präsident sah auf die Uhr und fuhr fort: «Meine Damen und Herren, bitte wählen Sie Ihre Partner für den nächsten Tanz.»

Das Grammophon plärrte wieder los. Rogers wandte sich einem jungen Mädchen mit rotem Kleid zu, das neben ihm stand. Sie nickte, und bald bewegten sie sich gemeinsam im Takt eines Foxtrotts. Stumm und ernst drehten sich die Paare. Ihre Schatten huschten über die Fensterjalousien, während sie sich vor- und rückwärts und im Kreis dahinbewegten.

«Was ist nur los?» flüsterte das Mädchen leise, fast ohne die Lippen zu bewegen. «Ich habe Angst, Sie nicht? Ich habe das Gefühl, daß etwas Schreckliches bevorsteht.»

«Es schlägt einem ein bißchen auf den Magen, wie der Präsident solche Dinge regelt», stimmte Rogers ihr zu, «aber es ist sicherer so.»

«Diese armen Leute –»

Ein Tänzer drehte sich um, folgte ihnen und tippte Rogers auf die Schulter.

«Bitte keine Unterhaltungen», sagte er. Seine Augen funkelten streng. Dann wirbelte er seine Partnerin herum und verschwand im Gedränge. Das Mädchen erschauerte.

Das Grammophon verstummte. Es wurde geklatscht. Dann versammelten sich die Tänzer wieder um den Stuhl des Präsidenten.

«Meine Damen und Herren. Sie werden sich schon gefragt haben, warum diese außerordentliche Versammlung einberufen wurde. Der Grund ist ernster Natur. Der Fehlschlag unseres jüngsten Unternehmens war kein Unfall. Die Polizei war an diesem Abend nicht zufällig an Ort und Stelle. Wir haben einen Verräter unter uns.»

Tanzpartner, die nah beieinander gestanden hatten, wichen mißtrauisch auseinander. Ein jeder schien in sich zusammenzuschrumpfen wie eine Schnecke, die man mit dem Finger berührt.

«Sie erinnern sich vielleicht an den enttäuschenden Ausgang des Unternehmens Dinglewood», fuhr der Präsident mit seiner barschen Stimme fort. «Vielleicht erinnern Sie sich auch noch an andere, kleinere Begebenheiten, deren Ausgang unbefriedigend war. Alle diese Unannehmlichkeiten wurden nun an ihre Quelle zurückverfolgt. Ich bin glücklich, sagen zu dürfen, daß wir von nun an wieder ganz beruhigt sein können. Der Übeltäter ist entdeckt und wird ausgemerzt werden. Es werden keine Fehler mehr vorkommen. Das irregeleitete Mitglied, das den Verräter in unsere Gesellschaft eingeführt hat, wird an eine Stelle versetzt, wo sein Leichtsinn keinen Schaden mehr anrichten kann. Es besteht also kein Grund zur Besorgnis.»

Aller Augen schweiften über die Versammlung und versuchten den Verräter und seinen Gönner ausfindig zu machen. Irgendwo mußte unter einer schwarzen Maske ein Gesicht blaß geworden, irgendwo unter dem erstickenden Samt der Schweiß auf eine Stirn getreten sein, und dies nicht von der Hitze des Tanzes. Doch die Masken verdeckten das alles.

«Meine Damen und Herren, bitte wählen Sie Ihre Partner für den nächsten Tanz.»

Das Grammophon stimmte eine alte, halbvergessene Melodie an: «Keiner ist da, der mich liebt.» Das Mädchen im roten Kleid wurde von einem hochgewachsenen Maskierten im Abendanzug geholt. Eine Hand auf seinem Arm ließ Rogers zusammenzucken. Eine kleine, rundliche Frau schob eine kalte Hand in die seine. Der Tanz ging weiter.

Als er inmitten des üblichen Beifalls zu Ende ging, standen alle in starrer Erwartung da, jeder für sich allein. Der Präsident hob von neuem die Stimme.

«Meine Damen und Herren, bitte benehmen Sie sich ganz natürlich. Dies ist eine Tanzveranstaltung und keine öffentliche Versammlung.»

Rogers begleitete seine Partnerin zu ihrem Stuhl und besorgte ihr ein Eis. Als er sich über sie beugte, sah er, wie ihr Busen sich schnell hob und senkte.

«Meine Damen und Herren.» Endlich war die lange Pause vorüber. «Sicher möchten Sie jetzt auf der Stelle von Ihrer Spannung erlöst werden. Ich nenne Ihnen nun die beteiligten Personen. Nummer Siebenunddreißig!»

Ein Mann sprang mit einem halberstickten Angstschrei auf.

«Ruhe!»

Der Elende keuchte und schluckte.

«Ich habe nie – ich schwöre, ich habe nie – ich bin unschuldig!»

«Ruhe! Sie haben es an Umsicht fehlen lassen. Dafür werden Sie sich verantworten. Wenn Sie irgend etwas zur Entschuldigung für Ihre Dummheit vorzubringen haben, werde ich es mir später anhören. Setzen Sie sich.»

Nummer Siebenunddreißig sank auf einen Stuhl. Er schob sein Taschentuch unter die Maske, um sich das Gesicht abzuwischen. Zwei große Männer stellten sich dicht hinter ihn. Die übrigen wichen zurück, wie Menschen vor jemandem zurückweichen, der von einer tödlichen Krankheit befallen ist.

Das Grammophon begann zu dudeln.

«Meine Damen und Herren, ich nenne Ihnen jetzt den Verräter. Nummer Einundzwanzig, treten Sie vor.»

Rogers trat vor. Die konzentrierte Angst und Verachtung aus achtundvierzig Augenpaaren brannte auf ihm. Der geknickte Jukes begann von neuem zu heulen.

«O mein Gott! O mein Gott!»

«Ruhe! Nummer Einundzwanzig, nehmen Sie Ihre Maske ab.»

Der Verräter nahm den dicken Schutz vom Gesicht. Der unverhüllte Haß der auf ihn gerichteten Blicke verschlang ihn.

«Nummer Siebenunddreißig, dieser Mann wurde von Ihnen unter dem Namen Joseph Rogers hier eingeführt, ehemals zweiter Hausdiener im Hause des Herzogs von Denver und wegen Diebstahls entlassen. Haben Sie irgend etwas unternommen, um diese Angaben zu überprüfen?»

«Ja, ja – das hab ich! Gott ist mein Zeuge, daß alles ganz reell zugegangen ist. Ich habe ihn von zwei Dienstboten identifizieren lassen. Ich habe Erkundigungen eingezogen. Seine Angaben waren alle richtig – das kann ich beschwören.»

Der Präsident schaute auf ein vor ihm liegendes Blatt Papier, dann sah er wieder auf die Uhr.

«Meine Damen und Herren, wählen Sie Ihre Partner …»

Nummer Einundzwanzig, die Arme auf den Rücken gebunden und die Hände mit Handschellen gefesselt, stand reglos da, während um ihn herum der Tanz des Unheils wogte. Der Beifall am Ende klang wie das Klatschen von Leuten, die mit gierigen Lippen unter der Guillotine saßen.

«Nummer Einundzwanzig, Ihr Name wurde als Joseph Rogers angegeben, wegen Diebstahls entlassener Diener. Ist das Ihr richtiger Name?»

«Nein.»

«Wie heißen Sie wirklich?»

«Peter Death Bredon Wimsey.»

«Wir dachten, Sie seien tot.»

«Natürlich. Das sollten Sie ja auch denken.»

«Was ist aus dem richtigen Joseph Rogers geworden?»

«Er ist irgendwo im Ausland gestorben. Ich habe seinen Platz eingenommen. Und ich muß sagen, daß Ihren Leuten eigentlich kein Vorwurf daraus zu machen ist, daß sie nicht erkannt haben, wer ich wirklich war. Ich habe nicht nur Rogers’ Platz eingenommen. Ich war Rogers. Sogar wenn ich allein war, bin ich wie Rogers gegangen, habe wie Rogers gesessen, Rogers’ Bücher gelesen und Rogers’ Kleidung getragen. Am Ende habe ich sogar schon wie Rogers gedacht. Man kann nur dann mit Erfolg jemand anderen spielen, wenn man es keine Sekunde vergißt.»

«So so. Dann war der Einbruch in Ihrer eigenen Wohnung also arrangiert?»

«Offensichtlich.»

«Auch der Diebstahl bei Ihrer Mutter, der Herzoginwitwe, war von Ihnen ausgeheckt?»

«So ist es. Die Tiara war sowieso sehr häßlich – für einen Menschen mit Geschmack kein wirklicher Verlust. Darf ich übrigens rauchen?»

«Nein. Meine Damen und Herren …»

Der Tanz glich den mechanischen Bewegungen von Marionetten. Glieder zuckten, Füße versagten. Der Gefangene beobachtete dies mit einer Miene kritischen Abstands.

«Nummer Fünfzehn, Zweiundzwanzig und Neunundvierzig – Sie haben den Gefangenen beschattet. Hat er versucht, mit irgend jemandem Verbindung aufzunehmen?»

«Nein.» Nummer Zweiundzwanzig war der Sprecher. «Seine Post wurde geöffnet, sein Telefon abgehört und jeder seiner Schritte verfolgt. Auch seine Wasserleitung wurde nach Morsesignalen abgehört.»

«Sind Sie sich dessen, was Sie sagen, sicher?»

«Vollkommen.»

«Gefangener, haben Sie sich allein in dieses Abenteuer eingelassen? Sagen Sie die Wahrheit, sonst könnte alles noch viel unangenehmer für Sie werden, als es so schon ist.»

«Ich war allein. Ich bin keine unnötigen Risiken eingegangen.»

«Das mag zwar stimmen, aber trotzdem dürfte es besser sein, auch diesen Mann bei Scotland Yard – wie heißt er noch? – diesen Parker auszuschalten. Ebenso den Diener des Gefangenen, Mervyn Bunter, und möglicherweise seine Mutter und Schwester. Der Bruder ist ein Tölpel und dürfte von dem Gefangenen kaum ins Vertrauen gezogen worden sein. Eine vorsorgliche Beobachtung dürfte in seinem Falle wohl den Notwendigkeiten Genüge tun.»

Der Gefangene schien erstmals unruhig zu werden.

«Sir, ich versichere Ihnen, daß meine Mutter und meine Schwester nichts wissen, was der Gesellschaft in irgendeiner Weise gefährlich werden könnte.»

«Sie hätten Ihre Situation vorher bedenken sollen. Meine Damen und Herren, bitte wählen …»

«Nein – nein!» Fleisch und Blut ertrugen die Farce nicht länger. «Nein! Erledigen Sie ihn! Bringen Sie es hinter uns. Schließen Sie die Versammlung. Es ist so gefährlich. Die Polizei –»

«Ruhe!» Der Präsident sah sich unter den Anwesenden um. Eine gefährliche Strömung ging von ihnen aus. Er lenkte ein.

«Nun gut. Schaffen Sie den Gefangenen fort und bringen Sie ihn zum Schweigen. Er bekommt Stufe vier. Und vergessen Sie nicht, ihm diese vorher genau zu erklären.»

«Ah!»

Die Blicke drückten wölfische Zufriedenheit aus. Starke Hände packten Wimseys Arme.

«Einen Moment – lassen Sie mich um Gottes willen anständig sterben.»

«Das hätten Sie sich früher überlegen sollen. Schafft ihn fort. Meine Damen und Herren, seien Sie unbesorgt – er wird keinen leichten Tod haben.»

«Halt! Warten Sie!» rief Wimsey verzweifelt. «Ich habe etwas zu sagen. Ich bitte nicht um mein Leben – nur um einen schnellen Tod. Ich – ich habe etwas dafür zu bieten.»

«Zu bieten?»

«Ja.»

«Wir machen keine Geschäfte mit Verrätern.»

«Das nicht – aber hören Sie zu. Glauben Sie vielleicht, ich hätte daran nicht gedacht? So dumm bin ich nicht. Ich habe einen Brief hinterlegt.»

«Aha. Jetzt kommt es also. Einen Brief? An wen?»

«An die Polizei. Wenn ich morgen nicht wiederkomme –»

«Nun?»

«Dann wird dieser Brief geöffnet.»

«Sir», sprach Nummer Fünfzehn dazwischen, «das ist eine Finte. Der Gefangene hat keine Briefe verschickt. Er wurde monatelang nicht aus den Augen gelassen.»

«Das schon, aber hören Sie zu. Ich habe den Brief hinterlegt, bevor ich nach Lambeth kam.»

«Dann kann er mit Sicherheit keine wertvollen Informationen enthalten.»

«O doch!»

«Was denn?»

«Die Kombination meines Safes.»

«So? Ist der Safe dieses Mannes durchsucht worden?»

«Ja, Sir.»

«Was war darin?»

«Keine Informationen von Bedeutung, Sir. Eine Schilderung des Aufbaus unserer Organisation – der Name dieses Hauses – nichts, was nicht bis morgen früh geändert oder vertuscht werden kann.»

Wimsey lächelte.

«Haben Sie auch das Innenfach des Safes durchsucht?»

Eine kurze Stille trat ein.

«Sie haben gehört, was er sagt», donnerte der Präsident. «Haben Sie dieses Innenfach gefunden?»

«Es gibt gar kein Innenfach, Sir. Er versucht nur zu bluffen.»

«Ich widerspreche Ihnen ungern», sagte Wimsey, um seinen gewohnt liebenswürdigen Ton bemüht, «aber ich glaube, Sie müssen das Innenfach meines Safes wirklich übersehen haben.»

«So», sagte der Präsident, «und was soll angeblich in diesem Innenfach sein, falls es existiert?»

«Die Namen sämtlicher Mitglieder dieser Gesellschaft, mitsamt Adressen, Fotos und Fingerabdrücken.»

«Was?» Die Gesichter ringsum waren jetzt häßlich verzerrt vor Angst. Wimsey wandte keinen Blick von Nummer Eins.

«Und wie wollen Sie an diese Information herangekommen sein?»

«Ich habe auf eigene Faust Detektiv gespielt.»

«Sie wurden doch überwacht.»

«Richtig. Die Fingerabdrücke meiner Beschatter zieren gleich das erste Blatt meiner Sammlung.»

«Und das können Sie beweisen?»

«Gewiß. Ich werde es beweisen. Der Name von Nummer Fünfzig zum Beispiel lautet –»

«Halt!»

Ein Sturm von Stimmen erhob sich. Der Präsident brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen.

«Wenn Sie hier Namen nennen, können Sie ganz bestimmt nicht auf Gnade hoffen. Es gibt nämlich noch eine Stufe fünf, die eigens solchen Leuten vorbehalten ist, die Namen nennen. Bringen Sie den Gefangenen in mein Büro, und lassen Sie den Tanz weitergehen.»

Der Präsident zog eine Pistole aus seiner Hüfttasche und sah seinen fest verschnürten Gefangenen scharf an.

«Nun reden Sie!» sagte er.

«Ich würde dieses Ding wegstecken, wenn ich Sie wäre», sagte Wimsey verächtlich. «Es wäre eine soviel angenehmere Todesart als Stufe fünf, und das könnte mich in Versuchung bringen.»

«Sehr schlau», meinte der Präsident, «aber ein bißchen zu schlau. Also sagen Sie mir jetzt, was Sie wissen.»

«Verschonen Sie mich, wenn ich es Ihnen sage?»

«Ich verspreche nichts. Machen Sie schnell.»

Wimsey hob seine verschnürten, schmerzenden Schultern.

«Aber gern. Ich will Ihnen sagen, was ich weiß. Unterbrechen Sie mich, wenn Sie genug gehört haben.»

Er beugte sich vor und sprach leise. Über ihnen verkündeten der Lärm des Grammophons und das Scharren von Füßen, daß der Tanz weiterging. Zufällige Passanten, die über die Heide kamen, stellten nur fest, daß die Leute in dem einsamen Haus wieder einmal die Nacht durchmachten.

«Nun?» meinte Wimsey. «Soll ich fortfahren?»

Die Stimme des Präsidenten unter der Maske klang so, als ob er grimmig lächelte.

«Mylord», sagte er, «Ihre Geschichte läßt mich aufrichtig bedauern, daß Sie nicht wirklich Mitglied unserer Gesellschaft sind. Intelligenz, Mut und Fleiß sind wertvolle Eigenschaften in einer Organisation wie der unsern. Ich kann Sie wohl nicht überreden –? Nein, das dachte ich mir schon.»

Er ließ eine Glocke auf seinem Schreibtisch ertönen.

«Bitten Sie die Mitglieder in den Speisesaal», sagte er zu der eintretenden Maske.

Der «Speisesaal» befand sich im Erdgeschoß und hatte zugezogene Vorhänge und geschlossene Läden vor den Fenstern. In seiner Mitte stand ein langer, leerer Tisch mit Stühlen drumherum.

«Aha, ein Barmakidenschmaus», sagte Wimsey freundlich. Er sah diesen Raum zum erstenmal. Am anderen Ende klaffte drohend eine offene Falltür im Fußboden.

Der Präsident nahm am Kopfende Platz.

«Meine Damen und Herren», begann er wie gewöhnlich – und nie hatte diese alberne Höflichkeitsfloskel bedrohlicher geklungen –, «ich will Ihnen den Ernst der Situation nicht verhehlen. Der Gefangene hat mir über zwanzig Namen und Adressen genannt, die als geheim galten, nur ihren Besitzern und mir bekannt. Es war sehr viel Leichtsinn im Spiel –» seine Stimme klang hart –, «mit dem wir uns noch näher befassen müssen. Es wurden Fingerabdrücke gewonnen – er hat mir die Fotos einiger davon gezeigt. Wie unsere Kundschafter die Innentür des Safes übersehen konnten, wird auch noch Gegenstand einer Untersuchung sein.»

«Machen Sie ihnen keinen Vorwurf», warf Wimsey ein. «Sie war zum Übersehen da. Ich habe sie eigens so anfertigen lassen.»

Der Präsident fuhr fort, scheinbar ohne die Unterbrechung zu beachten.

«Der Gefangene hat mir mitgeteilt, daß das Buch mit den Namen und Adressen in diesem Innenfach zu finden ist, zusammen mit gewissen Briefen und Papieren, die aus den Häusern von Mitgliedern entwendet wurden, sowie zahlreiche Gegenstände, die authentische Fingerabdrücke tragen. Ich glaube ihm, daß er die Wahrheit sagt. Er bietet die Kombination des Safes für einen schnellen Tod an. Ich finde, daß dieses Angebot angenommen werden sollte. Was ist Ihre Meinung dazu, meine Damen und Herren?»

«Die Kombination ist längst bekannt», sagte Nummer Zweiundzwanzig.

«Dummkopf! Dieser Mann hat uns eben gesagt und mir bewiesen, daß er Lord Peter Wimsey ist. Bilden Sie sich ein, er hätte vergessen, die Kombination zu ändern? Und dann gibt es da auch noch die innere Geheimtür. Wenn er heute nacht verschwindet und die Polizei sein Haus betritt –»

«Ich sage», ließ sich eine volltönende Frauenstimme vernehmen, «man soll ihm das Versprechen geben und schnell handeln.»

Um den Tisch herum wurde zustimmend gemurmelt.

«Sie haben es gehört», sagte der Präsident zu Wimsey. «Die Gesellschaft bietet Ihnen das Privileg eines schnellen Todes für die Kombination Ihres Safes und das Geheimnis der Innentür an.»

«Habe ich Ihr Wort dafür?»

«Ja.»

«Danke. Und meine Mutter und Schwester?»

«Wenn Sie uns Ihrerseits Ihr Wort geben – Sie sind ja ein Mann von Ehre –, daß diese Frauen nichts wissen, was uns schaden kann, sollen sie verschont werden.»

«Danke, Sir. Sie dürfen bei meiner Ehre versichert sein, daß sie nichts wissen. Ich würde es mir nicht einfallen lassen, eine Frau mit solch gefährlichem Wissen zu belasten – schon gar nicht solche, die mir teuer sind.»

«Schön. Wird dem zugestimmt – ja?»

Zustimmendes Gemurmel war die Antwort, allerdings schon weniger bereitwillig als vorhin.

«Dann will ich Ihnen die Information geben, die Sie haben wollen. Das Kennwort für die Kombination lautet UNZUVERLÄSSIG.»

«Und die Innentür?»

«In Erwartung des Polizeibesuchs ist die Innentür – die Ihnen einige Schwierigkeiten hätte bereiten können – offen.»

«Gut! Es ist Ihnen klar, wenn die Polizei unsern Boten abfangen sollte –»

«Bekäme mir das nicht gut.»

«Es ist ein Risiko», sagte der Präsident nachdenklich, «aber eines, das wir eingehen müssen, glaube ich. Bringt den Gefangenen in den Keller. Dort kann er sich zum Zeitvertreib die Apparatur für Stufe fünf ansehen. Inzwischen gehen Nummer Zwölf und Sechsundvierzig –»

«Nein! Nein!»

Mißlaunige Gegenstimmen erhoben sich und schwollen zu bedrohlicher Lautstärke an.

«Nein», sagte ein großer Mann mit einer Stimme wie Sirup.

«Nein – wieso sollen irgendwelchen Mitgliedern diese Beweismittel anvertraut werden? Wir haben heute nacht schon einen Verräter in unserer Mitte gefunden, und mehr als einen Idioten. Woher sollen wir wissen, daß Nummer Zwölf und Sechsundvierzig nicht ebenfalls Verräter und Idioten sind?»

Die beiden Männer fuhren wütend nach dem Sprecher herum, doch eine Frauenstimme mischte sich hoch und erregt in die Diskussion.

«Hört, hört! Das stimmt, sage ich. Was ist mit uns? Wir wollen nicht, daß jemand unsere Namen liest, von dem wir nichts wissen. Ich habe genug! Die könnten uns doch ohne weiteres alle miteinander an die Schnüffler verkaufen.»

«Der Meinung bin ich auch», sagte ein anderes Mitglied.

«Wir können keinem trauen. Keinem.»

Der Präsident zuckte mit den Schultern.

«Und was, meine Damen und Herren, schlagen Sie vor?»

Stille trat ein. Dann meldete sich wieder die Frau von vorhin mit ihrer schrillen Stimme: «Ich sage, der Präsident soll selbst hingehen. Er ist der einzige, der unsere Namen alle kennt. Für ihn ist das nichts Neues. Warum sollen immer wir alles Risiko und alle Mühen auf uns nehmen und er nur dasitzen und das Geld kassieren? Er soll selbst hingehen, sage ich.»

Um den ganzen Tisch herum machte sich anhaltende Zustimmung laut.

«Ich unterstütze den Vorschlag», rief ein rundlicher Mann, der eine ganze Sammlung goldener Siegel an der Uhrkette trug. Wimsey mußte bei ihrem Anblick lächeln; diese kleine Eitelkeit war es gewesen, die ihn geradewegs zu Namen und Adresse des Dicken geführt hatte, und er empfand darum so etwas wie zärtliche Zuneigung zu diesem Tand.

Der Präsident schaute sich in der Runde um.

«Ist es demnach der Wunsch der Versammlung, daß ich selbst hingehe?» fragte er mit unheildrohender Stimme.

Fünfundvierzig Hände gingen zustimmend in die Höhe. Nur die Frau mit der Nummer Zwei blieb reglos und stumm da sitzen, die kräftigen weißen Hände um die Lehnen ihres Stuhls geklammert.

Der Präsident ließ den Blick langsam über die feindselige Runde wandern, bis er schließlich bei ihr innehielt.

«Muß ich annehmen, daß dieser Beschluß einstimmig ist?» fragte er.

Die Frau hob den Kopf.

«Geh nicht», sagte sie mit matter Stimme.

«Sie haben gehört», sagte der Präsident in leicht spöttischem Ton, «daß diese Dame meint, ich soll nicht gehen.»

«Ich finde, es hat nichts zu bedeuten, was Nummer Zwei sagt», erklärte der Mann mit der Sirupstimme. «Unsere Frauen hätten wohl auch etwas dagegen, daß wir gingen, wenn sie in Madames privilegierter Stellung wären.» Sein Ton war eine einzige Beleidigung.

«Hört, hört!» rief ein anderer Mann. «Das ist hier eine demokratische Gesellschaft, klar? Privilegierte Klassen können wir nicht brauchen.»

«Schön, schön», sagte der Präsident. «Du hast gehört, Nummer Zwei, daß die Versammlung anderer Meinung ist als du. Hast du irgendwelche Gründe vorzubringen, die für deine Meinung sprechen?»

«Hundert. Der Präsident ist Kopf und Seele unserer Gesellschaft. Wenn ihm etwas zustößt – was wird aus uns? Sie –» sie ließ hoheitsvoll den Blick über die Versammlung schweifen –, «Sie alle haben versagt. Das alles hier verdanken wir Ihrer Unvorsichtigkeit. Bilden Sie sich ein, wir wären hier auch nur noch eine Sekunde sicher, wenn der Präsident nicht da wäre, um Ihre Dummheiten auszubügeln?»

«Da ist was dran», sagte ein Mann, der bisher noch kein Wort gesprochen hatte.

«Wenn Sie mir einen Vorschlag gestatten», sagte Wimsey boshaft, «ich meine, da die Dame sich offenbar in einer Position befindet, in der sie sicher das besondere Vertrauen des Präsidenten genießt, dürfte mein bescheidenes Schriftwerk gewiß nichts Neues für sie enthalten. Warum soll nicht Nummer Zwei gehen?»

«Weil ich sage, daß sie nicht geht», sagte der Präsident streng, um der raschen Antwort zuvorzukommen, die sich schon auf den Lippen seiner Gefährtin formte. «Wenn es der Wille dieser Versammlung ist, werde ich eben gehen. Geben Sie mir den Schlüssel zum Haus.» Einer der Männer entnahm Wimseys Jackentasche den Schlüssel und reichte ihn weiter.

«Wird das Haus bewacht?» fragte er Wimsey.

«Nein.»

«Ist das die Wahrheit?»

«Es ist die Wahrheit.»

Der Präsident drehte sich an der Tür noch einmal um.

«Wenn ich in zwei Stunden nicht zurück bin», sagte er, «bringe sich jeder in Sicherheit, so gut er kann, und machen Sie mit dem Gefangenen, was Sie wollen. Nummer Zwei hat in meiner Abwesenheit das Kommando.»

Er verließ den Raum. Nummer Zwei erhob sich mit gebieterischer Gebärde von ihrem Stuhl.

«Meine Damen und Herren, das Essen ist hiermit vorüber. Beginnen Sie wieder mit dem Tanzen.»

Unten im Keller verging die Zeit sehr langsam mit der Betrachtung der Apparatur für Stufe fünf. Der unselige Jukes jammerte und tobte abwechselnd, bis er sich endlich müde gebrüllt hatte. Die vier Mitglieder, die die Gefangenen bewachten, flüsterten von Zeit zu Zeit miteinander.

«Schon anderthalb Stunden, seit der Präsident fort ist», sagte der eine.

Wimsey sah kurz auf. Dann wandte er sich wieder der Besichtigung seines Gefängnisses zu. Es befanden sich viele merkwürdige Dinge darin, die er sich einprägen wollte.

Kurz darauf flog die Falltür auf. «Bringen Sie ihn rauf!» rief eine Stimme. Wimsey stand augenblicklich auf; sein Gesicht war ziemlich blaß.

Die Bandenmitglieder saßen wieder um den Tisch herum. Nummer Zwei hatte auf dem Präsidentenstuhl Platz genommen, und ihre Augen richteten sich mit einer tigerhaften Wut auf Wimsey, doch als sie sprach, tat sie dies mit einer Selbstbeherrschung, der er seine Bewunderung nicht versagen konnte.

«Der Präsident ist jetzt zwei Stunden fort», sagte sie. «Was ist mit ihm geschehen? Doppelter Verräter – was ist mit ihm geschehen?»

«Woher soll ich das wissen?» antwortete Wimsey. «Vielleicht war ihm die Nummer Eins am nächsten, und er hat sich aus dem Staub gemacht, solange der Wind günstig stand.»

Sie sprang mit einem spitzen Wutschrei auf und trat dicht vor ihn hin.

«Bestie! Lügner!» schrie sie und schlug ihm auf den Mund.

«Sie wissen genau, daß er das nie täte. Er steht zu seinen Freunden. Was haben Sie mit ihm gemacht? Reden Sie – oder ich werde Sie zum Reden bringen! Sie beide dort – holen Sie die Eisen. Er wird reden!»

«Ich kann nur mutmaßen, Madame», antwortete Wimsey, «und ich mutmaße bestimmt nicht besser unter der anregenden Wirkung glühender Eisen, wie Pantalone im Zirkus. Beruhigen Sie sich, dann sage ich Ihnen, was ich vermute. Ich vermute – das heißt, ich fürchte sogar sehr –, daß Monsieur le Président in seinem Eifer, den interessanten Inhalt meines Safes zu begutachten, die Tür des Innenraums hinter sich hat zufallen lassen – zweifellos natürlich nur versehentlich. In diesem Falle –»

Er hob die Brauen, denn seine Schultern taten zum Zucken zu weh, und sah sie mit einem ehrlichen Ausdruck unschuldigen Bedauerns an.

«Was soll das heißen?»

Wimsey sah sich in der Runde um.

«Ich glaube», sagte er, «ich fange am besten ganz vorn an und erkläre Ihnen den Mechanismus meines Safes. Es ist ein recht hübscher Safe», fügte er wehmütig hinzu. «Die Idee dazu stammt von mir selbst – nicht das Funktionsprinzip natürlich; das ist eine Sache für Wissenschaftler – nur die Idee dazu.

Die Kombination, die ich Ihnen angegeben habe, ist soweit völlig richtig. Es ist ein Dreizehn-BuchstabenKombinationsschloß von Bunn & Fishett – ein sehr gutes Exemplar seiner Art. Es öffnet die Außentür, die in den normalen Tresor führt, in dem ich mein Geld und Manschettenknöpfe und dergleichen aufbewahre. Aber dahinter ist noch ein Innenfach mit zwei Türen, die auf völlig andere Weise geöffnet werden. Die äußere der beiden ist nur eine Stahlplatte, so angestrichen, als ob sie die Rückwand des Safes wäre, und paßgenau eingefügt, so daß man keinerlei Fugen sieht. Sie liegt in einer Ebene mit der Zimmerwand, verstehen Sie, so daß man, wenn man die Innen- und Außenmaße des Safes nachmißt, keine Diskrepanz feststellt. Sie geht nach außen auf und läßt sich mit einem normalen Schlüssel öffnen, und wie ich dem Präsidenten wahrheitsgemäß versichert habe, ist diese Tür offen geblieben, als ich meine Wohnung verließ.»

«Glauben Sie vielleicht», fragte die Frau hämisch, «der Präsident wäre so beschränkt, sich in so einer plumpen Falle fangen zu lassen? Er hat diese Innentür bestimmt mit irgend etwas festgeklemmt, damit sie offen bleibt.»

«Zweifelsohne, Madame. Aber der einzige Daseinszweck dieser äußeren Innentür, wenn ich sie so nennen soll, besteht darin, den Anschein zu erwecken, als ob sie die einzige Innentür wäre.

Aber hinter den Scharnieren dieser Tür ist noch eine weitere Tür verborgen, eine Schiebetür, die so paßgenau in die Wand eingelassen ist, daß man sie kaum sieht, wenn man nicht weiß, daß sie da ist. Diese Tür habe ich auch offen gelassen. Unsere hochverehrte Nummer Eins hatte also nichts weiter zu tun, als schnurstracks in den Innenraum des Safes zu spazieren, der im übrigen in den Kamin der alten Souterrainküche eingebaut ist, der an dieser Stelle durch das Haus nach oben führt. Ich drücke mich hoffentlich verständlich aus?»

«Ja – ja doch, weiter! Fassen Sie sich kurz.»

Wimsey verneigte sich und setzte seine Schilderung weitschweifiger denn je fort: «Das hochinteressante Verzeichnis der Aktivitäten dieser Gesellschaft, das aufzustellen ich die Ehre hatte, steht nun in einem sehr dicken Buch – noch dicker sogar als die Akte, die Monsieur le Président unten in seinem Büro führt. – Ich will übrigens hoffen, Madame, daß Sie die Notwendigkeit bedacht haben, diese Akte an einem sicheren Ort unterzubringen. Abgesehen nämlich von dem Risiko, daß irgendein diensteifriger Polizist sich dafür interessieren könnte, wäre es ja auch nicht wünschenswert, daß ein subalternes Mitglied dieser Gesellschaft sie in die Hände bekäme. Ich gehe davon aus, daß die ehrenwerte Versammlung davon wenig erbaut wäre. –»

«Sie ist sicher aufgehoben», antwortete sie hastig. «Mon dieu! – reden Sie schon weiter.»

«Danke – Sie haben mich sehr beruhigt. Sehr schön. Dieses dicke Buch liegt also nun auf einem stählernen Regal an der Rückwand des Innenraums. Einen Moment. Ich habe Ihnen diesen Innenraum noch nicht beschrieben. Er ist einsachtzig hoch, neunzig Zentimeter breit und neunzig Zentimeter tief. Man kann ganz bequem darin stehen, wenn man nicht zu groß ist. Mir ist er gerade recht, denn wie Sie sehen, bin ich nur einsvierundsiebzig groß. Der Präsident ist mir an Körpergröße überlegen; möglicherweise steht er ein wenig verkrampft darin, aber er könnte sich, wenn ihm das Stehen zu unbequem wird, auch in die Hocke setzen. Übrigens, ich weiß ja nicht, ob Sie es wissen, aber Sie haben mich ziemlich fest zusammengeschnürt.»

«Ich werde Sie noch so zusammenschnüren lassen, bis Ihre Knochen aneinander festwachsen. Sie da, ziehen Sie ihm mal eins über! Er versucht hier Zeit zu schinden.»

«Wenn Sie mich schlagen, Madame», sagte Wimsey, «beiße ich mir eher die Zunge ab, als daß ich weiterrede. Nehmen Sie sich zusammen, Madame. Wenn der König im Schach steht, sollte man nicht zu hastig ziehen.»

«Weiter!» schrie sie, vor Wut mit den Füßen stampfend.

«Wo war ich denn stehengeblieben? Ach ja – bei dem Innenraum. Wie gesagt, er ist ein wenig knapp bemessen, was um so mehr ins Gewicht fällt, als er in keiner Weise belüftet ist. Hatte ich eigentlich schon erwähnt, daß das Buch auf einem stählernen Regal liegt?»

«Das haben Sie.»

«Aha. Dieses Stahlregal ruht nun auf einer sehr empfindlichen versteckten Feder. Wenn das Gewicht des Buchs – das, wie gesagt, sehr groß ist – davon abgenommen wird, hebt sich die Stahlplatte kaum merklich, und dabei schließt sie einen Stromkreis. Und nun stellen Sie sich das vor, Madame: Unser verehrter Präsident tritt ein – wobei er die falsche Tür hinter sich festklemmt –, sieht das Buch – und greift schnell danach. Um sich zu vergewissern, daß es das richtige ist, klappt er es auf – er studiert die Seiten. Er sieht sich auch nach den anderen Gegenständen um, die ich erwähnt habe – die mit den Fingerabdrücken darauf. Und leise, aber sehr, sehr schnell – Sie können sich das gut vorstellen, ja? – macht die Geheimtür hinter ihm, durch das Heben der Stahlplatte ausgelöst, einen Satz, wie ein Panther. Ein etwas abgedroschener Vergleich, aber passend, finden Sie nicht auch?»

«O mein Gott! Mein Gott!» Sie riß die Hände hoch, als wollte sie sich die erstickende Maske vom Gesicht reißen. «Sie – Sie Teufel – Sie Teufel! Wie heißt das Schlüsselwort für diese Innentür? Schnell! Sonst lasse ich es Ihnen herausreißen – das Wort!»

«Das Wort ist nicht schwer zu merken, Madame – obgleich es schon einmal vergessen wurde. Erinnern Sie sich, daß man Ihnen als Kind das Märchen von Ali Baba und den vierzig Räubern erzählt hat? Als ich diese Tür anfertigen ließ, müssen meine Gedanken – meines Erachtens in einer Anwandlung von Sentimentalität – zu den glücklichen Stunden meiner Kindheit zurückgewandert sein. Das Schlüsselwort für die Tür lautet also – ‹Sesam öffne dich›.»

«Aha! Wie lange kann ein Mensch in dieser teuflischen Falle überleben?»

«Ja nun», meinte Wimsey gutgelaunt, «ich denke schon, daß er es ein paar Stunden aushält, wenn er die Ruhe bewahrt und den vorhandenen Sauerstoff nicht mit Brüllen und Umsichschlagen verbraucht. Wenn wir uns sofort hinbegeben, werden wir ihn schon noch gesund und munter vorfinden, denke ich.»

«Ich fahre selbst hin. Nehmt diesen Mann und – macht ihn fertig! Aber bringt ihn noch nicht um, bevor ich zurück bin. Ich will ihn sterben sehen!»

«Moment noch», sagte Wimsey, unbeeindruckt von diesem frommen Wunsch. «Ich finde, Sie sollten mich lieber mitnehmen.»

«Warum – wieso?»

«Weil ich nämlich der einzige Mensch bin, der die Tür öffnen kann.»

«Sie haben mir doch das Schlüsselwort gesagt – war das gelogen?»

«O nein – das Wort stimmt schon. Aber sehen Sie, die Tür – das ist eine von diesen neumodischen elektrischen Türen. Anders ausgedrückt, sie ist überhaupt der letzte Schrei an Türen. Ich bin ziemlich stolz darauf. Sie gehorcht zwar auf die Worte ‹Sesam öffne dich› – aber nur auf meine Stimme

«Ihre Stimme? Ihre Stimme ersticke ich mit eigenen Händen! Was soll das heißen – nur auf Ihre Stimme?»

«Genau das, was ich sage. Drücken Sie nicht so an meiner Kehle herum, sonst verändern Sie womöglich meine Stimme so, daß die Tür sie nicht erkennt. So ist es besser. Bei Stimmen ist sie nämlich ziemlich kleinlich. Einmal konnte ich sie eine Woche lang nicht öffnen, weil ich mich erkältet hatte und ihr mein Anliegen nur in einem heiseren Flüsterton vortragen konnte. Selbst normalerweise muß ich es oft mehrmals versuchen, bis ich genau den richtigen Ton treffe.»

Sie drehte sich um und wandte sich an einen kleinen, untersetzten Mann neben ihr.

«Ist das wahr? Ist das möglich?»

«Durchaus, Madam – leider», sagte der Mann höflich. An seinem Tonfall glaubte Wimsey ihn als einen Werktätigen der gehobeneren Klasse zu erkennen – vielleicht ein Ingenieur.

«Ist das eine elektrische Vorrichtung – verstehen Sie etwas davon?»

«Ja, Madam. Es wird irgendwo ein Mikrophon darin eingebaut sein, das Schall in eine Serie mechanischer Schwingungen umwandelt, die ihrerseits eine Nadel in Bewegung setzen. Wenn die Nadel das richtige Schwingungsmuster erkennt, wird ein Stromkreis geschlossen, und die Tür geht auf. Dasselbe kann man ebensogut mit Lichtschwingungen machen.»

«Könnten Sie die Tür mit Werkzeug öffnen?»

«Wenn ich Zeit genug hätte, gewiß, Madam. Aber nur durch Zerstörung des Mechanismus, der wahrscheinlich gut geschützt ist.»

«Darauf dürfen Sie sich fest verlassen», meinte Wimsey in begütigendem Ton.

Sie griff sich an den Kopf.

«Ich fürchte, wir müssen uns geschlagen geben», sagte der Ingenieur, in dessen Stimme ein gewisser Respekt für gute Arbeit mitschwang.

«Nein – halt! Irgend jemand muß doch wissen – die Arbeiter, die dieses Ding gebaut haben!»

«In Deutschland», sagte Wimsey knapp.

«Oder – ja, ja – ich hab’s! Ein Grammophon. Dieser – dieser – er – wir müssen ihn zwingen, das Wort für uns zu sprechen. Schnell – wie ist das zu machen?»

«Geht nicht, Madam. Wo sollen wir sonntags morgens um halb vier so ein Gerät herbekommen? Der arme Mann wäre längst tot, bevor –»

Es wurde still, und in der Stille drangen die Geräusche des erwachenden Tages durch die verhängten Fenster herein. In der Ferne hörte man eine Autohupe.

«Ich gebe mich geschlagen», sagte sie. «Wir müssen ihn gehen lassen. Nehmt ihm die Fesseln ab. Sie werden ihn doch befreien, ja?» wandte sie sich kläglich an Wimsey. «Wenn Sie auch ein Teufel sind, ein solcher Teufel können Sie nicht sein! Sie werden geradewegs hingehen und ihn retten?»

«Ihn gehen lassen, von wegen!» mischte sich jetzt einer der Männer dazwischen. «Bilden Sie sich nicht ein, er kann hingehen und der Polizei etwas vorsingen, Madame. Der Präsident hat einfach Pech gehabt, und wir sollten uns aus dem Staub machen, solange wir noch können. Es ist aus, meine Herrschaften. Schmeißt diesen Kerl in den Keller und bindet ihn fest, damit er keinen Krach machen und die ganze Gegend aufwekken kann. Die Akten vernichte ich. Sie dürfen mir dabei zusehen, wenn Sie mir nicht trauen. Und Sie, Nummer Dreißig, wissen, wo der Schalter ist. Geben Sie uns eine Viertelstunde zum Verschwinden, und dann jagen Sie die Bude in die Luft.»

«Nein! Ihr könnt nicht einfach gehen – ihr könnt ihn nicht sterben lassen – euern Präsidenten – euern Anführer – meinen – das lasse ich nicht zu. Laßt diesen Teufel frei! Helft mir doch mal einer mit den Schnüren –»

«Jetzt ist aber Schluß damit», sagte der Mann, der schon einmal gesprochen hatte. Er packte sie bei den Handgelenken, und sie wand sich kreischend in seinen Armen und biß und schlug um sich, um freizukommen.

«Denken Sie doch einmal nach», sagte der Mann mit der Sirupstimme. «Es geht auf den Morgen zu. In ein bis zwei Stunden ist es hell. Die Polizei kann jeden Moment hier sein.»

«Die Polizei!» Sie schien sich mit einer gewaltigen Kraftanstrengung zusammenzureißen. «Ja – ja, Sie haben recht. Wir dürfen einem einzelnen zuliebe nicht die Sicherheit aller aufs Spiel setzen. Das würde er selbst nicht wollen. Schon richtig. Wir werfen dieses Aas in den Keller, wo es uns nicht in die Quere kommen kann, und verschwinden solange noch Zeit ist.»

«Und der andere Gefangene?»

«Der? Dieses arme Würstchen – der kann keinen Schaden anrichten. Er weiß doch nichts. Laßt ihn laufen», antwortete sie verächtlich.

In Minutenschnelle sah Wimsey sich wieder ganz unzeremoniell in die Tiefen des Kellers verfrachtet. Er wunderte sich ein wenig. Daß sie ihn nicht laufenließen, selbst um den Preis des Lebens von Nummer Eins, das verstand er ja. Dieses Risiko war er offenen Auges eingegangen. Aber daß sie ihn hier als Zeugen gegen sie zurückließen, das erschien ihm unbegreiflich.

Die Männer, die ihn nach unten gebracht hatten, banden ihm die Füße zusammen und schalteten im Gehen das Licht aus.

«He, Kamerad!» rief Wimsey. «Es ist ein bißchen einsam, hier so allein herumzusitzen. Sie könnten wenigstens das Licht anlassen.»

«Schon gut, mein Freund», kam die Antwort. «Sie werden nicht lange im Dunkeln sitzen. Der Zeitzünder ist schon eingeschaltet.»

Der andere Mann lachte aufs höchste amüsiert, und sie gingen zusammen hinaus. Das war es also. Er sollte mit dem Haus in die Luft fliegen. In diesem Falle würde der Präsident ganz bestimmt tot sein, bevor sie ihn befreit hatten. Das bereitete Wimsey Sorgen. Er hätte den Oberschurken so gern vor Gericht gebracht. Immerhin wartete Scotland Yard schon sechs Jahre darauf, diese Bande hochgehen zu lassen.

Er wartete und strengte die Ohren an. Ihm war, als ob er über sich Schritte hörte. Die Bande hatte sich doch inzwischen davongemacht … Da, ein Knarren – das war gewiß. Die Falltür war aufgegangen. Er fühlte mehr, als daß er hörte, wie jemand in den Keller geschlichen kam.

«Pst!» sagte eine Stimme an seinem Ohr. Weiche Hände fuhren ihm übers Gesicht und tasteten sich an seinem Körper hinunter. Er fühlte kalten Stahl an seinen Handgelenken. Die Fesseln erschlafften und fielen ab. Ein Schlüssel klickte in den Handschellen. Der Riemen an seinen Fußgelenken wurde gelöst.

«Schnell, schnell! Sie haben den Zeitzünder eingeschaltet. Das Haus ist mit Sprengladungen vollgestopft. Folgen Sie mir, so schnell Sie können. Ich habe mich zurückgeschlichen – habe gesagt, ich hätte meinen Schmuck liegenlassen. Das stimmt auch. Ich habe ihn mit Absicht liegenlassen. Er muß gerettet werden – und nur Sie können das tun. Beeilen Sie sich!»

Taumelnd vor Schmerz in seinen abgeschnürten und taub gewordenen Gliedern, in die jetzt das Blut zurückströmte, schleppte Wimsey sich hinter ihr her in das darüberliegende Zimmer. Eine Sekunde später hatte sie die Fensterläden zurückgerissen und das Fenster aufgestoßen.

«Laufen Sie! Befreien Sie ihn! Versprechen Sie das?»

«Ich verspreche es. Und ich muß Sie warnen, Madame, daß dieses Haus umstellt ist. Als meine Safetür zufiel, hat sie bei meinem Diener Alarm ausgelöst und ihn zu Scotland Yard geschickt. Ihre Freunde sind alle schon in Gewahrsam –»

«Ja! Aber gehen Sie doch schon – kümmern Sie sich nicht um mich – schnell! Die Zeit ist schon fast um.»

«Kommen Sie hier weg!»

Er packte sie beim Arm, und stolpernd rannten sie durch den kleinen Garten. Im Gebüsch blitzte plötzlich eine Taschenlampe auf. «Bist du das, Parker?» rief Wimsey. «Ruf deine Leute zurück, schnell! Das Haus fliegt gleich in die Luft.»

Plötzlich schien der Garten voller rufender, eilender Männer zu sein. Wimsey tappte im Dunkeln umher und landete schmerzhaft an der Mauer. Mit einem Sprung erreichte er die Mauerkappe und zog sich hoch. Seine Hand tastete suchend nach der Frau. Er riß sie neben sich empor. Sie sprangen; alle sprangen; die Frau blieb mit dem Fuß hängen und stürzte mit einem keuchenden Schrei hin. Wimsey versuchte anzuhalten, stolperte über einen Stein und flog längelang hin. Dann ging unter Blitz und Donner die Nacht in Flammen auf.

Wimsey rappelte sich mühsam zwischen den Trümmern der Mauer hoch. Ein leises Stöhnen in seiner Nähe verriet, daß seine Begleiterin noch am Leben war. Plötzlich wurde ein Laternenstrahl auf sie gerichtet.

«Da bist du ja!» rief eine vergnügte Stimme. «Alles klar, alter Schwede? Mein Gott – was für ein haariges Ungeheuer!» «Alles in Ordnung», sagte Wimsey. «Nur ein bißchen außer Atem. Ist die Dame wohlauf? Hm – offenbar Arm gebrochen – ansonsten aber unversehrt. Was ist passiert?»

«Etwa ein halbes Dutzend von ihnen ist mit in die Luft geflogen; die übrigen haben wir kassiert.» Wimsey sah sich im winterlichen Morgengrauen von dunklen Gestalten umringt. «Mein Gott, was für ein Tag! Was für ein Come-back für eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens! Du alter Gauner – uns zwei Jahre lang in dem Glauben zu lassen, du wärst tot! Ich habe mir doch tatsächlich einen schwarzen Trauerflor gekauft.

Wirklich! Wußte außer Bunter jemand Bescheid?»

«Nur noch meine Mutter und meine Schwester. Ich hab’s in einem versiegelten Schreiben festgehalten – so einem Ding, wie man es an Testamentsvollstrecker und so weiter schickt.

Ich fürchte nur, wir werden alle Hände voll zu tun haben, den Juristen zu beweisen, daß ich ich bin. Hallo – ist das nicht Freund Sugg?»

«Doch, Mylord», sagte Inspektor Sugg, grinsend und vor Aufregung fast in Tränen. «Ich freue mich ja so, Eure Lordschaft wiederzusehen. Und gute Arbeit, Mylord. Alle möchten Ihnen so gern die Hand drücken, Sir.»

«Meine Güte, und ich würde mich so gern vorher waschen und rasieren. Freut mich sehr, sie nach zweijährigem Exil in Lambeth alle wiederzusehen. Haben wir das nicht fein hingekriegt, was?»

«Ist er in Sicherheit?»

Wimsey zuckte bei dem bangen Aufschrei zusammen. «Ach du liebes bißchen!» rief er. «Ich habe doch glatt den Herrn in meinem Safe vergessen. Schnell, ruft einen Wagen.

Der Großmogul der Bande erstickt nämlich bei mir zu Hause still und leise vor sich hin. Hopp – steig ein – und nehmt die Dame auch mit. Ich habe versprochen, daß wir hinfahren und ihn rausholen – obwohl», beendete er den Satz in Parkers Ohr, «es durchaus zu einer Mordanklage kommen könnte und ich seine Chancen vor dem Old Bailey nicht sehr hoch einschätze.

Gib Gas. Lange hält er in diesem Käfig nicht mehr durch. Er ist der Kerl, hinter dem du her warst, der Drahtzieher in den Fällen Morrison und Hope-Wilmington und Hunderten anderen.»

Der kalte Morgen färbte die Straße grau, als sie vor dem Haus in Lambeth anhielten. Wimsey faßte die Frau am Arm und half ihr aus dem Wagen. Die Maske war jetzt herunter und zeigte ein verhärmtes, verzweifeltes Gesicht, das bleich vor Angst und Schmerz war.

«Russin?» flüsterte Parker in Wimseys Ohr.

«So was Ähnliches sicher. Verflixt! Der Wind hat die Haustür zugeschlagen, und der Kerl hat den Schlüssel bei sich im Safe. Spring doch mal durchs Fenster rein, ja?»

Parker stieg gehorsam durchs Fenster ein und öffnete ihnen Sekunden später die Tür. Im Haus war es sehr still. Wimsey ging ihnen voran in das hintere Zimmer, in dem sich der Tresor befand. Die Außentür und die zweite Tür standen offen, durch Stühle am Zuschlagen gehindert. Die innere Tür starrte ihnen als kahle grüne Wand entgegen.

«Hoffentlich hat er nur nicht auf dem Mechanismus herumgehämmert und ihn kaputtgemacht», sagte Wimsey leise. Die Hand an seinem Arm krampfte sich angstvoll zusammen. Er gab sich einen Ruck und zwang seine Stimme zu einem gelösten, normalen Umgangston.

«Los, alter Freund», wandte er sich wie beiläufig an die Tür. «Zeig mal, was du kannst. Sesam öffne dich. Hol dich der Kuckuck! Sesam öffne dich.»

Plötzlich glitt die grüne Tür in die Wand zurück. Die Frau war mit einem Satz drinnen und fing den zusammengesunkenen, besinnungslosen Klumpen auf, der ihr aus dem Safe entgegenrollte. Seine Kleider waren zerrissen, und von seinen zerschundenen Händen tropfte Blut.

«Alles in Ordnung», sagte Wimsey. «Nichts passiert. Er lebt – und wird sich vor Gericht verantworten.»