11. Kapitel

 

Sie schüttelte die Journalisten am Flughafen von Galveston ab. Inzwischen war sie ziemlich gut darin. Andererseits waren sie nicht mehr so wißbegierig wie zu Anfang und wußten überdies, daß sie Laura bald wieder vor ihre Kameras und Mikrofone bekommen würden.

»Willkommen im Vergnügungsort Galveston«, sagte das Elektromobil. »Alfred A. Magruder, Bürgermeister. Bitte sprechen Sie Ihr Fahrtziel deutlich ins Mikrofon. Anunce usted...«

»Rizome-Ferienheim.«

Sie schaltete das Radio ein und bekam die zweite Hälfte eines neuen Schlagers zu hören. ›Schüsse hallen, Trümmer fallen… Rauhe, grelle, rhythmisch stampfende Musik. Seltsam, wie rasch das wieder in Mode gekommen war. Nervosität, Gereiztheit, Kriegsstimmung.

Die Stadt hatte sich nicht sehr verändert. Größere Veränderungen ließ man nicht zu. Dieselben schönen alten Gebäude, dieselben Palmen, die gewohnten Scharen von Ausflüglern aus Houston, ausgedünnt durch eine winterliche Kaltfront. Die Kirche von Ischtar warb jetzt offen. Sie war nahezu ehrbar, gedieh jedenfalls in einer Zeit des Krieges und der Huren. Darin hatte Carlotta recht gehabt. Sie dachte an Carlotta, wie sie - irgendwo in ihrer heiligen Halbwelt schwebte, ihr sonnigbetäubtes Lächeln zeigte und irgendeinen Kunden mit Augenaufschlägen auflockerte. Und vielleicht würden ihre Wege einander wieder kreuzen, irgendwann irgendwo irgendwie, aber Laura bezweifelte es. Die Welt war voller Carlottas, voller Frauen, deren Leben nicht ihnen selbst gehörte. Sie kannte nicht einmal Carlottas richtigen Namen.

Eine stürmische Brandung rauscht an den Strand, Überbleibsel eines tropischen Tiefs, das sich in aufreißenden Wolkenbänken über der texanischen Küste auflöste. Waghalsige Windsurfer waren in ihren Gummianzügen draußen.

Zuerst machte sie den Fahnenmast aus. Die Flagge von Texas, die Rizome-Flagge mit dem Firmenzeichen. Der Anblick traf sie schwer. Erinnerung, Verwunderung, Sorge. Bitterkeit.

Die Journalisten warteten außerhalb des Firmengeländes. Sie hatten es geschickt fertiggebracht, Laura mit einem Bus den Weg zu versperren. Lauras Elektromobil hielt an. Hut und Sonnenbrille würden ihr jetzt nicht helfen. Sie stieg aus.

Die Reporter umringten sie. Hielten drei Meter Abstand, wie das Gesetz es verlangte. Ein sehr kleiner Segen. »Mrs. Webster, Mrs. Webster!« Dann eine Stimme aus dem Chor. »Mrs. Day!«

Laura blieb stehen. »Was?«

Ein rothaariger Bursche, Sommersprossen, frecher Gesichtsausdruck. »Wollen Sie uns ein paar Worte zu Ihrer bevorstehenden Scheidung sagen, Mrs. Day!«

Sie schaute in Augen, Kameras. »Ich kenne Leute, die Sie alle zum Frühstück verspeisen könnten.«

»Danke, das ist großartig, Mrs. Day…«

Sie erreichte die Seitentreppe, stieg die alten vertrauten Stufen hinauf zur umlaufenden Veranda. Das Treppengeländer war hübsch gealtert und hatte den seidig-grauen Glanz von Treibholz, und die gestreifte Markise war neu. Es sah freundlich aus, das Ferienheim mit seinen Bogen und dem Turm mit den tiefen runden Fenstern und den Flaggen. Harmlos und freundlich, Sonnenbaden und Limonade, ein herrlicher Ort für ein Kind.

Sie betrat die Bar; die Tür schloß sich selbst hinter ihr. Gedämpfte Helligkeit - die Bar war voll von Fremden. Die Luft kühl, es roch nach Tortillachips und Weinkühlern. Tische und Korbsessel. Ein Mann blickte zu ihr auf - einer von Davids Abbruchkumpeln, dachte sie, nicht Rizome, aber sie hatten immer gern hier draußen herumgesessen. Der Name war ihr entfallen. Er zögerte, erkannte sie, war aber unsicher.

Sie geisterte an ihm vorbei. Eines von Mrs. Delrosarios Mädchen kam mit einem Krug Bier vorbei. Das Mädchen blieb stehen, wandte sich um. »Laura. Sind Sie es?«

»Hallo, Ines.«

Sie konnten sich nicht umarmen - Ines trug das Bier. Laura küßte sie auf die Wange. »Bist du groß geworden, Ines… Kannst du jetzt schon servieren?«

»Ich bin achtzehn, ich kann servieren.« Sie trug einen Verlobungsring. »Meine abuela wird sich freuen, Sie zu sehen - ich freue mich auch.«

Laura nickte hinter ihrer Sonnenbrille zu den Leuten. »Sag ihnen nicht, daß ich hier bin - alle machen solch ein Aufhebens davon.«

»In Ordnung, Laura.« Ines war verlegen. So war es, wenn man eine Berühmtheit war. Verlegen und befangen - und dies von der kleinen Ines, die ihr immer beim Tockenlegen zugesehen und in ihrem Badeanzug herumgesprungen war. »Wir sehen uns später, ja?«

Laura verschwand hinter der Bar, ging durch die Küche. Kein Zeichen von Mrs. Delrosario, aber der Geruch ihrer Küche war da, ein Ansturm von Erinnerungen. Sie ging vorbei an Pfannen mit Kupferböden und Kuchenblechen, in den Speiseraum. Rizome-Gäste, die über Politik diskutierten - man konnte es am angespannten Ausdruck ihrer Gesichter erkennen, an der Aggression.

Es war nicht bloß die Furcht. Die Welt hatte sich verändert. Sie hatten die Inseln endlich geschluckt, aber sie lagen ihnen schwer im Magen, wie eine Droge. Diese Fremdartigkeit war jetzt überall, verdünnt, gedämpft und prickelnd…

Sie konnte ihnen nicht gegenübertreten, noch nicht. Sie stieg die Treppe zum Turm hinauf, wo ihre Wohnung lag - die Tür öffnete sich nicht für sie. Beinahe wäre sie dagegengelaufen. Der Code mußte verändert worden sein - nein, sie trug ein neues Uhrtelefon, nicht für das Ferienheim programmiert. Sie wählte die Nummer. »David?«

»Laura«, sagte er. »Bist du am Flughafen?«

»Nein. Ich stehe hier auf der Treppe, vor der Tür.« Stille. Durch die Tür, über die wenigen Meter hinweg, die sie noch trennten, spürte sie, wie er sich faßte. »Komm nur herein…«

»Es ist die Tür, ich kriege sie nicht auf.«

»Oh! Ja, richtig. Augenblick.« Die Sperre löste sich. Laura nahm die Sonnenbrille ab.

Sie kam durch die Tür und warf den Hut auf einen Tisch, in eine runde Säule aus Sonnenlicht, das durch eines der Fenster fiel. Das gesamte Mobiliar war ausgewechselt. David erhob sich von seiner Lieblingskonsole - aber nein, es war nicht mehr die, die sie kannte.

Ein Weltregierungsspiel war eingeschaltet. Afrika war ein Durcheinander. Er kam, sie zu begrüßen - ein großer, hagerer Mann mit kurzem Haar und Lesebrille. Sie drückten einander die Hände, dann umarmten sie sich, wortlos. Er hatte abgenommen - sie konnte die Knochen in ihm fühlen.

Sie machte sich los. »Du siehst gut aus.«

»Du auch.« Lügen. Er nahm die Brille ab und steckte sie in die Brusttasche seines Hemdes. »Ich brauche sie eigentlich nicht.«

Sie fragte sich, wann sie weinen würde. Sie fühlte das Bedürfnis danach. Nach kurzem Zögern setzte sie sich auf eine Couch. Er nahm einen Sessel ihr gegenüber. Zwischen ihnen stand der neue Kaffeetisch.

»Es sieht gut aus hier, David. Wirklich gut.«

»Webster und Webster, wir bauen haltbar.«

Das bewirkte es. Sie begann zu weinen und konnte nicht mehr aufhören. Er holte Papiertaschentücher und setzte sich zu ihr auf die Couch und legte ihr den Arm um die Schultern. Sie ließ es geschehen.

»Die erste Zeit«, sagte er, »ungefähr die ersten sechs Monate, träumte ich von diesem Wiedersehen, Laura. Ich konnte nicht glauben, daß du tot warst. Ich dachte, irgendwo im Gefängnis. Singapur. Sie ist eine Politische, sagte ich den Leuten, jemand hält sie fest, und man wird sie gehen lassen, wenn die Lage bereinigt ist. Dann hieß es, du seist an Bord der Ali Khamenei gewesen, und da wußte ich, daß es aus war. Daß sie dich endlich erwischt, daß sie meine Frau getötet hatten. Und ich war auf der anderen Seite der Welt gewesen, hatte nichts tun können.« Er drückte die Daumen in seine Augenwinkel. »Wenn ich nachts aufwachte, sah ich dich ertrinken.«

»Es war nicht deine Schuld«, sagte sie. »Es war nicht unsere Schuld, nicht wahr? Was wir hatten, war gut, es sollte von Dauer sein.«

»Ich liebte dich wirklich«, sagte er. »Als ich dich verlor, war ich vernichtet.«

»Ich möchte dir sagen, David… Ich… ich mache dir keinen Vorwurf daraus, daß du nicht gewartet hast.« Langes Stillschweigen. »Ich hätte auch nicht gewartet, nicht, wenn es so gewesen wäre. Was ihr tatet, du und Emily, war für euch beide richtig.«

Er starrte sie an. Ihre Geste, ihre Vergebung, hatte ihn gedemütigt. »Deine Opferbereitschaft kennt keine Grenzen, wie?«

»Gib nicht mir die Schuld!« erwiderte sie. »Ich habe nichts geopfert, ich wollte nicht, daß uns dies geschehen würde. Es wurde uns gestohlen - sie stahlen unser Leben.«

»Wir hätten es nicht tun müssen. Wir entschieden uns dafür, es zu tun. Wir hätten das Unternehmen verlassen, irgendwo eine eigene Existenz aufbauen, einfach glücklich sein können.« Er zitterte. »Ich wäre glücklich gewesen - ich brauchte nichts als dich.«

»Wir können es nicht ändern, wenn wir in der Welt leben müssen! Wir hatten Pech. Das kommt vor. Wir stolperten über ein verborgenes Hindernis, und es riß uns auseinander.« Keine Antwort. »David, wenigstens sind wir am Leben.«

Er stieß ein bellendes Lachen aus. »Hol's der Teufel, du bist mehr als am Leben, Laura. Du bist eine Berühmtheit. Die ganze Welt kennt die Geschichte. Es ist ein Riesenskandal, ein Drama. Wir leben nicht in der Welt - die Welt lebt jetzt in uns. Wir zogen aus, für das Netz zu streiten, und das Netz riß uns in Stücke. Nicht unsere Schuld - keineswegs! All das verdammte Geld und die Politik und der Ehrgeiz der Multis packten uns und rissen uns auseinander!«

Er schlug sich mit der Faust aufs Knie. »Selbst wenn Emily nicht hineingekommen wäre - und ich liebe Emily nicht so, Laura, wie ich dich liebte -, wie, zum Teufel, hätten wir jemals zu einem richtigen menschlichen Leben zurückfinden können? Zu unserer kleinen Ehe, unserem kleinen Kind, unserem kleinen Haus?« Er lachte wieder, diesmal war es ein schrilles, unglückliches Geräusch. »Damals, als ich Witwer war, gab es eine Menge Wut und Schmerz in mir, aber Rizome versuchte sich um mich zu kümmern, sie dachten, es sei… dramatisch. Ich haßte sie und das ganze Unternehmen, weil sie uns da hineingeführt hatten, dachte mir aber, daß Loretta mich braucht, daß Emily sich etwas aus mir macht, daß ich vielleicht einen neuen Anfang finden könnte. Weiterleben könnte.«

Er war angespannt wie eine Violinsaite. »Aber ich bin bloß ein kleiner Mann, eine Privatperson. Ich bin nicht Hamlet, Prinz von Dänemark, ich bin nicht Gott. Ich wollte bloß meine Frau und mein Kind und meine Arbeit, und ein paar Freunde zum Biertrinken und ein hübsches Haus zum Leben.«

»Nun, das wollten sie uns nicht lassen. Aber wenigstens brachten wir zuwege, daß sie für das, was sie getan hatten, zahlen mußten.«

»Du brachtest das zuwege.«

»Ich kämpfte für uns!«

»Ja, und du gewannst - aber für das Netz, nicht für dich und mich.« Er verknotete seine Finger. »Ich weiß, es ist egoistisch. Manchmal schäme ich mich, komme mir wertlos vor. Diese Leute da draußen in ihrem U-Boot, sie sind immer noch irgendwo, mit ihren vier kostbaren, selbstgebastelten atomaren Sprengköpfen, und wenn sie einen davon abfeuern, wird er eine Million Menschen wie uns vernichten. So etwas ist schlecht, es muß bekämpft werden. Was kommt es da auf dich und mich an, nicht wahr? Aber ich kann nicht in diesem Maßstab sehen, ich bin klein, ich kann nur dich und mich sehen.«

Sie berührte seine Hände. »David, wir haben immer noch Loretta. Wir sind keine Fremden. Ich war deine Frau, ich bin die Mutter deines Kindes. Ich wollte nicht sein, was ich jetzt geworden bin. Hätte ich eine Wahl gehabt, so hätte ich dich gewählt.«

Er wischte sich die Augen. Er kämpfte die Gefühle nieder, wurde zurückhaltend. Höflich. »Nun, wir werden einander manchmal sehen, nicht wahr? Im Urlaub und so - wenn sich Gelegenheit ergibt. Obwohl ich jetzt in Mexiko bin, und du noch bei Rizome bist.«

»Ich habe Mexiko immer gemocht.«

»Du kannst hinunterkommen und sehen, woran wir arbeiten. Das Yucatan-Projekt… Ein paar von diesen Leuten aus Grenada. Ihre Ideen waren wirklich nicht schlecht.«

»Wir werden gute Freunde bleiben. Wenn der Schmerz vergangen ist. Wir hassen einander nicht - wir wollten einander nicht weh tun. Es schmerzt nur so, weil es gut war, als wir es hatten.«

»Es war gut, nicht? Damals, als wir einander hatten. Als wir noch von gleicher Größe waren.« Er sah sie mit tränenumflortem Blick an, und auf einmal konnte sie in seinen Augen den David sehen, den sie verloren hatte. Er war wie ein kleiner Junge.

 

Im Erdgeschoß veranstalteten sie einen Empfang für sie. Er war wie die anderen Empfänge ihr zu Ehren, in Südafrika und Atlanta, aber hier war der Raum voll von Leuten, die sie gut kannte, die sie geliebt hatte. Sie hatten ihr einen Kuchen gebacken. Sie schnitt ihn an, und alle sangen. Keine Journalisten, Gott sei Dank. Eine Rizome-Zusammenkunft.

Sie hielt eine kleine Ansprache, die sie während des Fluges entworfen hatte. Über das Ferienheim, und wie der Feind einen Gast getötet und ihr Haus und ihre Gesellschaft beleidigt hatte. Wie sie sich zur Wehr gesetzt hatten, nicht mit Maschinengewehren, sondern mit Wahrheit und Solidarität. Der Kampf, so sagte sie, habe einen hohen Preis gefordert, und Leid und Tragödie über viele Menschen gebracht.

Heute aber sei die heimliche Verschwörung zwischen Mali und Wien bloßgestellt und zerbrochen, Mali selbst isoliert. Das grenadinische Regime sei ausgelöscht, die Singapurer hätten eine Revolution gehabt. Sogar die europäischen Datenpiraten Los Morfinos - hätten im Verlauf der Ereignisse ihre sicheren Operationsbasen verloren und seien in alle Winde zerstreut. (Applaus.)

Die alte Wiener Konvention sei in den hochgehenden Wogen der Empörung einer aufgebrachten Weltöffentlichkeit untergegangen, Rizome aber sei stärker denn je. Sie hätten ihr Anrecht auf die Zukunft bewiesen. Sie - das Personal des Ferienheims - könnten auf ihre Rolle in der Weltgeschichte stolz sein.

Alle applaudierten und hatten glänzende Augen. Allmählich bekam sie Übung in diesen Reden. Sie hatte so oft reden müssen, daß alle Furcht vergangen war.

Der förmliche Teil war damit beendet, und die Teilnehmer am Empfang fanden sich in schwatzenden Gruppen zusammen. Mrs. Delrosario und Mrs. Rodriguez waren beide in Tränen, und Laura tröstete sie. Sie wurde dem neuen Leiter des Ferienheims und seiner schwangeren Frau vorgestellt. Sie ergingen sich in überschwenglichen Bekundungen, wie schön das Haus sei und wie sehr sie sich freuten, hier zu arbeiten. Laura spielte die Rolle der Bescheidenen, geduldig, abwehrend, gleichmütig.

Die Leute schienen stets überrascht, sie vernünftig reden zu hören, ohne haarzerraufende Hysterie. Sie hatten sich ihr Urteil über sie bei der Betrachtung von Greshams Aufzeichnung gebildet. Laura hatte die Aufzeichnung (eine der ungezählten Kopien) genau einmal angesehen und dann noch vor dem Ende ausgeschaltet, außerstande, die Eindringlichkeit zu ertragen. Sie wußte jedoch, was andere Leute davon hielten - sie hatte die Kommentare gelesen. Ihre Mutter hatte ihr eine kleine Sammlung von Zeitungsausschnitten aus der Weltpresse zukommen lassen.

Manchmal, wenn sie mit Fremden bekanntgemacht wurde und sah, daß sie sie beurteilten, dachte sie an diese Kommentare. Denn vermutlich beurteilten diese Leute sie nach dem, was sie gesehen und gelesen hatten. »Mrs. Webster führte überzeugend die naive Entrüstung einer beleidigten Bourgeoise vor« - Freie Presse, St. Petersburg. »Sie trug der Kamera ihre Beschwerden mit der weinerlichen Empörung einer Mätresse vor, die von ihrem Kavalier Vergeltung für erlittene Unbill fordert« - Paris Match. »Häßlich, theatralisch, von schrillem Insistieren, ein Zeugnis, das letzten Endes viel zu unangenehm war, um bezweifelt zu werden« - The Guardian. Diese letztere Kritik hatte sie zehnmal oder zwölfmal gelesen und sogar daran gedacht, den herabwürdigenden Verfasser anzurufen und zur Rede zu stellen - aber wozu? Die Aufzeichnung hatte ihre Wirkung getan, das war genug. Und was sie hatte einstecken müssen, war nichts im Vergleich zu dem, was die Presse über die armen Teufel, die für Wiens Aktivitäten verantwortlich gewesen waren, ausgeschüttet hatte.

Alles das waren jetzt sowieso alte Kamellen. Thema des Tages war das U-Boot. Jedermann erwies sich als Sachverständiger. Es war selbstverständlich kein amerikanisches TridentU-Boot - die FAKT hatte sie darin belogen, was kaum überraschend war. Sie hatte der ganzen Welt erzählt, daß sie an Bord eines ›Trident‹-U-Bootes gewesen war, während eine Trident in Wirklichkeit eine Rakete war.

Man hatte sie um eine Beschreibung gebeten und Bilder vorgelegt, und so hatte sich herausgestellt, daß es sich bei dem Boot um ein sowjetisches Raketen-U-Boot der Alfa-Klasse handelte, das vor Jahren an Somalia verkauft worden und angeblich mit der gesamten Besatzung gesunken war. Natürlich war es nicht gesunken - die glücklose Besatzung war von FAKT-Saboteuren, die als Söldner an Bord gegangen waren, vergast worden, und das U-Boot hatte vollständig intakt den Besitzer gewechselt.

Beinahe die ganze Geschichte war jetzt bekannt, und täglich kamen neue Einzelinformationen hinzu: Südafrikanische Hacker waren in die Datenspeicher der FAKT eingedrungen und hatten die Ergebnisse ihrer Nachforschung über Hintergründe und Personen veröffentlicht. FAKT-Agenten im Ausland wurden aufgespürt oder stellten sich freiwillig, benannten ihre Helfer und belasteten ihre früheren Brotgeber.

Die Gräfin hatte sich angesichts dieser Entwicklung erschossen und ihre sterblichen Überreste einäschern lassen. Außerdem hatte sie ein umfangreiches Testament hinterlassen, das sie vor der Geschichte rechtfertigen sollte. Soweit die Angaben aus Bamako. Einen untrüglichen Beweis für ihren Tod gab es nicht, sowenig wie es Gewißheit über ihre wahre Identität gab. Es gab wenigstens fünf mögliche Kandidatinnen, reiche Frauen von elitärem Sendungsbewußtsein, die sich im politischen Kampf für die Stärkung der Nationalstaaten und gegen die ›plutokratische Weltherrschaft der Multis und ihre kriminellen Ableger in den Steueroasen‹ eingesetzt hatten und zu irgendeinem Zeitpunkt aus dem Rampenlicht der Öffentlichkeit verschwunden waren. Um diesen Komplex rankten sich mittlerweile Hunderte von volkstümlichen Geschichten und unsinnigen Verschwörungstheorien.

Das Unheimliche und Krankhafte daran war, daß es den Leuten gefiel. Die Vorstellung von einer Gräfin - verrückt oder nicht - an der Spitze einer geheimen Armee und umgeben von gefährlichen und zu allem entschlossenen Kommandeuren fand in der breiten Öffentlichkeit ungeahnten Anklang, obwohl das Netz nicht müde wurde, auf die kriminelle Erbärmlichkeit der Personen und ihrer Umstände hinzuweisen: Die Frau sei geisteskrank gewesen. Alt und zittrig und ohne Kontakt mit der Wirklichkeit, umgeben von skrupellosen politischen Eiferern, militärischen Glücksrittern und Geschäftemachern.

Aber die Leute wollten es nicht so sehen - man konnte ihnen noch so oft von der Banalität des Bösen predigen, ihr Bedürfnis nach romantischer Verklärung war stärker. Auf einer unbewußten Ebene liebten die Menschen den politischen Umsturz, die Unsicherheit, das Chaos und den perversen Reiz des nuklearen Schreckens. Die Furcht war ein Aphrodisiakum, eine Chance, sich von den allzu überschaubaren Perspektiven abzuwenden und für den Augenblick zu leben. In früheren Zeiten war es immer so gewesen. Jetzt, da sie es selbst erlebte und die Leute davon reden hörte, wußte sie es.

Jemand hatte den Bürgermeister eingeladen. Magruder erläuterte ihr die komplizierten juristischen Voraussetzungen der Wiedereröffnung des Ferienheims. Er verteidigte die von ihm verfügte Schließung in seiner aggressiven Art, und sie wehrte ihn mit leeren Höflichkeiten ab. »Ach, warten Sie«, sagte sie dann, »da ist jemand, mit dem ich unbedingt sprechen muß.« Und sie ließ ihn stehen und ging aufs Geratewohl auf eine Fremde zu. Eine braungebrannte Frau mit kurzgeschnittenem Haar, die allein auf der anderen Seite des Raumes stand und ein Glas Soda in der Hand hielt.

Es war Emily Donato. Sie sah Laura kommen und blickte mit einem Ausdruck reinen Entsetzens auf. Laura blieb erschrocken stehen. »Emily«, sagte sie. »Hallo.«

»Hallo, Laura.« Sie wollte sich zivilisiert benehmen. Laura sah den Entschluß in ihrem Gesicht, sah sie den Fluchtinstinkt überwinden.

Das Stimmengewirr ging um eine Oktave herunter. Die Leute beobachteten sie über ihre Gläser hinweg, aus den Augenwinkeln. »Ich brauche was zu trinken«, sagte Laura. Eine bedeutungslose Äußerung, aber sie mußte etwas sagen.

»Ich bring dir was.«

»Nein, laß uns hinausgehen.« Sie stieß die Tür auf und trat hinaus auf die umlaufende Veranda. Ein paar Leute waren draußen, lehnten am Geländer und beobachteten die Möwen. Laura ging an ihnen vorbei. Emily folgte ihr, widerwillig.

Sie gingen um das Gebäude, unter der Markise. Es wurde kalt, und Emily, in ihrem einfachen kurzärmeligen Kleid, umfaßte ihre bloßen Oberarme. »Ich vergaß meine Jacke… Nein, es ist schon gut. Wirklich.« Sie stellte ihr Glas auf das hölzerne Geländer.

»Du hast dir das Haar abschneiden lassen«, sagte Laura.

»Ja«, sagte Emily, »es macht weniger Arbeit als die Ringellocken.« Lähmende Stille. »Hast du Arthurs Gerichtsverfahren gesehen?«

Laura schüttelte den Kopf. »Aber ich bin heute froh, daß du mich nie mit ihm bekanntgemacht hast.«

»Ich kam mir wie eine Hure vor«, sagte Emily, »es fällt mir noch immer schwer, zu glauben, daß er von der FAKT war! Daß ich mit dem Feind schlief, daß er alles aus mir herausholte, was er wissen wollte, daß alles meine Schuld war.« Sie brach in Tränen aus. »Und dann dies! Ich weiß nicht, warum ich überhaupt hergekommen bin. Ich wünschte, wir wären wieder in Mexiko. Ich wünschte, wir wären in der Hölle!«

»Um Himmels willen, Emily, rede nicht so!«

»Ich habe mein Amt und das Unternehmen entehrt. Und Gott allein weiß, was ich mit meinem Privatleben gemacht habe.« Sie schluchzte. »Sieh nur, was ich getan habe - meine beste Freundin habe ich verraten. Du warst im Gefängnis, und ich schlief mit deinem Mann! Du mußt meinen Tod wünschen.«

»Nein, das tue ich nicht!« sagte Laura. »Wozu sollte das gut sein?«

Emily starrte sie an. Die Bemerkung verwirrte sie. »Ich kannte dich wirklich gut«, sagte sie, »ich verließ mich auf dich. Du warst die beste Freundin, die ich je hatte… Weißt du, als ich zuerst hierher kam, David zu besuchen, dachte ich, ich täte dir einen Gefallen. Weißt du, ich mochte ihn, aber er war nicht gerade gut für die Moral. Beklagte sich, beschimpfte Leute, trank zuviel. Ich sagte mir, meine tote Freundin würde wünschen, daß ich mich um David kümmere. Ich versuchte wirklich Gutes zu tun, und es war das Schlechteste, was ich je getan habe.«

»Ich hätte genauso gehandelt«, sagte Laura.

Emily setzte sich in einen der Liegestühle und zog die Beine unter sich. »Das möchte ich nicht hören«, sagte sie. »Ich möchte, daß du mir sagst, wie sehr du mich haßt. Ich kann es nicht ertragen, wenn du soviel edler bist als ich.«

»Gut, Emily.« Die Wahrheit platzte aus ihr heraus wie ein Abszeß. »Wenn ich daran denke, daß du mit David schläfst, möchte ich dir die verdammte Kehle herausreißen.«

Emily saß da und steckte es ein. Sie erschauerte. »Ich kann es nicht wiedergutmachen. Aber ich kann weglaufen.«

»Tu es nicht, Emily. Das hat er nicht verdient. Er ist ein guter Mann. Er liebt mich nicht mehr, aber dafür kann er nichts. Wir sind jetzt einfach zu weit auseinander.«

Emily blickte auf. Hoffnung dämmerte. »Also ist es wahr? Du willst ihn mir nicht wegnehmen?«

»Nein.« Sie zwang sich, die Worte leichthin zu sagen. »Wir werden die Scheidung erwirken. Es wird keine großen Umstände geben… Den einzigen Ärger wird es mit den Journalisten geben.«

Emily blickte ins Leere. Sie nahm das Geschenk an. »Weißt du, ich liebe ihn wirklich. Ich meine, er ist einfach, und manchmal irgendwie unbesonnen, aber er hat seine guten Seiten.« Sie hatte nichts zu verbergen. »Ich brauche nicht mal die Pille. Ich liebe ihn einfach. Ich habe mich an ihn gewöhnt. Wir sprechen sogar davon, ein Kind zu haben.«

»Ach, wirklich?« Laura setzte sich. Der Gedanke war so seltsam, daß er sie irgendwie nicht berührte. Es erschien ihr erfreulich, familiär. »Versuchst du es?«

»Noch nicht, aber…« Sie hielt inne. »Laura? Wir werden dies überleben, nicht? Ich meine, es wird nicht so sein, wie es war, aber wir brauchen einander nicht umzubringen. Wir werden uns vertragen?«

»Ja.« Lange Stille.

Sie neigte sich zu Emily. Nun, da sie sich ausgesprochen hatten, kam ein Abglanz der alten Übereinstimmung zurück. Eine Art unterirdisches Prickeln, als ihre begrabene Freundschaft sich regte.

Emilys Miene hellte sich auf. Auch sie spürte es.

Es währte lange genug, daß sie die Arme umeinander legten, als sie wieder hineingingen.

Alle lächelten.

 

Sie verbrachte Weihnachten bei ihrer Mutter in Dallas. Und Loretta war da. Ein kleines Mädchen, das fortlief, als es die Dame mit Hut und Sonnenbrille sah, und das Gesicht im Kleid der Großmutter barg.

Sie war ein niedliches kleines Ding. Abstehende blonde Zöpfe, graugrüne Augen. Und nachdem sie die anfängliche Scheu verloren hatte, zeigte sich, daß sie gern schwatzte und lachte. Sie sang ein kleines Weihnachtslied, dessen Verse größtenteils ›na na na na‹ lauteten, und nach einer Weile setzte sie sich Laura auf den Schoß und nannte sie ›rara‹.

»Sie ist wundervoll«, sagte Laura zu ihrer Mutter. »Du hast deine Sache wirklich gut gemacht.«

»Du glaubst nicht, welch eine Freude sie für mich ist«, sagte Margaret Alice Day Garfield Nakamura Simpson. »Ich verlor dich, dann hatte ich sie, und nun habe ich euch beide. Es ist wie ein Wunder. Es vergeht kein Tag, daß ich nicht dafür dankbar bin. In meinem ganzen Leben bin ich nicht so glücklich gewesen wie jetzt.«

»Wirklich, Mutter?«

»Ich habe gute und schlechte Zeiten erlebt - dies ist für mich die beste Zeit. Seit ich im Ruhestand lebe, das Joch abgeschüttelt habe, dreht sich alles nur noch um Loretta und mich. Wir sind eine Familie - ein kleines Gespann.«

»Du mußt glücklich gewesen sein, als du mit Papa zusammen warst. Ich erinnere mich. Ich dachte immer, wir seien eine glückliche Familie.«

»Nun, das waren wir ja auch. Es war nicht ganz so ungetrübt, aber es war gut. Bis zur Abrüstung. Bis ich anfing, achtzehn Stunden am Tag zu arbeiten. Ich hätte es ablehnen können - dein Vater wollte es so -, aber ich dachte, nein, das ist der größte Wendepunkt, den ich in meinem Leben sehen werde, und wenn ich in der Welt leben will, muß ich dies zuerst tun. Also tat ich es, und darüber verlor ich ihn. Euch beide.«

»Es muß dich sehr verletzt haben. Ich war jung und wußte es nicht - ich wußte nur, daß es mich verletzte.«

»Es tut mir leid, Laura. Ich weiß, es ist spät, aber ich bitte dich um Verzeihung.«

»Danke, daß du das sagst, Mutter. Auch mir tut es leid.« Sie lachte. »Es ist komisch, daß es dazu kommen sollte. Nach all diesen Jahren. Nur ein paar Worte.«

Ihre Mutter nahm die Brille ab, betupfte sich die Augen. »Deine Großmutter verstand… Wir haben nie viel Glück gehabt, Laura. Aber weißt du, ich glaube, wir haben die Lösung gefunden! Es ist nicht die alte Lösung, aber es ist etwas.«

»Vielleicht können wir es von nun an besser machen«, sagte Laura. »Ich habe mein Privatleben viel schlimmer vermurkst, als du es mit deinem tatest, und mein einziger Trost ist, daß es Loretta nicht so schmerzen wird.«

»Ich hätte mich mehr um dich kümmern sollen, als du jung warst«, sagte ihre Mutter. »Aber es gab die Arbeit, und - wirklich, es fällt mir schwer, es zu sagen - die Welt ist voller Männer.« Sie zögerte. »Ich weiß, daß du daran jetzt nicht denken magst, aber glaube mir, es kommt wieder.«

»Gut zu wissen, nehme ich an.« Sie betrachtete den Weihnachtsbaum, der zwischen zwei japanischen Rollbildern stand. »Die einzigen Männer, mit denen ich gegenwärtig zusammentreffe, sind Journalisten. Das ist nicht sehr lustig. Seit dieser Geschichte sind sie wie die Wilden hinter mir her.«

»Nakamura war Journalist«, sagte ihre Mutter nachdenklich. »Weißt du, mit ihm war ich nie sehr glücklich, aber es war intensiv.«

Sie aßen zusammen in der eleganten kleinen Eßecke ihrer Mutter. Es gab Wein, und Weihnachtsschinken, und einen Brotaufstrich aus neu entwickeltem Scop aus England, der wie Pate schmeckte. Sie hätte es pfundweise essen können.

»Es ist gut, aber es schmeckt doch nicht so ganz wie Pate«, klagte ihre Mutter. »Ich finde, es hat einen etwas fischigen Beigeschmack.«

»Es ist zu teuer«, sagte Laura. »Kostet in der Herstellung wahrscheinlich zehn Cents.«

»Nun ja«, sagte ihre Mutter duldsam, »sie müssen die Entwicklungskosten einbringen.«

»Wenn Loretta groß ist, wird es billiger sein.«

»Bis dahin werden sie Scop in allen Geschmacksrichtungen herstellen.«

Der Gedanke war etwas beängstigend. Ich werde älter, dachte Laura. Veränderung an sich beginnt mir Angst zu machen.

Sie schob den Gedanken von sich. Zu zweit spielten sie mit Loretta, bis Schlafenszeit war. Dann unterhielten sie sich noch ein paar Stunden lang, tranken Wein und aßen Käse und waren zivilisiert. Laura war nicht glücklich, aber die Schärfe hatte sich verloren, und sie war der Zufriedenheit nahe. Niemand wußte, wo sie sich aufhielt, und das war ein Segen. Sie schlief gut. Am Morgen tauschten sie Geschenke aus.

 

Der Zentralausschuß war im Ferienheim Stone Mountain zusammengetreten. Er bestand aus der neuen Vorsitzenden, Cynthia Wu, und den Ausschußmitgliedern Gareia-Meza, McIntyre, Kaufmann und De Valera. Gauss und Salazar waren auf einer Konferenz außer Landes, während der alte Saito zur Kur war. Und natürlich war Suvendra da, glücklich, Laura wiederzusehen, Nikotingummi kauend.

In letzter Zeit hatte sich die Tendenz, ländliche Abgeschiedenheit aufzusuchen, noch verstärkt. Atlanta war eine Großstadt. Es gab immer die geflüsterten Andeutungen, daß es zum Ziel eines Vergeltungsangriffs gemacht werden könnte.

Das Essen entsprach der Umgebung. Linsensuppe, Salat und Vollkornbrot. Freiwilligkeit, Einfachheit - sie alle aßen es und versuchten sich in elitärer Großherzigkeit.

Das Büro für Telekommunikation war ein Rückgriff auf Frank Lloyd Wright, ein durchbrochener Betonklotz mit Glaseinsätzen, unterhöhlt und mit versetzten Ebenen in strenger geometrischer Eleganz. Das Gebäude schien Mrs. Wu angemessen, die eine lehrerinnenhafte Engländerin über sechzig war und aus dem Unternehmenszweig Schiffbau kam.

»Dank unserer Kontakte«, erklärte sie, »bekommen wir diese Aufzeichnung drei Tage vor der Freigabe durch das Netz. Ich denke, diese Dokumentation kann als ein Schlußstein der politischen Arbeit dienen, die wir unter meinen Vorgängern leisteten. Ich schlage vor, daß wir diese Gelegenheit heute abend nutzen, um unsere Politik einer Neubewertung zu unterziehen. Im Rückblick erscheinen unsere früheren Pläne naiv, überdies sind sie bedenklich schiefgegangen.« Sie bemerkte De Valeras Hand. »Kommentar?«

»Was definieren Sie als Erfolg?«

»Wie ich mich erinnere, lief unsere ursprüngliche Strategie darauf hinaus, im Datenbereich der Steueroasen eine Verschmelzung zu fördern, um sie auf diese Weise in eine bürokratische Struktur zu manövrieren, die sich leichter beherrschen ließe - oder assimilieren, wenn Sie so wollen. Auf friedlichem Wege. Glaubt jemand hier, daß diese Politik auch wirksam gewesen sei?«

»Sie war wirksam gegen die EFT-Commerzbank«, sagte Kaufmann. »Obwohl ich zugebe, daß es nicht durch unsere Einwirkung geschah. Dennoch sind diese Leute jetzt durch gesetzliche Maßnahmen gefesselt. Harmlos.«

»Richtig«, sagte De Valera. »Hätten wir die wahre Natur der FAKT gekannt, wir hätten niemals gewagt, uns in die Auseinandersetzungen hineinziehen zu lassen. Andererseits haben die Datenpiraten verloren, während wir gewannen. Sogar unsere Naivität wirkte sich zu unserem Vorteil aus - zumindest kann niemand Rizome beschuldigen, wir hätten die FAKT unterstützt.«

»Mit anderen Worten, unser Erfolg war hauptsächlich Glück«, sagte Mrs. Wu. »Allerdings nicht für jene Rizome-Gesellschafter, die den Preis für unsere Abenteuerlichkeit zahlen mußten.« Sie brauchte nicht zu Laura zu blicken, um ihre Worte zu verdeutlichen.

»Gewiß«, erwiderte De Valera. »Aber unsere Motive waren nicht unehrenhaft, und wir kämpften für die gute Sache.«

Mrs. Wu lächelte. »Ich teile die Zufriedenheit darüber mit allen anderen. Aber ich hoffe, wir werden in der gegenwärtigen politischen Situation klarsichtiger handeln. Nun, da die Wahrheit bekannt ist und wir informierte Entscheidungen treffen können.« Sie setzte sich und gab das Zeichen zum Beginn.

Die Lichter erloschen, und der Bildschirm am Kopfende des Tisches flackerte auf. »Hier spricht Dianne Arbright vom 3N-Nachrichtendienst aus Tanger. Das Exklusivinterview, das Sie nun sehen und hören werden, kam unter Bedingungen großer persönlicher Gefahr für unsere 3N-Mannschaft zustande. In der Wildnis des algerischen Air-Gebirges, isoliert und ohne Unterstützung, waren wir wenig mehr als Geiseln in den Händen der berüchtigten Inadin-Kulturrevolution...«

»Wie ruhmsüchtig!« grollte Garcia-Meza.

»Ja«, sagte McIntyre aus der behaglichen gemeinschaftlichen Dunkelheit. »Ich wollte, ich wüßte, wer ihr Friseur ist.«

Es folgte die Aufzeichnung, begleitet von Arbrights Erzählung. Weiße Geländewagen holperten vorsichtig durch rauhes Bergland. Die Nachrichtenmannschaft in schneidigen Safarianzügen mit Hüten, Halstüchern und Wanderstiefeln.

Plötzlich ein Trupp Tuaregs mit ihren Leichtfahrzeugen, wie aus dem Nichts aufgetaucht. Die Expeditionswagen umringt, Waffen im Anschlag. Ungestelltes Erschrecken in den Gesichtern der Nachrichtenleute, ruckartiges Cinema verite. Kameras von schwieligen Händen blockiert.

Zurück zu Arbright, irgendwo in Tanger. »Wir wurden nach Funksignalgebern durchsucht, dann trotz unserer Proteste an Händen und Füßen gebunden, mit Augenbinden versehen und wie Schafe auf ihre Fahrzeuge verladen. Darauf wurden wir stundenlang durch eines der unwegsamsten und einsamsten Gebiete Afrikas transportiert. Die nächste Aufzeichnung, die Sie sehen werden, wurde inmitten einer ›befreiten Zone‹ der ICR aufgenommen. In dieser schwerbewachten, geheimen Bergfestung wurden wir schließlich zu dem sogenannten strategischen Genius der ICR gebracht - dem ehemaligen Oberst der Kommandotruppen Jonathan Gresham.«

Die Aufzeichnung nahm ihren Fortgang. Den Zuschauern stockte der Atem. Eine Höhle, unbearbeitete Wände, aus dem anstehenden Fels gesprengt, an Drähten herabhängende Glühbirnen. Arbright saß im Schneidersitz auf einem Teppich, den Rücken der Kamera zugekehrt.

Vor ihr saß Gresham, verschleiert, mit Turban und in seiner indigofarbenen Djellabah. Sein massiger Kopf und die Schultern waren eingerahmt von der hohen halbrunden Lehne eines Korbsessels. Hinter ihm standen links und rechts zwei Tuaregleutnants mit umgehängten Sturmgewehren, Patronengurten, zeremoniellen Tuaregsäbeln mit juwelenbesetzten Griffen und Quasten an den Säbelscheiden, Dolchen, Handgranaten, Pistolen.

»Stellen Sie Ihre Fragen«, sagte Gresham.

Mrs. Wu hielt die Aufzeichnung an. »Laura, Sie kennen sich dort aus. Ist er es?«

»Er ist es«, sagte Laura. »Er ist in einer Wäscherei gewesen, aber es ist Jonathan Gresham.«

»Sehen sie immer so aus?« fragte De Valera.

Laura lachte. »Das wird wohl ihr Sonntagsstaat sein. Diese Säbel und Dolche - sie haben alles bis auf Fliegenklatschen. Gresham versucht sie mit Wodu zu beeindrucken.«

»Ich habe nie eine furchterregendere Gestalt gesehen«, sagte Mrs. Wu. »Warum verbirgt er sein Gesicht? Sein Foto muß sowieso irgendwo archiviert sein.«

»Er trägt den tagelmoust«, sagte Laura. »Diesen Schleier und Turban - es ist das traditionelle Kleidungsstück männlicher Tuaregs. Eine Art Tschador für Männer.«

»Mal was anderes«, sagte McIntyre mit betonter Leichtigkeit. Auch sie war eingeschüchtert.

»Danke, Oberst Gresham.« Arbrights Stimme verriet, daß sie mitgenommen war, aber sie schien entschlossen, es durchzustehen. Eine Frau vom Fach. »Lassen Sie mich mit der Frage beginnen, warum Sie diesem Interview zugestimmt haben.«

»Sie meinen, warum Sie - oder warum überhaupt?«

»Fangen wir damit an: warum überhaupt?«

»Ich weiß, was in Ihrer Welt geschehen ist«, sagte Gresham. »Wir haben das Doppelspiel der Wiener hochgehen lassen, und das Netz möchte wissen, warum. Was haben wir davon? Wer sind wir, was wollen wir? Wenn das Netz etwas wissen will, schickte es seine Armee - Journalisten. Also gebe ich dieses eine Interview. Ich verlasse mich auf Sie, daß Sie die anderen vor Nachahmungen warnen.«

»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen folgen kann, Oberst. Ich kann nicht für meine Medienkollegen sprechen, aber ich bin gewiß kein Soldat.«

»Die Regierung von Mali hat uns einen Vernichtungskrieg geliefert. Wir verstehen das. Wir verstehen auch die weitaus heimtückischere Bedrohung, die Sie darstellen, mit Ihren Armeen von Kameraleuten. Wir wollen Ihre Welt nicht. Wir respektieren Ihre Werte nicht, und wir legen keinen Wert auf Kontakte. Wir sind keine Touristenattraktion - wir sind eine revolutionäre Bewegung, kein Zoo. Wir werden uns nicht zähmen oder assimilieren lassen. Durch Ihre bloße Natur, durch Ihre bloße Gegenwart würden sie uns Assimilation aufzwingen. Das wird nicht erlaubt.«

»Oberst, Sie sind selbst Journalist gewesen, ebenso wie Sie Soldat waren, und… ah… Kulturtheoretiker. Sie müssen sich des allgemeinen Interesses an Ihrer Person und Ihren Aktivitäten bewußt sein.«

»Ja, das bin ich. Darum rechne ich damit, diese Wüste in den kommenden Jahren mit den Gebeinen Ihrer Kollegen zu übersäen. Aber ich bin Soldat - kein Terrorist. Wenn unsere Feinde - Ihre Kollegen - in unseren befreiten Zonen getötet werden, dann werden sie in Kenntnis der Ursache sterben. Das heißt, vorausgesetzt, daß ich Ihnen vertrauen kann, Ihre Arbeit zu tun.«

»Ich werde Sie nicht zensieren, Oberst. Ich bin auch nicht Wien.«

»Ja - ich weiß das. Ich weiß, daß Sie die Berichterstattung über den Terrorangriff auf Grenada über die von Wien gesetzten Grenzen hinausgetrieben haben, mit einigem Risiko für Ihre Karriere. Darum habe ich mich für Sie entschieden - Sie haben Rückgrat.«

Der zweite Kameramann war jetzt in Stellung gegangen und konnte Arbright aufnehmen. Sie lächelte Gresham an, mit Grübchen. Laura wußte, wie ihr zumute war. Sie war jetzt ziemlich gut mit Arbright befreundet. Hatte auch ein Interview mit ihr gemacht, ein gutes. Und sie wußte sogar den Namen von Arbrights Friseur.

»Oberst, ist Ihnen bekannt, daß Ihr Buch über die LawrenceDoktrin inzwischen ein Bestseller ist?«

»Es wurde als Raubdruck verbreitet«, sagte Gresham. »Und durch Streichungen gereinigt. Ich hatte mit alledem nichts zu tun.«

»Könnten Sie die Doktrin mit kurzen Worten unseren Zuschauern erläutern?«

»Es wird vorzuziehen sein, daß sie sie lesen«, sagte Gresham zögernd. Mit gespieltem Widerwillen, dachte Laura. »Vor mehr als einem Jahrhundert entdeckte Lawrence - er war britischer Offizier im Ersten Weltkrieg -, wie eine Stammesgesellschaft sich gegen imperialistische Fremdherrschaft verteidigen kann. Der Aufstand der Araber brachte die türkische Fremdherrschaft auf der arabischen Halbinsel ins Wanken. Sie bewerkstelligten dies mit Guerillaüberfällen auf Eisenbahnlinien und Telegrafenstationen. Um erfolgreich zu sein, waren die Araber jedoch gezwungen, Industrieprodukte zu verwenden, nämlich Schießpulver, Dynamit und Konserven. Die bekamen sie über Lawrence von den Engländern. Für uns ist es Sonnenenergie, Plastiksprengstoff und Einzellerprotein.«

Er machte eine Pause. »Die Araber begingen den Fehler, den Briten zu vertrauen, die keine geringeren, sondern noch schlimmere Imperialisten waren als die Türken. Der Erste Weltkrieg ging zu Ende, und die Araber wurden beiseite gestoßen. Bis das Öl gefunden wurde - dann wurden sie assimiliert. Tapfere Anstrengungen wie die Islamische Revolution im Iran 1979 und die Bewegung des Islamischen Fundamentalismus waren zu schwach und kamen zu spät… sie kämpften bereits für die Medien.«

»Oberst, Sie sprechen, als erwarteten Sie nicht, daß jemand mit Ihren Zielen sympathisieren könnte.«

»Ich rechne nicht damit, nein. Sie leben nach Ihrem System. Die Wiener Konvention, die FAKT, Südafrika - es ist alles die gleiche imperialistische Maschinerie, nur verschiedene Markennamen.«

»Der britische Politologe Irwin Craighead hat Sie als den ›ersten glaubwürdigen rechten Intellektuellen seit T. E. Lawrence‹ bezeichnet.«

»Ich bin ein postindustrieller Stammesanarchist«, erwiderte Gresham. »Wird das heutzutage als ›rechts‹ bezeichnet? Wundern sollte es mich nicht. Aber da werden sie Craighead fragen müssen.«

»Ich bin überzeugt, daß Sir Irwin gern bereit sein würde, über Definitionen zu diskutieren.«

»Ich gehe nicht nach England - und wenn er versucht, in unsere Zonen einzudringen, wird er angegriffen wie jeder andere.«

Mrs. Wu hielt die Aufzeichnung an. »Diese Litanei der Todesdrohungen ist sehr ärgerlich.«

»Arbright hat ihn auf die Palme gebracht«, sagte De Valera mit schadenfrohem Lächeln. »Ein typischer Rechter - voll von Ungereimtheiten!«

»He!« entgegnete Garcia-Meza. »Sie müssen reden, De Valera - Sie und Ihr sozialistisches Binnengeldsystem…«

»Bitte fangen Sie nicht wieder damit an«, sagte Kaufmann. »Jedenfalls ist er interessant, nicht wahr? Er hat alle Chancen, er könnte es zu Geld und Ansehen bringen, oder er könnte ein Held sein - nicht für jeden vielleicht, aber für genug von uns -, und er bleibt nicht nur dort draußen in der Hölle, sondern er hat sich in den Kopf gesetzt, die traditionelle Lebensweise und Identität dieser Tuaregs zu retten. Und er hat diese anderen armen Teufel überredet, mit ihm gemeinsame Sache zu machen!«

»Seine Ideologie hat Sogwirkung«, sagte De Valera. »Wenn er bloß ein Wüsteneremit sein wollte, könnte er nach Arizona ziehen und aufhören, seine Telefonrechnungen zu bezahlen. Aber er will eben mehr, und damit fängt es immer an: Luftabwehrraketen, Minen, Panzerfäuste, Maschinengewehre.«

»Darin stimme ich De Valera zu«, sagte McIntyre. »Und ich sehe noch immer nicht, was die russische Raumstation damit zu tun hat.«

»Er weiß nicht recht, ob richtig ist, was er tut«, sagte Laura. »Er möchte von uns so verschieden sein, wie er kann, aber er kann sein Herkommen nicht abschütteln. Ich nehme an, er leidet unter diesem Zwiespalt, der vielleicht eine Art Selbsthaß in ihm erzeugt.«

»Lassen wir ihn reden«, sagte Garcia-Meza.

Die Aufzeichnung lief weiter. Arbright fragte Gresham über die FAKT. »Das Regime in Mali ist erledigt«, sagte Gresham, »auch wenn es das noch nicht weiß. Das U-Boot ist nur ein Detail.« Darauf kam er wieder auf den Imperialismus zu sprechen, diesmal auf den südafrikanischen. Er erläuterte, wie man Straßen verminen, Konvois überfallen und Kommunikationsverbindungen unterbrechen könne, bis expansionistische Bestrebungen ›wirtschaftlich nicht mehr tragbar‹ seien.

Von Arbright auf seine Zukunftspläne angesprochen, fing er an, über die mögliche Heilung der Sahelzone zu dozieren. »Landwirtschaft ist die älteste der Biotechniken der Menschheit, und in Trockengebieten ist sie die zerstörerischste und mithin verwerflichste. Die Folgen sehen wir heute in den ausufernden Elendsvierteln der Städte und in den Flüchtlingslagern des Sahel. Statt die entwurzelte Landbevölkerung in Lagern vegetieren zu lassen, sollte sie über Ursachen und Wirkungen des Feldbaus und der Viehhaltung in Trockengebieten aufgeklärt werden. Statt Riesensummen in verfehlte Bewässerungsprojekte zu stecken, sollten wandernde Stämme ausgebildeter, motivierter und dezentral arbeitender Ökoaktivisten die Selbstheilungskräfte der Natur unterstützen…«

»Er ist kein Realist«, sagte De Valera.

»Ich glaube, darin sind wir uns einig«, sagte Mrs. Wu. Sie schaltete den Ton aus. »Die Frage ist, welche Politik sollen wir verfolgen? Stellt Gresham für uns eine geringere Bedrohung dar als Grenada oder Singapur? Er kultiviert zweifellos ein aggressives Gehabe.«

»Grenada und Singapur waren Piraten und Parasiten«, sagte Laura. »Gestehen Sie ihm zu, daß er nur in Ruhe gelassen sein will.«

»Kommen Sie«, sagte De Valera. »Was ist mit all dem HighTech-Material? Das hat er nicht bekommen, indem er einheimisches Kunsthandwerk verkauft hat.«

»Aha!« sagte Garcia-Meza. »Das ist seine schwache Stelle.«

»Warum sollten wir jemanden behelligen, der die FAKT bekämpft hat und weiter bekämpft?« sagte Suvendra. »Und wenn die seine Leute nicht besiegen oder auch nur einschüchtern konnte, könnten wir es dann?«

»Ein gutes Argument«, sagte Mrs. Wu. Sie sahen, wie Gresham sich in seinem Sessel zurücklehnte und dem Leutnant zu seiner Linken einen Befehl gab. Der Tuareg salutierte und schritt aus dem Bild.

»Er ist in einer Wüste, die niemand will«, sagte Suvendra. »Warum ihn zwingen, gegen uns vorzugehen?«

»Was, zum Teufel, könnte er uns anhaben?« sagte De Valera. »Er ist ein Maschinenstürmer.«

Laura schreckte auf. »Können Sie die Aufzeichnung noch einmal zurückspulen? Ich glaube, dieser Mann, der eben aus dem Kamerabereich ging, war Sticky Thompson.«

Eine Bewegung ging durch den Raum. Mrs. Wu ließ die Aufzeichnung noch einmal ablaufen. »Ja«, sagte Laura. »Dieser Gang, dieses Salutieren. Er muß es sein, unter diesem Schleier. Sticky - Nesta Stubbs. Natürlich - wohin sonst sollte er sich wenden? Ich fragte mich schon, was aus ihm geworden sein mochte.«

»Das ist schrecklich«, sagte De Valera.

»Nein, der Meinung bin ich nicht«, versetzte Laura. »Er ist mit Gresham in der Sahara. Er ist nicht hier.«

»Ach du lieber Gott«, sagte McIntyre. »Wenn ich daran denke, daß ich nachts nicht schlafen kann, weil ich mir Sorgen wegen der Atombomben mache… Wir sollten sofort Wien verständigen.«

Sie starrten McIntyre an. »Kluger Schachzug«, meinte De Valera nach einer Pause. »Wien. Ha. Das wird ihm wirklich Angst einjagen.«

Mrs. Wu rieb sich die Stirn. »Was machen wir jetzt?«

»Ich denke mir«, sagte Laura, »daß wir seine Nachschublinien schützen könnten, so daß niemand sonst ihn behelligt! Und ich kenne ein Versorgungsgut, das ihm mehr als alles andere bedeuten muß. Eiserne Kamele von GoMotion. Das ist ein Unternehmen in Santa Clara, Kalifornien. Wir sollten uns erkundigen.«

»Rizome-GoMotion«, sagte McIntyre. »Klingt nicht schlecht.«

»Gut«, sagte Garcia-Meza. »Er ist verwundbar, wie ich sagte. Transportmittel - das würde uns Einfluß auf ihn geben.«

»Wir könnten besser beraten sein, ihn ganz zu vergessen«, sagte De Valera. »Es ist heiß in der Sahara. Vielleicht werden sie alle verdunsten.«

»Niemand, der ihn am Bildschirm gesehen hat, wird jemals Gresham vergessen«, sagte Laura: »Die Leute vergessen nie, was sie nicht haben können… Wir sollten diese Firma übernehmen.« Sie blickte in die Runde der Gesichter, in denen sich die wechselnde Helligkeit des Bildschirms widerspiegelte. »Sehen Sie die Möglichkeiten nicht? Eiserne Kamele - der Jonathan-Gresham-Look. Jeder, der gern den harten Naturburschen und Abenteurer spielt, jeder rauhbeinige Individualist, jeder närrische Querfeldeinfahrer auf der Welt wird so ein Ding haben wollen. In sechs Monaten wird Arizona von Verrückten in tagelmousts aus Nylon wimmeln, die mit den Dingern herumkutschieren und sich den Hals brechen.« Sie stützte den Kopf in die Hände. »Und dagegen kann er nichts machen.«

»Könnte ein Millionengeschäft werden«, überlegte De Valera. »Ja, ich würde darauf setzen.« Er blickte auf. »Wann wird diese Aufzeichnung gesendet?«

»In drei Tagen.«

»Können wir in dieser Zeit etwas unternehmen?«

»In Kalifornien? Sicher«, sagte Mrs. Wu. »Wenn wir uns gleich daranmachen.«

Also machten sie sich gleich daran.

 

Laura räumte ihre Küche auf, als es läutete. Sie öffnete, und Charles Cullen, der frühere Vorsitzende des Zentralausschusses, stand in einer blauen Latzhose draußen im Korridor.

»Mr. Cullen«, sagte sie überrascht. »Ich wußte nicht, laß Sie wieder in Atlanta sind.«

»Nur ein Besuch bei alten Freunden. Tut mir leid, laß ich nicht vorher anrief, aber das neue Telefonprotokoll… Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus.«

»Nein, es freut mich, Sie zu sehen. Kommen Sie herein.« Sie küßten sich kurz auf beide Wangen, dann sah er sie an und grinste plötzlich. »Sie haben es noch nicht gehört, wie?«

»Was gehört?«

»Sie haben die Nachrichten nicht gesehen?«

»Schon seit Tagen nicht«, sagte Laura und warf Zeitschriften von der Couch, um Platz zu machen. »Ich kann es nicht ertragen - zu deprimierend, zu unheimlich.«

Cullen lachte laut auf. »Sie haben Hiroshima mit einem Nuklearsprengkopf angegriffen«, sagte er.

Laura wurde weiß und tastete nach der Couch.

»Langsam«, sagte er. »Sie vermurksten es! Das Ding ging nicht los!« Er schob ihr den Sessel hin. »Hier, Laura, setzen Sie sich, tut mir leid… Sie ist nicht explodiert! Liegt im Garten eines Teehauses in der Innenstadt. Tot, nutzlos. Er kam aus dem Himmel geflogen - taumelnd, sagten die Augenzeugen -, schlug im Garten ein und liegt dort in der Erde. In großen Stücken.«

»Wann ist das passiert?«

»Vor zwei Stunden. Schalten Sie den Fernseher ein!«

Sie tat es. Es war zehn Uhr am Vormittag, Hiroshima-Zeit. Ein schöner sonniger Wintermorgen. Sie hatten die ganze Gegend abgesperrt. Gelbe Anzüge, Masken, Geigerzähler. Gute Hubschrauberaufnahmen vom Schauplatz des Geschehens. Der Garten gehörte zu einem kleinen Teehaus aus Holz und Keramik, und das Geschoß lag zerbrochen dort. Das meiste davon war der Raketenmotor, geplatzte Kupferrohre, zerrissener und verbogener Stahl.

Sie schaltete den Ton aus. »Ist das Ding nicht voll Plutonium?«

»Den Sprengkopf haben sie als erstes herausgeholt. Intakt. Sie glauben, daß der Zünder versagte. Konventioneller Sprengstoff. Das wird jetzt untersucht.«

»Diese verfluchten Lumpen!« schrie Laura plötzlich und hieb auf den Kaffeetisch. »Wie konnten sie Hiroshima auswählen?«

Cullen setzte sich auf die Couch. Anscheinend war er außerstande, sein Grinsen einzustellen. Halb Erheiterung, halb verdrehte nervöse Furcht. Es war sonst nicht seine Art. Die Krise brachte in jedem die bizarren Züge zum Vorschein. »Perfekte Wahl«, sagte er. »Groß genug, um zu zeigen, daß es einem ernst ist - klein genug, um Zurückhaltung zu beweisen. Sie evakuieren jetzt Nagasaki.«

»Mein Gott, Mr. Cullen!«

»Nennen Sie mich doch Charlie«, sagte er. »Haben Sie was zu trinken?«

»Wie? Klar. Gute Idee.« Sie öffnete die Hausbar.

»Sie haben Drambuie!« sagte Cullen, in die Inspektion der Flaschenetiketten vertieft. Er nahm zwei Likörgläser heraus, schenkte ein und vergoß klebrige Tropfen auf den Kaffeetisch. »Hoppla.«

»Gott, das arme Japan.« Sie nippte. Es war ihr nicht möglich, ihre Gedanken zurückzuhalten. »Das bedeutet, daß sie uns auch kriegen können.«

»Sie werden niemanden kriegen«, sagte er und trank ihr zu. »Die ganze Welt ist hinter ihnen her. Sonargeräte, Flugzeuge - das ganze Ostchinesische Meer wird durchgekämmt. Die Flugbahn der Rakete wurde in ihrer letzten Phase vom Flughafenradar aufgezeichnet, man kann sie also zurückverfolgen…« Seine Augen glänzten. »Dieses U-Boot wird es nicht mehr lange machen. Ich habe es im Gefühl.«

Sie füllte die Gläser auf. »Tut mir leid, es ist nicht viel übrig.«

»Was haben wir noch?«

Sie zog ein Gesicht. »Pflaumenwein. Und etwas Sake.«

»Klingt großartig«, sagte er mechanisch, den Blick auf das Fernsehbild fixiert. »Wir können nichts bringen lassen. Hier in Ihrer Wohnung ist es still… aber glauben Sie mir, draußen wird die Hölle los sein.«

»Ich habe ein paar Zigaretten«, bekannte sie.

»Zigaretten! Ich glaube nicht, daß ich eine geraucht habe, seit ich ein kleiner Junge war.«

Sie nahm die Schachtel hinten aus der Hausbar und zog ihren alten Aschenbecher hervor.

Er sah vom Fernseher weg - der hatte umgeschaltet auf eine öffentliche Erklärung des japanischen Ministerpräsidenten.

Bedeutungslose Galionsfigur. »Es tut mir leid«, sagte er. »Ich wollte nicht so bei Ihnen hereinplatzen. Ich war hier im Gebäude, bevor ich die Nachricht hörte und… Tatsächlich hatte ich gehofft, daß wir miteinander reden könnten… in Ruhe, wissen Sie.«

»Nun, dann reden Sie nur! Denn ich glaube, andernfalls bekomme ich einen Anfall.« Sie erschauerte. »Ich bin froh, daß Sie hier sind, Charlie. Es wäre mir schrecklich, dies allein sehen zu müssen.«

»Ja - mir auch. Danke, daß Sie das sagten.«

»Ich nehme an, Sie würden lieber bei Doris sein.«

»Doris?«

»Das ist doch der Name Ihrer Frau, nicht? Oder erinnere ich mich falsch?«

Er zog die Brauen hoch. »Laura, Doris und ich leben seit zwei Monaten getrennt. Wenn wir noch zusammen wären, hätte ich sie mitgebracht.« Er starrte zum Fernseher. »Schalten Sie aus!« sagte er plötzlich. »Ich kann mich nur mit einer Krise auf einmal beschäftigen.«

»Aber…«

»Ach, es hat mit dem Unternehmen zu tun. Außer Kontrolle.«

Sie schaltete den Fernseher aus. Die plötzliche Abwesenheit des Netzes war, als hätte man ihr ein Stück aus dem Gehirn genommen.

»Beruhigen Sie sich«, sagte er. »Armen Sie tief durch. Zigaretten sind sowieso schlecht für uns.«

»Ich wußte nichts von der Sache mit Ihrer Frau. Tut mir leid.«

»Es ist die Degradierung«, sagte er. »Solange ich Vorsitzender war, war alles gut und schön, aber sie konnte den Rücktritt nicht verkraften. Ich meine, sie wußte, daß es so kommen würde, das ist üblich, aber…«

Sie musterte seine blaue Latzhose. Sie war an den Knien abgewetzt. »Ich glaube, sie treiben es mit diesem Degradierungsritual ein bißchen zu weit… was müssen Sie tun, hauptsächlich?«

»Ich bin im Altersheim. Betten frisch beziehen, Erinnerungen erzählen, bald dies und bald das. Nicht so schlecht. Gibt einem Abstand vom Alltagsgeschehen, die langfristige Perspektive.«

»Das ist eine sehr korrekte Einstellung, Charlie.«

»Glaube ich auch«, sagte er. »Die Leute sind jetzt besessen von dieser Bombenkrise, aber die langfristige Perspektive ist immer noch da, wenn man weit genug zurücktreten kann, um sie zu sehen. Grenada und Singapur… sie hatten abenteuerliche Vorstellungen, kümmerten sich um keine Spielregeln, aber wenn wir klug und sehr vorsichtig sind, könnten wir diese Art von radikalem Potential vernünftig einsetzen. Zuerst gibt es eine Menge in Ordnung zu bringen… vielleicht mehr, als wir bewältigen können, wenn diese Teufel uns bombardieren… aber eines Tages…«

»Eines Tages - was?«

»Ich weiß wirklich nicht, wie ich es nennen soll… Eine echte, grundlegende Verbesserung der menschlichen Befindlichkeit.«

»Davon könnte ich was gebrauchen«, sagte Laura und lächelte ihn an. Der Gedanke gefiel ihr. Auch Charlie Cullen gefiel ihr, weil er inmitten der losbrechenden Hölle die langfristige Perspektive herausgestellt hatte. Tatsächlich war es die allerbeste Zeit dafür. »Gefällt mir«, sagte sie. »Es muß interessante Arbeit sein. Wir könnten gelegentlich darüber reden. Über das Netz.«

»Das fände ich schön. Wenn ich wieder im Drang der Geschäfte bin«, sagte er. Er machte ein verlegenes Gesicht. »Es macht mir nichts aus, eine Weile außerhalb zu stehen. Ich habe die Sache nicht gut gehandhabt. Die Macht… Sie sollten das wissen, Laura. Besser als sonst irgendwer.«

»Sie haben Ihre Sache sehr gut gemacht, das sagen alle. Sie sind nicht dafür verantwortlich, was mir zustieß. Ich ging mit sehenden Augen hinein.«

»Gott, es ist wirklich nett von Ihnen, das zu sagen.« Er schaute auf den Boden. »Ich fürchtete dieses Gespräch… das heißt, Sie waren freundlich und nett, wenn wir zusammenkamen, aber ich wußte nicht, wie Sie es hinnehmen würden.«

»Nun, es ist unsere Arbeit! Was wir tun, was wir sind.«

»Sie glauben wirklich daran, wie? An die Gemeinschaft.«

»Ich muß. Es ist alles, was mir geblieben ist.«

»Ja«, sagte er. »Mir auch.« Er lächelte. »So schlecht kann es nicht sein, wenn wir beide darin sind. Auf die Solidarität, Laura!«

»Auf die Solidarität!« Sie stießen an und tranken den letzten Drambuie.

»Er ist gut«, sagte er. Er sah sich um. »Hübsche Wohnung.«

»Ja… sie halten die Journalisten fern. Ich habe auch einen hübschen Balkon. Mögen Sie Höhen?«

»Ja, was ist dies hier, vierzigster Stock? Ich kann diese Hochhäuser in Atlanta nie auseinanderhalten.« Er stand auf. »Ich könnte etwas frische Luft gebrauchen.«

»Gut.« Sie ging auf die Balkontür zu; die Doppeltür öffnete sich automatisch, und sie standen auf dem Balkon und blickten hinab zur fernen Straße.

»Eindrucksvoll«, sagte er. Gegenüber stand ein weiterer Wolkenkratzer, Stockwerk über Stockwerk, da und dort mit offenen Vorhängen, flimmernden Fernsehgeräten. Der Balkon über ihnen war offen, und sie konnten von irgendwo den Ton der Fernsehübertragung hören.

»Es ist gut, hier zu sein«, sagte er. »Ich werde an diesen Augenblick denken, wo ich war, was ich tat. Nun, das wird jeder tun. In späteren Jahren. Für den Rest unseres Lebens.«

»Ich glaube, Sie haben recht.«

»Entweder wird es zum Schlimmsten kommen, oder etwas wird endgültig zu Ende gehen.«

»Ja… Ich hätte die Sakeflasche herausbringen sollen.« Sie lehnte am Geländer. »Sie würden mir keinen Vorwurf daraus machen, Charlie, nicht wahr? Wenn es zum Schlimmsten käme? Denn ich hatte Teil daran. Ich wirkte daran mit.«

»Ist mir nie in den Sinn gekommen.«

»Ich bin nur eine Person, aber ich tat, was in meinen Kräften stand.«

»Mehr als das kann niemand verlangen.«

Von einem oberen Geschoß drang ein tierischer Aufschrei an ihre Ohren. Freude, Wut, Schmerz, es war schwer zu unterscheiden. »Das war's«, sagte er.

Menschen strömten auf die Straßen. Sie sprangen aus Fahrzeugen, rannten durcheinander. Ein entferntes Krabbeln und Strömen von Anonymität: die Menge.

Hupen ertönten, Menschen umarmten einander. Fremde küßten sich. Gegenüber wurden Fenster aufgestoßen.

»Sie haben sie«, sagte er.

Laura blickte hinunter zur Menge. »Alle sind so glücklich«, sagte sie.

Er hatte den Verstand, nichts zu sagen. Er streckte nur die Hand aus.