9. Kapitel
Es war gigantisch und lebendig, verspritzte Seewasser mit scharfen pneumatischem Zischen und einem tiefen, vibrierenden Summen. Laura hörte Drohnen in der Dunkelheit vorbeibrummen und zur Landung auf dem Deck ansetzen. Böse, gefährliche Geräusche. Sie konnte die Maschinen nicht sehen, wußte aber, daß diese sie sahen, erhellt durch ihre eigene Körperwärme.
Das Schlauchboot stieß sanft gegen den Rumpf, die Seeleute stiegen an einer abnehmbaren Strickleiter den dunklen, nach oben zurückgebogenen Rumpf hinauf. Henderson beobachtete sie, dann wischte er sich nasses Haar aus den Augen und faßte Laura beim Arm.
»Machen Sie keine Dummheiten«, schärfte er ihr ein. »Schreien Sie nicht, machen Sie kein Theater! Ich habe Ihnen das Leben gerettet. Also setzen Sie mich nicht in Verlegenheit. Denn in dem Fall werden Sie sterben.«
Er schickte sie die Leiter hinauf, bevor er ihr folgte. Die Rungen waren schlüpfrig, der glatte Stahlrumpf unter ihren bloßen Füßen kalt von Tiefenwasser. Das Deck erstreckte sich scheinbar endlos in wasserumspülte Dunkelheit. Hinter ihr ragte der Kommandoturm zehn Meter hoch in die Nacht. Seinem Gipfel entsprossen lange, fühlerartige Antennen.
Auf dem Deck stand ein Dutzend Matrosen in eleganten ausgestellten Hosen und Blusen mit Goldlitzen an den Manschetten. Sie nahmen die gelandeten Drohnen in Empfang, klappten die Tragflügel ein und schoben sie durch eine Reihe gähnender Luken ins Innere. Sie bewegten sich eigentümlich, wie auf Zehenspitzen und mit eingezogenen Schultern, als fänden sie die leere Nacht ringsum bedrückend.
Die Schlauchbootbesatzung zog ihr Fahrzeug an zwei Leinen Hand über Hand fachmännisch an Bord, hängte den Außenbordmotor aus und öffnete die Luftventile. Dann trampelte sie die Luft in einem verrückten Sombrerotanz heraus, um die zusammengelegte nasse Gummimasse schließlich in einen Seesack zu stopfen.
In ein paar Minuten war alles getan. Sie kletterten wieder in ihren riesigen stählernen Bau hinab, wie Ratten. Indessen trieb Henderson Laura vor sich her zu einer Luke, die eine viereckige Vertiefung bedeckte. Sie sank unter ihren Füßen abwärts. Die Luke schlug mit einem dumpfen Schlag und quietschender Hydraulik über ihnen zu.
Vom Aufzugschacht kamen sie in ein weitläufiges, zylindrisches Lagerhaus, das von gelben Glühbirnen erhellt wurde. Es bestand aus zwei Ebenen: einer unteren, auf der sie stand und die aus Eisenblech zu bestehen schien, und einer oberen aus perforiertem Stahlblech. Es war ein höhlenartiger Raum, mindestens siebzig Meter lang; alle drei Meter befanden sich rechts und links die massiven Rundungen von Aufzugschächten, deren Durchmesser drei Meter betragen mußte, stählerne Silos, deren Außenseiten mit Kraftstromkabeln und allerlei Instrumenten besetzt waren. Wie Biotanks, dachte sie, große Fermentierbehälter.
Zwei Dutzend Seeleute wanderten mit Schaumsohlen an den Schuhen fast lautlos auf den schmalen Laufgängen zwischen den Silos. Sie arbeiteten in wortkarger Konzentration an den Drohnen. Es roch nach heißem Maschinenöl und verschossener Munition. Verwirrte Assoziationen mit Krieg und Industrie und Kirche stellten sich ein.
Die Innenwände waren himmelblau gestrichen, die Rohrleitungen indigoblau. Henderson zog sie weiter.
Im Gehen berührte Laura die kalte Latexoberfläche einer Röhre. Jemand hatte sie in präziser Kleinarbeit mit fünfzackigen Sternen, Kometen mit Comicheft-Schwänzen und kleinen, gelb umringten Saturnen bemalt. Wie Surfbrettkunst. Verträumt und billig.
Einige Silos waren aufgeschweißt und behängt mit geheimnisvollen Reparaturwerkzeugen - sie waren für den Start von Drohnen ausgerüstet. Die anderen waren älter und sahen intakt aus. Dienten offenbar noch immer ihrer ursprünglichen Funktion, von welcher Art diese auch sein mochte.
Henderson drehte das Handrad in der Mitte eines wasserdichten Schotts. Die Türversiegelung öffnete sich mit einem Geräusch wie eine Thermosflasche, und sie stiegen gebückt durch. In einen sargähnlichen Raum, der mit schalldämpfenden Oberflächen, die an Eierkartons erinnerten, ausgekleidet war.
Laura fühlte, wie der Boden sich unter ihren Füßen neigte. Ein flußartiges Rauschen von Ballasttanks und entferntes Summen von Motoren. Das U-Boot tauchte. Bald darauf begann ein beängstigender Schrottplatzchor aus rauhem Knirschen, Knacken, einem Klingen von Glasflaschen und dem hohlen Ächzen von Metall, als der Wasserdruck auf die Außenhaut zu wirken begann.
Durch den Raum in einen weiteren, der von reinweißem Licht durchflutet war. Überscharfe Leuchtstoffröhren waren über ihnen, das seltsam laserähnliche Licht von DreibandenQuecksilberdampflampen, das allen Gegenständen einen scharfen Überrealismus verlieh. Eine Art Kontrollraum, mit einer Überfülle von Maschinerien und Instrumenten. Breite, geneigte Konsolen mit Reihen von Schaltern, blinkenden Ablesungen, verglasten Skalen mit zuckenden Anzeigenadeln. Vor ihnen saßen Seeleute mit kurzem, ordentlichem Haarschnitt in üppig gepolsterten Drehsesseln.
Der Raum war voll von Besatzungsmitgliedern - Laura sah immer mehr, je länger sie umherblickte: Ihre Köpfe schauten aus dichten Bündeln von Rohrleitungen und Monitoren hervor. Der Raum war vom Boden bis zur Decke mit Geräten und Instrumenten vollgestopft, und sie konnte die Wände nicht finden. Die Männer darin saßen Ellbogen an Ellbogen, eingepaßt in geheimnisvolle ergonomische Nischen.
Die Beschleunigung setzte ein; Laura wankte ein wenig. Irgendwo war ein schwaches, hohes Winseln und ein flüssiges Erzittern, als die gewaltige Stahlmasse Geschwindigkeit aufnahm.
Vor ihr war eine vertiefte Fläche von der Größe einer Badewanne. Darin saß ein Mann, der dicke, gepolsterte Kopfhörer trug und eine Art Steuerrad mit knopfartigen Verdickungen hielt. Er glich einer Kinderpuppe, die umringt war von kostspieligen Stereoausrüstungen. Über seinem Kopf war eine graue Gummifassung mit einer beulenartigen Verdickung und der Aufschrift KOLLISIONSSCHUTZLAMPE AUF BLINKLICHT SCHALTEN. Der Mann starrte angespannt auf ein halbes Dutzend runder Anzeigeskalen.
Das mußte der Steuermann sein, dachte Laura. Aus einem getauchten U-Boot konnte man nicht hinausschauen. Er hatte nur seine Instrumente.
Sie hörte Schritte auf einer gebogenen Treppe im Hintergrund - jemand kam vom Oberdeck herunter. »Hesseltine?«
»Yo!« sagte Henderson munter. Er zog Laura am Handgelenk mit sich, und sie stieß mit dem Ellbogen schmerzhaft an eine vertikale Säule. »Los, kommen Sie«, sagte er, ohne ihre Hand loszulassen.
Sie wanden sich durch das Labyrinth, um ihren Vernehmer zu treffen. Der Mann war beleibt, mit schwarzem Lockenhaar, einem Schmollmund und schweren Lidern, die in seine Augen hingen. Er trug Achselstücke, goldene Streifen an den Ärmeln und eine Schirmmütze mit der goldenen Beschriftung REPUBLIQUE DE MALI. Er schüttelte Henderson/Hesseltine die Hand. Zu Lauras Verdruß begannen die beiden in fließendem Französisch miteinander zu sprechen.
Gemeinsam erstiegen sie die Wendeltreppe und gingen einen langen, trübe erhellten, stickigen Korridor entlang. Hesseltines durchnäßte Schuhe quietschten bei jedem Schritt. Die beiden Männer schwatzten französisch miteinander, mit Begeisterung, wie es schien.
Der Offizier führte sie zu einer Reihe enger Duschkabinen. »Großartig«, sagte Hesseltine, trat in eine und zog Laura nach. Zum ersten Mal ließ er ihr Handgelenk los. »Sind Sie imstande, selbst eine Dusche zu nehmen, Mädchen? Oder muß ich helfen?«
Laura starrte ihn stumm an.
»Entspannen Sie sich«, sagte Hesseltine und öffnete den Reißverschluß seiner Arbeitsweste. »Sie sind jetzt nicht mehr bei den bösen Buben, sondern bei den guten. Sie werden uns neue Sachen zum Anziehen bringen. Später werden wir etwas essen.« Er lächelte ihr zu, sah, daß es nicht wirkte, und musterte sie mit verdüsterter Miene. »Hören Sie, was hatten Sie auf diesem Schiff zu suchen? Sie sind doch nicht zur Datenpiratin geworden, nicht wahr? Eine Art Doppelagentin?«
»Nein, natürlich nicht!«
»Haben Sie einen besonderen Grund, diese Verbrecher zu bemitleiden?«
Die moralische Gedankenlosigkeit verblüffte sie. Sie waren Menschen. »Nein…« sagte sie, beinahe widerwillig.
Hesseltine zog sein Hemd aus und enthüllte eine schmale, aber sonnengebräunte und muskelbepackte Brust.
Sie warf einen Seitenblick zu seiner Arbeitsweste. Dort mußte er irgendwo die Waffe verstaut haben.
Er bemerkte ihren Blick, und sein Gesicht verhärtete sich. »Wie Sie wollen. Dann werden wir es ganz einfach machen: Gehen Sie in die Duschkabine und kommen Sie erst heraus, wenn ich es Ihnen sage. Andernfalls…«
Sie trat in die Duschkabine, schloß die Tür und drehte die Dusche auf. Sie blieb zehn Minuten in der Kabine, während die Dusche einen summenden Ultraschallnebel niedergehen ließ, gefolgt von ein paar Litern Wasser zum Nachspülen.
»Genug jetzt!« rief Hesseltine. »Raus!«
Sie verließ die Duschkabine, wieder in seinem Regenumhang. Hesseltine war sauber und elegant zurechtgemacht. Er trug eine mitternachtsblaue Marineuniform und Schnürschuhe mit Schaumgummisohlen. Jemand hatte einen grauen Trainingsanzug aus Frottee für sie bereitgelegt: die Hose mit Gummizug, die Bluse mit Kapuze.
Sie stieg in die Hose, kehrte ihm den Rücken, warf den Regenumhang ab und fuhr schnell in die Trainingsbluse. Sie wandte sich um und sah, daß er sie im Spiegel beobachtet hatte. Nicht mit Lust oder auch nur Anerkennung - in seinem Gesicht war ein kalter, leerer Ausdruck.
Als sie ihn ansah, verschwand der Ausdruck wie eine Spielkarte bei einem Taschenspielertrick.
Er hatte überhaupt nicht hingesehen. Hesseltine war ein Kavalier. Dies war eine peinliche, aber notwendige Situation, in der sie sich beide wie erwachsene Menschen zu benehmen hatten. Irgendwie gelang es Hesseltine, ihr dies alles deutlich zu machen, während er sich bückte und die Schuhbänder schnürte.
Draußen wartete ein Seemann auf sie, ein drahtiger kleiner Veteran mit grauem Schnurrbart und abwesendem Blick. Er führte sie nach achtern, wo der Rumpf ein gerundetes, abfallendes Dach bildete. Der Raum hatte ungefähr die Größe eines Schuppens für Gartenwerkzeug. Vier leichenblasse Matrosen mit offenen Kragen und aufgekrempelten Hemdsärmeln saßen an einem winzigen Kaffeetisch und spielten Dame.
Der französisch sprechende Offizier war auch da. »Setzen Sie sich«, sagte er auf englisch. Laura setzte sich auf eine schmale Wandbank, so nahe neben einen der vier Seeleute, daß sie sein Blumendeodorant riechen konnte.
Gegenüber waren idealisierte Porträts von Männern in Uniform an die zur Decke gekrümmte Wand geheftet. Sie warf einen schnellen Blick auf zwei der Namen: DE GAULLE, JARUZELSKI. Sie sagten ihr nichts.
»Meine Name ist Baptiste«, sagte der Offizier. »Ich bin politischer Offizier an Bord dieses Bootes. Wir müssen miteinander reden.« Eine Pause von zwei Herzschlägen Dauer. »Möchten Sie etwas Tee?«
Laura bejahte. Unter der fein zerstäubenden Dusche hatte sie nicht genug in den Mund bekommen, um den Durst zu löschen. Ihre Kehle fühlte sich vom geschluckten Seewasser und den durchgestandenen Schrecken lederig an. Plötzlich durchlief sie ein unbeherrschbares Zittern.
Sie bildete sich nicht ein, daß sie mit der Situation fertigwerden würde. Sie war in den Händen von kaltblütigen Mördern. Es überraschte sie, daß sie so taten, als wollten sie mit ihr über ihr Schicksal beraten.
Vielleicht wollte der Mann etwas von ihr. Hesseltines hageres, wachsames Gesicht hatte einen Ausdruck neutraler Gleichgültigkeit. Sie fragte sich, wie sehr sie am Leben hing. Was zu seiner Erhaltung zu tun sie bereit war.
Plötzlich lachte Hesseltine. »Machen Sie nicht so ein Gesicht… ah… Laura. Sorgen Sie sich nicht. Sie sind jetzt sicher.« Baptiste warf ihm unter den schweren Augenlidern einen zynischen Blick zu. Aus der Wand drang eine jähe, scharfe Kaskade metallischer Druckausgleichsgeräusche. Laura schrak zusammen wie eine Antilope im Angesicht eines Löwen. Einer der vier Matrosen neben ihr verschob mit dem Zeigefinger nachlässig einen Stein auf dem Damebrett.
Sie starrte zu Hesseltine, dann nahm sie eine Tasse Tee von Baptiste und trank. Er war lauwarm und süß. Vergiftete man sie? Es spielte keine Rolle. Sie war ihnen auf Gedeih oder Verderb ausgeliefert.
»Mein Name ist Laura Day Webster«, sagte sie. »Ich bin eine Gesellschafterin der Rizome Industries. Ich lebe in Galveston, Texas.« Es hörte sich alles so mitleiderregend spröde und unwirklich an.
»Sie frieren«, bemerkte Baptiste. Er lehnte sich zurück und drehte an einem Thermostaten an der Wand. Selbst hier, in einer Art Aufenthaltsraum, waren die Wände größtenteils mit Apparaten und Instrumenten bedeckt: einer Lautsprecheranlage, einem Ionisiergerät für die Atemluft, den Öffnungen der Ventilationsanlage, einem achtfachen, überschlaggeschützten Kraftstromstecker, einer Wanduhr, die 12:17 Uhr Greenwichzeit anzeigte.
»Willkommen an Bord des SSBN Themopylae«, sagte Baptiste.
Laura sagte nichts.
»Hat es Ihnen die Sprache verschlagen?« sagte Hesseltine. Baptiste lachte.
»Kommen Sie schon!« sagte Hesseltine. »Als Sie dachten, ich sei ein verdammter Datenpirat, schwatzten Sie wie eine Elster.«
»Wir sind keine Piraten, Mrs. Webster«, sagte Baptiste. »Wir sind die Weltpolizei.«
»Sie sind nicht Wien«, sagte Laura.
»Er meint die wirkliche Polizei«, sagte Hesseltine mit einem Anflug von Ungeduld. »Nicht diese Bande von lahmarschigen bürokratischen Sesselfurzern.«
Laura rieb sich ein gerötetes Auge. »Wenn Sie Polizei sind, dann bin ich unter Arrest?«
Hesseltine und Baptiste gönnten sich angesichts ihrer Naivität ein männliches Schmunzeln. »Wir sind keine bourgeoisen Legalisten«, sagte Baptiste. »Wir verhängen keine Arreststrafen.«
»Ich sah Ihren Auftritt am Fernsehen von Singapur«, sagte Hesseltine plötzlich. »Sie sagten, Sie seien Gegner der Steueroasen, die den Datenpiraten Unterschlupf gewähren, und wollten sie schließen. Aber Sie fingen das in einer verdrehten Art und Weise an. Die Bankleute - meine früheren Kollegen, wissen Sie - lachten sich bucklig, als sie sahen, wie Sie dem Parlamentsausschuß diesen demokratischen Schmus auftischten.«
Er schenkte sich Tee ein. »Natürlich, jetzt sind die meisten von ihnen Flüchtlinge, und nicht wenige von den Lumpen liegen inzwischen auf dem Meeresgrund. Aber nicht dank Ihrer Bemühungen - Sie wollten diese hartgesottenen Halunken mit Küssen zur Unterwerfung bewegen. Und ausgerechnet Sie, eine Texanerin aus dem Land der rauhbeinigen Cowboys. Ein Glück, daß Ihre Vorfahren, als sie Alamo verteidigten, es nicht mit der gleichen Methode versuchten.«
Ein anderer Matrose machte einen Zug im Damespiel, und der dritte fluchte. Laura zuckte zusammen.
»Kümmern Sie sich nicht um die Männer«, sagte Baptiste. »Sie haben Freiwache.«
»Was?« fragte Laura verständnislos.
»Freiwache«, wiederholte er ungeduldig. »Sie haben dienstfrei. Sie gehören zur Blauen Mannschaft. Wir sind die Rote Mannschaft.«
»Oh… was spielen sie?«
Er zuckte die Achseln'. »Uckers.«
»Uckers? Was ist das?«
»Eine Art Würfelspiel.« Hesseltine lächelte. »U-Boot-Besatzungen sind ein ganz besonderer Schlag«, sagte er. »Hochqualifiziert, sorgfältig ausgebildet. Eine disziplinierte Elite.«
Die vier Matrosen beugten sich über ihr Spielbrett. Sie sahen nicht zu ihm hin.
»Es ist eine sonderbare Situation«, sagte Baptiste. »Wir wissen nicht recht, was wir mit Ihnen tun sollen. Sehen Sie, wir existieren, um Leute wie Sie zu schützen.«
»Das tun Sie?«
»Wir sind die scharfe Schneide der heraufkommenden weltweiten Ordnung.«
»Warum haben Sie mich hergebracht?« fragte Laura. »Sie hätten mich erschießen können. Oder ertrinken lassen.«
»Aber, wo denken Sie hin?« sagte Hesseltine.
»Er ist einer unserer besten Spezialisten«, erläuterte Baptiste. »Ein wirklicher Künstler.«
»Danke.«
»Es ist selbstverständlich, daß er am Ende seines Auftrags eine hübsche Frau aus Seenot rettete - er konnte nicht widerstehen, das Unternehmen mit einer Geste dramatischer Ritterlichkeit zu beenden!«
»So bin ich nun mal«, gab Hesseltine zu.
»Das war es?« sagte Laura. »Sie retteten mich, weil Ihnen gerade danach war? Nachdem Sie all diese Menschen getötet hatten?«
Hesseltine starrte sie an. »Allmählich gehen Sie mir auf den Geist, Gnädigste… Meinen Sie nicht, diese Leute hätten mich umgebracht, wenn sie geahnt hätten, wer ich bin? Das war nicht bloß Ihre Mickymaus-Industriespionage, wissen Sie. Ich habe Monate und Monate in einer tödlichen Tarnoperation zugebracht, bei der es um die höchsten geopolitischen Einsätze ging! Diese Yung Soo Chim-Burschen machten Hintergrunddurchleuchtungen, wie sie sich kein Mensch vorstellen kann, und sie beobachteten mich wie die Falken.« Er lehnte sich zurück. »Aber werde ich Anerkennung dafür ernten? Nein, werde ich nicht.« Er starrte auf seine Teetasse. »Das ist eben ein Teil der getarnten Tätigkeit, es gibt keine Anerkennung…«
»Es war eine sehr glatte Operation«, sagte Baptiste, »verglichen mit Grenada. Unser Angriff auf die verbrecherischen Elemente in Singapur war chirurgisch, beinahe unblutig.«
Laura begriff etwas. »Sie wollen, daß ich dankbar bin?«
»Nun, ja«, sagte Hesseltine aufblickend. »Ein bißchen davon wäre nicht unangebracht, nach all den Bemühungen.«
Er lächelte Baptiste zu. »Sehen Sie sich ihr Gesicht an! Sie hätten hören sollen, wie sie vor dem Parlamentsausschuß über Grenada lamentiert hat. Die Flächenbombardierung traf auch dieses große Herrenhaus, das die Rastas ihr gaben. Das brachte sie am meisten in Rage.«
Es war, als hätte er sie gestochen. »Sie töteten Winston Stubbs vor meinem Haus!« fuhr sie auf. »Während ich neben ihm stand. Mit meinem Baby auf dem Arm.«
»Ach so«, sagte Baptiste und entspannte sich ostentativ. »Diese Stubbs-Geschichte. Das waren nicht wir. Das war einer von Singapurs Leuten.«
»Ich glaube das nicht«, sagte Laura. »Wir haben eine Erklärung der FAKT, mit der sie die Verantwortung für den Anschlag übernommen hat.«
»Ein paar Initialen haben wenig zu bedeuten«, sagte Baptiste. »FAKT war eine alte Frontkämpfergruppe. Nichts, was einem Vergleich mit unseren modernen Operationen standhalten könnte… Tatsächlich waren es Singapurs MerlionKommandos. Ich glaube nicht, daß die Zivilregierung von Singapur von ihren Aktionen wußte.«
»Eine Menge ehemaliger Fallschirmjäger, Kommandoeinheiten, Spetsnaz und dergleichen«, sagte Hesseltine. »Sie neigen dazu, ein wenig über die Stränge zu schlagen. Man muß die Dinge sehen, wie sie sind: Das sind Kerle, die ihr Leben der Kriegskunst gewidmet haben. Dann auf einmal Abrüstung, Wiener Konvention und so weiter. Einen Tag sind sie die Schutzschilder ihrer Nation, am nächsten Tag sind sie Landstreicher, kriegen ihre Papiere und müssen zusehen, wo sie bleiben.«
»Männer, die einst Divisionen und Armeen befehligten, die von den Regierungen gehätschelt und denen Rüstungsgüter im Wert von Milliarden anvertraut wurden«, sagte Baptiste mit Grabesstimme. »Heute sind sie Unpersonen. Abgewiesen.
Unbeliebt. Geschnitten. Sogar verleumdet und geschmäht.«
»Von selbsternannten Moralaposteln, Friedensfreunden mit vollen Hosen«, sagte Hesseltine, der allmählich in Fahrt kam. »Und ihren Anwälten! Wer hätte es gedacht? Aber als es kam, geschah es so plötzlich…«
»Armeen gehören zu Nationalstaaten«, sagte Baptiste. »Es ist schwierig, wahre militärische Loyalität auf eine modernere, weltweite Institution zu übertragen… Aber nun, da wir unser eigenes Land besitzen - die Republik Mali -, hat der Zustrom von Freiwilligen bemerkenswert zugenommen.«
»Es hilft auch, daß wir uns weltweit für die gute Sache einsetzen«, sagte Hesseltine. »Jeder Betonkopf von einem Söldner wird für Grenada oder Singapur oder irgendein obskures afrikanisches Regime kämpfen, solange der Zaster stimmt. Wie aber kommen engagierte Leute, Idealisten, die eine weltweite Gefahr erkennen und zu persönlichem Einsatz bereit sind.«
Sie spürte, daß sie nicht viel mehr davon ertragen konnte. Sie riß sich irgendwie zusammen, aber alles, was sie in den letzten Stunden durchgemacht hatte, war ein gelebter Alptraum. Ihrer an den Medienklischees überlieferter Feindbilder orientierten Phantasie wäre es in dieser bedrohlichen Umgebung verständlicher erschienen, wenn sie mit hackenknallenden, blutrünstigviehischen Nazischergen konfrontiert gewesen wäre, aber die Begegnung mit diesem gefühlsduseligen fetten Franzosen und diesem kaltblickenden, gefährlichen britischen Untergrundagenten… Die Seelenlosigkeit des Ganzen…
Die stählernen Wände drängten auf sie ein. In einer Minute würde sie anfangen zu schreien.
»Sie sehen etwas blaß aus«, bemerkte Hesseltine. »Sie brauchen eine ordentliche Mahlzeit, das wird Sie aufmuntern.
Auf einem U-Boot gibt es immer hervorragendes Essen. Das ist alte U-Bootfahrer-Tradition.« Er stand auf. »Wo ist der Alte?«
Baptiste sagte, der Kapitän müsse um diese Zeit in der Zentrale sein. Er schaute Hesseltine bewundernd nach. »Noch eine Tasse Tee, Mrs. Webster?«
»Ja, danke.«
»Ich habe den Eindruck, daß Sie die wahren Qualitäten Mr. Hesseltines nicht erkennen«, sagte Baptiste, während er einschenkte. »Pollard, Reilly, Sorge, Cicero… er nimmt es mit den besten Agenten der Geschichte auf! Ein Naturtalent, in allen Sätteln gerecht, mit allen Wassern gewaschen! Im Grunde eine romantische Gestalt, in eine Zeit hineingeboren, die ihm leider nur selten Gelegenheit zur Entfaltung seiner Talente gibt… Eines Tages werden Ihre Enkelkinder über diesen Mann reden.«
Laura versuchte ihre verkrampfte Starrheit abzuschütteln. Sie mußte versuchen, sich in dieser veränderten Situation zurechtzufinden, wenn sie ihrem Überlebenswillen eine Richtung geben und ihre Aussichten einschätzen wollte. »Ein phantastisches Schiff, was Sie da haben«, plapperte sie. »Das U-Boot, meine ich.«
»Ja. Es ist ein amerikanisches Trident-Boot mit Atomantrieb, das mehr als eine halbe Milliarde Dollar gekostet hat.«
Sie nickte einfältig: ja, richtig. »Also ist dies ein altes U-Boot aus der Zeit des Kalten Krieges?«
»Genau, ein Trägersystem für ballistische Raketen.«
»Was heißt das?«
»Es ist eine Startrampe.«
»Wie? Ich verstehe nicht.«
Er lächelte nachsichtig. »Ich glaube, ›nukleare Abschreckung‹ ist der Begriff, nach dem Sie suchen, Mrs. Webster.«
»Abschreckung? Wen?«
»Wien, natürlich. Man sollte meinen, das sei offensichtlich.«
Laura griff zur Teetasse und trank. Eine halbe Milliarde Dollar. Atomantrieb. Ballistische Raketen. Geradesogut hätte er ihr erzählen können, daß sie hier an Bord Leichen wiederbelebten. Es war zu schrecklich, weit außerhalb ihrer Vorstellungen von Vernunft und Glaubhaftigkeit.
Es gab keinen Beweis. Er hatte ihr nichts gezeigt. Wahrscheinlich hielt dieser Baptist sie für eine dumme, naive Frau, die alles glaubte, was er ihr auftischte, und wollte sie zum besten haben. Er schwindelte. Sie glaubte es nicht.
»Es scheint Sie nicht zu beunruhigen«, sagte Baptiste mit Anerkennung. »Sie sind nicht abergläubisch, was die böse Atomenergie betrifft?«
Sie schüttelte den Kopf, traute sich nicht laut zu sprechen.
»Früher gab es Dutzende von atomgetriebenen U-Booten«, sagte Baptiste. »Frankreich hatte welche, Großbritannien, die USA, Rußland. Ausbildung, Technik, Tradition, alles war eingespielt und funktionierte reibungslos. Sie sind nicht in Gefahr - diese Männer sind nach den ursprünglichen Anleitungen und Kursprogrammen gründlich ausgebildet worden. Hinzu kommen viele moderne Verbesserungen.«
»Keine Gefahr?«
»Nein.«
»Was werden Sie dann mit mir tun?«
Er schüttelte bekümmert den Kopf, hob die Hände und ließ sie auf den Tisch fallen. Glocken ertönten. Es war Zeit zum Abendessen.
Baptiste brachte sie in die Offiziersmesse. Es war ein unschöner kleiner Raum gleich neben dem klappernden, zischenden Lärm der Kombüse. Sie saßen auf Metallstühlen, die mit grünem und gelbem Vinyl bezogen waren, um einen fest verankerten viereckigen Tisch. Vier Offiziere waren bereits da und wurden von einem Koch mit Schürze und steifer Papiermütze bedient.
Baptiste stellte die Offiziere als den Kapitänleutnant, den Ersten Offizier und den Diensthabenden Offizier vor. Er nannte keine Namen, und es schien sie nicht zu stören. Zwei waren Europäer, vielleicht Deutsche, der dritte sah russisch aus. Sie sprachen alle ein neutrales, dialektfreies Englisch.
Es war von Anfang an klar, daß dies Hesseltines großer Tag war. Laura war eine Art Kriegstrophäe, die er gewonnen hatte, ein blonder Leckerbissen, auf der die Kamera während der besinnlicheren Augenblicke seiner Filmbiographie verweilen würde. Sie hatte nichts zu sagen, und keiner versuchte sie ins Gespräch zu ziehen. Die Besatzungsmitglieder bedachten sie mit seltsamen, unklaren Blicken, in denen sich Bedauern, Spekulation und etwas wie abergläubische Furcht mischten. Die Offiziere machten sich über ihre Mahlzeit her: folienverpackte Mikrowellen-Gerichte mit der Aufschrift Aero Cubana: Clase Primera. Laura bekam das gleiche und stocherte gedankenversunken in dem Essen. Aero Cubana. Sie war mit einer Maschine der Aero Cubana geflogen, mit David an der Seite und dem Baby auf dem Schoß. David und Loretta. Ach du lieber Gott…
Die Offiziere waren anfangs verdrießlich und reizbar; die Anwesenheit der Fremden schien die Entfaltung ihrer Unbefangenheit zu hemmen. Hesseltine versuchte das durch Charme auszugleichen und gab ihnen einen packenden Augenzeugenbericht von ihrem Angriff auf die Ali Khamenei: Sein Vokabular mutete Laura phantastisch an, obwohl es wahrscheinlich nur fachmännischer Jargon war: Es ging um ›Zielerfassung‹, ›Trefferwahrscheinlichkeit‹, ›Nachsteuerung‹, ›Auftreffpunkt‹. Von verbrannten und zerfetzten Menschen war nicht die Rede. Endlich brach sein Enthusiasmus das Eis, und die Offiziere unterhielten sich zwangloser, freilich in einer nautisch-technischen Fachsprache, die zum großen Teil aus Akronymen und Ausdrücken bestand und Laura weithin unverständlich blieb.
Für diese Offiziere der Roten Mannschaft war es ein aufregender Tag gewesen. Nach Wochen, vielleicht Monaten einer wahrscheinlich unmenschlichen, erstickenden Langeweile hatten sie erfolgreich ein ›hartes Ziel‹ ausgemacht und vernichtet. Für diesen Schlag gegen den Terrorismus erwartete sie anscheinend eine Art Belohnung - sie hatte etwas mit ›Hollywood-Bädern‹ zu tun, was immer darunter zu verstehen war. Die Gelbe Mannschaft, jetzt im Dienst, würde ihre sechsstündige Wache damit verbringen, daß sie das Boot durch die Tiefen des Indischen Ozeans zu ihrem Stützpunkt zurückführte. Was die Blaue Mannschaft betraf, so hatte diese keine Gelegenheit gehabt, an der Aktion teilzunehmen, und haderte mit dem Schicksal.
Laura fragte sich, ob es eine Flucht war, und wovor. Die Raketen - ›Exocets‹ nannten sie sie - waren dreißig oder vierzig Kilometer weit geflogen, bevor sie ihr Ziel getroffen hatten. Sie hätten von beinahe jedem größeren Schiff in der Malakkastraße gestartet sein können, sogar von Sumatra. Niemand konnte das U-Boot gesehen haben.
Und wie sollte jemand von seiner Existenz ahnen? Ein U-Boot war ein Ungeheuer aus einem vergangenen Zeitalter. Es war nutzlos, nur für den Kampf entwickelt - es gab keine ›Fracht-U-Boote‹ oder U-Boote der Küstenwache oder Rettungs-U-Boote.
Gewiß, es gab kleine Tiefseetauchboote, genauso wie es noch immer ein paar bemannte Raumfähren zum Aussetzen und Einfangen von Satelliten gab, gedrungene, seltsam aussehende Fahrzeuge für Forschungszwecke und Arbeiten an Tiefseekabeln. Aber dieses Ding war riesig. Und die Wahrheit – oder eine Furcht, die stark genug war, um als Wahrheit durchzugehen - begann einzusickern.
Es erinnerte sie an eine Geschichte, die sie gehört hatte, als sie elf oder zwölf gewesen war, und die großen Eindruck auf sie gemacht hatte. Eine von diesen Horror-Volkserzählungen, die bei Kindern offene Ohren fanden und mit Vorliebe weitererzählt wurden. Sie handelte von dem Jungen, der zufällig eine Nadel verschluckt hatte, die Jahre oder Jahrzehnte später in seinem Knöchel oder seiner Kniescheibe oder seinem Ellbogen aufgetaucht war, rostig, aber noch ganz, ein stilles Stück Stahl, das ohne sein Wissen auf unbekannten Wegen durch seinen lebenden, atmenden Körper wanderte, während er aufwuchs und heiratete und seiner Arbeit nachging… bis er eines Tages zum Arzt geht und sagt: Herr Doktor, ich werde alt, vielleicht ist es Rheumatismus, ich habe da einen seltsam stechenden Schmerz im Knie… Gut, sagt der freundliche Arzt, das werden wir uns gleich unter dem Röntgengerät ansehen… Mein lieber Freund, Sie scheinen da eine bösartige Nadel unter der Kniescheibe versteckt zu haben… Ach ja, großer Gott, ich hatte es ganz vergessen, aber als Junge spielte ich gern mit Nadeln, und einmal hielt ich eine zwischen den Zähnen, und sie geriet mir in den Hals und war weg…
»Fehlt Ihnen was?« sagte Hesseltine.
»Wie bitte?« sagte Laura.
»Wir sprechen von Ihnen. Es geht um die Frage, ob wir Sie gleich in einen Tank stecken oder noch eine Weile draußen lassen.«
»Ich verstehe nicht«, sagte sie wie betäubt. »Sie haben Tanks? Ich dachte, Sie seien bei der Marine.«
Die Offiziere brachen in Gelächter aus, jo-ho-ho. Der russisch Aussehende meinte, die Frauen der Welt seien in den Jahrzehnten seit ihrer Emanzipation nicht klüger geworden. Hesseltine lächelte ihr zu, als hätte sie zum ersten Mal etwas richtig gemacht.
»Wozu lange erklären?« sagte er. »Wir werden sie Ihnen zeigen. In Ordnung, Baptiste?«
»Warum nicht?«
Hesseltine schüttelte den anderen die Hand und ging mit Baptiste und Laura: Sie kamen durch eine Kantine, wo dreißig gepflegt aussehende und sauber gekleidete Männer der Roten Mannschaft Ellbogen an Ellbogen um Klapptische saßen und ihr Abendessen verzehrten. Als Hesseltine eintrat, legten sie mit Geklapper das Besteck aus den Händen und applaudierten höflich.
Hesseltine bot ihr den Ellbogen. Ängstlich bemüht, diesen Leuten nicht unnötig Anlaß zum Unwillen zu geben, hängte sie sich bei ihm ein, und er paradierte mit ihr durch den schmalen Gang zwischen den Tischreihen. Die Männer waren alle nahe genug, sie anzufassen, anzuzwinkern, zu grinsen oder Bemerkungen zu machen, aber keiner von ihnen tat es oder machte auch nur ein Gesicht, als wollte er. Eine disziplinierte Besatzung. Laura roch ihre Seife und ihr Shampoo, ihr Breuf Stroganoff und die grünen Bohnen. In der Ecke zeigte ein flaches Breitschirm-Fernsehgerät einen Zweikampf im illegalen Kickboxen: Zwei drahtige Thailänder schlugen einander lautlos blutig. Der Ton war heruntergedreht.
Sie verließen die Kantine. Laura erschauerte hilflos und ließ seinen Arm fahren. Sie fühlte sich von einer Gänsehaut überlaufen. »Was ist mit denen?« fragte sie mit gedämpfter Stimme. »Sie sind so ruhig und bescheiden…«
»Was ist mit Ihnen?« versetzte er. »Dieses lange Gesicht… Sie machen alle nervös.«
Sie führten Laura zurück zu dem ersten Raum, den sie gesehen hatte, wo die Aufzüge waren. Sie stiegen die Wendeltreppe zum oberen Deck hinauf. Unter ihnen arbeiteten Besatzungsmitglieder an den Drohnen, untersuchten auseinandergenommene Maschinen auf kleinen Zeltbahnen.
Baptiste und Hesseltine machten bei einem der bemalten Silos halt. Jetzt sah sie, daß die fünfzackigen Sterne und Kometen eine schwarze Silhouette hatten, den Umriß einer stilisiert dargestellten vollbusigen Frau, die langen Beine ausgestreckt, das Haar zurückgeworfen, die Haltung einer Stripperin. Und Buchstaben: TANYA. »Was ist das?« fragte Laura.
»Das ist der Name des Tanks«, sagte Baptiste. Es klang etwas entschuldigend, wie von einem besseren Herrn, der gezwungen ist, ein anstößiges Thema zu erwähnen. »Die Männer haben es gemalt… gehobene Stimmung… Sie wissen, wie es ist.«
Gehobene Stimmung. Sie konnte sich die ernsten, disziplinierten Matrosen, die sie an Bord gesehen hatte, beim besten Willen nicht übermütig vorstellen. »Was für ein Ding ist das?«
Hesseltine ergriff das Wort. »Nun, man steigt natürlich da hinein, und…« Er hielt inne. »Sie sind nicht lesbisch, nicht wahr?«
»Was? - Nein…«
»Zu dumm… Wenn Sie nicht lesbisch sind, werden Sie von den besonderen Merkmalen nicht viel haben… Die Leute sagen jedoch, daß es auch ohne die Simulationen sehr entspannend sei.«
Laura trat einen Schritt zurück. »Sind… sind sie alle so?«
»Nein«, sagte Baptiste. »Einige dienen als Drohnenbehälter, und die anderen zum Start von Raketen. Aber fünf davon dienen der Erholung. ›Hollywood-Bäder‹ werden sie von den Leuten genannt.«
»Und Sie wollen, daß ich da hineingehe?«
»Wenn Sie wollen«, sagte Baptiste zögernd. »Wir werden die Maschinerie nicht aktivieren - nichts wird Sie berühren -, Sie werden einfach darin treiben, atmen, träumen. In hübsch erwärmtem Seewasser.«
»Wird Sie für ein paar Tage vor Schwierigkeiten bewahren«, sagte Hesseltine.
»Tage?«
»Die Tanks sind unter Zuhilfenahme modernster Technik entwickelt worden«, sagte Baptiste. »Und es handelt sich nicht um etwas, das wir erfunden hätten, wissen Sie; das Patent befindet sich im Besitz eines der von Ihnen so hochgelobten Multis.«
»Ein paar Tage sind nichts!« sagte Hesseltine. »Wenn wir Sie ein paar Wochen darin lassen würden, könnten Sie anfangen, Ihre Optima Persona zu sehen, und alle Arten von verdrehten Halluzinationen. Aber einstweilen sind Sie dort vollkommen sicher und zufrieden. Und wir wissen, wo Sie sind. Hört sich das nicht gut an.«
Laura schüttelte ängstlich den Kopf; sie war ganz klein. »Wenn Sie mir nur irgendwo eine Schlafkoje suchen könnten… einen kleinen Winkel irgendwo, mit einer Matratze am Boden… Es würde mir wirklich nichts ausmachen.«
»Hier gibt es nicht viel Zurückgezogenheit«, sagte Baptiste. »Die Verhältnisse sind beengt.« Er schien jedoch erleichtert. Froh, daß sie keinen kostbaren Tank-Raum in Anspruch nehmen würde.
Hesseltine runzelte die Stirn. »Nun, ich möchte nachher kein Gejammer und Gemecker von Ihnen hören.«
»Nein, nein.«
Hesseltine warf einen Blick auf sein wasserdichtes Uhrtelefon. »Tut mir leid, aber ich muß jetzt das Hauptquartier anrufen und Bericht erstatten.«
»Lassen Sie sich durch mich nicht stören«, sagte Laura. »Sie haben mehr als genug getan. Ich bin ganz sicher, daß ich gut aufgehoben sein werde, wirklich.«
»Da schau her«, sagte Hesseltine. »Das hörte sich beinahe wie ein Dankeschön an.«
Sie fanden in der Bordwäscherei einen Schlafplatz für sie. Es war eine verwinkelte Höhle, feucht vom Dampf, nach Waschmittel riechend und vollgestopft mit scharfkantigen Maschinen. Ein einfaches schmales Feldbett wurde unter einem Wald aus grauen numerierten Röhren geschoben, von dem Handtücher hingen. Außer mehreren großen Waschmaschinen gab es in dem Raum ein paar dampfbetriebene Bügelpressen und alte Wäschemangeln.
Und gestapelte flache Kartons mit den Spulen alter Hollywoodfilme von der mechanischen Art, die durch Projektoren liefen. Sie waren mit handbeschriebenem Klebeband sauber etikettiert: MONROE #1, MONROE #2, GABLE, HAYWORTH, CICCONE. An der Wand war ein Anschluß der Bordsprechanlage, ein altmodisches Audio-Handgerät mit einem langen Spiralkabel. Der Anblick rief ihr das Netz ins Gedächtnis zurück. Dann David. Ihre Familie, ihre Leute.
Sie war aus ihrer Welt verschwunden. Dachten sie, sie sei tot? Laura war überzeugt, daß sie noch nach ihr suchten. Aber sie würden in den Gefängnissen und Krankenhäusern Singapurs nach ihr suchen - und in den Leichenhallen. Aber nicht hier. Niemals.
Ein Matrose kam mit zusammengerollter Matratze und Bettzeug und bereitete ihr Bett mit Effizienz sauber und faltenlos.
Er brachte eine gefährlich aussehende verchromte Zange zum Vorschein. »Geben Sie die Hände her«, sagte er. Die zwei verbliebenen Armreifen der Kunststoffhandschellen hingen noch um Lauras Handgelenke. Sie waren zäh und wollten sich nicht durchtrennen lassen, aber er arbeitete daran, bis sie sich endlich widerwillig lösten. »Muß ein mächtig scharfes Messer gewesen sein, das diese Dinger durchschnitt«, sagte er.
»Danke.«
»Bedanken Sie sich nicht bei mir. Es war Mr. Hesseltines Idee.«
Laura rieb sich die geröteten Handgelenke. »Wie heißen Sie, Sir?«
»›Jim‹ wird genügen. Ich höre, Sie sind aus Texas.«
»Ja. Galveston.«
»Ich auch, aber weiter die Küste hinunter. Corpus Christi.«
»Gott, dann sind wir praktisch Nachbarn.«
»Ja, sieht so aus.« Jim sah wie fünfunddreißig, vielleicht vierzig aus. Er hatte ein breites, fleischiges Gesicht mit rötlichem, schütterem Haar. Seine Haut hatte die Farbe von Schreibpapier, so bleich, daß sie bläuliche Adern am Hals erkennen konnte.
»Darf ich fragen«, fragte sie, »was Sie hier tun?«
»Ich beschütze Leute«, sagte Jim. »Im Augenblick Sie, falls Sie auf den Gedanken kommen sollten, irgendeine Dummheit anzufangen. Mr. Hesseltine sagt, Sie seien ein komisches Püppchen. Eine Politische.«
»Oh«, sagte sie. »Ich meinte, wie sind Sie hierher gekommen?«
»Wenn Sie schon danach fragen, will ich es Ihnen erzählen«, sagte Jim. Er schwang sich behende auf eine der Waschmaschinen und saß über ihr, den Kopf gebeugt, um nicht gegen die Decke zu stoßen, und ließ die Beine baumeln. »Früher war ich einmal Fischer. Garnelenfischer. Mein Vater war es auch. Und vor ihm sein Vater… Aber sie steckten uns in einen Schwitzkasten, aus dem wir nicht herauskamen. Die Fischereiaufsichtsbehörde, tausend Umweltgesetze. Nicht, daß ich was gegen diese Gesetze gehabt hätte, aber Mexikaner und Nicaraguaner scherten sich einen Dreck um amerikanische Gesetze. Sie fischten die besten Gründe leer, dann unterboten sie uns auf unseren eigenen Märkten. Wir mußten unseren Kutter aufgeben! Verloren alles. Lebten von Sozialhilfe, hatten nichts.«
»Das tut mir leid«, sagte Laura.
»Nicht halb so leid wie es uns tat… Nun, ich und ein paar Freunde, die in der gleichen Klemme steckten, versuchten uns zu organisieren, unser Leben und unsere Familien zu schützen. Aber die Texas-Ranger - irgendein gottverdammter Informant mußte es ihnen gesteckt haben - erwischten mich mit einem Gewehr. Und Sie wissen, heutzutage dürfen Privatpersonen in den Staaten keine Feuerwaffen mehr besitzen, nicht mal zum Schutz des eigenen Heimes! Also sah es ziemlich schlecht für mich aus. Dann hörte ich von ein paar Kumpeln in meiner… ahm… Organisation von Anwerbungen nach Übersee. Dort würden Söldnerverbände aufgestellt, niemand würde nach Vorstrafen fragen, und man bekäme guten Sold und eine Gefechtsausbildung. So landete ich in Afrika.«
»Afrika«, wiederholte Laura. Der bloße Name machte ihr Angst.
»Es sieht schlimm aus, dort«, sagte er. »Hungersnöte, Seuchen, Dürre und Kriege. Afrika ist voll von unseresgleichen. Da gibt es Söldner in Privatarmeen, Palastwachen, als Militärberater, Kommandoeinheiten, Piloten… Aber wissen Sie, was uns fehlte? Führerschaft.«
»Führerschaft?«
»Genau.«
»Wie lange sind Sie schon in diesem U-Boot?«
»Es gefällt uns hier«, sagte Jim.
»Sie kommen nie hinaus, nicht? Kommen nie an die Oberfläche oder auf, wie sagt man? - Landurlaub?«
»Das vermißt man nicht«, sagte er. »Nicht mit dem, was wir hier haben. Wir sind Könige hier unten. Unsichtbare Könige. Könige der ganzen verdammten Welt. Übrigens gibt es Orte, die wir anlaufen können, für Reparaturen und dergleichen. Alle paar Monate kommen wir hinaus.« Er lachte zufrieden, zog die Füße hinauf, ein freundlicher Mann in Deckschuhen mit Schaumgummisohlen. »Sie sehen ziemlich müde aus.«
»Ich…« Warum es leugnen? »Ja, das bin ich.«
»Dann machen Sie nur und schlafen Sie. Ich bleibe hier in der Nähe und wache über Sie.«
Mehr sagte er nicht.
Hesseltine zeigte sich mitfühlend. »Ein bißchen langweilig, nicht?«
»Nein, nein, wirklich nicht«, sagte Laura. Sie rutschte von ihm weg und brachte die Decke auf ihrem Bett in Unordnung. »Es geht mir gut, kümmern Sie sich nicht um mich.«
»Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte er. »Gute Nachricht! Während Sie schliefen, habe ich alles mit dem Hauptquartier abgeklärt. Es stellte sich heraus, daß Sie dort in den Akten sind – man weiß, wer Sie sind! Man lobte mich ausdrücklich, daß ich Sie an Bord gebracht habe.«
»Hauptquartier?«
»Bamako, Mali.«
»Ah.«
»Ich wußte, daß es eine gute Idee war«, sagte er. »In meinem Beruf lernt man, nach seinen Instinkten zu handeln. Anscheinend sind Sie ein ziemlich wichtiges Mädchen in Ihrem kleinen Kreis.« Er lächelte strahlend, dann zuckte er bedauernd die Achseln. »Einstweilen stecken Sie jedoch in dieser Wäscherei fest.«
»Es ist schon in Ordnung«, sagte sie. »Wirklich.« Er starrte sie an. Sie waren allein in dem engen Raum. Eine schreckliche Stille entstand. »Ich könnte die Waschmaschinen bedienen, wenn Sie wollen.«
Hesseltine lachte. »Das ist hübsch. Das ist lustig. Nein, ich dachte, solange Sie hier festsitzen, würden Sie vielleicht Gefallen an ein paar Videospielen finden.«
»Was für Spiele sind das?«
»Computerspiele, wissen Sie.«
»Oh!« Sie richtete sich auf. Eine Ablenkung von diesen Wänden, diesem engen Raum, von ihm. Ein Bildschirm. Wunderbar. »Haben Sie Amazonasbecken? Oder vielleicht Weltregierung?«
»Nein, das sind frühe Spiele aus den siebziger und achtziger Jahren… Spiele, die von den ursprünglichen U-Boot-Besatzungen zum Zeitvertreib gespielt wurden. Nicht viel Graphik und Gedächtnis, natürlich, aber ganz interessant. Schlau ausgedacht.«
»Sicher, ich kann es versuchen«, sagte Laura.
»Oder möchten Sie vielleicht lieber lesen? Wir haben eine große Bibliothek an Bord. Sie würden sich wundern, wenn Sie wüßten, was diese Burschen alles lesen. Platon, Nietzsche, alle die Größen der Philosophie und Literatur. Und eine Menge Spezialitäten.«
»Spezialitäten?«
»Ja, wie ich sagte.«
»Haben Sie Die Lawrence-Doktrin und postindustrieller Aufstand von Jonathan Gresham?«
Hesseltine machte große Augen. »Wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Wo, zum Teufel, haben Sie davon gehört?«
»Sticky Thompson zeigte es mir.« Sie sah, daß sie ihn beeindruckt hatte, und war froh, daß sie es gesagt hatte. Es war vielleicht dumm und leichtsinnig, vor Hesseltine damit zu prahlen, aber sie war froh, daß sie ihn irgendwie getroffen, aus seinem unerschütterlichen Gleichgewicht gebracht hatte. Sie streifte sich eine Haarsträhne aus den Augen. »Haben Sie ein Exemplar?
Ich habe nicht soviel darin lesen können, wie ich gern getan hätte.«
»Wer ist dieser Thompson?«
»Grenadiner. Der Sohn von Winston Stubbs.«
Hesseltine lächelte ein wenig spöttisch. »Sie können nicht Nesta Stubbs meinen.«
Laura zwinkerte überrascht. »Ist Stickys wirklicher Name Nesta Stubbs?«
»Nein, es kann nicht sein. Nest Stubbs ist ein Psycho. Ein drogenbesessener Killer! Ein Kerl wie der ist Wodu, er könnte ein Dutzend wie Sie zum Frühstück essen.«
»Warum soll ich ihn nicht kennen?« sagte Laura. »Ich kenne Sie auch, nicht wahr?«
»He«, sagte Hesseltine. »Ich bin kein Terrorist - ich bin auf Ihrer Seite.«
»Wenn Sticky - Nesta - wüßte, was Sie seinen Landsleuten angetan haben, würde er Sie mehr fürchten als Sie ihn.«
»Also wirklich!« sagte Hesseltine sinnend. Er dachte darüber nach, dann sah er erfreut aus. »Ja, vielleicht würde er! Und er würde verdammt gut daran tun, nicht wahr?«
»Aber er würde sich auf Ihre Fährte setzen, irgendwie. Wenn er wüßte.«
»Halt«, sagte Hesseltine. »Ich sehe Ihnen an, daß Ihnen darüber das Herz brechen würde… Nun, kein Problem. Wir haben sie einmal in den Hintern getreten, und in ein paar Monaten wird es kein Grenada mehr geben… Hören Sie, niemand mit Ihrer Einstellung braucht einen verrückten Kerl wie Gresham zu lesen. Ich werde Ihnen statt dessen den Computer bringen lassen.«
»In Ordnung.«
»Sie werden mich nicht wiedersehen, Laura. Sie fliegen mich aus.«
So war es immer mit Hesseltine. Sie hatte keine Ahnung, was sie ihm sagen sollte, mußte aber etwas sagen. »Man sorgt dafür, daß Sie beschäftigt sind, nicht?«
»Das kann man sagen… Es gibt immer noch Luxemburg, wissen Sie. Die EFT-Commerzbank. Sie wähnen sich in Sicherheit, weil sie mitten in Europa eingebettet sind. Aber ihre Bankgeschäfte wickeln sie in Zypern ab, und Zypern ist eine hübsche kleine Insel. Wenn es anfängt zu knallen, wissen Sie, daß ich dort bin.«
»Ganz bestimmt.« Er sagte nicht die Wahrheit. Er würde mit Sicherheit nicht nach Zypern gehen. Vielleicht nicht einmal das Boot verlassen. Wahrscheinlich ging er in einen Tank, dachte sie, um mit Hollywoodpuppen aus Gummi zu ficken, während sein Geist im Nirwana trieb… Aber er mußte einen besonderen Grund haben, wenn er wollte, daß sie ihn in Zypern wähnte. Und das könnte bedeuten, daß man sie eines Tages freilassen würde. Oder daß zumindest Hesseltine mit dieser Möglichkeit rechnete. Aber sie sah Hesseltine nicht wieder.
Zeit verging. Das U-Boot wurde von vier Besatzungen rund um die Uhr in Betrieb gehalten. Auf jede Mannschaft entfielen zwölf Stunden Freiwache und sechs Stunden Dienst. Der Wechsel von Tag und Nacht wurde hier in den Tiefen des Ozeans bedeutungslos. Sie bekam in regelmäßigen Abständen eine Mahlzeit gebracht und wurde von ihrem jeweiligen Bewacher zum Waschraum geführt. Die Männer waren mit Sorgfalt darauf bedacht, sie nicht anzurühren.
Sie brachten sie immer zur selben Toilette, die immer frisch desinfiziert war. Kein Kontakt mit Körperflüssigkeiten.
Man behandelte sie, als ob sie ein Aids-Fall wäre. Vielleicht hielt man sie dafür. In den alten Tagen war es üblich gewesen, daß die Seeleute in einem Hafen an Land stürzten, die erstbeste Kneipe leertranken und über alles herfielen, was einen Rock anhatte. Aber dann erkrankten und starben die Hafendirnen überall auf der Welt am Retrovirus.
Inzwischen hatte man den Virus einigermaßen eingedämmt. Unter Kontrolle.
Außer in Afrika.
Konnte es tatsächlich sein, daß die Besatzung Aids hatte?
Das Videospielgerät hatte ungefähr so viele Möglichkeiten wie ein kleiner Spielcomputer in einem Kinderzimmer. Die Spiele wurden eingesteckt, kleine, von endlosem Abspielen abgenutzte Kassetten. Die graphischen Darstellungen waren primitiv, große treppenartige Pixel, und alles lief ziemlich ruckartig ab.
Die Primitivität störte sie nicht, aber die Themen waren erstaunlich.
Ein Spiel trug den Titel ›Raketenkommando‹. Der Spieler steuerte kleine Klumpen auf dem Bildschirm, die Städte darstellen sollten. Der Computer griff sie mit Nuklearwaffen an: Bomben, Flugzeugen, ballistischen Raketen.
Die Maschine gewann immer - vernichtete alles Leben in einer großen, aufblitzenden Explosion. Und das hatten einmal Kinder gespielt. Es war völlig krankhaft.
Dann gab es ein Spiel mit dem Titel Eindringlinge aus dem Weltraums Die Eindringlinge waren kleine Krabben und Höllenhunde, die mit UFO-ähnlichen Dingern kamen und in Gleichschritt über den Bildschirm marschierten. Sie gewannen immer. Man konnte sie zu Hunderten abschlachten, sogar neue kleine Forts gewinnen, um Waffen abzufeuern, Laser oder Bomben, aber am Ende ging man unweigerlich unter. Der Computer gewann immer. Es ergab so wenig Sinn, den Computer jedesmal gewinnen zu lassen, als ob Schaltkreise sich des Sieges erfreuen könnten. Und jede Anstrengung, so heroisch sie auch war, endete in Vernichtung. Es war alles so schauerlich, echt finsterstes zwanzigstes Jahrhundert.
Es gab noch ein drittes Spiel, das einen runden gelben Verschlinger zum Gegenstand hatte - sein Ziel war, alles zu verschlingen, was in Sicht kam, die kleinen blauen Verfolger/Feinde mit eingeschlossen.
Sie beschäftigte sich meistens mit diesem Spiel, da die Ebene der Gewalttätigkeit weniger abstoßend war. Zwar fand sie nicht viel Gefallen an den Spielen, doch als die leeren Stunden sich im Kreis drehten, entdeckte sie die zwanghafte, besessene Qualität dieser Spielprogramme… das unbekümmerte Bestehen darauf, alle vernünftigen Schranken zu durchbrechen, welches das Kennzeichen der Zeit vor der Jahrtausendwende war. Sie spielte die Programme, bis ihre Finger Blasen bekamen.
Drei Mann in einem Boot… Drei Matrosen bemannten das Schlauchboot unter einer heißen Sonne, die hoch am unendlichen, wolkenlosen Himmel brannte, auf einer endlosen, von sanfter Dünung durchzogenen Ebene blaugrünen Ozeans. Die drei Matrosen und sie waren die einzigen Menschen, die je existiert hatten. Und der winzige Gummifleck von einem Boot war das einzige Land.
Sie saßen zusammengekauert und trugen Überjacken mit Kapuzen aus dünner, glänzend reflektierender Folie, die in der erbarmungslosen tropischen Sonnenglut schmerzhaft glitzerte.
Laura zog die Kapuze zurück und streifte sich fettige Haarsträhnen aus der Stirn. Ihr Haar war länger geworden. Seit sie das U-Boot betreten hatte, war es ihr nie gelungen, es richtig zu waschen.
»Ziehen Sie die Kapuze über den Kopf«, warnte Matrose 1.
Laura schüttelte den Kopf. »Ich möchte die freie Luft fühlen.«
»Das ist nicht gut für Sie«, sagte Matrose 1 und zupfte an seinen Ärmeln. »Seit die Ozonschicht weg ist, holen Sie sich in diesem Sonnenschein im Nu Hautkrebs.«
»Es heißt«, sagte Laura, »das Ozonproblem sei hauptsächlich Angstmacherei.«
»Natürlich«, höhnte Matrose 1. »Wenn Sie den Behörden glauben wollen.« Seine zwei Kollegen lachten trocken; das Geräusch verdampfte in absoluter ozeanischer Stille.
»Wo sind wir?« fragte Laura.
Matrose 1 blickte über die Gummiwulst des Bootes, tauchte seine bleichen Finger ins Wasser und beobachtete, wie es abtropfte. »Coelacanthengebiet…«
»Welche Zeit haben wir?« fragte Laura.
»Zwei Stunden bis zum Ende der Gelben Wache.«
»Aber was für ein Tag?«
»Ich bin froh, daß wir Sie bald los sein werden«, sagte Matrose 2 plötzlich. »Sie gehen mir auf die Nerven.«
Laura sagte nichts. Eine bedrückende Stille sank auf sie herab. Sie waren Treibgut, verchromte Folienpuppen in ihrem mattschwarzen Gummifleck. Sie überlegte, wie tief der Ozean unter dem millimeterdünnen Boden sein mochte.
»Sie haben immer eine Vorliebe für die Rote Mannschaft gehabt«, sagte Matrose 3 mit ebenso unerwarteter wie erschreckender Giftigkeit. »Sie haben den Leuten der Roten Mannschaft mehr als fünfzehnmal zugelächelt. Und Sie haben fast nie jemandem von der Gelben Mannschaft zugelächelt.«
»Ich hatte keine Ahnung«, sagte Laura. »Das tut mir wirklich leid.«
»Ach ja. Natürlich. Jetzt.«
»Da kommt die Maschine«, bemerkte Matrose 1.
Laura blickte auf, beschirmte die Augen. Der leere Himmel war voll von kleinen Verschwommenheiten, seltsamen kleinen Kringeln, durchsichtig und farblos, die den Bewegungen ihres Augapfels folgten. Sie war nicht sicher, wie man sie nannte oder woraus sie bestanden, aber es hatte etwas mit der Helligkeitsebene zu tun. Dann sah sie etwas am Himmel aufgehen, sich steif wie ein Origamischwan entfalten. Große Flügel vom Hellorange einer Schwimmweste. Es glitt abwärts.
Matrose 2 überprüfte sein militärisches Funksprechgerät, bis er das Peilsignal hatte. Matrose 3 befestigte einen langen schlaffen Beutel an einem Wasserstoffbehälter und begann ihn mit lautem Ventilzischen aufzublasen.
Kurz darauf kamen ein zweiter und ein dritter Lastenfallschirm herunter. Matrose 2 ließ einen Freudenschrei hören. Die Lastenträger durchkreuzten den leeren Himmel, und im Näherkommen sah Laura, daß es braune, rautenförmige Körper von Autobusgröße waren, mit breiten, ausfaltbaren Flügeln aus orangefarbenen Kunststoff. Sie erinnerten Laura an Maikäfer, dickbäuchige schwerfällige Flieger, die an warmen Frühlingsabenden Waldränder bevölkerten.
Die Lastenträger kamen in ausholenden Spiralen herab, ihre gebogenen Rümpfe schlugen klatschend auf und kamen mit überraschender, schwerfälliger Anmut im Wasser zur Ruhe. Die Flügel wurden mit lautem Knacken und Knarren eingefaltet.
Nun konnte sie das Flugzeug ausmachen, das sie abgeworfen hatte, ein breitflügeliger Airbus aus Keramik, himmelblau von unten, die oberen und seitlichen Teile mit brauner und gelber Wüstentarnung. Matrose 1 startete den Außenbordmotor, und das Boot brummte auf den nächsten Lastenträger zu, der ein gutes Stück größer war als das Schlauchboot, ein bauchiger, schwimmender Zylinder, am Bug und den Seiten mit stabilen Abschleppringen versehen.
Matrosen 2 und 3 mühten sich mit dem Wetterballon ab.
Endlich ließen sie ihn los, und er sauste nach oben und ließ von einer Trommel an seinem unteren Ende ein langes dünnes Kabel abrollen.
»Alles klar«, sagte Matrose 1. Er hängte das Ende des Kabels an ein paar Karabinerhaken am Rücken von Lauras Schwimmweste ein. »Ziehen Sie die Knie an und umfassen Sie sie mit den Armen«, sagte er. »Ziehen Sie den Kopf ein und beißen Sie die Zähne zusammen, sonst holen Sie sich leicht eine Halswirbelverletzung, oder beißen sich in die Zunge. Wenn Sie merken, daß die Maschine dieses Kabel erfaßt hat, gehen Sie hoch wie eine Rakete. Sind Sie einmal in der Luft, lassen Sie die Beine los und strecken den Körper. Es ist wie ein F allschirmabsprung.«
»Ich wußte nicht, daß es so sein würde«, sagte Laura ängstlich. »Fallschirmspringen! Ich weiß nicht, wie man das macht!«
»Ja«, sagte Matrose 2 ungeduldig, »aber Sie haben es gesehen. In der Glotze.«
»Wenn eine Maschine Sie an den Haken nimmt, ist es genauso wie beim Fallschirmabsprung, bloß umgekehrt«, sagte Matrose 1 hilfreich. Er steuerte sie zum Bug des ersten Lastenträgers. »Was, meint ihr, ist darin?«
»Neue Ladung Raketen«, sagte Matrose 2.
»Nein, Mann, es sind die Fressalien. Tiefgekühltes.«
»Niemals. Der da drüben ist der mit dem Tiefgekühlten.« Er wandte sich zu Laura. »Haben Sie nicht gehört, was ich sagte? Ziehen Sie die Beine an, umfassen Sie die Knie!«
»Ich…« Es traf sie wie ein Autounfall. Ein jäher, furchtbarer Ruck, als wollte ihr der Haken die Knochen aus dem Fleisch reißen. Sie schoß nach oben wie von einer Kanone abgeschossen, Arme und Kniegelenke gaben nach, sie wurde gestreckt wie auf der Folterbank. Gleichzeitig wurde ihr schwarz vor Augen, als die Beschleunigung das Blut aus dem Gehirn in die Extremitäten trieb. Sie war hilflos, am Rande der Ohnmacht, und ihre Kleider flatterten im Wind, Ihr Körper begann an der Leine zu rotieren wie ein Kreisel. Aber nach diesem ersten Schock stellte sich ein sonderbares Gefühl mystischer Ekstase ein: sublimes Entsetzen, hilflose Furcht. Sindbad der Seefahrer, wie er vor Madagaskar vom Vogel Roch gefangen und durch die Luft getragen wird. Östlich von Afrika. Unter ihr das unendliche Blau des Ozeans…
Ein Schatten fiel über sie. Ohrenbetäubender Lärm von Triebwerken, das Winseln einer Winsch. Dann war sie oben und im Bauch der Maschine. Von unten drang Tageslicht herein, fiel auf beschriftete Kisten, Verschläge, Kabelrollen. Ein innerer Kranausleger schwenkte sie von der Ladeluke fort und setzte sie ab. Sie lag keuchend und benommen.
Dann knallten die Ladeluken zu, und es wurde stockdunkel.
Sie spürte, wie die Maschine beschleunigte und stieg. Sie hob die Nase. Die Triebwerke donnerten.
Sie befand sich in einer fliegenden schwarzen Höhle, in der es nach Kunststoff und geöltem Segeltuch und afrikanischem Staub roch. Es war finster wie in einer verschlossenen Thermosflasche.
Sie schrie: »Licht an!« Nichts. Sie hörte das Echo ihrer Worte. Sie war allein. Vielleicht hatte die Maschine nur den Piloten und seinen Copiloten an Bord, oder sie war eine unbemannte Riesendrohne, ein ferngelenktes Versorgungsflugzeug.
Sie befreite sich umständlich aus der Schwimmweste, versuchte es mit verschiedenen Varianten akustischer Signale zum Einschalten der Beleuchtung, suchte die Umgebung nach Schaltern ab. Sie wiederholte die Anweisungen auf japanisch. Vergebens. Sie war ein Bestandteil der Ladung - niemand hörte auf Äußerungen der Luftfracht.
Es wurde kalt. Und die Luft wurde dünn.
Sie fror. Nach Tagen unveränderter Temperatur im U-Boot war sie empfindlich gegen die Kälte. Sie saß zusammengekauert in ihrer Isolierfolie, zog die Kapuze über den Kopf und legte die Hände vors Gesicht: Es war so finster, daß sie buchstäblich die Hand nicht vor den Augen sehen konnte. Sie atmete in die Hände, um sie warmzuhalten. Dampfende, schnaufende Atemzüge dünner Himalayaluft. Sie zog sich zu einer Kugel zusammen und zitterte.
Isolation und Schwärze und das vibrierende Dröhnen der Triebwerke.
Die Landung - das butterweiche Aufsetzen cybernetischer Präzision - weckte sie aus kältestarrer Betäubung. Sie hörte die Maschine ausrollen, zum Stillstand kommen, aber nichts geschah. Nach einer halben Stunde quälender Furcht und Ungewißheit, während die Hitze in das dunkle Innere des Frachtraums kroch, begannen ihre Nerven zu versagen. Hatte man sie vergessen?
War sie einem Programmfehler zum Opfer gefallen, der einen routinemäßigen Leerflug vorgesehen hatte und die Maschine bis zum nächsten Versorgungseinsatz irgendwo am Rande einer Wüstenpiste abgestellt hatte?
Endlich ein Knarren von Türen, weißglühendes Licht ergoß sich in den Raum. Ein heißer Luftschwall, befrachtet mit dem Geruch von Staub und Kerosin.
Das Rumpeln und Quietschen einer fahrbaren Treppe. Stiefelschritte. Man schaute herein, ein sonnengebräunter blonder Europäer in Khakiuniform. Sein Hemd war auf beiden Seiten dunkel vom Schweiß. Er sah sie neben ein paar Kisten kauern, die mit einer festgezurrten Persenning zugedeckt waren.
»Kommen Sie heraus!« sagte er und winkte mit dem Arm. In seiner Faust war eine kleine schwarze Metallmündung, Teil eines Mechanismus, der an den Unterarm geschnallt war und einen Lauf hatte. Es war eine Art Maschinenpistole.
»Na wird's bald?«
Laura stand auf. »Wer sind Sie? Wo sind wir?«
Er schüttelte den Kopf. »Keine Fragen. Vorwärts!«
Er ließ sie vorausgehen, hinaus in überhitzte, ausgetrocknete Luft. Sie war auf einem Wüstenflugplatz. Staubige, in Hitzeflimmern verschwimmende Rollbahnen, ein niedriges, weißgetünchtes Gebäude mit einem verblichenen Windsack, einer schlaff herabhängenden rot, golden und grün gestreiften Fahne. In der Ferne lag ein riesiger weißer Flugzeughangar, blaß und scheunenartig, und von dort kam das zornige Pfeifen von Triebwerksdüsen.
In der Nähe wartete eine Art Lieferwagen, ein Gefangenentransportfahrzeug, weiß gestrichen wie ein Bäckereiwagen. Dicke Reifen mit Geländeprofil, drahtgesicherte Fenster, schwere Stoßstangen aus Stahlblech.
Zwei schwarze Polizisten öffneten die Hecktüren. Sie trugen Khakishorts, Kniestrümpfe, Sonnenbrillen, Gummiknüppel und Pistolen mit Patronentaschen für Ersatzmagazine. Ihre schweißglänzenden Gesichter waren gleichgültig und ausdruckslos; sie strahlten empfindungslose Bedrohung aus. Ihre schwieligen Hände befingerten die Gummiknüppel, als Laura zu ihnen gebracht wurde.
Sie stieg in den Wagen. Die Hecktüren schlugen zu und wurden abgesperrt. Sie war allein und fürchtete sich. Das
Metall des Daches war so heiß, daß sie es kaum berühren konnte, und der mit Gummi bezogene Fußboden stank nach Schweiß und getrocknetem Urin.
Lauras überreizte Nerven sagten ihr, daß in diesem Wagen Menschen gestorben waren; sie glaubte die Gegenwart ihres Sterbens wie ein Gewicht auf ihrem Herzen zu fühlen. Tot, zerschlagen und blutend, hier auf dieser schmutzigen Gummimatte.
Der Motor sprang an, der Wagen setzte sich mit einem Ruck in Bewegung; sie stürzte zu Boden.
Nach einer Weile faßte sie Mut, raffte sich auf und spähte zu dem mit dickem Draht vergitterten Fenster hinaus.
Flammende Hitze, eine Sonne wie eine Blitzlichtentladung, und Staub. Runde Lehmziegelhütten - nicht einmal richtige Lehmziegel, nur getrocknete rötlich-lehmige Erde -, zum Teil mit wackligen Anbauten aus Wellblech und Plastik. Schmutzige, aufgespannte Lumpen als Schattenspender. Da und dort dünner Rauch von Feuerstellen. Die kleinen Rundhütten mit ihren Spitzdächern waren zusammengedrängt wie Pickel auf der Haut eines Halbwüchsigen, ein ausgedehntes Elendsviertel, das sich hügelauf, hügelab erstreckte, durch Trockenbetten und über Abfallhalden, so weit das Auge reichte. In weiter Ferne blies eine Reihe von Fabrikschornsteinen ungefilterten Schmutz in den wolkenlosen Himmel. Ein Hüttenwerk? Eine Raffinerie?
Sie sah kaum Menschen. Niemand bewegte sich in der brutalen Hitze: Die meisten saßen oder lagen wie betäubt im Schatten von Eingängen und Zeltdächern. Sie hatte das Gefühl enormer, unsichtbarer Menschenmassen, die im heißen Schatten ihrer Behausungen auf den Abend warteten, der in diesem gottverlassenen Inferno ein wenig Kühle und Linderung versprach. Die schmalen, regellos angelegten Gassen zwischen den Rundhütten und Wellblechbehausungen waren gesäumt von getrockneten menschlichen Exkrementen und erstaunlichen, geradezu explosiven Schwärmen afrikanischer Fliegen. Die Fliegen waren allgegenwärtig und groß wie Schaben.
Kein Straßenpflaster, keine Straßengräben, keine Wasserleitungen, Abwässerkanäle, keine elektrische Energie. Inmitten der dichtesten Zusammenballungen von Hütten und Zeltbahnen sah sie ein paar an Stangen befestigte Lautsprecher. Einer erhob sich über einem schmierigen Cafe, einem kopfsteingepflasterten offenen Stall aus Plastik und Kistenbrettern, mit Zeltbahnen als Dach. Dort kauerten Dutzende von Männern im Schatten auf ihren Keulen, tranken aus alten Limonadenflaschen und spielten mit Kieselsteinen, die in bestimmte Felder geworfen werden mußten. Über ihren Köpfen verbreitete der Lautsprecher ein monotones Krächzen in einer unverständlichen Sprache.
Die Männer blickten auf, als der Gefangenentransportwagen vorbeirumpelte, und ihre Mienen waren verschlossen, ausdruckslos. Laura sah, daß ihre Kleider von Schmutz starrten. Und zu einem guten Teil waren es Kleider westlicher Herkunft: zerlumpte T-Shirts und karierte Polyesterhosen und billige, zerrissene Schuhe mit Vinylsohlen, mit Draht zugebunden. Sie trugen Turbane aus farbigen Stoffresten.
Der Wagen fuhr weiter, knirschte rumpelnd durch Schlaglöcher und wirbelte erstickenden Staub auf. Lauras Blase drohte zu bersten. Sie erleichterte sich in einem Winkel des Wagens, wo es am schlimmsten stank.
Die Elendsviertel wollten kein Ende nehmen. Sie wurden womöglich noch dichter und verhängnisvoller. Der Wagen kam durch eine Gegend, wo die Männer narbig waren und lange Messer offen in den Gürteln trugen und rasierte Köpfe und Tätowierungen hatten. Eine Gruppe von Frauen in schmieriger Sackleinwand wehklagte ohne besonderen Nachdruck über einem toten Jungen, der ausgestreckt in der Türöffnung einer Hütte lag.
Da und dort bemerkte Laura vertraute Stücke und Gegenstände der Außenwelt, ihrer Welt, die keinen Zusammenhang mit dieser Realität hier hatten und wie von einem höllischen Wind verweht schienen. Jutesäcke mit verblaßtem blauem Stempelaufdruck: In Freundschaft sich drückende Hände und darunter in französisch und englisch: 100% WEIZENMEHL, EIN GESCHENK KANADAS AN DIE BEVÖLKERUNG VON MALI. Ein halbwüchsiger Junge trug ein T-Shirt mit einem Aufdruck aus Disneyland mit dem Wahlspruch ›Besucht die Zukunft!‹ Ölfässer, geschwärzt vom Ruß verbrannter Abfälle über den Kringeln arabischer Inschriften. Teile eines koreanischen Lieferwagens, Autotüren aus Kunststoff, mit den Fenstern eingelassen in eine Wand aus rotem, erdigem Lehm.
Dann eine verwahrloste, rußgeschwärzte Versammlungshalle oder Kirche, deren lange Außenmauern mit einer furchterregenden Ikonographie grinsender, gehörnter Heiliger bemalt waren. In die gerundeten Lehmkuppeln des Daches waren die glitzernden runden Böden zerbrochener Flaschen eingesetzt.
Der Wagen fuhr stundenlang. Sie war mitten in einer größeren Stadt, einer Metropole. Hier lebten Hunderttausende. Das ganze Land, Mali, ein riesiges Gebiet, größer als Texas, und dies war fast alles, was davon übriggeblieben war, dieser labyrinthische Ameisenhaufen. Alle anderen Möglichkeiten hatte die afrikanische Katastrophe verschüttet. Die Überlebenden der Dürre drängten sich in gigantischen städtischen Flüchtlingslagern wie diesem zusammen. Sie war in Bamako, der Hauptstadt von Mali.
Der Hauptstadt der FAKT. Sie war die Geheimpolizei hier, die Macht, die das Heft in der Hand hatte. Sie übte die Herrschaft über einen Staat aus, der hoffnungslos ruiniert war, reduziert auf eine Serie menschenunwürdiger Elendssiedlungen.
In einer jähen, abstoßenden Einsicht wurde Laura klar, wie wertlos ein Menschenleben hier war. In dieser zu unvorstellbaren Dimensionen angeschwollenen Elendssiedlung war ein Sumpf von Elend und Verkommenheit, der die ganze Welt zu verseuchen drohte. Sie hatte immer gewußt, daß die Verhältnisse in Afrika schlimm waren, aber sie hatte sich niemals vorstellen können, daß ein Leben hier einfach bedeutungslos war. Und sie erkannte in einer Anwandlung fatalistischen Schreckens, daß auch ihr Leben in dieser Umgebung so klein und unbedeutend war, daß sie keinerlei Erwartungen damit verknüpfen durfte. Sie war jetzt in der Hölle, und hier galten andere Maßstäbe.
Endlich rollten sie durch ein Tor in einem Stacheldrahtzaun auf eine freie Fläche aus Staub, Asphalt und skeletthaften Wachttürmen. Weiter voraus erhoben sich - Lauras Herz klopfte schneller - die vertrauten, freundlichen braunen Wände aus Sandbeton. Sie näherten sich einem massigen, überkuppelten Gebäude, das entfernte Ähnlichkeit mit ihrem Rizome-Ferienheim in Galveston hatte. Es war jedoch sehr viel größer und solide gebaut. Fortschrittlich in Entwurf und Ausführung, Denkmal der gleichen Techniken, die David bevorzugte.
Der Gedanke an David traf sie so schmerzhaft, daß sie sich augenblicklich gegen ihn verschloß.
Dann rollten sie durch ein Tor in den meterdicken Sandbetonwänden, unter einem grausamen schmiedeeisernen Fallgatter durch.
Der Wagen hielt an. Nichts geschah.
Nach vielleicht zehn Minuten riß der Europäer die Hecktüren auf. »Raus!«
Sie kletterte hinaus in betäubende Hitze. Sie befand sich auf einer leeren Fläche, einem Kasernenhof aus gestampfter, ausgedörrter Erde, umgeben von zweistöckigen braunen Gebäudetrakten. Der Europäer führte sie zu einer eisernen Tür, die ins Gefängnis führte. Zwei Wächter erschienen neben ihr. Sie durchwanderten einen Korridor mit nackten Leuchtstoffröhren an der Decke. »Zur Dusche«, sagte der Europäer.
Das Wort hatte einen unangenehmen Klang. Laura blieb stehen. »Ich will nicht unter die Dusche.«
»Da gibt es auch eine Toilette«, sagte der Europäer.
Sie schüttelte störrisch den Kopf. Der Europäer blickte über ihre Schulter und nickte kaum merklich.
Ein Gummiknüppel traf sie von hinten zwischen Nacken und Schultern. Es war, als hätte sie ein Blitzschlag getroffen. Ihre ganze rechte Körperhälfte wurde taub, und sie brach wimmernd in die Knie.
Der Schock verging, und Schmerz nahm seine Stelle ein. Echter Schmerz, nicht die pastellfarbene Ausführung, die sie in der Vergangenheit ›Schmerz‹ genannt hatte: eine naturhafte, zutiefst biologische Erfahrung. Sie konnte nicht glauben, daß dies alles war, daß sie bloß mit einem Stock geschlagen worden war. Schon fühlte sie, daß es ihr Leben veränderte.
»Aufstehen!« sagte er im gleichen überdrüssigen Tonfall. Sie stand auf. Die Wärter brachten sie zum Duschraum.
Dort gab es eine Wärterin. Sie zogen sie aus, und die Frau nahm eine Durchsuchung der Körperöffnungen vor, während die Männer Lauras Nacktheit mit distanziert-berufsmäßigem Interesse betrachteten. Sie wurde unter die Dusche gestoßen und bekam ein Stück Laugenseife, das nach Insektizid roch. Das Wasser war hart und salzig, die Seife wollte nicht schäumen. Der Hahn wurde zugedreht, bevor sie sich ganz abgespült hatte.
Sie trat unter der Dusche heraus. Ihre Kleider und Schuhe waren verschwunden. Die Wärterin stieß ihr eine Injektionsspritze mit fünf Kubikzentimetern gelber Flüssigkeit in die Hinterbacke. Sie fühlte, wie das Zeug in sie eindrang und brannte.
Der Europäer und seine zwei Untergebenen gingen, und zwei Wärterinnen erschienen. Laura erhielt Hemd und Hose aus schwarz-weiß gestreifter Leinwand, zerknittert und rauh. Zitternd zog sie sich an. Entweder begann die Injektion zu wirken, oder sie bildete es sich in ihrer Angst ein. Sie fühlte sich benommen und schwindlig, nicht weit entfernt von echter Geistesverwirrung.
Immer wieder dachte sie, daß bald eine Zeit kommen werde, wo sie gezwungen sein würde, zu verlangen, daß man sie töte, um ihre Würde nicht zu verlieren. Aber man schien nicht begierig, sie ins Jenseits zu befördern, und sie war ebenso wenig begierig, zu sterben. Vor allem aber begann sie zu verstehen, daß ein Mensch durch Schläge beinahe zu allem gebracht werden konnte. Sie wollte nicht wieder geschlagen werden, nicht, bevor sie sich besser in der Hand hätte.
Die Wärterin sagte etwas in gebrochenem Französisch und zeigte zur Toilette. Laura schüttelte den Kopf. Die Frau sah sie an, als hätte sie es mit einer Schwachsinnigen zu tun, dann zuckte sie die Achseln und machte eine Eintragung in das Blatt auf ihrer Klemmtafel.
Die beiden Wärterinnen fesselten ihre Arme mit Handschellen auf dem Rücken. Eine von ihnen zog einen Gummiknüppel, steckte ihn geschickt durch die Stahlkette der altmodischen Handschellen und hebelte Lauras Arme in den Schultergelenken aufwärts, bis sie gezwungen war, sich nach vorn zu krümmen. Dann trieben sie sie hinaus, steuerten sie wie einen Einkaufswagen durch den Korridor und eine schmale Treppe hinauf, die unten und oben durch Gittertüren gesichert war. Dann ging es im Obergeschoß an einer langen Reihe von Eisentüren mit kleinen Schiebefenstern vorbei.
Sie hielten vor Zelle 31 und warteten dort, bis eine Beschließerin auftauchte. Es dauerte ungefähr fünf Minuten, und diese Zeit verbrachten die beiden gummikauend und mit Bemerkungen über Laura, die trotz des einheimischen Dialekts eindeutig waren.
Endlich stieß die Beschließerin die Tür auf, und sie stießen Laura in die Zelle. Die Tür krachte zu. »He!« rief Laura. »Ich bin gefesselt! Sie haben die Handschellen vergessen!« Das Schiebefenster ging auf, und sie sah ein menschliches Auge und eine Nase. Es wurde wieder geschlossen.
Sie war in einer Zelle. Im Gefängnis einer Militärdiktatur. In Afrika.
Sie fragte sich, ob es Schlimmeres geben könne. Ja, dachte sie: Sie könnte krank sein.
Sie begann sich fiebrig zu fühlen.
Eine Stunde ist:
Eine Minute und eine Minute und eine Minute und eine Minute und eine Minute.
Und eine Minute, und eine Minute, und eine Minute und eine Minute und eine Minute.
Dann noch eine, und eine weitere Minute, und wieder eine, und noch eine, und noch eine.
Und eine Minute, dann zwei weitere Minuten. Dann noch zwei Minuten.
Dann zwei Minuten. Dann zwei Minuten. Dann eine Minute.
Dann eine ähnliche Minute. Dann noch zwei. Und wieder zwei.
Das sind bis dahin dreißig Minuten.
Also fängt man wieder von vorn an.
Lauras Zelle war etwa vier Schritte lang und drei Schritte breit. Sie hatte ungefähr die Größe des Badezimmers in dem Haus, wo sie einmal gewohnt hatte, dem Haus, an das zu denken sie sich nicht oft gestattete. Ein guter Teil dieses Raumes wurde von der Pritsche eingenommen. Sie hatte vier Beine aus Stahlrohr und einen Stützrahmen aus Kanteisen. Auf dem Rahmen lag eine Matratze aus gestreiftem Baumwolldrill, mit Stroh ausgestopft. Die Matratze roch schwach und nicht ganz unangenehm nach der langen Krankheit einer Fremden. Ein Ende war mit bräunlich verblaßten Blutflecken bespritzt.
In der Wand der Zelle war ein Fensterloch. Es war eine Öffnung von der Größe eines Toilettenabflusses und durch den meterdicken Sandbeton gebohrt. Am äußeren Ende war es durch ein dünnes Metallgitter verschlossen. Wenn sie sich direkt vor das Loch stellte, konnte Laura einen runden Ausschnitt hitzeflimmernden gelblichen Wüstenhimmels sehen. Manchmal kamen schwache Ausläufer heißer Windstöße durch das Rohr herein.
Die Zelle hatte keine sanitären Installationen. Aber von anderen Gefangenen lernte sie rasch, was zu tun war. Man schlug gegen die Tür und schrie, vorzugsweise auf französisch oder Bambara, der wichtigsten einheimischen Sprache. Nach einer gewissen Zeit, die von ihrem Gutdünken abhing, kam eine der Wärterinnen und brachte sie zur Latrine: einer Zelle, die den anderen glich, aber ein Loch im Boden hatte.
An ihrem sechsten Tag hörte sie zum ersten Mal die Schreie. Sie schienen aus dem dicken Boden unter ihren Füßen emporzudringen. Noch nie hatte sie so unmenschliche Schreie gehört, nicht einmal während des Aufstandes in Singapur. Verglichen mit diesem Heulen und Kreischen waren die Schreie der in Panik geratenen Menge eher eine Art Fröhlichkeit gewesen.
Sie konnte keine Worte ausmachen, stellte jedoch fest, daß es Pausen gab, und bisweilen glaubte sie ein tiefes elektrisches Summen zu vernehmen.
Zum Essen und für die Latrine wurden ihr die Handschellen abgenommen. Danach wurden sie wieder festgeschlossen, sorgfältig und oben an den Handgelenken, daß sie nicht durch den Kreis ihrer Arme steigen und die Hände vor sich halten konnte. Als ob es einen Unterschied machte, als ob sie mit den Fingernägeln ein Loch in den meterdicken Sandbeton graben oder die Stahltür aus den Angeln reißen könnte.
Nach einer Woche war in ihren Schultern ein ständiger leichter Dauerschmerz, und sie hatte abgeschürfte Stellen am Kinn und an den Wangen, weil sie nur auf dem Bauch schlafen konnte. Sie beklagte sich jedoch nicht. Im Gefängniskorridor hatte sie flüchtig einen Mitgefangenen gesehen, einen Asiaten, Japaner, wie sie meinte. Er hatte Handschellen und Fußfesseln getragen, dazu eine Augenbinde.
Im Laufe der zweiten Woche wurden ihr die Handschellen von vorn angelegt. Das war ein erstaunlicher Unterschied. Sie glaubte in absurder Unvernunft, daß sie wirklich etwas erreicht habe, daß ihr von der Gefängnisverwaltung eine geringfügige, aber eindeutige Botschaft zugegangen sei.
Sicherlich, dachte sie, als sie auf ihrer Pritsche lag, auf den Schlaf wartete, und fühlte, wie ihre Gedankengänge sich allmählich auflösten, sicherlich war es ein Zeichen, vielleicht nur ein Haken auf einer Klemmtafel, aber irgendeine institutionelle Formalität hatte stattgefunden. Sie existierte.
Am Morgen war sie überzeugt, daß es eigentlich nichts bedeuten könne. Dennoch begann sie Liegestütze zu machen.
Sie markierte die Tage ihrer Haft, indem sie mit der Kante ihrer Handschellen Striche in die körnige Wand unter ihrer Pritsche kratzte. An ihrem einundzwanzigsten Gefängnistag wurde sie aus der Zelle geholt, bekam eine weitere Dusche nebst Leibesvisitation und wurde dem Inspektor der Haftanstalten vorgeführt.
Der Inspektor der Haftanstalten war ein großer, lächelnder, sonnengebräunter Weißer in einer langen seidenen Djellabah, blauen Anzughosen und handgefertigten Ledersandalen. Er empfing sie in einem klimatisierten Büro im Erdgeschoß, wo es Metallstühle und einen geräumigen stählernen Schreibtisch mit einer lackierten Sperrholzplatte gab. An den Wänden hingen goldgerahmte Porträts, Männer in Uniformen: GALTIERI, NORTH, MACARTHUR.
Eine Wärterin drückte Laura auf einen metallenen Klappstuhl vor dem Schreibtisch. Nach den Wochen drückender Hitze in ihrer Zelle kam ihr die klimatisierte Luft arktisch vor, und sie fröstelte.
Die Wärterin schloß ihre Handschellen auf. Die Haut darunter war schwielig, das linke Handgelenk hatte eine verschorfte Wunde, aus der Flüssigkeit sickerte.
»Guten Tag, Mrs. Webster«, sagte der Inspektor.
»Hallo«, sagte Laura. Ihre Stimme war eingerostet.
»Trinken Sie eine Tasse Kaffee. Er ist sehr gut. Aus Kenia.« Der Inspektor schob ihr Tasse und Untertasse über den Schreibtisch. »Sie hatten dieses Jahr gute Regenfälle.«
Laura nickte stumpfsinnig. Sie hob die Tasse und schlürfte vom Kaffee. Seit Wochen hatte sie Gefängniskost gegessen: Scop, und gelegentlich eine Schale Hirsebrei. Und das harte, metallisch schmeckende Wasser getrunken, zwei Liter jeden Tag, leicht gesalzen, um einem Hitzschlag vorzubeugen. Der heiße Kaffee traf ihre Geschmacksnerven mit einer erstaunlichen Fülle, wie belgische Schokolade. Ihr schwindelte.
»Ich bin der Inspektor der Haftanstalten«, sagte der Mann am Schreibtisch. »Auf meiner planmäßigen dienstlichen Rundreise hier.«
»Was für ein Gefängnis ist dies?«
Der Inspektor lächelte. »Dies ist die Strafvollzugsanstalt Moussa Traore, in Bamako.«
»Welchen Tag haben wir?«
Er sah auf sein Uhrtelefon. »Es ist Mittwoch, der 6. Dezember 2023.«
»Wissen meine Leute, daß ich noch am Leben bin?«
»Ich sehe, Sie kommen gleich zum Kern der Dinge«, sagte der Inspektor. »Nach Lage der Dinge, Mrs. Webster, wissen sie es nicht. Sehen Sie, Sie stellen ein ernstes Sicherheitsrisiko dar. Das verursacht uns einige Kopfschmerzen.«
»Einige Kopfschmerzen.«
»Ja… Sehen Sie, infolge der besonderen Umstände, unter denen wir Ihnen das Leben retteten, haben Sie erfahren, daß wir uns in Besitz der Bombe befinden.«
»Was? Ich verstehe nicht.«
Er runzelte leicht die Stirn. »Der Bombe, der Atombombe.«
»Sie halten mich wegen einer Atombombe hier fest?«
Das Stirnrunzeln verstärkte sich. »Sehen Sie nicht, was das bedeutet? Sie sind an Bord der Thermophylae gewesen. Unseres Schiffes.«
»Sie meinen das Boot, das U-Boot?«
Er starrte sie an. »Sollte ich mich deutlicher ausdrücken?«
»Ich bin etwas verwirrt«, sagte Laura. Sie fühlte sich benommen. »Ich habe drei Wochen Einzelhaft hinter mir.« Sie stellte die Tasse sorgfältig auf den Tisch zurück. Ihre Hand zitterte. »Ich sah ein U-Boot, das ist richtig, aber ich weiß nicht, ob es ein echtes Atom-U-Boot war. Ich weiß das nur von Ihnen und von der Mannschaft an Bord. Je mehr ich darüber nachdenke, desto schwerer fällt es mir, daran zu glauben. Keine der alten Nuklearmächte war dumm genug, ein ganzes U-Boot zu verlieren. Schon gar nicht eins mit Atomraketen an Bord.«
»Sie scheinen ein rührendes Vertrauen zu Regierungen zu haben«, sagte der Inspektor. »Wenn wir ein Trägersystem haben, spielt es kaum eine Rolle, woher wir die Raketen und Sprengköpfe haben, nicht wahr? Der entscheidende Punkt ist, daß die Wiener Konvention an unsere Abschreckungsmacht glaubt, und unser Arrangement mit ihr erfordert, daß wir über unsere Abschreckungsmacht Stillschweigen bewahren. Aber Sie kennen das Geheimnis.«
»Ich glaube nicht, daß die Wiener Konvention mit Atomterroristen ein Abkommen schließen würde.«
»Möglicherweise nicht«, sagte der Inspektor, »aber wir sind die Terroristenabwehr. Wien weiß sehr genau, daß wir ihnen die Arbeit abnehmen. Stellen Sie sich aber die Reaktion der Weltöffentlichkeit vor, wenn die Nachricht hinausginge, daß unsere Republik Mali eine Atommacht ist.«
»Was für eine Reaktion?«
»Also«, sagte er, »das sollten Sie, für die das weltweite Kommunikationsnetz Religionsersatz ist, am besten wissen. Die große Masse, die unaufgeklärte Menge, würde in Panik geraten, angestachelt von Ihren Schreckensmeldungen in den Medien. Jemand würde sich zu überstürztem Handeln hinreißen lassen, und wir würden gezwungen sein, unnötigerweise unsere Abschreckung einzusetzen.«
»Sie meinen, irgendwo eine Atombombe zu zünden.«
»Es würde uns im Falle direkter Bedrohung keine andere Wahl bleiben. Obwohl es kein Verfahren ist, das wir gern anwenden würden.«
»Angenommen, ich glaube Ihnen«, sagte Laura. Der Kaffee tat jetzt seine Wirkung, ermunterte sie und gab ihr Mut. »Wie können Sie dasitzen und mir sagen, daß Sie im Notfall eine Atombombe zünden würden? Sehen Sie nicht, daß das in einem krassen Mißverhältnis zu dem stehen würde, was Sie erreichen wollen?«
Der Inspektor schüttelte langsam den Kopf. »Wissen Sie, wie viele Menschen in den vergangenen zwanzig Jahren in Afrika gestorben sind? Etwas über achtzig Millionen. Eine erschütternde Zahl, nicht wahr: achtzig Millionen. Und das Schlimme daran ist, daß nicht einmal diese Opfer etwas bewirkt haben; die Situation verschlimmert sich weiter. Afrika ist krank, es bedarf eines tiefen Eingriffs. Die Nebenschauplätze Singapur und Grenada, auf denen wir tätig geworden sind, erscheinen im Vergleich zu dem, was hier notwendig ist, wie Public-Relations-Aktionen. Aber ohne ein Abschreckungsmittel würden wir nicht freie Hand haben, zu tun, was erforderlich ist.«
»Sie meinen Völkermord?«
Er schüttelte bekümmert den Kopf, als hätte er dies alles schon zu oft gehört und von ihr Besseres erwartet. »Wir müssen den Afrikaner vor sich selbst schützen. Nur wir können diesen Völkern die Ordnung geben, die sie zum Überleben brauchen. Was hat Wien zu bieten? - Nichts. Die Regierungen der afrikanischen Staaten sind souverän und größtenteils Signatarstaaten der Wiener Konvention. Manchmal mischt Wien sich ein, wenn es um den Sturz einer besonders verabscheuungswürdigen Gewaltherrschaft geht, aber Wien weiß keine längerfristige Lösung. Die Außenwelt hat Afrika abgeschrieben, und Ihr Netz ist daran mitschuldig. Während es sich anderwärts in Humanitätsduselei verliert, ignoriert es, daß in Afrika jedes Jahr Millionen Menschenleben vernichtet werden.«
»Wir schicken noch immer Hilfslieferungen, nicht wahr?«
»Die verschärfen nur das Elend, indem sie die Landflucht fördern und die Korruption nähren.«
Laura rieb sich die Stirn. »Ich verstehe nicht…«
»Sie sollten aber; das Problem existiert seit sechzig Jahren, seit Hilfslieferungen nach Afrika geschickt werden. Unsere Aufgabe ist einfach zu beschreiben. Wir müssen erfolgreich sein, wo Wien versagt hat. Wien hat nichts gegen die terroristischen Machenschaften der Datenpiraten unternommen, nichts zur Rettung Afrikas. Wien ist schwach und gespalten. Aber es ersteht eine neue Weltordnung, die nicht auf obsoleten Nationalregierungen beruht. Sie wird auf modernen, multinational denkenden Gruppen wie Ihrer Rizome und unserer Freien Armee beruhen.«
»Niemand hat Sie gewählt«, sagte Laura. »Sie haben keine rechtmäßige Autorität. Sie sind ein… ein Selbstschutzverband!«
»Sie haben die Funktion des Mitglieds in einem Selbstschutzverband ausgeübt«, erwiderte der Inspektor der Haftanstalten. »Ihre diplomatische Mission war von genau dieser Art. Sie diente der Destabilisierung von Regierungen und der Einmischung in fremde Angelegenheiten zugunsten der Interessen Ihres multinationalen Unternehmens. Wir haben alles gemeinsam, wie Sie sehen.«
»Nein!«
»Wir könnten gar nicht existieren, wenn es nicht Unternehmen wie Ihres gäbe, Mrs. Webster. Sie finanzierten uns. Sie schufen uns. Wir dienen Ihren Erfordernissen.« Er holte Luft und lächelte. »Wir sind Ihr Schwert und Schild.«
Laura sank in den Stuhl zurück. »Warum bin ich in Ihrem Gefängnis, wenn wir auf derselben Seite stehen.«
Er legte die Fingerspitzen zusammen. »Ich sagte Ihnen das bereits, Mrs. Webster - weil Sie ein Sicherheitsrisiko sind! Andererseits sehen wir keinen Grund, warum Sie nicht Ihre Mitarbeiter und Angehörigen verständigen sollten. Sie wissen lassen, daß Sie am Leben und in Sicherheit und bei guter Gesundheit sind. Das würde ihnen viel bedeuten, sicherlich. Sie könnten eine Erklärung abgeben.«
Laura hatte geahnt, daß dies kommen würde. »Was für eine Erklärung?« sagte sie mit tonloser Stimme.
»Eine vorbereitete Erklärung, selbstverständlich. Wir können nicht zulassen, daß Sie unsere Atomgeheimnisse über eine offene Telefonverbindung nach Atlanta ausplaudern.
Aber Sie könnten eine Videoaufzeichnung machen. Die wir für Sie veröffentlichen würden.«
Ihr Magen zog sich zusammen. »Zuerst müßte ich die Erklärung sehen. Und lesen. Und darüber nachdenken.«
»Tun Sie das! Denken Sie darüber nach!« Er berührte sein Uhrtelefon, sprach auf französisch. »Lassen Sie uns Ihre Entscheidung wissen.«
Ein Wärter trat ein. Er führte sie in eine andere Zelle. Diesmal verzichteten sie auf das Anlegen der Handschellen.
Lauras neue Zelle war von der gleichen Länge wie die erste, enthielt aber zwei Pritschen und war anderthalb Schritte breiter. Laura war nicht mehr gezwungen, Handschellen zu tragen. Sie bekam ihren eigenen Nachttopf und einen größeren Wasserkrug. Es gab mehr Scop, und der Hirsebrei war von besserer Qualität und enthielt manchmal Stücke von Speck aus Sojabohnen.
Sie gaben ihr ein Kartenspiel und eine broschürte Bibel, die von der Mission der Zeugen Jehovas in Bamako 1992 verteilt worden war. Sie bat um einen Bleistift, um Notizen für ihre Erklärung zu machen. Darauf erhielt sie ein Schreibgerät für Kinder, mit einem ausklappbaren kleinen Bildschirm. Es ließ sich sehr sauber darauf tippen, doch gab es keine Ausdruckstation, und das Gerät eignete sich nicht zur Abfassung schriftlicher Geheimbotschaften.
Unter ihrer neuen Zelle waren die Schreie lauter. Mehrere verschiedene Stimmen und, wie sie meinte, auch verschiedene Sprachen waren zu unterscheiden. Die Schreie dauerten mit kurzen Unterbrechungen etwa eine Stunde. Dann gab es eine Kaffeepause für die Folterer. Und dann gingen sie wieder an die Arbeit. Laura vermutete, daß es mehrere verschiedene Folterer geben mußte. Ihre Gewohnheiten differierten. Einer von ihnen spielte während seiner Pausen gern stimmungsvolle französische Chansons.
Eines Nachts wurde sie von einer gedämpften Salve Maschinengewehrfeuer geweckt. Ihr folgten nach kurzer Zeit fünf Gnadenschüsse. Sie hatten Leute hingerichtet, aber nicht die Leute, die gefoltert wurden, wie es schien, denn am nächsten Tag waren zwei von ihnen wieder da.
Sie benötigten zwei Wochen, um ihre Erklärung abzufassen und Laura vorzulegen. Sie war schlimmer, als sie sich vorgestellt hatte. Sie sollte Rizome und der Welt erklären, daß sie in Singapur von den Grenadinern entführt worden sei und im unterirdischen Tunnelkomplex von Fedons Festung gefangengehalten werde. Es war ein lächerlicher Entwurf; sie hatte den Eindruck, daß der Verfasser ein Ausländer war, für den englisch eine Fremdsprache war. Teile des Textes erinnerten sie an das FAKT-Kommunique, das nach der Ermordung Winston Stubbs' herausgegeben worden war.
Sie zweifelte nicht mehr daran, daß die FAKT Winston Stubbs getötet und dabei ihr Haus unter Feuer genommen hatte. Es war offensichtlich. Die ferngesteuerte Methode sprach dafür. Es konnte nicht Singapur gewesen sein. Singapurs Kommandoeinheiten, Soldaten wie Hotchkiss, hätten Stubbs ohne viel Umstände irgendwo niedergeschossen und sich nachher nicht damit gebrüstet.
Sie mußten die Drohne irgendwo von einem Überwasserschiff gestartet haben. Sie konnte nicht von ihrem U-Boot gekommen sein - es sei denn, sie besaßen mehr als eines - ein schrecklicher Gedanke. Das U-Boot konnte nicht schnell genug gewesen sein, um während der Zeit ihres Abenteuers Galveston, Grenada und Singapur anzugreifen. (Sie betrachtete es bereits als ihr Abenteuer - etwas, das vorüber war, das in ihrer Vergangenheit lag, vor der Gefangenschaft.) Aber Amerika war ein offenes Land, und viele Angehörige der FAKT waren Amerikaner.
Laura glaubte jetzt, daß sie jemanden - einen Agenten, einen Vertrauensmann, einen ihrer Henderson/Hesseltines - bei Rizome hatten. Es würde ihnen ein leichtes sein, nicht wie in Singapur. Der Betreffende brauchte bloß ordentliche Zeugnisse vorzulegen, fleißig zu arbeiten und zu lächeln.
Sie weigerte sich, die vorbereitete Erklärung vor einer Videokamera zu verlesen. Der Inspektor der Haftanstalten sah sie mißmutig an. »Sie glauben wirklich, dieser Trotz könne etwas bewirken?«
»Die Erklärung ist Desinformation. Sie ist schwarze Propaganda, eine Provokation, die darauf abzielt, daß in Grenada noch mehr Menschen getötet werden. Damit will ich nichts zu tun haben.«
»Schade. Ich hatte gehofft, Sie könnten Ihren Angehörigen einen Neujahrsgruß schicken.«
»Ich habe meine eigene Erklärung geschrieben«, sagte Laura. »Sie erwähnt weder Sie noch Mali, die FAKT oder Ihre Atomwaffen. Sie sagt nur, daß ich am Leben bin, und enthält ein paar Worte, die mein Mann wiedererkennen wird, um ihm zu zeigen, daß ich wirklich die Verfasserin bin.« .
Der Inspektor lachte. »Möchten Sie uns für dumm verkaufen, Mrs. Webster? Meinen Sie, wir würden zulassen, daß Sie Geheimbotschaften versenden, die Sie mit Ihrem… ah… weiblichen Einfallsreichtum in wochenlanger Arbeit in Ihrer Zelle ausgebrütet haben?«
Er steckte die vorbereitete Erklärung in eine Schreibtischschublade. »Sehen Sie, ich habe das nicht abgefaßt. Ich habe die Entscheidung nicht getroffen. Ich persönlich halte diese Erklärung nicht für besonders großartig. Da ich Wien kenne, würde sie eher dazu führen, daß die Wiener Abgesandten sich auf Zehenspitzen in diesen Termitenbau unter Fedons Festung begeben, statt ihn in Grund und Boden zu bombardieren, wie sie es schon vor Jahren hätten tun sollen.« Er zuckte die Achseln. »Aber wenn Sie Ihr Leben ruinieren, von den Behörden für tot erklärt und vergessen werden wollen, dann tun Sie es von mir aus.«
»Ich bin Ihre Gefangene! Tun Sie nicht so, als sei es meine Entscheidung.«
»Seien Sie nicht albern! Wenn es um ernsthafte Dinge ginge, könnte ich Sie dazu zwingen.«
Laura schwieg.
»Sie wähnen sich stark, nicht wahr?« Der Inspektor schüttelte den Kopf. »Sie denken, daß es so etwas wie eine romantische moralische Gültigkeitserklärung wäre, wenn wir darauf verfielen, Sie zu foltern. Folter ist nicht romantisch, Mrs. Webster. Sie ist ein Prozeß: Folter ist Folter, das ist alles. Sie macht niemanden edler. Sie zerbricht einen nur. Wie eine Maschine versagt, wenn man sie zu lange zu schnell, zu rücksichtslos antreibt. Es gibt niemals eine wirkliche Heilung, man kommt nie wirklich darüber hinweg. Genausowenig wie man das Altwerden überwindet.«
»Ich will nicht verletzt werden. Geben Sie nicht vor, ich wollte es.«
»Werden Sie die alberne Erklärung verlesen? Sie ist nicht so wichtig. Sie sind nicht so wichtig.«
»Sie töteten einen Mann in meinem Haus«, sagte Laura. »Sie töteten Menschen um mich herum. Sie töten Menschen in diesem Gefängnis. Ich weiß, daß ich nicht besser bin als diese Menschen. Ich glaube nicht, daß Sie mich jemals werden gehen lassen, wenn Sie es verhindern können. Warum also töten Sie mich nicht auch?«
Er schüttelte seufzend den Kopf. »Natürlich werden wir Sie gehen lassen. Wir haben keinen Grund, Sie länger hier festzuhalten, sobald Sie kein Sicherheitsrisiko mehr darstellen. Wir werden nicht für immer im Verborgenen wirken. Eines Tages, sehr bald, hoffe ich, werden wir aus der erzwungenen Anonymität heraustreten können. Eines Tages werden Sie, Laura Webster, eine geachtete Bürgerin in einer großen neuen globalen Gesellschaft sein.«
Ein langer Augenblick verging. Seine Worte waren an ihr vorbeigegangen, wie etwas am anderen Ende eines Fernrohrs. Schließlich sagte sie mit leiser Stimme: »Wenn Ihnen überhaupt daran liegt, dann hören Sie zu! Ich verliere den Verstand, allein in dieser Zelle. Ich möchte lieber tot sein als verrückt.«
»Also soll es jetzt Selbstmord sein?« Er war onkelhaft, skeptisch, besänftigend. »Selbstverständlich haben Sie an Selbstmord gedacht. Jeder tut das. Aber sehr wenige setzen den Gedanken in die Tat um. Selbst Männer und Frauen, die in Todeslagern Schwerstarbeit verrichten, finden Gründe, weiterzuleben. Sie beißen sich niemals die eigene Zunge ab, reißen sich nicht die Pulsadern mit den Fingernägeln auf oder rennen mit dem Kopf gegen eine Wand, oder was dergleichen kindische Häftlingsphantasien mehr sind.« Seine Stimme wurde nachdrücklich. »Mrs. Webster, Sie befinden sich hier in der oberen Ebene. Sie sind in Sondergewahrsam. Glauben Sie mir, in den Elendsvierteln dieser Stadt gibt es ungezählte Männer und Frauen und sogar Kinder, die mit Freuden töten würden, um so leben zu können wie Sie!«
»Warum lassen Sie mich dann nicht von ihnen töten?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich wünschte wirklich, Sie würden sich einsichtiger zeigen.«
Er seufzte und sprach ins Uhrtelefon. Nach einer Weile kam ein Wärter und brachte sie in die Zelle zurück.
Sie trat in den Hungerstreik. Drei Tage ließ man sie gewähren, dann schickte man ihr eine Zellengenossin.
Es war eine Negerin, die kein Englisch sprach. Sie war gedrungen und breitschultrig und hatte ein rundes, fröhliches Gesicht mit zwei fehlenden Vorderzähnen. Ihr Name war etwas wie Hofuette, oder Jofuette. Jofuette lächelte nur und zuckte die Achseln, wenn Laura englisch redete: Sie hatte keine Sprachbegabung und konnte sich ein ausländisches Wort keine zwei Tage merken. Sie war Analphabetin.
Laura hatte kein Glück mit Jofuettes Sprache. Es war Bambara, voller Hauch- und Schnalzlaute und eigentümlichen Klangfarben. Sie lernte die Wörter für Bett und essen und schlafen und Karten. Sie brachte Jofuette ein einfaches Kartenspiel bei. Es dauerte Tage, aber sie hatten viel Zeit.
Jofuette kam von unten, der unteren Ebene, wo die Schreie ihren Ausgang nahmen. Man hatte sie nicht gefoltert; jedenfalls waren keine Spuren an ihr zu sehen. Jofuette hatte jedoch gesehen, wie Hinrichtungen durch Erschießen stattgefunden hatten. Das geschah draußen im Gefängnishof, mit Maschinengewehren. Jofuette gab ihr zu verstehen, daß sie oft mit fünf oder sechs Maschinengewehren auf einen einzigen Verurteilten schossen; außerdem sei ihre Munition alt, mit vielen Versagern, die zu Ladehemmungen führten. Sie mußten jedoch Berge von Munition haben. Anscheinend war die gesamte Munition von fünfzig Jahren Kalten Krieges hier in afrikanischen Krisengebieten gelandet. Zusammen mit dem übrigen Militärschrott.
Den Inspektor der Haftanstalten bekam sie nicht mehr zu sehen. Er war nicht der Direktor der Anstalt. Jofuette kannte den Mann und konnte seine Art zu gehen nachahmen; es war sehr lustig.
Laura war ziemlich sicher, daß Jofuette eine Art Vertrauensperson, vielleicht sogar ein Spitzel der Gefängnisleitung war. Es störte sie jedoch nicht sehr. Jofuette sprach nicht englisch, und Laura hatte ohnedies nichts zu verbergen. Doch im Gegensatz zu Laura hatte Jofuette Erlaubnis, zur festgesetzten Zeit in den Gefängnishof zu gehen und dort eine Stunde mit den anderen Gefangenen im Kreis zu laufen. Bei diesen Gelegenheiten kam sie manchmal in den Besitz von Kleinigkeiten: rauhen, stinkenden Zigaretten, gezuckerten Vitaminpillen, Nadel und Faden. Sie war eine gute Gefährtin, freundlich, gutmütig und anspruchslos, besser als jede andere.
Laura lernte manches über das Leben im Gefängnis. Die Kniffe, mit denen man sich die Zeit vertreiben konnte. Eine Verbindung mit der Außenwelt wäre zu schmerzhaft gewesen, um zu überleben, hätte die Wunden immer wieder aufgerissen. Sie saß einfach ihre Zeit ab. Sie erfand Erinnerungen abwehrende Methoden, Methoden der Passivität. War es Zeit zu weinen, so weinte sie. Sie dachte nicht darüber nach, was aus ihr, David und Loretta werden könnte, aus Galveston, Rizome und der Welt. Sie dachte meistens über berufliche Aktivitäten nach. Über die Abfassung von Texten für Public Relations. Sie stellte sich vor, wie sie vor öffentlichen Körperschaften über Terrorismus in Mali aussagte, und dachte sich die Formulierungen dazu aus. Sie schrieb in ihrer Phantasie Wahlpropaganda für imaginäre Kandidaten, die sich zur Wahl in den Rizome-Zentralausschuß stellen wollten.
Mehrere Wochen verbrachte sie mit der Abfassung eines langen, imaginären Verkaufsprospektes, den sie Lorettas Hände und Füße nannte. Sie lernte den Text im Laufe des Prozesses auswendig und konnte ihn Satz für Satz in ihrem Kopf aufsagen, eine Sekunde pro Wort, bis sie das Ende erreichte. Dann fügte sie einen neuen Satz hinzu und fing von vorn an.
Der imaginäre Prospekt behandelte nicht das Baby selbst, das wäre zu schmerzlich gewesen. Sie behandelte nur die Hände und Füße. Sie beschrieb Form und Beschaffenheit der Hände und Füße, ihren Geruch, wie sie sich anfühlten, ihren potentiellen Nutzen, wenn sie massenproduziert würden. Sie entwarf Schachteln für die Hände und Füße, und altmodische Schlagworte und Anzeigentexte für den Verkauf.
Sie organisierte in Gedanken ein Kleidergeschäft. Sie war niemals besonders modebewußt gewesen, jedenfalls nicht seit sie erwachsen war, aber dies mußte ein extrem modisches Geschäft sein, wo Modeströmungen kreiert und der zahlungskräftigen Bevölkerungsschicht Atlantas nahegebracht wurde. Es gab Mengen von Hüten, von Schuhen, Strickwaren und Röcken, ganze farbenprächtige Bordelle von Reizwäsche.
Sie hatte sich auf zehn Jahre festgelegt. Sie würde zehn Jahre in diesem Gefängnis sein. Das war lang genug, um jede Hoffnung zu zerstören, und Hoffnung war identisch mit Schmerz und Seelenqual.
Ein Monat, und ein Monat, und ein Monat, und ein Monat.
Und noch ein Monat, und noch einer, und ein weiterer, und wieder einer.
Und dann drei, und dann noch einer.
Ein Jahr.
Sie war seit einem Jahr im Gefängnis. Ein Jahr war keine besonders lange Zeit. Sie war dreiunddreißig Jahre alt. Sie hatte weitaus mehr Zeit außerhalb des Gefängnisses verbracht als in ihm, nämlich zweiunddreißigmal soviel. Viele Menschen hatten wesentlich längere Zeiträume im Gefängnis zugebracht. Sie wußte von einzelnen, die man länger als vierzig Jahre eingesperrt hatte.
Man behandelte sie jetzt besser. Jofuette hatte mit einer der Wärterinnen eine Art Übereinkunft getroffen. Wenn sie Dienst hatte, ließ sie Laura im Gefängnishof laufen, bei Nacht, wenn keine anderen Gefangenen außerhalb ihrer Zellen waren.
Einmal in der Woche stellte man ihnen ein altes Videogerät in die Zelle. Es hatte einen in Algerien gefertigten Schwarzweiß-Fernseher, und es gab Videokassetten dazu. Die meisten waren uralte amerikanische Filme über Footballspiele. Die alte ruppige und verletzungsträchtige Version des Footballs war seit Jahren verboten. Das Spiel war unglaublich brutal: riesige stampfende Gladiatoren in Helmen und Panzerungen. Bei jedem vierten Spiel blieb mindestens einer der Beteiligten verwundet oder bewußtlos liegen. Manchmal schloß Laura einfach die Augen und hörte sich nur den wundervoll heimatlichen Klang des amerikanischen Englisch an. Jofuette fand die Spiele unterhaltsam.
Dann gab es Filme: Der Sand von Iwo Jima. Die Green Berets. Phantastische, halluzinatorische Gewalttätigkeiten. Feinde wurden haufenweise erschossen und fielen übereinander wie Pappkameraden. Manchmal traf es auch die Jungen von der eigenen, selbstverständlich guten Seite, gewöhnlich in die Schulter oder in den Arm. Das gab ihnen Gelegenheit zu heldischen Grimassen, und sie wurden ein bißchen verbunden.
Einmal kam ein Film mit dem Titel Der Weg nach Marokko. Er spielte in der nordafrikanischen Wüste, und die Hauptdarsteller waren Bing Crosby und Bob Hope. Laura hatte unbestimmte Erinnerungen an Bob Hope, dachte, sie müsse ihn gesehen haben, als sie noch ganz jung und er schon sehr alt gewesen war. In dem Film war er jung und sehr lustig, in einer drollig altmodischen Art. Es schmerzte schrecklich, ihn zu sehen, als wäre ihr ein Verband abgerissen worden, unter dem tiefe Wunden lagen, die sie hatte betäuben können. Sie mußte das Band mehrmals anhalten, um sich Tränen aus den Augen zu wischen. Schließlich riß sie die Kassette heraus und tat sie weg.
Jofuette schüttelte den Kopf, sagte etwas in Bambara und steckte die Kassette wieder in den Recorder. Als sie es tat, fiel aus der Pappschachtel der Kassette ein zusammengefalteter Streifen Zigarettenpapier. Laura hob ihn auf.
Während Jofuette den Fortgang der Handlung verfolgte, faltete sie das kleine Blatt Papier auseinander. Es war mit unsauberer, winziger Schrift bedeckt. Braun. Nicht Tinte. Vielleicht Blut. Es war eine Liste.
Abel Lacoste - Europäischer Beratungsdienst
Steven Lawrence - Oxfam Amerika
Marianne Meredith - ITN Kanal 4
Valerij Schkalow - Wien
Georgij Valdukow - Wien
Sergej Iljuschin - Wien
Katsuo (?) Watanabe - Mitsubishi
(?) Riza-Rikabi - EFT-Commerzbank
Laura Webster - Rizome AG
Katje Selous - A.C.A. Corps
und vier weitere.