5. Kapitel

 

Sie waren mit Stablampe und Werkzeug unter der Veranda, um sie auf Schäden zu untersuchen, als sie Sticky rufen hörten: »Zu Bwana, Blondie! Kommen Sie heraus! Zeit, die Suppe auszulöffeln…«

Sie krochen zurück in den Nachmittagssonnenschein. Laura krabbelte auf allen vieren durch die niedrige Öffnung eines gemauerten Bogens und stand auf. »Hallo, Hauptmann.« Sie zupfte lange Spinnwebfäden aus ihrem Haar.

David kroch hinter ihr heraus. Seine Jeans und das baumwollene Arbeitshemd waren an Knien und Ellbogen mit Staub und feuchter Erde behaftet. Sticky Thompson grinste über Davids dunkles Gesicht. »Gehen Sie jetzt mit einheimischen Niggern, Blondie? Wo ist der Große Weiße Jäger?«

»Sehr komisch«, grollte David.

Sticky führte sie in den Westflügel des Herrenhauses. Während sie unter frisch ausgeputzten Ylang-Ylang-Bäumen gingen, steckte David den Ohrhörer ein und setzte die Videobrille auf. »Wer ist am Draht? Oh. Hallo! Was? - Ah, die Linsen sind eingestaubt.« Er reinigte sie vorsichtig mit dem Hemdzipfel.

Zwei militärische Kübelwagen warteten auf dem Kies der Zufahrt - mit grünen und braunen Tarnfarben gefleckte Geländewagen mit festem Verdeck und undurchsichtigen Scheiben. Drei uniformierte Milizionäre saßen auf dem flachen, breiten Kotflügeln und tranken Alkoholfreies aus Kartonpackungen. Sticky stieß einen scharfen Pfiff aus; die

Milizionäre sprangen vom Kotflügel, nahmen Haltung an, und einer öffnete die Tür mit der rot-gold-grünen Kokarde Grenadas. »Zeit, die Wahrheit zu sagen, Mrs. Webster. Wir sind bereit, wenn Sie es sind.«

»Sie wird sich umziehen müssen«, sagte David.

»Nein, nicht nötig«, widersprach Laura. »Ich bin jederzeit bereit. Es sei denn, Ihre Bank befürchtet, ich könnte ihre Polstermöbel beschmutzen.« Sie zog die Videobrille mit ihrem Etui aus einer zugeknöpften Jackentasche.

Sticky wandte sich zu David und zeigte zum zweiten Kübelwagen. »Für Sie haben wir heute eine besondere Touristenattraktion. Dieser andere Wagen wird Sie hinunter zum Strand fahren. Wir haben ein paar ganz besondere Bauvorhaben. Es wird Sie interessieren, David.«

»Einverstanden«, sagte David, zog Laura in seine Arme und drückte sie fest an sich. »Sieht so aus, als müßte ich heute das Baby nehmen.« Im Flüsterton fügte er hinzu: »Viel Glück, Schatz. Gib ihnen Saures!« Sie küßte ihn, und die Soldaten grinsten.

Laura kletterte auf den Beifahrersitz, einer der Soldaten stieg mit klapperndem Sturmgewehr hinten ein. Sticky blieb draußen. Er hatte eine polarisierende Sonnenbrille aufgesetzt. Nachdem er den Himmel abgesucht und zu diesem Zweck mit beiden Händen die Augen beschattet hatte, schwang er sich, offenbar befriedigt, auf den Fahrersitz und schlug die Tür zu.

Sticky startete den Motor mit einem altmodischen Zündschlüssel. Einmal zum Tor hinaus, nahm er die kurvenreiche Gefällstrecke der Zufahrt mit haarsträubender Geschwindigkeit; dabei fuhr er locker und gelöst, nur eine Hand am Lenkrad. Zwischendurch nahm er sich noch die Zeit, ihr munter zuzugrinsen. Er schien sich in Hochstimmung zu befinden.

Anregungsmittel, dachte Laura düster. »Fein sehen Sie aus«, sagte Sticky. »Ich kann nicht glauben, daß Sie sich keine Zeit genommen haben, ein wenig Rouge aufzulegen.«

Laura fühlte unwillkürlich ihre Wange. »Sie meinen VideoMake-up, Hauptmann? Ich dachte, es solle sich um eine nichtöffentliche Anhörung handeln.«

»Ach«, sagte Sticky, erheitert über ihre Förmlichkeit, »das wird sich jetzt zeigen. Solange die Kamera nicht hinschaut, können Sie in Ihren alten Sachen herumlaufen und arbeitende Klasse spielen, nicht?« Er lachte. »Wie aber, wenn Ihre Collegefreundin Sie so sieht? Die sich immer wie eine Südstaatenschönheit aus den Zeiten der Sklaverei herausputzt? Emily Donato?«

»Emily ist meine beste Freundin«, erwiderte Laura. »Sie hat mich in viel schlechterem Zeug als diesem gesehen, das können Sie mir glauben.«

Sticky zog die Brauen hoch. »Haben Sie sich schon mal Gedanken wegen dieser Donato und Ihres Mannes gemacht? Sie kannte ihn schon vor Ihnen. Machte Sie sogar miteinander bekannt.«

Laura unterdrückte aufkommende Verärgerung. Sie wartete, bis sie ihre Selbstbeherrschung wiedergefunden hatte. »Hat es Ihnen Spaß gemacht, Sticky, barfuß durch meine Personalakte zu laufen? Ich kann mir denken, daß Ihnen das ein Machtgefühl verschafft, nicht? Beinahe wie das Herumscheuchen halbwüchsiger Jungen in Ihrer Spielzeugmiliz.«

Sticky blickte schnell in den Rückspiegel. Der Milizionär auf dem Rücksitz gab vor, nichts gehört zu haben.

Sie nahmen die Fernstraße nach Süden. Der Himmel war bedeckt und bleiern, der Wald dämmerte geheimnisvoll auf nebelumzogenen vulkanischen Berghängen. »Sie denken, ich wüßte nicht, was Sie vorhaben?« fragte Sticky. »All diese Arbeit am Haus? Ohne Bezahlung - nur um Eindruck zu schinden. Dem Dienstpersonal Propagandastreifen geben… Versuche, unsere Leute zu bestechen.«

»Eine Stellung bei Rizome ist kaum Bestechung«, sagte Laura kühl. »Wenn sie mit uns arbeiten, verdienen sie einen Platz unter uns.« Sie passierten eine aufgelassene Zuckerfabrik. »Es ist hart für sie, unsere Hausarbeit zu machen und nebenbei für Sie zu spionieren.«

Sticky warf ihr einen finsteren Seitenblick zu. »Diese verdammte Scheißbrille«, zischte er plötzlich.

»Atlanta, ich gehe aus der Leitung«, sagte Laura. Sie riß sich Brille und Ohrhörer vom Kopf und öffnete ungeduldig das Kartenfach. Ein Karton mit Fesselgewehrmunition fiel heraus und ihr auf den Fuß. Sie ließ ihn unbeachtet und steckte Brille und Ohrhörer hinein - er quäkte leise. Dann klappte sie das Fach zu.

»Das wird Ihnen Ärger eintragen«, spottete Sticky. »Setzen Sie sie lieber wieder auf.«

»Na los, machen wir es miteinander aus«, sagte Laura. »Ich lasse nicht während der ganzen Fahrt zur Bank auf mir herumhacken, nur um meine Nerven zu strapazieren, oder was immer Sie sich davon versprechen.«

Sticky umfaßte das Lenkrad mit beiden muskulösen Händen. »Haben Sie keine Angst, allein mit mir zu sein? Nun, da Sie nicht mehr am Netz sind, sind Sie verletzlich und hilflos, nicht?« Plötzlich stieß er sie mit dem Finger in die Rippen, als gelte es, eine Rinderhälfte zu prüfen. »Was wollen Sie machen, wenn ich dort unter die Bäume fahre und sie vergewaltige?«

»Mein Gott.« Dieser Gedanke war ihr nicht in den Sinn gekommen. »Keine Ahnung, Hauptmann. Ich denke, ich würde Ihnen die Augen auskratzen.«

»Oh, ein harter Brocken also!« Er sah sie nicht an, beobachtete die Straße, weil er schnell fuhr, aber seine rechte Hand schoß mit unglaublicher Schnelligkeit heraus und umfaßte ihr Handgelenk mit einem festen Schlag von Haut auf Haut. Ihre Hand wurde seltsam taub, und ein scharf ziehender Schmerz fuhr ihr durch den Arm aufwärts. »Machen Sie sich los«, sagte er. »Versuchen Sie es!«

Sie zog und zerrte, und zugleich machte sich eine erste Aufwallung wirklicher Furcht bemerkbar. Es war, als wollte sie ihre Hand aus einem Schraubstock ziehen. Er zitterte nicht einmal. Er sah nicht so stark aus, aber sein bloßer, gebräunter Unterarm war wie Gußeisen. Unnatürlich. »Sie tun mir weh«, sagte sie, um einen ruhigen Ton bemüht. Aber in ihrer Stimme war ein verhaßtes kleines Zittern.

Sticky lachte. »Nun hören Sie zu, Mädchen! Diese ganze Zeit hindurch haben Sie…«

Laura ließ sich plötzlich in ihrem Sitz abwärts rutschen und trat hart auf die Bremse. Der Kübelwagen geriet ins Schleudern; der Soldat auf dem Rücksitz schrie auf. Sticky ließ ihr Handgelenk los, als hätte er sich verbrüht; seine Hände packten das Lenkrad mit der Schnelligkeit der Panik. Der Wagen geriet aufs Bankett, stieß im Zurückschleudern durch Schlaglöcher, daß sie mit dem Kopf gegen das harte Dach schlugen. Zwei Sekunden Chaos, dann hatte er den Wagen wieder unter Kontrolle.

Gerettet. Sticky holte tief Luft.

Laura setzte sich wieder aufrecht und rieb sich schweigend das Handgelenk.

Etwas Bösartiges war zwischen sie gekommen. Sie spürte noch keine Angst, obwohl sie beinahe zusammen umgekommen wären. Sie hatte nicht gewußt, daß es so schlimm sein würde, mit einem manuell gesteuerten Wagen, sie hatte es einfach getan, impulsiv. Die Wut war plötzlich aufgekocht, als ihre Hemmungen mit der Videobrille von ihr genommen worden waren. Beide hatten sie sich wie tobende Betrunkene benommen, als das Netz seine Kontrollfunktion verloren hatte.

Jetzt war es vorbei. Der Soldat - der Junge - auf dem Rücksitz umklammerte in Panik sein Sturmgewehr. Er hatte nicht unter dem Druck der Netzüberwachung gestanden, ihm war das alles rätselhaft, dieser jähe Ausbruch von Gewalt, wie ein Wirbelsturm. Völlig ohne Grund - er wußte nicht einmal, ob es schon vorüber war.

Sticky fuhr weiter, das Kinn vorgeschoben, den Blick starr geradeaus gerichtet. »Winston Stubbs«, sagte er endlich, »war mein Vater.«

Laura nickte. Sticky hatte ihr dies als Begründung gesagt - es war die einzige Art einer Entschuldigung, die er kannte. Die Neuigkeit überraschte sie nicht sehr, aber für einen Augenblick war ihr, als kämen ihr Tränen in die Augen. Sie lehnte sich zurück, entspannt, atmete bemüht ruhig. Sie mußte sich vorsehen mit ihm. Die Menschen sollten vorsichtiger miteinander umgehen…

»Sie müssen sehr stolz auf ihn gewesen sein«, sagte sie in freundlich-tastender Art. »Er war ein besonderer Mann.« Keine Antwort. »Aus der Art und Weise, wie er Sie ansah, gewann ich den Eindruck…«

»Ich vernachlässigte meine Pflicht«, sagte Sticky. »Ich war sein Bewacher, und der Feind tötete ihn.«

»Wir wissen jetzt, wer es war«, sagte Laura. »Es war nicht Singapur. Es war ein afrikanisches Land - eine Kommandoaktion der Republik Mali.«

Sticky sah sie an, als ob sie den Verstand verloren hätte. Während des Beinahe-Unfalls war ihm die polarisierende Sonnenbrille von der Nase geflogen, und sie sah kalten Glanz in seinen Augen. »Mali ist ein afrikanisches Land«, sagte er.

»Warum sollte das einen Unterschied machen?«

»Wir setzen uns für die afrikanischen Völker ein! Mali… das ist nicht mal eine Steueroase. Es ist ein Land, das unter Armut und Hunger leidet. Es hat keine Ursache, solch einen Anschlag zu verüben.« Er wandte den Blick von ihr. »Sie lügen, wenn sie Ihnen das erzählen.«

»Wir wissen, daß Mali die FAKT ist«, sagte Laura.

Sticky zuckte die Achseln. »Jeder kann sich dieser Buchstaben bedienen. Es werden erpresserische Schutzgelder verlangt, und wir wissen, wohin sie gehen: nach Singapur.« Er schüttelte bedächtig den Kopf. »Es gibt Krieg, Laura. Sehr schlechte Zeiten. Sie hätten nie auf diese Insel kommen sollen.«

»Wir mußten kommen«, sagte Laura. »Wir waren Zeugen.«

»Zeugen«, sagte Sticky geringschätzig. »Wir wissen, was in Galveston geschah, dazu brauchten wir Sie nicht. Sie sind Geiseln, Laura. Sie, Ihr Mann, sogar das Baby. Geiseln für Rizome. Ihr Unternehmen ist genau zwischen zwei Feuern, und wenn es Singapur uns gegenüber begünstigt, wird die Bank Sie töten.«

Laura befeuchtete sich die Lippen. »Sollte es zum Krieg kommen, werden viele unschuldige Menschen sterben.«

»Man hat Sie für dumm verkauft. Ihr Unternehmen. Es schickte Sie hierher, obwohl es Bescheid wußte!«

»In Kriegen werden Menschen getötet«, sagte Laura. »David und ich sind nicht so unschuldig wie manche anderen.«

Er schlug mit einer Hand aufs Lenkrad. »Haben Sie keine Angst, Mädchen?«

»Haben Sie Angst, Hauptmann?«

»Ich bin Soldat.«

Laura zwang sich zu einem Achselzucken. »Was hat das in einem Krieg zu bedeuten, der mit Terroraktionen geführt wird? Man hat in meinem Haus einen meiner Gäste ermordet. Vor mir und meinem Kind. Ich werde tun, was ich kann, um den oder die Täter zu fassen. Daß es gefährlich ist, weiß ich.«

»Sie sind ein mutiger Feind«, sagte Sticky. Er bog in eine Nebenstraße ein, und sie fuhren durch ein elendes kleines Dorf mit rostigen Wellblechdächern und roter Erde. Die Straße stieg an und führte in Windungen ins gebirgige Innere. Für einen Augenblick brach Sonnenschein durch die Wolken, und der Schatten belaubter Äste sprenkelte die Windschutzscheibe.

Aus einer Haarnadelkurve hoch an einem Hang sah Laura in der Ferne den Hafen der noch kolonial wirkenden Ortschaft Grand Roy - rote Ziegeldächer leuchteten verschlafen aus dem üppigen Grün, kleine weiße Säulen trugen vorgebaute Veranden, krumme, schmale Straßen führten auf und ab. Vor der Küste saß eine Bohrinsel wie eine Spinne vom Mars.

»Sie sind ein Dummkopf«, sagte Sticky. »Sie versuchen irgendwelchen Propaganda-Scheiß zu lancieren, von dem Sie sich versprechen, daß er alle auf Freundlichkeit und gutes Benehmen verpflichten wird. Aber dies ist keine Mama-Papa-Yankee-Einkaufsstraße, wo Sie allen Leuten den Frieden wie Coca-Cola verkaufen können. Das kann nicht klappen… Aber ich bin nicht der Meinung, daß Sie wegen des Versuches sterben sollten. Das wäre nicht rechtschaffen.«

Er gab einen Befehl, und der Milizionär griff hinter sich und reichte Laura eine Militärjacke und ein schwarzes, weites Gewand mit einer Art Kapuze. »Ziehen Sie die Sachen an«, sagte Sticky.

Laura zog die Militärjacke über ihr Arbeitshemd. »Was ist das für ein Morgenmantel?«

»Es ist ein Tschador. Islamische Frauen tragen so etwas. Sehr bescheiden… und er verbirgt das blonde Haar. Wo wir hinfahren, sind Spionageflugzeuge aufgetaucht. Ich will nicht, daß sie Sie sehen.«

Laura grub sich in das Gewand und zog die Kapuze über den Kopf. Als sie in dem weiten Ding steckte, witterte sie Duftspuren der letzten Benutzerin - parfümierte Zigaretten und Rosenöl. »Es war nicht die Islamische Bank…«

»Wir wissen, daß es die Bank ist. Jeden Tag haben sie Spionagemaschinen herübergeschickt, von Trinidad. Wir kennen die Pflanzung, von der die Maschinen starten, alles. Wir haben unsere eigenen Quellen - wir brauchen Sie nicht, um etwas zu erfahren.«

Er deutete mit einem Kopfnicken zum Kartenfach. »Sie können Ihre Videobrille wieder aufsetzen. Ich habe alles gesagt, was ich sagen werde.«

»Wir haben nicht die Absicht, Ihnen oder Ihren Leuten zu schaden, Sticky. Wir wünschen Ihnen nur Gutes.«

Er seufzte. »Tun Sie es einfach.«

Sie zog die Brille heraus. Emily kreischte ihr ins Ohr. (»Was tust du? Alles in Ordnung?«)

»Alles in Ordnung, Emily. Laß mich ein bißchen faulenzen.«

(»Sei nicht albern, Laura. Du schadest unserer Glaubwürdigkeit. Keine Geheimverhandlungen! Es sieht schlecht aus - als wollten sie dir etwas anhaben. Die Lage ist schwierig genug, und sie wird noch komplizierter, wenn die Leute glauben, daß du hinter ihrem Rücken Verhandlungen führst.«)

»Wir fahren zu Fedons Camp«, sagte Sticky lauter als erforderlich. »Hören Sie zu, Atlanta? Julian Fedon war ein freier Farbiger. Seine Zeit war die Französische Revolution, und er predigte die Menschenrechte. Die Franzosen schmuggelten ihm Waffen ins Land, und er besetzte mit seinen Anhängern Plantagen, befreite die Sklaven und bewaffnete sie. Er brannte die Häuser der Pflanzer und der bürokratischen Kolonialherren mit rechtschaffenem Feuer nieder. Und er kämpfte mit der Waffe in der Hand, als die Rotröcke kamen… Die Armee brauchte Monate, um seine Festung einzunehmen.«

Sie kamen in eine muldenförmige Talsenke zwischen zerklüfteten Hügeln - eine unwegsame vulkanische Wildnis. Ein wucherndes tropisches Paradies, gesprenkelt mit hohen Wachttürmen. Auf den ersten Blick sahen sie harmlos aus, wie Wassertürme. Aber die runden Behältertanks waren gepanzerte Bunker mit Schießscharten. Ihre Seiten waren besetzt mit Suchscheinwerfern und Radarbeulen, und ihre Oberseiten waren Hubschrauberlandeplätze. Dicke Aufzugschächte stießen tief in die Erde - nirgendwo waren Türen zu sehen.

Sie fuhren eine mit schwarzem Lavagestein gepflasterte Straße hinauf. Ausgrabungsschutt. Allenthalben verliefen beinbrecherische Wälle aus scharfkantigen Blöcken, halb versteckt unter blühenden Rankengewächsen und dichtem, von Vogelgezwitscher erfülltem Busch.

Fedons Camp war eine neue Art Festung. Es gab keine Sandsäcke, keine Stacheldrahtverhaue, keine Tore und Wachtposten. Nur die Wachttürme, die sich wie tödliche Pilze aus Stahl und Keramik stumm aus dem wuchernden Grün erhoben. Türme, die einander beobachteten, die Hügel, den Himmel überwachten.

Es mußte unterirdische Tunnels geben, dachte Laura, die diese Türme des Todes miteinander verbanden - und Lagerräume für Munition und Vorräte. Alles unterirdisch. Die Anordnung der Türme mußte einer Geometrie strategischer Feuerzonen entsprechen.

Wie würde ein Angriff auf diese Festung vor sich gehen? Laura stellte sich zornige, hungrige Aufständische mit ihren mitleiderregenden Fackeln und Molotowcocktails vor, die unter diesen Türmen herumliefen wie Mäuse unter Möbeln. Unfähig, etwas von ihrer eigenen Größe zu finden, was sie angreifen oder zerstören könnten. Dann ängstlicher, als ihrem Geschrei nur Stille antwortete. Beginnende Aufsplitterung in Gruppen, die sich murrend in den falschen Schutz der Bäume und Felsen verzogen, während jeder Schritt laut wie ein Trommelschlag von vergrabenen Mikrofonen aufgefangen wurde, während ihre Körper wie menschliche Kerzenflammen auf den Infrarotschirmen der Zielgeräte glühten…

Die Straße endete auf einem halben Morgen unkrautdurchwachsenen Asphalts. Sticky schaltete die Zündung aus und fand seine polarisierende Sonnenbrille. Er spähte durch die Windschutzscheibe. »Da drüben, Laura. Sehen Sie?« Er zeigte zum Himmel. »Bei dieser grauen Wolke, die wie ein Wolfskopf geformt ist…«

Sie konnte nichts erkennen. Nicht einmal einen Punkt. »Ein Spionageflugzeug?«

»Ja. Von dort können sie Ihre Zähne zählen, durch ein Teleobjektiv. Und genau von der richtigen Größe… zu klein, als daß eine dumme Rakete es finden könnte, und die klugen kosten mehr als die Maschine.« Ein dumpfes, rhythmisches Pochen über ihnen. Laura verzog das Gesicht. Ein skelettartiger Schatten glitt über die Abstellfläche. Ein Lastenhubschrauber schwebte über ihnen.

Sticky verließ den Kübelwagen. Sie sah den Schatten eine Leine abwerfen, hörte sie auf das Metalldach des Wagens schlagen, Bolzen wurden durch Ringe gestoßen und gesichert, und Sticky stieg wieder ein. Einen Augenblick später hoben sie mit dem Wagen ab.

Der Boden versank schwindelerregend in der Tiefe. »Halten Sie sich fest«, sagte Sticky. Er hörte sich gelangweilt an. Der Hubschrauber ließ sie auf dem nächsten Turm sinken, in ein breites gelbes Netz. Dicke Federn quietschten, der Wagen sackte wie betrunken auf die Seite; dann senkten sich die das Netz tragenden Federarme, und sie kamen auf der Oberfläche zur Ruhe.

Laura stieg zitternd aus. Die Luft duftete wie ein Morgen im Paradies. Ringsum waren steile Berghänge, die nicht bebaut werden konnten: von üppigem Grün überwachsene Berge, deren Gipfel und Grate in grauen Nebel gehüllt waren, wie eine chinesische Landschaft. Die anderen Türme waren wie dieser: Niedere Keramikbrüstungen umgaben den Rand der Oberfläche. Auf dem benachbarten Turm spielten halbnackte Soldaten Basketball.

Der Hubschrauber landete stotternd auf dem markierten schwarzen Landeplatz nahebei. Der Wind seiner Rotoren peitschte Lauras Haar. »Was machen Sie während eines Wirbelsturms?« rief sie.

Sticky nahm sie beim Ellbogen und führte sie zu einer Luke. »Es gibt Zugangswege«, sagte er. »Aber Näheres darüber brauchen Sie nicht zu wissen.« Er zog die doppelten Lukendeckel auf, und Laura sah eine kurze Treppe zu einem Aufzug.

(»Augenblick«,) drang eine unbekannte Stimme aus dem Ohrhörer. (»Ich kann nicht alles gleichzeitig festhalten, und ich bin kein Festungsarchitekt. Dieses Bauvorhaben an der Küste ist eine Sache für sich… David, kennen Sie jemanden bei Rizome, der militärische Anlagen beurteilen kann? Nun, ich auch nicht… Laura, könnten Sie ungefähr zwanzig Minuten totschlagen?«)

Laura blieb stehen. Sticky sah sich ungeduldig nach ihr um. »Sie werden nicht viel zu sehen bekommen, wenn es das ist, was Sie aufhält. Wir fahren jetzt hinunter.«

»Wieder ein Aufzug«, sagte Laura. »Ich werde aus der Leitung gehen.«

»Er ist verdrahtet«, versicherte ihr Sticky. »Man wußte, daß Sie kommen.«

Der Aufzug sank rasch sechs Stockwerke in die Tiefe. Sie verließen ihn in einen aus dem anstehenden Fels gesprengten Tunnel, der groß genug war, eine zweispurige Fernstraße aufzunehmen. Sie sah militärische Kisten mit kyrillischer Aufschrift. Durchhängende Zeltbahnen über großen, knolligen Haufen von weiß Gott was. Sticky ging voraus, die Hände in den Hosentaschen. »Kennen Sie den Kanaltunnel? Von England nach Frankreich?«

Es war kalt. Sie war froh, daß sie die Militärjacke trug, und steckte die Arme durch die weiten Ärmel des Tschadors. »Ja?«

»Dabei lernten sie eine Menge über den Tunnelbau. Alles ging über offene Datenträger. Praktisch.« Seine Worte hallten unheimlich. Deckenbeleuchtungen flackerten über ihnen an, während sie gingen, und erloschen hinter ihnen. So durchwanderten sie den Tunnel in einem mit ihnen ziehenden Lichtkreis. »Haben Sie mal die Maginotlinie gesehen?«

»Was ist das?« fragte Laura.

»Ein großer Festungswall aus Forts, Panzersperren und unterirdischen Anlagen, den die Franzosen vor neunzig Jahren anlegten. Gegen die Deutschen. Ich besichtigte einmal Teile davon. Winston nahm mich mit.« Er rückte an seiner Baskenmütze. »Noch heute rosten die großen alten Stahlkuppeln zwischen Viehweiden. Darunter gibt es Eisenbahntunnels mit Schmalspurbahnen, die Touristen befördern.« Er zuckte die Achseln. »Das ist alles, wozu die Maginotlinie taugt. Und so wird es mit dieser Anlage auch eines Tages sein.«

»Wie meinen Sie das?«

»Die Tanker sind besser. Sie sind nicht ortsgebunden.«

Laura paßte sich seinem Schritt an. Ihr war unheimlich. »Es riecht hier unten, Sticky. Wie in dem Tanker…«

»Das ist Plastik für Fesselgewehre«, sagte Sticky. »Von Übungen. Wenn Sie von einem Fesselgewehr getroffen werden, gibt es einen komischen Geruch, während der Kunststoff aushärtet. Und dann ist es, als ob Sie in Bandstahl gewickelt wären…«

Er belog sie. Es gab hier unten irgendwo Laboratorien. Irgendwo in der feuchten Dunkelheit. Sie fühlte es. Dieser leicht säuerliche Geruch…

»Dies ist das Schlachtfeld«, sagte er. »Wo die Eindringlinge bezahlen werden. Nicht, daß wir sie aufhalten könnten, so wenig wie damals Fedon. Aber sie werden mit Blut bezahlen. Diese Tunnels sind voll von Dingen, die sie aus der Dunkelheit anspringen…« Er schnupfte. »Keine Sorge, nicht Ihre Yankees. Yankees haben heutzutage nicht mehr den Nerv für so was. Aber wer immer. Babylon.«

»›Der Mann‹«, sagte Laura.

Sticky lächelte.

Die Direktoren der Bank erwarteten sie. Sie waren einfach da, in dem Tunnel, unter einem kreisförmigen Lichtschein. Sie hatten einen langen rechteckigen Tisch und ein paar bequeme Ledersessel. Thermosflaschen mit Kaffee, Aschenbecher, Datenanschlüsse und Schreibzeug. Sie plauderten miteinander. Lächelten. Kleine Kräusel von Zigarettenrauch stiegen im Licht empor.

Als sie Laura kommen sahen, standen sie auf. Fünf schwarze Männer. Vier in Maßanzügen, einer in Uniform mit Sternen auf den Achselklappen. Drei saßen auf der linken Seite des Tisches, zwei auf der rechten.

Der Stuhl am Kopf des Tisches war leer, desgleichen der Stuhl rechts neben ihm. Sticky führte sie zu dem Platz am Fußende des Tisches.

Der General sagte: »Das ist alles, Hauptmann.« Sticky salutierte zackig und machte auf dem Absatz kehrt. Laura hörte seine Stiefel durch den Tunnel hallen, als er in die Dunkelheit marschierte.

»Willkommen in Grenada, Mrs. Webster. Bitte nehmen Sie Platz.« Alle setzten sich, Leder quietschte. Alle hatten Namensschilder aus Messing vor sich, die sie nun in Lauras Richtung drehten. DR. CASTLEMAN, MR. RAINEY, MR. GOULD, GENERAL CREFT, MR. GELLI.

Mr. Gelli war der Jüngste unter ihnen; nach seinem Aussehen schätzte sie ihn auf ungefähr vierzig; er war Italiener, und seine Haut war schwarz. Auch die leeren Plätze hatten Namensschilder: MR. STUBBS, P. M. ERIC LOUISON…

»Ich bin Mr. Gould«, erklärte Mr. Gould. Er war ein untersetzter Anglo, ungefähr fünfundsechzig, dunkelhäutig, trug Videorouge und ein drahtiges Toupe. »Ich fungiere als Vorsitzender dieser besonderen Untersuchungskommission, welche die Todesumstände des grenadinischen Bürgers Winston Stubbs zu klären hat. Wir sind kein Gerichtshof und können keine Rechtsentscheidungen treffen, doch können wir dem Premierminister Vorschläge unterbreiten und ihn beraten. Nach grenadinischem Recht, Mrs. Webster, haben Sie für eine Aussage vor der Sonderkommission keinen Anspruch auf Rechtsbeistand; falsches Zeugnis wird jedoch als Meineid bestraft. Mr. Gelli wird Ihnen den Eid abnehmen. Mr. Gelli?«

Der Angeredete erhob sich rasch. »Bitte heben Sie die rechte Hand. Sie schwören feierlich, oder bestätigen…« Er las ihr die Eidesformel vor.

»Ich schwöre es«, sagte Laura. Castleman war der Unheimlichste von allen. Er war sehr fett, hatte schulterlanges Haar und einen dürftigen, ungepflegten Bart; er rauchte einen Zigarillo bis zum Filter und bediente linkshändig die Tastatur eines tragbaren kleinen Datenanschlusses.

Rainey langweilte sich. Er malte Kringel auf sein Papier und befühlte seine große schwarze Nase, als schmerze sie. Er trug einen Smaragdohrring und ein schweres Goldarmband. General Crefts Aussehen ließ vermuten, daß er noch am ehesten ein echter Schwarzer sein könnte, obwohl er mit seiner milchkaffebraunen Haut der Hellste von allen war. Er hatte den starren Blick eines Krokodils und die narbigen Hände und verhornten Knöchel eines Schlägers. Hände, in denen man Rohrzange und Gewindeschneider natürlich gefunden hätte.

Sie befragten Laura anderthalb Stunden lang. Sie waren höflich, sprachen leise. Wortführer war Gould, der zwischendurch immer wieder in Notizen und Papieren blätterte. Rainey wirkte desinteressiert - offenbar war ihm die Spannungsebene hier zu niedrig; er hätte mehr Spaß daran gehabt, mit einem Schnellboot Schmuggelware an der Küstenwache vorbei nach Florida zu bringen. Creft trat in den Mittelpunkt, als sie nach der Mordmaschine fragten. Er hatte eine ganze Mappe mit Aufnahmen des sanduhrförmigen Kleinhubschraubers Canadair CL 227, der für eine schreckliche Vielfalt von Maschinenwaffen, Flammenwerfern, Gaszerstäubern und Minenstreuern nachgerüstet werden konnte… Sie suchte das Modell heraus, das dem erinnerten Profil am genauesten zu entsprechen schien. Creft ließ das Foto wortlos herumgehen. Sie alle nickten…

Gelli sagte nicht viel. Er war der Juniorpartner. Das ältere Gelli-Modell hatte offensichtlich nicht mit der Zeit Schritt gehalten. Jemand hatte es verschrottet…

Sie wartete ab für den richtigen Augenblick, um ihre Neuigkeiten über die FAKT mitzuteilen. Sie hatte sich von Emily alles verfügbare Material durchgeben lassen und legte ihnen die Ausdrucke vor. Sie sahen das Material mit viel Räuspern und Kopfwiegen durch. Castleman überflog den Text mit einer Geschwindigkeit von mindestens 2400 Zeichen in der Minute; seine fettverhangenen Augen verschlangen ganze Absätze auf einmal.

Sie waren höflich. Sie waren skeptisch. Der Präsident von Mali, ein gewisser Moussa Diokite, sei ein persönlicher Freund des Premierministers Louison. Die beiden Länder seien durch brüderliche Bande miteinander verknüpft und hätten ein Kulturaustauschprogramm vorbereitet. Unglücklicherweise hätten die Pläne für einen friedlichen Austausch wegen des andauernden Krisenzustandes in allen Ländern der Sahelzone bisher nicht verwirklicht werden können. Mali habe von einem Angriff auf Grenada nichts zu gewinnen; Mali sei hoffnungslos verarmt und von Unruhen erschüttert.

Außerdem seien die sogenannten Beweise nicht überzeugend. Algerien und Mali hätten seit langer Zeit bestehende Grenzstreitigkeiten; Algeriens Außenministerium würde alles verbreiten, was geeignet wäre, Mali in Mißkredit zu bringen. Die von der I.G. Farben zusammengestellte Liste von terroristischen Aktivitäten der FAKT im türkischen Zypern sei eindrucksvoll und nützlich, beweise jedoch nichts. Die Leute von Kymera seien paranoid und machten grundsätzlich Ausländer für die Aktionen japanischer YakuzaGangsterbanden verantwortlich. Mali die Schuld zu geben, sei ein wilder Ausbruch von Phantasie, da die Singapurer offensichtlich die Aggressoren seien.

»Woher wissen Sie, daß Singapur dahintersteckt?« fragte Laura. »Können Sie beweisen, daß Singapur Mr. Stubbs ermorden ließ? Daß Singapur das Rizome-Ferienheim in Galveston angegriffen hat? Wenn Sie das beweisen können, verspreche ich Ihnen, daß ich Ihre Beschwerden in jeder Weise unterstützen werde.«

»Wir anerkennen Ihre Einstellung, Mrs. Webster«, sagte Mr. Gould. »Natürlich ist es ziemlich schwierig, stichhaltige Beweise für die Täterschaft an einem durch Fernsteuerung verübten Mord beizubringen… Waren Sie jemals in Singapur?«

»Nein. Rizome hat dort zwar eine Niederlassung, aber…«

»Sie hatten Gelegenheit zu sehen, was wir hier auf unserer Insel tun. Ich glaube, Sie verstehen jetzt, daß wir nicht die Ungeheuer sind, als die wir hingestellt werden.«

General Crefts hageres Gesicht dehnte sich in einem faltigen Lächeln. Lange Vorderzähne glänzten. Castleman regte sich mit einem Grunzen und begann Funktionstasten zu drücken.

»Eine Reise nach Singapur könnte Ihnen zur Aufklärung dienen«, sagte Gould. »Würden Sie daran interessiert sein?«

Laura stutzte. »In welcher Eigenschaft?«

»Als unsere Unterhändlerin. Als eine Beauftragte der United Bank of Grenada.« Mr. Gould trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Lassen Sie mich darauf hinweisen«, sagte er mit einem Blick auf seinen Bildschirm, »daß Rizome bei eigenen Ermittlungen an sehr strenge gesetzliche Beschränkungen gebunden ist. Wahrscheinlich wird die Wiener Konvention Rizomes Nachforschungen bald gänzlich unterbinden.« Er blickte zu ihr auf. »Wenn Sie sich nicht uns anschließen, Mrs. Webster, werden Sie wahrscheinlich niemals die Wahrheit darüber erfahren, wer Sie angegriffen hat. Sie werden in Ihr Ferienheim zurückkehren, die Einschüsse mit Mörtel verschließen und niemals erfahren, wer ihr Feind war, oder wann er wieder zuschlagen wird…«

Mr. Rainey meldete sich zu Wort. Er hatte die gedehnte Sprechweise eines alten Knackers aus Florida. »Sie werden wissen, daß wir eine Menge Daten über Sie und Ihren Mann haben. Dies ist keine plötzliche Entscheidung unsererseits, Mrs. Webster. Wir kennen Ihre Fähigkeiten - wir haben uns sogar die Arbeit angesehen, die Sie in dem Haus verrichtet haben, wo wir Sie beschützen.« Er lächelte. »Ihre Einstellung gefällt uns. Um es kurz zu machen, wir glauben an Sie. Wir wissen, wie sehr Sie innerhalb Ihres Unternehmens kämpfen mußten, um die Möglichkeit zu bekommen, Ihr Ferienheim zu bauen und Ihre Vorstellungen in die Praxis umzusetzen. Bei uns würden Sie nicht kämpfen müssen; wir verstehen, daß man schöpferischen Menschen ihre Arbeit überlassen muß.«

Laura hob die Hand zu ihrem Ohrhörer. In der Leitung herrschte Totenstille. »Sie haben mich vom Netz abgeschnitten«, sagte sie.

Rainey breitete die Hände aus; sein Goldarmband blinkte im Licht. »Es schien das Vernünftigste zu sein.«

»Sie wollen, daß ich von meinem Unternehmen abtrünnig werde.«

»Abtrünnig - was für ein häßliches Wort! Wir möchten, daß Sie sich uns anschließen. Auch Ihr Mann, David. Wir können Ihnen beiden einen Grad von Unterstützung versprechen, der Sie überraschen wird.« Rainey wies mit einem Nicken zu dem Datenanschluß. »Selbstverständlich kennen wir Ihre persönliche und finanzielle Situation. Es überraschte uns ein wenig zu sehen, daß Sie kaum etwas besitzen. Sicherlich, Sie haben Anteilscheine von Rizome, aber was Sie gebaut haben, gehört Ihnen nicht - Sie führen das Ferienheim nur für Ihre Gesellschaft. Ich kenne Handwerker, die höhere Bezüge haben als Sie. Aber hier ist es anders. Wir verstehen es, großzügig zu sein.«

»Sie scheinen an dem alten Pflanzerhaus Gefallen zu finden«, sagte Gould. »Es gehört Ihnen - wir könnten den Rechtstitel noch heute auf Sie überschreiben. Natürlich können Sie Ihr eigenes Personal einstellen. Die Transportfrage ist kein Problem - wir stellen Ihnen einen Hubschrauber mit Pilot zur Verfügung. Und ich kann Ihnen versichern, daß Sie besser geschützt sein werden, als das in den Staaten jemals der Fall sein würde.«

Laura blickte auf den Bildschirm des Datenanschlusses. Zuerst glaubte sie an eine Täuschung, dann erkannte sie mit einem jähen Schock, daß sie von Millionen sprachen. Millionen von grenadinischen Rubeln. Komisches Geld. »Ich habe nichts zu bieten, was auch nur annähernd soviel wert ist«, sagte sie.

»Leider hat die Öffentlichkeit ein ungünstiges Bild von uns«, fuhr Gould mit bekümmerter Miene fort. »Weil wir dem Netz den Rücken gekehrt haben, werden wir verleumdet und herabgesetzt. Diesen Schaden zu reparieren, würde langfristig Ihre Aufgabe sein, Mrs. Webster - das sollte Ihren Fähigkeiten entsprechen. Kurzfristig haben wir diese Singapur-Krise. Das Verhältnis zwischen uns und unserer Konkurrenzbank ist naturgemäß nicht das beste. Aber eskalierende Kriegführung kann keiner Seite ins Konzept passen. Und Sie sind in unseren Augen eine überzeugende Kandidatin für die Übermittlung eines Friedensvorschlags.«

»Rein wie der fallende Schnee«, murmelte Mr. Castleman. Er betrachtete die glänzende Oberfläche seines goldenen Zigarillo-Etuis. Er ließ den Deckel aufspringen und zündete sich einen frischen Zigarillo an.

»Sie genießen in Singapur eine Glaubwürdigkeit, die unseren Abgesandten ermangelt«, sagte Mr. Gould. Bei Castlemans Indiskretion war ein irritiertes Zucken über seine Züge gegangen.

»Ich kann Ihnen keine Antwort geben, ohne mit meiner Gesellschaft zu sprechen«, sagte Laura. »Und mit meinem Mann.«

»Ihr Mann scheint Gefallen an der Idee zu finden«, sagte Gould. »Natürlich haben wir ihm die Idee bereits unterbreitet. Beeinflußt das Ihr Denken?«

»Meine Gesellschaft wird in großer Sorge und Aufregung sein, daß Sie mich von der Leitung abgeschnitten haben«, sagte Laura. »Das war nicht vereinbart.«

»Wir haben Sie nicht abgeschnitten«, sagte Castleman. »Die Leitung ist intakt, aber wir bedienen sie mit einer Simulation…« Seine Wurstfinger schnippten in der Luft. »Eine leichte graphische Simulation - keine Hintergründe, nur Licht, Dunkelheit, eine Tischplatte und sprechende Köpfe. Nichts davon existiert, sehen Sie. Wir haben seit einiger Zeit nicht existiert.«

Gelli lachte nervös.

»Dann schließe ich diese Sitzung unserer Untersuchungskommission«, sagte Mr. Gould. »Sie hätten es mir sagen können, Castleman.«

»Tut mir leid«, sagte Castleman träge.

»Ich meine, daß ich die Untersuchung offiziell abgeschlossen hätte, noch bevor wir zwecks der Anwerbungsbemühung von der Leitung gingen.«

»Es tut mir leid, Gould, wirklich«, sagte Castleman. »Sie wissen, ich habe einfach nicht Ihr Flair für diese Dinge.«

»Aber nun können wir vernünftig miteinander reden«, sagte Rainey mit erleichtertem Ausdruck. Er bückte sich und langte unter den Tisch. Als er sich wieder aufrichtete, hatte er eine rastafarische Hukan aus geflecktem Bambus in der Hand, mit einem Kopf aus gekrümmten Widderhorn, dessen Innenseite von harzigen Rückständen klebrig schwarz verbrannt war. Es sah tausend Jahre alt aus, wie eine Mumie eingewickelt in uralte Lederschnüre, von denen angelaufene Perlen hingen. »Wird Seine Exzellenz sich zu uns gesellen?« fragte er.

»Ich werde es überprüfen«, sagte Castleman. Seine dicken Finger glitten über die Tastatur. Die Lichter trübten sich zu einem weichen Schein.

Rainey warf einen Lederbeutel auf die Tischplatte und zog mit einem Zischen die Zugschnur auf. »Lämmerbrot!« frohlockte er, als er eine Handvoll kleingeschnittenes grünes Kraut herauszog. Er begann den Pfeifenkopf mit kräftigen, geübten Bewegungen zu stopfen.

Der Premierminister saß am Kopfende des Tisches. Ein kleiner schwarzer Mann mit einer Sonnenbrille und einem hochgeschlossenen Uniformrock. Er hatte sich aus dem Nichts materialisiert.

»Willkommen in Grenada«, sagte er.

Laura glotzte.

»Bitte erschrecken Sie nicht, Mrs. Webster«, sagte Premierminister Louison. »Dies ist kein förmliches Verfahren. Wir beraten oft in dieser Art zusammen. Im Sakrament der Meditation.«

Rainey schob die Pfeife den Tisch entlang. Louison nahm sie und entzündete das Kraut mit einem verchromten Feuerzeug. Er paffte vernehmlich. Das Marihuana zündete, und bläuliche Flammen tanzten über dem WidderhornPfeifenkopf.

»Verbrennt den Papst!« sagte General Creft.

Louisons Kopf war in Rauch gehüllt. Er blies einen Strom nach rechts, über Stubbs' leeren Platz. »Zum Gedächtnis an einen guten Freund.« Darauf gab er die Pfeife an Rainey weiter. Rainey sog daran, und im Pfeifenkopf blubberte es. »Feuer und Wasser«, sagte er und gab die Pfeife Gelli.

Gelli schnaufte enthusiastisch und lehnte sich zurück, als er seinen Zug genommen hatte. Er übergab die Pfeife Laura. »Fürchten Sie sich nicht«, sagte er. »Nichts davon geschieht wirklich.«

Laura gab die Pfeife weiter an General Creft. Süßlicher Rauch färbte die Luft blau. Creft paffte und blies mit pfeifenden Zügen.

Laura saß angespannt auf der Kante ihres Sitzes. »Ich bedaure, daß ich an Ihrer Zeremonie nicht teilnehmen kann«, sagte sie. »Es würde mich als Verhandlungspartnerin diskreditieren. In den Augen meiner Gesellschaft.«

Rainey krähte vor Lachen. Alle schmunzelten.

»Sie wissen es nicht«, sagte Gelli.

»Sie werden es nicht verstehen«, sagte Castleman, Rauch ausatmend.

»Sie werden es nicht glauben«, sagte Gould.

Der Premierminister neigte sich nach vorn; seine Brillengläser glänzten. Seine Orden und Medaillen schimmerten im Licht. »Manche beschäftigen sich mit Information«, sagte er zu ihr. »Und manche beschäftigen sich mit dem Begriff der Wahrheit. Aber manche beschäftigen sich mit Magie. Informationen fließen um uns. Und die Wahrheit fließt auf uns zu. Aber die Magie - sie fließt durch uns.«

»Das sind Tricks«, sagte Laura. Sie umfaßte die Tischkante. »Sie möchten, daß ich mich Ihnen anschließe, aber wie kann ich Ihnen vertrauen? Ich bin keine Magierin…«

»Wir wissen, was Sie sind«, sagte Gould, als spräche er zu einem Kind. »Wir wissen alles über Sie. Über Sie, Rizome, Ihr Netz - Sie denken, daß Ihre Welt die unsrige umfasse. Aber das tut sie nicht. Ihre Welt ist eine Unterabteilung unserer Welt.« Er schlug mit der offenen Handfläche auf den Tisch - ein Kanonenschuß von einem Geräusch »Sehen Sie, wir wissen alles über Sie. Aber Sie wissen absolut nichts über uns.«

»Sie haben vielleicht einen kleinen Funken«, sagte Rainey. Er saß zurückgelehnt, die Augen zu Schlitzen geschlossen, die Fingerspitzen zusammengelegt. »Aber Sie werden niemals die Zukunft sehen - die wahre Zukunft -, solange Sie nicht lernen, Ihr Bewußtsein zu öffnen. Alle Ebenen zu sehen…«

»Alle Ebenen unter der Welt«, sagte Castleman. ›»Tricks‹, sagen Sie dazu. Realität ist nichts als Ebenen von Tricks. Nehmen Sie dieses alberne schwarze Glas von Ihren Augen, und wir können Ihnen vieles zeigen…«

Laura sprang auf. »Stellen Sie meine Verbindung mit dem Netz wieder her! Sie haben kein Recht, dies zu tun. Geben Sie mir sofort die Verbindung.«

Der Premierminister lachte. Ein trockenes, kleines Glucksen.

Er stellte die rauchende Pfeife unter den Tisch, dann richtete er sich sitzend auf, hob theatralisch beide Hände - und verschwand.

Die Direktoren der Bank standen wie ein Mann auf und stießen ihre Stühle zurück. Sie lachten und schüttelten den Kopf. Und ignorierten sie.

Sie schlenderten zusammen in die pechschwarze Dunkelheit des Tunnels davon. Als sie außer Sicht waren, konnte Laura immer noch ihre leisen Gespräche und ihr Lachen hören. Sie blieb allein unter dem Licht zurück, mit den eingeschalteten Datenanschlüssen und abkühlendem Kaffee in den Tassen. Castleman hatte sein Zigarilloetui vergessen…

(»Mein Gott«) drang eine leise Stimme an ihr Ohr. (»Sie sind alle verschwunden! Laura, sind Sie da? Sind Sie wohlauf?«)

Laura wurden die Knie weich. Sie fiel in ihren Sessel zurück. »Mrs. Emerson«, sagte sie. »Sind Sie es?«

(»Ja, meine Liebe. Wie haben sie das gemacht?«)

»Keine Ahnung«, murmelte Laura. Ihre Kehle war trocken und rauh wie Schmirgelpapier. Mit zittriger Hand schenkte sie sich Kaffee ein, ohne sich zu sorgen, was darin sein könnte. »Was genau haben Sie gesehen?«

(»Nun… es schien bisher eine durchaus vernünftige Diskussion zu sein… Sie sagten, daß sie unsere Vermittlung zu schätzen wüßten und uns nicht für Stubbs Tod verantwortlich machen… Dann plötzlich dies. Sie sind allein. Einen Augenblick waren sie alle da, saßen um den Tisch und redeten, und im nächsten waren die Stühle leer und die Luft voller Rauch.«) Mrs. Emerson hielt inne. (»Wie ein Spezialeffekt beim Film. Deckt es sich mit dem, was Sie sahen, Laura?«)

»Ein Spezialeffekt«, sagte Laura. Sie schluckte warmen Kaffee. »Ja… sie wählten diesen Konferenzort, nicht wahr?

Sicherlich konnten sie ihn irgendwie präparieren.«

Mrs. Emerson lachte erleichtert. (»Ja, natürlich. Das jagte mir einen Schreck ein… Einen Augenblick lang hatte ich Angst, Sie würden mir sagen, jeder einzelne von ihnen sei eine Optima Persona. Haha. Was für ein Schaustück.«)

Laura stellte vorsichtig die Tasse ab. »Wie habe ich… ah… meine Sache gemacht?«

(»Oh, sehr gut, meine Liebe. Sie waren ganz ihr übliches Selbst. Ich machte über die Leitung ein paar Vorschläge, aber Sie schienen zerstreut… Nicht überraschend, in einer so wichtigen Besprechung… Jedenfalls haben Sie sich gut gehalten.«)

»So… gut«, sagte Laura. Sie blickte nach oben. »Ich glaube, ich würde Holo-Projektionen oder was finden, wenn ich die Decke erreichen und hinter diesen Lampen suchen könnte.«

Mrs. Emerson lachte. (»Warum Ihre Zeit vergeuden? Und diesen Leuten ihren harmlosen kleinen dramatischen Effekt verderben… Ich bemerkte, daß auch David eine sehr interessante Zeit verbrachte… Sie versuchten ihn anzuwerben! Wir hatten das erwartet.«)

»Was sagte er?«

(»Er war sehr höflich. Er machte seine Sache auch gut.«)

Sie hörte Schritte. Sticky kam aus der Dunkelheit geschlendert. »Da sitzen Sie wieder und reden in die dünne Luft hinein«, sagte er. Er warf sich nachlässig in Gellis Bürosessel. »Fehlt Ihnen was? Sie sehen ein bißchen blaß aus.« Sein Blick streifte einen der transportablen Datenanschlüsse. »Haben sie es Ihnen schwer gemacht?«

»Sie sind eine harte Gesellschaft«, sagte Laura. »Ihre Chefs.«

Sticky hob die Hand und ließ sie lässig wieder fallen. »Nun, es ist eine harte Welt. Sie werden zu ihrem Baby zurück wollen… Ich habe den Wagen oben auf dem Dach… Also gehen wir.«

Der schwankende Rückflug vom Turm zum Parkplatz drehte ihr den Magen um. Als sie die gewundene schmale Straße zur Küste hinunterfuhren, fühlte sie sich noch immer elend, grün im Gesicht und fröstelte. Sticky fuhr viel zu schnell, und die steilen, romantischen Berge kippten und taumelten mit den Stößen der Schlaglöcher wie das Bühnenbild hinter den Brettern eines Laientheaters.

»Fahren Sie langsamer, Sticky«, ächzte sie, »oder ich muß mich wieder übergeben.«

Sticky machte ein erschrockenes Gesicht. »Warum haben Sie es nicht vorher gesagt? Wir können anhalten.« Er lenkte den Kübelwagen holpernd von der Straße in den Schatten einer Baumgruppe, dann schaltete er die Zündung aus. »Sie bleiben hier«, befahl er dem Soldaten.

Er half Laura aus dem Sitz. Sie hing an seinem Arm. »Wenn ich bloß ein bißchen gehen könnte«, murmelte sie. Sticky führte sie vom Wagen fort. Seine Augen suchten wieder den Himmel ab; es war wie ein Reflex.

Leichter Regen raschelte über ihnen im Laub. »Was ist mit ihnen?« fragte er. »Sie hängen an mir, als hätten Sie ernste Absichten. Haben Sie von Carlottas Pillen genommen, oder was?«

Sie ließ ihn widerwillig los. Er fühlte sich warm und solide an. Aus Fleisch und Blut. Sticky lachte, als er sie plattfüßig dastehen und wanken sah. »Was ist los? Will Onkel Dave nicht mehr?«

Laura errötete. »Hat Ihre Mutter Ihnen nicht beigebracht, daß Sie kein solch verdammter Chauvinist sein sollen? Ich kann es nicht glauben.«

»He«, sagte Sticky, »meine Mutter war bloß eines von Winstons Mädchen. Wenn er mit den Fingern schnippte, kam sie schon gesprungen. Nicht alle sind so empfindlich wie Sie.« Er kauerte unter einem Baum nieder, spannte den Rücken und hob einen langen Zweig auf. »Also haben sie Ihnen Angst eingejagt, wie?« Er drehte den Zweig zwischen den Fingern. »Haben sie Ihnen etwas über den Krieg gesagt?«

»Etwas«, sagte Laura. »Warum?«

»Die Miliz ist seit drei Tagen in voller Alarmbereitschaft«, sagte Sticky. »Kasernengerüchte wollen wissen, daß die Kanaillen der Bank ein Ultimatum gestellt und mit Feuer und Schwefel gedroht hätten. Aber wir werden nicht zahlen, also muß es bald losgehen mit den Platzpatronen.«

»Kasernengerüchte«, sagte Laura. Plötzlich fühlte sie sich in dem langen schwarzen Tschador am Ersticken. Sie zog ihn über den Kopf.

»Behalten Sie die Flakjacke«, sagte Sticky. In seinen Augen glomm ein Funken Erregung. Er sah sie gern Kleider ablegen. »Kleines Geschenk von mir.«

Sie blickte umher, atmete auf. Der gute nasse Duft von tropischen Wäldern. Vogelrufe. Regen. Die Welt war noch da. Ganz gleich, was in den Köpfen der Menschen vor sich ging…

Sticky stocherte in einem Termitenbau zwischen den Baumwurzeln und wartete.

Sie fühlte sich schon besser. Sie verstand Sticky. Der bösartige Zweikampf, den sie vorher ausgetragen hatten, kam ihr jetzt beinahe gemütlich vor - wie eine Notwendigkeit. Und jetzt sah er sie nicht wie eine Rinderhälfte oder einen Feind an, sondern mit einem Blick, den von Männern zu bekommen sie gewohnt war. Er unterschied sich nicht so sehr von anderen jungen Männern. Vielleicht hatte er gewisse angeberische

Neigungen, aber er war ein Mensch wie sie, mit kleinen Fehlern. Sie spürte eine jähe Aufwallung kameradschaftlicher Gefühle für ihn - beinahe hätte sie ihn umarmen können. Oder ihn wenigstens zum Abendessen einladen.

Sticky schaute auf seine Stiefel. »Sagten sie, daß Sie eine Geisel sind?« sagte er mit etwas gepreßter Stimme. »Daß sie Sie erschießen würden?«

Laura verneinte. »Sie wollen uns anheuern. Daß wir für Grenada arbeiten.«

Sticky begann zu lachen. »Das ist gut. Das ist wirklich gut. Das ist lustig.« Er stand auf, locker und froh, wie von einem Gewicht befreit. »Machen Sie es?«

»Nein.«

»Dachte ich mir.« Er schwieg einen Moment lang. »Sie sollten aber.«

»Essen Sie heute abend mit uns«, sagte Laura. »Vielleicht kann Carlotta auch kommen. Dann können wir uns unterhalten, wir vier.«

»Ich muß achtgeben, was ich esse«, sagte Sticky. Bedeutungslos. Aber ihm mußte es etwas bedeuten.

 

Sticky setzte sie vor dem Herrenhaus ab. David traf eine Stunde nach ihr ein. Er trat die Tür auf und kam juchzend durch die Eingangshalle, ließ das Baby auf seiner Hüfte hüpfen. »Wieder daheim, wieder daheim…« Loretta krähte aufgeregt.

Laura wartete im Wohnzimmer bei ihrem zweiten Rumpunsch. »Mutter meines Kindes!« sagte David. »Wo sind die Windeln, und wie war dein Tag?«

»Sie müssen in der Tragetasche sein.«

»Die habe ich alle aufgebraucht. Gott, was riecht da so gut? Und was trinkst du da?«

»Rita hat Punsch gemacht.«

»Na, dann schenk mir welchen ein.« Er verschwand mit Loretta und brachte sie nach einer Weile mit frisch gewechselten Windeln und ihrer Flasche zurück.

Laura seufzte. »Du hattest einen guten Tag, David, scheint mir.«

»Du würdest nicht glauben, was sie da draußen haben«, sagte David, setzte sich auf die Couch, streckte die Beine von sich und nahm das Baby auf den Schoß. »Ich traf wieder so einen Andrej. Er hieß nicht Andrej, benahm sich aber genau wie der andere. Ein Koreaner. Großer Verehrer von Buckminster Fuller. Sie machen massive Bauten aus nichts! Hochinteressante Versuche! Sandbeton und Mineralien aus dem Meer… Sie versenken Eisenroste im Ozean, leiten elektrischen Strom durch, und das Ergebnis ist, daß sich Feststoffe anlagern… Kalziumkarbonat. Wie Muscheln! Aber durch den Strom geht es schneller, und so können sie vor der Küste Gebäude errichten, die von selbst wachsen. Aus diesem ›Meerstein‹, diesen gelösten Mineralien. Und keine Baugenehmigungen, keine Gutachten, nichts.«

Er trank das halbe Becherglas Rum und Zitronensaft leer, schauderte. »Mann! Ich glaube, ich könnte noch ein zweites Glas davon vertragen… Laura, es war die heißeste Sache, die ich je gesehen habe. Es gibt fertige Versuchsbauten unter Wasser, und Leute hausen darin… du kannst nicht sehen, wo die Wände aufhören und der Korallenkalk anfängt.«

Die kleine Loretta hielt gierig ihre Flasche mit beiden Händchen. »Und jetzt paß auf: Ich ging in meiner Arbeitskleidung herum, und kein Mensch achtete auf mich. Bloß noch so ein Schwarzer. Sogar in Begleitung dieses… Gott, ich habe seinen Namen schon vergessen, den koreanischen Andrej… Er machte die Führung, aber es war ganz inoffiziell, ich bekam alles zu sehen.«

»Sie möchten, daß du daran mitarbeitest?«

»Mehr als das! Paß auf, sie offerierten mir ein Fünfzehn-Millionen-Rubel-Budget - ein großes Projekt, für das ich die Bauleitung übernehmen soll.« Er nahm seine Brille ab und legte sie auf die Armlehne der Couch. »Natürlich sagte ich, nichts zu machen - ich könne nicht ohne meine Frau und mein Kind hier bleiben -, aber wenn wir eine Art Gemeinschaftsprojekt mit Rizome daraus machen könnten, dann würde ich es tun, auf jeden Fall. Schon morgen.«

»Ich soll auch für sie arbeiten«, sagte Laura. »Sie sorgen sich um ihr Erscheinungsbild in der öffentlichen Meinung.«

David starrte sie an und brach in Gelächter aus. »Nun, natürlich. Versteht sich. Also, darauf mußt du mir noch einen einschenken. Erzähl mir alles über die Besprechung.«

»Sie war grotesk«, sagte Laura.

»Kann ich mir denken! Na, du solltest sehen, was sie draußen an der Küste machen. Sie haben dort zehnjährige Kinder, die in Seewasser geboren wurden. Buchstäblich! Sie haben diese Mutterschaftsbehälter... unter den Frauen suchen sie Freiwillige, und wenn ihre Zeit kommt, bringen sie sie in diese Gebärbehälter… Habe ich von den Delphinen erzählt?« Er trank von seinem Punsch.

»Delphinen?«

»Hast du je von Laser-Akupunktur gehört? Ich meine, hier, das Rückgrat entlang…« Er beugte sich vor und stieß das Baby an. »Oh, entschuldige, Loretta.« Er nahm sie in den anderen Arm. »Aber das kann ich dir alles später erzählen. Also hast du deine Aussage gemacht, wie? Waren sie schwierig…«

»Nicht eigentlich schwierig…«

»Wenn sie uns abwerben wollen, kann es nicht so schlimm gewesen sein.«

»Nun ja…« sagte Laura. Sie spürte, wie ihr alles entglitt, verdrängt von Hoffnungslosigkeit. Es gab keine Möglichkeit, ihm zu sagen, was wirklich geschehen war - was nach ihrer Überzeugung geschehen war - schon gar nicht, wenn sie an der Leitung waren, vor Atlantas Kameras. Später würde sich eine bessere Gelegenheit ergeben. »Wenn wir nur einmal ungestört reden könnten!«

David machte ein Gesicht. »Ja, es ist hart, immer am Draht zu sein… Nun, ich kann die Aufnahme deiner Befragung von Atlanta überspielen lassen. Wir schauen sie uns zusammen an, und du kannst mir alles darüber erzählen.«

Stille.

»Es sei denn, es gäbe etwas, das du mir gleich sagen mußt.«

»Nein…«

»Gut, aber ich habe dir was zu sagen.« Er trank sein Glas leer. »Ich wollte damit bis nach dem Abendessen warten, aber es muß einfach heraus.« Er grinste. »Carlotta hat sich an mich herangemacht.«

»Carlotta?« Laura war verblüfft. »Sie hat was?« Sie richtete sich auf.

»Ja. Sie war dort. In einer der Aquakulturen waren wir ein paar Minuten aus der Leitung. Es war dort nicht verdrahtet, weißt du. Und auf einmal schaukelt sie auf mich zu, schiebt mir die Hand unter das Hemd und sagt… ich weiß nicht mehr genau, aber es war ungefähr wie: ›Hast du dich schon mal gefragt, wie es sein würde? Wir wissen eine Menge, wovon Laura keine Ahnung hat.‹«

Laura erbleichte. »Was war das?« fragte sie. »Was war mit ihrer Hand?«

Davids Lächeln schwand. »Sie strich mir mit der Hand über die Rippen. Um zu zeigen, daß sie ernst machen wollte, nehme ich an.« Er war bereits in der Defensive. »Gib nicht mir die Schuld. Ich hatte nicht darum gebeten.«

»Ich gebe dir nicht die Schuld, aber ich wünschte, du würdest nicht so vergnügt darüber sein.«

David konnte sich das Grinsen nicht verbeißen. »Nun… es war irgendwie schmeichelhaft. Ich meine, alle Leute, die wir kennen, wissen, daß wir verheiratet sind, also ist es nicht so, daß die Frauen sich überall auf mich stürzen… Andererseits war mir klar, daß Carlotta sich nicht an mich heranmachte, weil sie nach mir lechzte, sondern weil es ihr Job war. Wie eine Art Geschäftsangebot.« Er ließ Loretta seine Finger packen. »Denk dir nichts dabei. Du hattest recht, als du sagtest, sie versuchten uns für ihre Zwecke einzuspannen. Dazu gebrauchen sie jedes Mittel. Drogen - dafür sind wir nicht zu haben. Geld - nun, auf ihre grenadinischen Rubel sind wir nicht scharf… Sex - ich nehme an, sie sagten Carlotta bloß, sie solle es mal probieren, und sie versprach es. Nichts davon hat viel zu bedeuten. Aber Mann - das schöpferische Potential! Ich schäme mich nicht, zu sagen, das packte mich an meiner empfindlichen Stelle.«

»Was für eine miese Handlungsweise«, sagte Laura. »Wenigstens hätten sie ein anderes Kirchenmädchen schicken können.«

»Ja«, stimmte er zu, »aber ein anderes Mädchen hätte vielleicht besser ausgesehen… oh, entschuldige. Vergiß, was ich sagte. Ich bin betrunken.«

Sie zwang sich, darüber nachzudenken. Vielleicht war er in dieser technischen Unterwelt, die sie hier hatten, fünf Minuten aus der Leitung gewesen, und vielleicht, vielleicht hatte er es getan. Vielleicht hatte er mit Carlotta eine schnelle Nummer geschoben. Sie fühlte, wie ihre Welt bei dem Gedanken einen Riß bekam, wie Eis über tiefem, schwarzem Wasser.

David spielte mit dem Baby, einen harmlosen Trallala-Ausdruck im Gesicht. Nein. Er konnte es nicht getan haben. Sie hatte noch nie an ihm gezweifelt. Niemals so.

Es war, als wäre ein Dutzend Jahre zuversichtlichen und vertrauenden Erwachsenenalters von schwarzen Spalten aufgerissen. Und tief darunter zeigten sich die frischen Narben der Lebensangst, die sie als Neunjährige gefühlt hatte, als ihre Eltern sich getrennt hatten. Der Rum stieß ihr sauer auf, und sie verspürte einen plötzlichen, krampfartigen Magenschmerz. Sie durfte sich nicht unterkriegen lassen, dachte sie grimmig. Jeder Mensch mußte mit Ungewißheiten leben. Die Leute hier kannten ihre Schwächen, ihre persönliche Geschichte. Aber es durfte nicht sein, daß sie ihre persönlichen Angstgefühle ausnutzten und sie in Zweifel und Unsicherheit stürzten. Das durfte sie nicht zulassen. Nein. Keine Schwächen mehr. Nichts als strenge Entschlossenheit. Bis sie ihren Auftrag ausgeführt hätte.

Sie stand auf und schritt rasch durch das Schlafzimmer zum Bad. Sie warf ihre verschwitzten Sachen ab und fand einen Blutfleck. Ihre Periode hatte eingesetzt. Die erste nach der Schwangerschaft. Ihre Nerven waren so angespannt, daß sie in Tränen ausbrach. Sie stellte sich unter die Dusche und hob das Gesicht gegen die Brause.

Das Weinen half. Es spülte die Schwäche wie Gift heraus. Dann legte sie Augenschatten und Wimperntusche auf, damit David die Röte nicht sehen würde. Und sie zog zum Abendessen ein Kleid an.

David war noch immer erfüllt von den Dingen, die er gesehen hatte, und sie ließ ihn plappern und lächelte und nickte im Licht von Ritas Kerzen.

Er trug sich ernsthaft mit dem Gedanken, in Grenada zu bleiben. »Die Technik ist wichtiger als die Politik«, erklärte er ihr in naiver Nonchalance. »Dieser Mist hat nie Bestand, aber eine wirkliche Neuerung ist wie ein dauerndes Stück Infrastruktur!« Sie und er könnten eine richtige Niederlassung bilden - ›Rizome-Grenada‹ -, und es würde wie die Planung und Errichtung des Ferienheimes sein, aber in viel größerem Maßstab, und mit praktisch unbegrenzten Geldmitteln. Er würde ihnen zeigen, was für ein Architekt in ihm steckte, und es würde möglich sein, eine Ausgangsbasis für vernünftige gesellschaftliche Werte zu schaffen. Früher oder später würde das Netz die Leute hier zivilisieren und ihres verrückten Piraterie-Unsinns entwöhnen. Grenada brauchte kein Rauschgift, es brauchte den Anschluß an die internationale Wertegemeinschaft‹.

Sie gingen zu Bett, und David streckte die Hand nach ihr aus. Und sie mußte ihm sagen, daß sie die Periode hatte. Er war überrascht und einsichtig. »Ich dachte mir schon, daß du etwas angestrengt aussiehst«, sagte er. »Es ist ein ganzes Jahr her, nicht? Muß ein ziemlich unheimliches Gefühl sein, sie plötzlich wieder zu haben.«

»Nein, es ist bloß… natürlich. Man gewöhnt sich daran.«

»Du hast heute abend nicht viel gesagt«, fuhr er fort. Er rieb ihr sanft den Magen. »Irgendwie geheimnisvoll.«

»Ich bin nur müde«, sagte sie. »Ich kann jetzt wirklich nicht darüber reden.«

»Laß dich nicht unterkriegen! Diese Bankgauner sind nicht so wichtig«, sagte er. »Ich hoffe, wir erhalten Gelegenheit, den alten Louison zu treffen, den Premierminister. Unten bei den neuen Projekten redeten die Leute von ihm, als ob diese Bankmenschen nur seine Botenjungen wären.« Er zögerte. »Allerdings gefiel mir die Art nicht, wie sie von Louison redeten. Als hätten sie wirklich Angst vor ihm.«

»Sticky erzählte mir, daß viel über Krieg geredet würde«, sagte Laura. »Die Armee sei in Alarmbereitschaft. Die Bevölkerung lebe in einem Spannungszustand.«

»Du bist in einem Spannungszustand«, sagte er und rieb sie. »Deine Schultern sind wie Holz.« Er gähnte. »Du weißt, daß du mir alles anvertrauen kannst, Laura. Wir haben keine Geheimnisse voreinander, das solltest du auch wissen.«

»Ich will morgen die Aufzeichnungen sehen«, sagte sie. »Wir werden sie zusammen durchgehen, wie du sagtest.« Es mußte irgendwo ein Fehler in ihnen sein, dachte sie. Irgend etwas, das beweisen würde, daß sie gefälscht waren, und daß sie, Laura, nicht verrückt war. Sie durfte nicht zulassen, daß bei Rizome jemand dachte, sie sei am Überschnappen. Das würde alles ruinieren.

Sie konnte nicht schlafen. Der Tag und seine Ereignisse gingen ihr immer wieder durch den Sinn. Und die Magenschmerzen hörten nicht auf. Um halb eins gab sie auf und zog einen Morgenmantel über.

David hatte Loretta eine Art Krippe gemacht - eine kleine viereckige Einzäunung, ringsum mit Decken gepolstert. Laura beugte sich über das kleine Mädchen und umarmte es mit einem Blick. Es war komisch, wie sehr die beiden einander glichen, wenn sie schliefen. Vater und Tochter. Eine seltsame menschliche Vitalität, die durch sie gegangen war, die sie in sich genährt hatte. Wunderbar, schmerzhaft, unheimlich. Das Haus war still wie der Tod.

Sie hörte entfernten Donner. Aus dem Norden. Hohle, wiederholte Schläge. Bald würde es wieder regnen. Sie begrüßte die Vorstellung. Ein kleiner Tropenguß zur Beruhigung ihrer Nerven.

Leise wanderte sie durch das Wohnzimmer auf die Veranda. Sie und David hatten die Rolläden hochgezogen, das Gerümpel weggeräumt und den Boden gefegt; jetzt war es dort angenehm. Sie zog einen alten Korbsessel heraus und setzte sich hinein, legte die müden Beine auf den Sessel gegenüber. Warme Gartenluft mit dem schweren Duft der Ylang-Ylang. Noch kein Regen. Die Luft war voll Spannung.

Draußen am Tor gingen die Lichter an. Laura hob den Kopf. Die zwei Nachtwachen - sie kannte ihren Namen nicht - waren aus ihrem Unterstand gekommen und sprachen in Funksprechgeräte.

Sie hörte ein platzendes Geräusch in der Höhe. Nicht laut, unauffällig wie das Knacken eines Dachbalkens. Dann ein zweites Geräusch: ein schwach metallisches Bonk, und ein Rascheln. Ganz leise, wie landende Vögel.

Etwas war auf das Blechdach eines der Türme gefallen und von dort auf die Schindeln des Hauses.

Grellweißer Lichtschein ergoß sich lautlos über den Garten. Weiße Glut vom Dach des Herrenhauses. Die Wächter blickten erschrocken auf, rissen instinktiv die Arme hoch, wie schlechte Schauspieler.

Das alte Schindeldach begann zu knistern.

Laura sprang auf und schrie aus Leibeskräften. Sie rannte durch das dunkle Haus ins Schlafzimmer. Das Baby war aus dem Schlaf gerissen und schrie vor Angst. David saß benommen im Bett. »Das Haus brennt«, sagte sie.

Er katapultierte sich aus dem Bett und fuhr in die Hosen.

»Wo?«

»Das Dach. Brandbomben, glaube ich.«

»Lieber Gott«, sagte er. »Nimm du Loretta, und ich hole die anderen.«

Sie steckte Loretta in ihre Tragtasche und warf ihre Kleider in einen Koffer. Als sie damit fertig war, konnte sie Rauch riechen. Und ein knackendes, knisterndes Tosen durchdrang das Gebäude.

Sie schleppte den Koffer und das Baby hinaus, ließ beides hinter dem Springbrunnen zurück und wandte sich um, David zu suchen. Einer der Ecktürme war in Flammen gehüllt. Feuer hatte den westlichen Teil des Dachstuhls ergriffen und verbreitete sich rasend schnell.

Rajiv und Jimmy kamen heraus, zwischen sich eine hustende, schluchzende Rita. Laura lief zu ihnen, bohrte ihre Fingernägel in Rajivs nackten Arm. »Wo ist mein Mann?«

»Bedaure sehr, Madam«, murmelte Rajiv. Er zog nervös an seiner rutschenden Hose. »Bedaure sehr, Madam…«

Sie stieß ihn so heftig beiseite, daß er das Gleichgewicht verlor und hinfiel. Ohne auf die Zurufe des Personals zu achten, rannte sie die Treppe hinauf und wieder ins Haus.

David war im Schlafzimmer. Er hielt sich gekrümmt, einen nassen Waschlappen vor das Gesicht gedrückt. Er trug seine Videobrille und hatte ihre über seinen Kopf geschoben. Die Weckeruhr klemmte unter seinem Arm. »Einen Augenblick noch«, murmelte er und sah durch die Brille zu ihr auf. »Muß meinen Werkzeugkasten finden.«

»Dummes Zeug, David, komm jetzt!« Sie zog an seinem Arm, und nach kurzem Widerstreben folgte er ihr hinaus.

Dort mußten sie vor der Strahlungshitze zurückweichen. Die Räume im Obergeschoß begannen einer nach dem anderen zu explodieren. David ließ seinen Waschlappen sinken. »Überschlag«, sagte er und starrte auf das schaurige Schauspiel.

Eine Faust schmutziggelber Flammen durchstieß ein Obergeschoßfenster. Glasscherben spritzten über den Rasen. »Die Hitze baut sich auf«, murmelte David. »Dann entzündet sich der ganze Raum auf einmal. Und der Gasdruck sprengt Wände und Fenster heraus.«

Die Soldaten drängten sie weg. Sie hielten ihre nutzlosen Fesselgewehre wie Polizeistöcke in Brusthöhe. David wich zögernd zurück, hypnotisiert vom Zerstörungswerk. »Ich habe Computersimulationen davon gemacht, aber nie gesehen, wie es sich in Wirklichkeit abspielt«, sagte er, mehr zu sich selbst als zu ihr. »Gott, was für ein Bild!«

Laura stieß einen der jungen Soldaten weg, als er ihr auf den bloßen Fuß trampelte. »Gib acht, wohin du trittst, du Tölpel! Wo, zum Teufel, ist die Feuerwehr, wenn ihr in diesem gottverlassenen Loch eine habt?«

Der Junge wich einen Schritt zurück und ließ die Waffe sinken. »Sehen Sie zum Himmel!« Er zeigte nach Nordosten.

Am Nordhorizont lag die tiefhängende Wolkendecke im Widerschein von Bränden, erhellt wie ein Sonnenaufgang, in einem häßlichen Schmutzigorange. »Was kann das sein?« überlegte David. »Das ist meilenweit entfernt… Laura, das ist Point Sauteur. Muß der ganze Komplex vor der Küste sein. Das ist ein Raffineriebrand!«

Ein entfernter schmutziger Blitz zuckte über die Wolken. »Mann, ich hoffe, sie haben nicht den Tanker getroffen«, sagte David. »Und hoffentlich haben die armen Schweine auf diesen Bohrinseln Rettungsboote.« Er fummelte an seinem Ohrhörer. »Kriegen Sie alles mit, Atlanta?«

Laura zog ihre Videobrille von seinem Kopf. Sie ging zum Springbrunnen und holte Laura mit der Tragtasche. Sie zog das schreiende Kind heraus, drückte es an die Brust, schaukelte es und murmelte begütigend.

Dann setzte sie die Brille auf.

Nun konnte sie besser hinsehen, weil das Gesicht nicht mehr ungeschützt der Hitze ausgesetzt war.

 

Das Herrenhaus brannte bis auf die Grundmauern nieder. Erst gegen Morgen erloschen die Flammen. Die kleine Gruppe der Bewohner saß zusammengedrängt in der Wachstube beim Tor und lauschte Katastrophenmeldungen, die über das Telefon eingingen.

Gegen sieben Uhr früh traf ein Militärhubschrauber ein und ging beim Springbrunnen nieder.

Andrej, der polnische Emigrant, sprang heraus. Er ließ sich vom Piloten einen großen Kasten aushändigen und kam zum Tor.

Sein linker Arm war verbunden, und er stank nach chemischem Ruß. »Ich habe für alle Überlebenden Schuhe und Uniformen gebracht«, verkündete er. Der Kasten war voll von flachen, in Plastik gehüllten Packen: die Einheits-Arbeitshosen und kurzärmelige Hemden. »Es tut mir sehr leid, daß wir so schlechte Gastgeber sind«, sagte er in bekümmertem Ton. »Das Volk von Grenada entschuldigt sich bei Ihnen.«

»Wenigstens haben wir überlebt«, sagte Laura. Sie steckte die bloßen Füße dankbar in die weichen Turnschuhe. »Weiß man, wer dahintersteckt?«

»Die Übeltäter der FAKT haben alle Schranken der Zivilisation durchbrochen.«

»Das dachte ich mir«, sagte Laura. »Wir werden uns abwechselnd in der Wachstube umziehen. David und ich gehen zuerst.« Ohne ihre Sachen aus dem Koffer zu holen, nahm sie zwei Kleiderpacken und ging mit David hinein. Sie vertauschte ihr dünnes Nachthemd und den Morgenmantel mit einem steifen, neuen Hemd und einer schweren Arbeitshose. David bediente sich mit einem Hemd und Schuhen.

Sie gingen hinaus, und Rita verschwand fröstelnd in der Wachstube. »Nun werden Sie bitte mit mir in den Hubschrauber kommen«, sagte Andrej. »Die Welt muß von diesen Greueln erfahren…«

»In Ordnung«, sagte Laura. »Wer ist an der Leitung?«

(»Beinahe alle«,) sagte Emily. (»Wir haben die Aufnahme allen Rizome-Außenstellen und ein paar Nachrichtenagenturen überspielt. Wien wird Schwierigkeiten haben, dieses Ding unter der Decke zu halten… es ist einfach zu groß.«)

Andrej wartete am Einstieg zum Hubschrauber. »Können Sie das Kind zurücklassen?«

»Auf keinen Fall«, sagte David. Sie kletterten in zwei Sitze im rückwärtigen Teil der Kabine, und David hielt Lorettas Tragtasche auf dem Schoß. Andrej nahm den Sitz des Copiloten ein, und sie schnallten sich an.

Mit zischenden Rotorblättern hob die Maschine ab. David blickte aus dem kugelsicheren Fenster zu den geschwärzten Trümmern des Herrenhauses. »Haben Sie eine Ahnung, was unser Haus getroffen hat?«

»Ja. Es waren viele von ihnen. Sehr kleine, billige Flugzeuge, hauptsächlich Papier und Bambus, wie Flugdrachen von Kindern. Radartransparent. Viele sind jetzt abgestürzt, aber nicht ehe sie ihre vielen Bomben fallen ließen. Kleine Thermitstangen mit Napalm.«

»Hatten sie es besonders auf uns abgesehen? Auf Rizome, meine ich?«

»Schwer zu sagen. Viele solcher Häuser sind niedergebrannt. Das Kommunique erwähnt Sie… ich habe es hier.« Er gab ihnen den Ausdruck. Laura überflog ihn: Datum und Herausgeber, und darunter Absatz um Absatz der üblichen stalinistischen Phrasen. »Haben Sie schon eine Übersicht, wie viele Opfer der Angriff gefordert hat?«

»Bisher siebenhundert. Die Zahl steigt. Von den Bohrinseln vor der Küste werden noch immer Tote geborgen. Sie trafen uns mit Schiffsraketen.«

»Großer Gott!« sagte David.

»Das waren schwere Waffen. Wir haben Hubschrauber draußen, die nach Schiffen Ausschau halten. Es könnten mehrere gewesen sein. Aber in der Karibik verkehren viele Schiffe, und Raketen haben eine große Reichweite.« Er griff in seine Brusttasche. »Haben Sie diese schon gesehen?«

Laura nahm ihm den Gegenstand aus den Fingern. Er sah wie eine große Büroklammer aus Plastik aus und war grün und braun gefleckt, und wog beinahe nichts. »Nein.«

»Diese ist entschärft - es ist Plastiksprengstoff. Eine Mine. Sie kann den Reifen von einem Lastwagen reißen. Oder das Bein von einer Frau oder einem Kind.« Seine Stimme war kalt und sachlich. »Die kleinen Flugzeuge haben viele, viele hundert von ihnen verstreut. Sie werden nicht mehr auf der Straße fahren. Und wir werden gefährdete Gebiete meiden.«

»Was für verrückte Teufel…« fing David an.

»Sie wollen uns unser eigenes Land verweigern«, sagte Andrej. »Diese Sprengkörper werden noch viele Monate lang unser Blut vergießen.«

Unter ihnen glitt das Land vorüber; plötzlich waren sie über der Karibik. Der Hubschrauber änderte den Kurs. »Fliegen Sie nicht in den Rauch«, sagte Andrej zum Piloten. »Er ist giftig.«

Noch immer quoll dichter Rauch aus zwei der vor der Küste liegenden Bohrinseln. Sie ähnelten großen Tischplatten, auf denen brennende Fahrzeuge gestapelt waren. Ein paar Feuerlöschboote spuckten federartige Strahlen chemischen Schaums über sie.

Die Halbtaucherplattformen hatten Fahrt aufgenommen und standen außerhalb der Gefahrenzone. Die hydraulischen Bohrinseln hatten ihre Plattformen auf Meereshöhe abgesenkt, so daß sie vom Salzwasser überspült wurden. Das Wasser war voll von geschwärztem Treibgut - unbestimmten Klumpen irgendwelchen Materials, Kunststoffkabeln, verbrannten Trümmern jedweder Art - und steifarmigen treibenden Gestalten, die wie Gummipuppen aussahen. Laura sog scharf die Luft ein und blickte weg.

»Nein, sehen Sie sehr gut hin«, sagte Andrej. »Die Angreifer haben uns kein Gesicht gezeigt… Lassen Sie wenigstens diese Menschen Gesichter haben.«

»Ich kann nicht hinschauen«, stieß sie hervor.

»Dann schließen Sie die Augen hinter der Brille.«

»Meinetwegen.« Sie hielt ihr Gesicht zum Fenster und schloß die Augen. »Was werden Sie tun, Andrej?«

»Sie werden heute nachmittag die Insel verlassen«, sagte er. »Wie Sie sehen, können wir Ihre Sicherheit nicht länger garantieren. Sie werden fliegen, sobald der Flughafen von Minen geräumt ist.« Nach einer Pause sagte er: »Dies werden die letzten Flüge hinaus sein. Wir wünschen keine Ausländer mehr. Keine neugierigen Journalisten. Und niemanden von der Wiener Konvention. Wir schließen unsere Grenzen.«

Laura öffnete die Augen. Sie schwebten über der Küste.

Halbnackte Rastas zogen angetriebene Leichen an Land. Ein totes kleines Mädchen. Wasser troff aus seinem schlaffen Kleid, den langen Haaren. Laura unterdrückte einen Aufschrei, krallte die Finger in Davids Arm. Die Galle stieg ihr in die Kehle, und sie fiel in den Sitz zurück, kämpfte gegen die Übelkeit.

»Sehen Sie nicht, daß meiner Frau übel ist?« sagte David. »Es ist genug.«

»Nein«, sagte Laura mit schwacher Stimme. »Andrej hat recht… Andrej, hören Sie! Es ist ganz ausgeschlossen, daß Singapur dies getan haben könnte. Das ist kein Bandenkrieg mehr. Das sind terroristische Greueltaten.«

»Das sagen sie uns auch«, räumte Andrej ein. »Ich denke, sie haben Angst. Heute früh fingen wir ihre Agenten in Trinidad. Es scheint, daß sie mit Spielzeugflugzeugen und Zündhölzern gespielt haben.«

»Sie können nicht Singapur angreifen!« sagte Laura. »Weiteres Töten kann Ihnen nicht helfen!«

»Wir sind nicht Gandhi«, sagte Andrej. Er sprach langsam, mit Bedacht. »Dies ist Terrorismus in großem Maßstab. Aber es gibt eine tiefere Art von Schrecken als diesen - eine viel ältere und dunklere Furcht. Sie könnten Singapur davon erzählen. Sie wissen etwas darüber, denke ich.«

»Sie wollen, daß ich nach Singapur gehe?« sagte Laura. »Ja. Ich werde es tun. Wenn es dieser Schlächterei Einhalt gebieten kann.«

»Sie haben keine kleinen Spielzeugflieger zu fürchten«, sagte Andrej. »Aber Sie können ihnen sagen, daß Sie die Dunkelheit fürchten sollten. Daß sie die Nahrung und die Luft und das Wasser - und ihre eigenen Schatten fürchten sollten.«

David starrte ihn mit offenem Mund an.

Andrej seufzte. »Sollten sie dieser Untat nicht schuldig sein, dann müssen sie es beweisen und sofort auf unsere Seite treten.«

»Ja, natürlich«, sagte Laura hastig. »Sie müssen gemeinsame Sache machen. Rizome kann helfen.«

»Andernfalls bemitleide ich Singapur«, sagte Andrej. Er hatte einen Ausdruck in den Augen, den sie noch nie in einem menschlichen Gesicht gesehen hatte. Er war alles andere als mitleidig.

Andrej verließ sie auf dem kleinen Militärflugplatz bei Pearls. Aber der Evakuierungsflug, den er ihnen versprochen hatte, blieb aus. Es mußte irgendeine Panne gegeben haben, was unter den herrschenden Umständen verständlich war. Schließlich, als es schon dunkel war, schaffte ein Lastenhubschrauber Laura und David zum Zivilflughafen Point Salines.

Scheinwerfer durchbohrten die Nacht, die Zufahrtsstraße zum Flughafen war verstopft. Eine Kompanie motorisierter Infanterie hatte den Flughafen und die Zufahrten besetzt. Ein gesprengter Lastwagen am Straßenrand schwelte vor sich hin – vermutlich war er in ausgestreute Büroklammerminen geraten.

Der Hubschrauber trug sie über die Einzäunung. Vor dem Abfertigungsgebäude drängten sich die Luxuslimousinen. Milizionäre in Tarnjacken und Stahlhelmen patrouillierten die Einzäunung des Flughafengeländes und die Flächen im Innern mit langen Bambusstangen. Minensucher. Als der Hubschrauber auf dem grasdurchsetzten Asphalt niederging, hörte Laura einen scharfen Knall und sah etwas aufblitzen, als ein Minenräumgerät fündig wurde.

»Passen Sie auf, wohin Sie treten«, sagte der Pilot in munterem Ton, als er die Ladeluke aufstieß. Ein junger Milizionär in Tarnuniform, ungefähr neunzehn, schien Gefallen an der nächtlichen Aktion zu finden. Jede Art von Zerstörung war aufregend - daß die Leidtragenden seine eigenen Landsleute waren, schien zweitrangig. Laura und David sprangen auf den Asphalt, zogen ihren Koffer und das schlafende Baby in der Tragetasche aus der Maschine.

Der Hubschrauber startete. Ein kleiner Gepäckwagen rollte in der Dunkelheit vorbei. Jemand hatte vorne zwei Besen mit Draht befestigt. Laura und David schlurften, die Blicke auf den Boden gerichtet, langsam und vorsichtig zu den Lichtern des Abfertigungsgebäudes. Es war nur dreißig Schritte entfernt. Sicherlich hatte jemand diese Fläche bereits nach Minen abgesucht… Sie umgingen einen hellvioletten Sportwagen. Zwei fette Männer mit Video-Make-up lagen schlafend oder betrunken in den samtbezogenen Schalensitzen des Wagens.

Soldaten schrien ihnen zu, winkten. »He! Weg da, ihr Leute! Kein Plündern!«

Sie erreichten den langen Säuleneingang des Abfertigungsgebäudes. Flutlichtlampen verbreiteten blendende Helligkeit. Eine der großen Glasscheiben am Eingang war eingeschlagen oder herausgesprengt; das Innere des Gebäudes war vollgestopft mit Menschen. Aufgeregtes Stimmengewirr, Körpergerüche, Füßescharren. Eine kubanische Verkehrsmaschine hob draußen vom Flugfeld ab. Das Zischen ihrer Triebwerke ging im Lärm der Menschenmenge unter. Ein Soldat mit Achselklappen packte David beim Arm. »Papiere. Paß oder Ausweis.«

»Haben wir nicht«, sagte David. »Wir wurden ausgebrannt.«

»Keine Platzreservierung, keine Tickets?« sagte der Mann.

Er mußte Offizier sein. »Ohne Tickets können Sie nicht weg.« Er musterte ihre Standardkleidung, betrachtete ihre Brillen. »Woher haben Sie diese Fernsehgläser?«

»Gould und Castleman haben uns geschickt«, log Laura. Sie hob eine Hand an die Brille. »Havanna ist für uns nur Zwischenlandung. Wir sind Zeugen. Kontaktpersonen für die Außenwelt, verstehen Sie.«

»Ja«, sagte der Offizier. Und nach kurzem Zögern winkte er sie durch.

Sie tauchten rasch in der Menge unter. »Das war brillant«, sagte David. »Trotzdem haben wir keine Tickets.«

(»Das können wir regeln«,) sagte Emerson. (»Wir haben jetzt die kubanische Luftlinie an der Leitung. Sie organisiert die Evakuierung - wir können Ihnen den nächsten Flug besorgen.«)

»Großartig.«

(»Sie sind beinahe zu Hause - versuchen Sie, sich nicht zu sorgen.«)

»Danke, Atlanta. Solidarität.« David überblickte die Menge. Er schätzte sie auf mindestens dreihundert Köpfe. »Sieht aus wie eine Versammlung von verrückten Wissenschaftlern…«

Er hatte recht. Der Flughafen wimmelte von Anglos und Europäern mit verschlossenen Mienen - sie schienen sich ziemlich gleichmäßig auf gutgekleidete Exilgangster und vom schnellen Geld angelockte Wissenschaftler und Techniker zu verteilen, die sich in Kleidung und Benehmen den Einheimischen angeglichen hatten. Dutzende saßen auf ihrem Gepäck und hielten nervös die Koffer und Taschen mit ihrer Beute fest. Laura stieg über die Füße einer schlanken Schwarzen, die auf einem Haufen Luxusgepäck schlief, einen THC-Aufkleber am Hals. Ein halbes Dutzend zwielichtige Gestalten in bunten

Trinidad-Hemden vertrieben sich die Zeit mit einem Crapspiel am Boden und riefen aufgeregt in einer osteuropäischen Sprache durcheinander. Zwei kreischende Zehnjährige verfolgten einander durch eine Gruppe von Männern, die methodisch Tonträgerkassetten zerschlugen.

»Sieh mal«, sagte David und zeigte zu einer Gruppe weißgekleideter Frauen am Rand der Menge. Ihre Gesichter trugen einen Ausdruck gemessener Geringschätzung zur Schau. Krankenschwestern, dachte Laura. Oder Nonnen.

»Die Kirche von Ischtar«, sagte David. »Und schau, da ist Carlotta!«

Sie drängten sich durch die Menge weiter, glitten auf Unrat aus. Plötzlich hob zu ihrer Linken zorniges Geschrei an: »Was soll das heißen, Sie können es nicht umtauschen?« Der Rufer fuchtelte mit einer grenadinischen Kreditkarte einem Milizhauptmann vor dem Gesicht herum. »Auf dieser Karte sind Millionen, Sie Nachtwächter!« Ein beleibter Anglo in einem Anzug und Joggingschuhen - auf den Kappen flimmerten Digitalanzeigen. »Rufen Sie gefälligst Ihren Chef, wenn Sie Schwierigkeiten vermeiden wollen!«

»Hinsetzen!« befahl der Hauptmann. Er gab dem Mann einen Stoß vor die Brust.

»Okay«, sagte der Mann, ohne der Aufforderung Folge zu leisten. »Ich hab's mir anders überlegt. Ich entscheide mich für die Tunnels. Bringen Sie mich zurück!« Keine Antwort. »Wissen Sie nicht, mit wem Sie reden?« Er faßte den Hauptmann am Ärmel.

Der Hauptmann schlug die zugreifende Hand mit einem schnellen Abwärtsschlag beiseite, dann stieß er ihm mit einem Tritt die Füße unter dem Leib weg. Der Beschwerdeführer fiel hart auf sein Hinterteil. Mühsam und wankend kam er wieder auf die Beine, ballte die Fäuste. Der Hauptmann brachte sein Fesselgewehr in Anschlag und feuerte aus nächster Nähe eine Ladung auf den Mann. Ein klatschender Schlag mit hoher Geschwindigkeit ausgestoßener nasser Plastikbänder traf die Brust des Mannes, und stinkende Streifen flogen ihm um Oberkörper, Arme, Hals, Gesicht und ein in der Nähe stehendes Gepäckstück. Er schlug gurgelnd auf den Boden.

Protestgebrüll und Schreckensschreie aus der Menge. Drei Milizsoldaten eilten ihrem Hauptmann zu Hilfe, die Fesselgewehre schußbereit. »Hinsetzen!« brüllte der Hauptmann und stieß eine neue Patrone in die Kammer. »Alle miteinander! Runter jetzt!« Das gefesselte Opfer begann würgend zu röcheln. Ein scharfer chemischer Geruch verbreitete sich, als das Plastik aushärtete.

Die Leute setzten sich, auch Laura und David. Eine sich ausbreitende Welle ging durch die Menge, wie bei einem Sportereignis. Einige nahmen die Hände hoch und verschränkten sie hinter den Köpfen. Der Hauptmann zeigte die Zähne und schwenkte den Lauf über sie. »So ist es besser.« Er versetzte dem dicken Mann beiläufig einen Fußtritt.

Plötzlich kamen die Nonnen wie auf Kommando auf ihn zu. Ihre Anführerin war eine Schwarze; sie zog ihr Kopftuch zurück und enthüllte graues Haar und ein faltiges Gesicht. »Hauptmann«, sagte sie mit ruhiger Stimme, »dieser Mann erstickt.«

»Er ist ein Dieb, Schwester«, sagte der Hauptmann.

»Das mag sein, Hauptmann, aber er muß doch atmen.« Drei der Kirchenfrauen knieten bei dem Opfer nieder und zerrten an den Bändern um Kehle und Mund. Die alte Frau - eine Äbtissin, dachte Laura widerwillig - wandte sich der Menge zu und breitete die Hände in dem krummfingrigen Kirchensegen aus. »Gewalt dient niemandem«, sagte sie. »Bitte seien Sie still!«

Sie ging fort, gefolgt von ihren schweigenden Schwestern. Das gefesselte Opfer blieb leise schnaufend liegen. Der Hauptmann zuckte die Achseln, hängte sich das Gewehr über die Schulter und wandte sich mit einem Wink zu seinen Männern ab. Nach einer kleinen Weile begannen Leute aufzustehen.

(»Das war gut gemacht«,) sagte Emerson.

David half Laura auf und nahm die Tragtasche mit dem Kind. »He! Carlotta!« Sie folgten ihr.

Carlotta sprach ein paar Worte mit der Äbtissin, zog das Kopftuch zurück und trat aus der Gruppe ihrer Schwestern.

»Hallo«, sagte sie. Ihre gekräuselte Mähne war zurückgekämmt. Ihr Gesicht sah nackt und freudlos und etwas ordinär aus. Es war das erste Mal, daß sie Carlotta ohne Makeup sahen.

»Ich bin überrascht, daß Sie abreisen«, sagte Laura.

»Unser Tempel wurde getroffen. Ein zeitweiliger Rückschlag.«

»Das tut mir leid«, sagte David. »Wir wurden auch ausgebombt.«

»Wir werden wiederkommen«, meinte Carlotta. »Wo es Krieg gibt, da gibt es Huren.«

Die Lautsprecher erwachten krachend und knisternd zum Leben. Eine kubanische Stewardess sprach spanisch. »He, das sind wir«, sagte David plötzlich. »Sie wollen uns am Schalter.« Er gab ihr die Tragtasche. »Du hältst Loretta, ich gehe hin.« Er eilte fort. Laura und Carlotta sahen einander an.

»Er sagte mir, was Sie taten«, sagte Laura. »Falls Sie sich gefragt haben.«

Carlotta lächelte. »Befehle, Laura.«

»Ich dachte, wir seien Freundinnen.«

»Freundinnen vielleicht. Aber nicht Schwestern«, erwiderte Carlotta. »Ich weiß, wo meine Loyalitäten liegen. Ebenso wie Sie wissen, wo Ihre liegen.«

»Loyalität gibt Ihnen nicht das Recht, mein Familienleben zu mißachten.«

»Familienleben?« sagte Carlotta. »Wenn das Familienleben Ihnen soviel bedeutete, würden Sie sich zu Hause in Texas um Ihren Mann und Kind kümmern und nicht beide hierher in die Schußlinie schleifen.«

»Wie können Sie so etwas behaupten!« empörte sich Laura. »David glaubt so sehr daran wie ich.«

»Nein, tut er nicht. Sie haben ihn in diese Sache hineingedrängt, damit Sie in Ihrer Unternehmenshierarchie eine Sprosse höherkriechen können.« Sie hob die Hand, als Laura widersprechen wollte. »Laura, er ist bloß ein Mann. Sie müssen ihn von den Waffen wegbringen. Das alte Übel ist wieder los. Männer sind voll vom Gift des Krieges.«

»Das ist dummes Zeug!«

Carlotta schüttelte den Kopf. »Davon verstehen Sie nichts, Laura. Sind Sie bereit, Ihren Körper zwischen eine Waffe und ein Opfer zu werfen? Ich bin es. Aber Sie sind es nicht, nicht wahr? Sie haben keinen Glauben und kennen keine Treue.«

»Ich bin David treu«, sagte Laura mit gepreßter Stimme. »Ich bin meinem Unternehmen treu. Was ist mit Ihnen? Was ist mit dem treuen alten Sticky?«

»Sticky ist ein Büffelsoldat«, sagte Carlotta. »Kanonenfutter, voll vom Übel des Krieges.«

»So ist es also«, sagte Laura. »Sie lassen ihn einfach fallen? Schreiben ihn ab?«

»Ich bin jetzt weg von dem Romantischen«, sagte Carlotta, als erkläre das alles. Sie griff in ihr Gewand und gab Laura eine Röhre mit roten Pillen. »Nehmen Sie die, ich brauche sie jetzt nicht - und hören Sie auf, so albern zu sein. All dieser Scheiß, den Sie so wichtig finden - zwei von diesen Dingern bringen Sie auf andere Gedanken. Gehen Sie nach Hause, Laura, und kümmern Sie sich um Ihren Mann und Ihr Kind. Kriechen Sie mit ihm unter die Decke und bleiben Sie, wo Sie nicht zu Schaden kommen werden.«

Carlotta verschränkte die Arme auf der Brust und weigerte sich, die Röhre mit den Pillen zurückzunehmen. Laura steckte sie ärgerlich in die Hosentasche. »Also war es in Wirklichkeit völlig künstlich«, sagte sie. »Sie hatten nie eine echte Empfindung für Sticky.«

»Ich beobachtete ihn für die Kirche«, sagte sie. »Er tötet Menschen.«

»Das kann ich nicht glauben«, sagte Laura. »Ich habe für Sticky nicht viel übrig, aber ich akzeptiere ihn als einen Menschen. Er ist kein Ungeheuer.«

»Er ist ein Berufskiller«, sagte Carlotta. »Er hat mehr als ein Dutzend Menschen umgebracht.«

»Ich glaube Ihnen nicht.«

»Was haben Sie erwartet - daß er mit einer Axt herumlaufen und sabbern würde? Hauptmann Thompson folgt nicht Ihren Regeln. Die Houngans haben seit Jahren an ihm gearbeitet. Er ist kein Mensch, den man ›akzeptieren‹ kann - er ist wie ein scharfer Gefechtskopf! Als Sie herkamen, wollten Sie etwas über Drogenlabors wissen - Sticky Thompson ist ein Drogenlabor.«

»Was soll das heißen?«

»Daß seine Gedärme voller Bakterien sind. Spezieller Bakterien - kleiner Drogenerzeuger. Woher, meinen Sie, hat er diesen Spitznamen - Sticky? Er braucht nur einen Karton Joghurt zu essen, das verwandelt ihn in eine Tötungsmaschine.«

»Eine Tötungsmaschine?« sagte Laura. »Ein Karton Joghurt?«

»Es liegt an den Enzymen. Die Bakterien verzehren sie. Machen ihn schnell, stark, unempfindlich gegen Schmerzen und Zweifel. Sie werden ihn nach Singapur schicken, und diese kleine Insel kann mir schon heute leid tun.«

Sticky Thompson - ein drogenverseuchter Meuchelmörder? – Sie konnte es nicht fassen. Aber wie sahen Berufskiller aus? Laura wußte nicht, was sie denken sollte. »Warum haben Sie mir dies alles nicht früher erzählt?«

Carlotta bedachte sie mit einem mitleidigen Blick. »Weil Sie eine Bourgeoise sind, Laura.«

»Hören Sie auf!« sagte Laura. »Was macht Sie so anders?«

»Sehen Sie sich an«, sagte Carlotta. »Sie sind gebildet. Sie sind klug. Sie sind schön. Sie sind mit einem Architekten verheiratet. Sie haben ein entzückendes Baby und Freunde in hohen Stellen.«

Ihre Augen wurden schmal; sie begann zu zischen: »Und dann sehen Sie mich an. Ich bin eine verkrachte Existenz. Häßlich. Keine Familie. Mein Vater fickte und verprügelte mich bei jeder Gelegenheit. Ich habe keinen Schulabschluß, kann kaum lesen und schreiben. Ich bin diselxisch, oder wie man es nennt. Haben Sie sich je Gedanken darüber gemacht, was aus Menschen wird, die nicht lesen und schreiben können? In Ihrer wunderbar schönen Netz-Welt mit all ihren verdammten Daten und Informationen? Nein, daran haben Sie nie gedacht, nicht wahr? Wenn ich mir einen Platz im Leben erkämpfen konnte, dann geschah es gegen Leute wie Sie.«

Sie zog sich das Kopftuch wieder über. »Und älter wird man auch. Ich wette, Sie haben sich nie gefragt, was aus alten Tempelhuren wird. Wenn wir diese alte schwarze Magie nicht mehr auf Ihre kostbaren Ehemänner anwenden können. Nun, sorgen Sie sich nicht um mich, Mrs. Webster. Unsere Göttin steht den ihrigen bei. Unsere Kirche betreibt Krankenhäuser, Kliniken, Altersheime - wir kümmern uns um die Menschen. Die Göttin gab mir mein Leben, nicht Sie oder Ihr Netz. Also schulde ich Ihnen nichts!« Sie schien drauf und dran, Laura anzuspucken. »Vergessen Sie das nie!«

David kam mit den Tickets. »Alles geregelt. Wir sind draußen. Gott sei Dank.« Ein Flug wurde angekündigt, und Unruhe kam in die Menge. Das Baby begann zu wimmern. David nahm die Tragtasche. »Alles in Ordnung, Carlotta?«

Carlotta schenkte ihm ein sonniges Lächeln. »Ich bin ganz zufrieden. Und zu Hause in Galveston kommen Sie mich alle besuchen, nicht? Unsere Reverend Morgan hat gerade einen Sitz im Stadtrat gewonnen. Wir haben große Pläne für Galveston.«

»Das ist unser Flug«, sagte David. »Gut, daß wir nicht mehr Gepäck haben - aber Mann, werde ich diesen Werkzeugkasten vermissen!«