10.Kapitel

 

Das zweite Jahr verging rascher als das erste. Sie hatte sich daran gewöhnt. Es war ihr Leben geworden. Sie begehrte nicht mehr, was sie verloren hatte - sie konnte die Dinge nicht einmal sich selbst mit Namen benennen, ohne ihr Gedächtnis anzustrengen. Sie war darüber hinaus: Sie war mumifiziert. Klösterlich, abgeschlossen.

Aber sie spürte, wie der Gang der Dinge sich beschleunigte, Spinnennetzerschütterungen von Bewegungen in der fernen Außenwelt.

Beinahe jede Nacht fanden jetzt Erschießungen statt. Feuerstöße, dann Einzelschüsse, in den Kopf, ins Genick. Wenn sie in den Gefängnishof hinunter durfte, um zu laufen, sah sie frische Einschußlöcher in der Mauer, kleine Krater, genau wie sie in der Wand des Ferienheims ausgesehen hatten. Unter diesen Pockennarben war die festgetrampelte Erde dunkel und feucht, bedeckt mit Fliegen, und strömte den kupferigen Geruch von Blut aus.

Eines Tages zeigte der Wüstenhimmel außerhalb des Wandloches ihrer Zelle endlose Strähnen dunklen Rauches. Stundenlang fuhren Lastwagen ein und aus, und die ganze Nacht hindurch fanden Erschießungen statt. Es ging wie am Fließband: Rufe, Befehle, Schreie, lautes Flehen um Gnade, wildes Geknatter von Maschinengewehrfeuer. Vereinzelte Gnadenschüsse. Türenschlagen, anspringende Motoren. Nach einiger Zeit kam die nächste Ladung. Dann noch eine. Dann wieder eine, bis zum Morgen.

Jofuette hatte sich seit Tagen geängstigt. Endlich kamen die Wärterinnen, sie zu holen. Sie lächelten und redeten ihre Sprache, schienen ihr zu sagen, daß es zu Ende sei und sie nach Hause gehen könne. Die größere der beiden grinste suggestiv, stemmte die Hände in die Seiten und machte eindeutige Hüftbewegungen. Ein Freund, sagte sie - oder vielleicht Jofuettes Mann. Oder vielleicht schlug sie ein Sippenfest zur Feier der Entlassung vor, mit Tanz und Hirsebier.

Jofuette lächelte nervös. Eine der Wärterinnen gab ihr eine Zigarette und zündete sie mit einer Verbeugung an.

Laura sah sie nie wieder.

 

Als man das Videogerät für die übliche wöchentliche Fernsehstunde in die Zelle brachte, wartete Laura, bis die Wärterinnen gegangen waren, dann hob sie das Gerät mit beiden Händen auf und schlug es wiederholt gegen die Wand. Es brach auseinander, ein Gewirr von Verdrahtungen und gedruckten Schaltungen. Sie trampelte mit den Füßen darauf herum, als die Tür aufflog und zwei männliche Wärter hereinstürzten.

Sie hatten Schlagstöcke in den Händen. Laura warf sich mit geballten Fäusten auf sie.

Sie schlugen sie augenblicklich zu Boden, mit verächtlicher Leichtigkeit.

Dann warfen sie sie auf ihre Pritsche und begannen sie mit methodischer Gründlichkeit zu schlagen, auf den Rücken, die Nieren, den Nacken. Blitzentladungen zuckten vor ihren Augen, Starkstromstöße vom elektrischen Stuhl, weißglühend und blutrot. Sie hieben mit Äxten auf sie ein, hackten ihren Körper in Stücke. Sie wurde geschlachtet.

Tosen erfüllte ihren Kopf. Die Welt verging.

Eine Frau saß ihr gegenüber auf Jofuettes Pritsche. Eine blonde Frau in blauem Kleid. Wie alt - vierzig, fünfzig?

Ein trauriges, gefaßtes Gesicht, Krähenfüße, gelblichgrüngraue Augen. Cojotenaugen.

Mutter…?

Die Frau schaute sie an: Erinnerung, Mitleid, Stärke. Es war beruhigend, die Frau anzusehen. Beruhigend wie ein stiller Traum: Sie trägt meine Lieblingstönung von Blau.

Aber wer ist sie?

Endlich erkannte Laura sich selbst. Natürlich. Ansturm von Erleichterung und Freude. Ich bin es.

Ihre Persona erhob sich von der Pritsche. Sie kam schwebend, anmutig, geräuschlos herüber. Strahlend. Sie kniete stumm an Lauras Seite nieder und blickte ihr ins Gesicht: mit ihrem eigenen Gesicht. Älter, stärker, weiser.

Da bin ich.

»Ich sterbe.«

Nein, du wirst leben. Du wirst sein, wie ich bin.

Die Hand hielt einen Zoll vor ihrem Gesicht inne und liebkoste die Luft. Sie fühlte ihre Wärme und sah sich selbst, bäuchlings auf der Pritsche, zerschlagen, wie gelähmt.

Sie spürte die mitfühlende, heilende Strömung, die von außen eindrang. Armer, zerschlagener Körper, unsere Laura, aber sie wird nicht sterben. Sie lebt. Ich überlebte.

Nun schlaf!

 

Sie war einen Monat lang krank. Ihr Urin war von Blut gerötet. Nierenschaden. Und sie hatte große, schmerzende Blutergüsse auf dem Rücken, den Armen und Beinen. Starke Prellungen, die tief in die Muskeln hineingingen und bis auf den Knochen anschwollen. Sie war matt und verwirrt, kaum fähig zu essen.

Schlaf war ein Ringen um die richtige Lage, die am wenigsten schmerzte.

Sie hatten die Trümmer des Videogerätes hinausgeschafft. Laura wußte nicht, warum sie es zerschlagen hatte. Sie vermutete, daß jemand ihr eine Spritze gegeben hatte, denn über dem Handgelenk, an einer der wenigen Stellen, die die Wärter ausgelassen hatten, schien ein kleiner Bluterguß um eine Einstichstelle zu sein. Eine Frau, dachte sie; sie hatte eine Ärztin gesehen, die vielleicht sogar zu ihr gesprochen hatte, und das war die Erfahrung ihrer Optima Persona gewesen.

Die Wärter hatten sie zur Strafe mit Gummiknüppeln geprügelt. Und sie hatte ihre Optima Persona gesehen. Sie war nicht sicher, was die wichtigere Erfahrung war, doch wußte sie, daß beides Wendepunkte waren.

Wahrscheinlich war es eine Ärztin gewesen, die sie gesehen hatte. Bloß hatte sie in ihrem halb bewußtlosen Zustand geträumt, sich selbst zu sehen. Das war wahrscheinlich alles, was es mit einer Optima Persona auf sich hatte, für jeden: Anspannung und ein tiefes psychisches Bedürfnis führten zu halluzinativen Vorstellungen. Aber das war nicht, worauf es ankam.

Sie hatte eine Vision, gleichgültig, woher sie gekommen war. Sie klammerte sich daran fest und war froh, daß man sie in Ruhe ließ, weil sie darüber schmunzeln und sie an sich drücken konnte. Und hegen.

Haß. Sie hatte diese Leute bisher nie wirklich gehaßt, nicht wie sie es jetzt tat. Sie war immer zu klein und zu ängstlich und zu hoffnungsvoll gewesen, irgendeinen Ausweg zu finden, eine Lösung, die ihr in den Augen der anderen den Makel des Sicherheitsrisikos nehmen würde, als ob sie Leute wie sie selbst wären und so behandelt werden könnten. Das hatten sie vorgegeben, aber nun sah Laura keine Brücke mehr. Sie würde sich niemals ihnen anschließen oder zu ihnen gehören oder die Welt durch ihre Augen sehen. Sie gelobte sich, daß sie ihre Feindin bis zum Tode sein würde. Das war ein beruhigender Gedanke.

Sie wußte, daß sie überleben würde. Eines Tages, sagte sie sich, würde sie auf ihren Gräbern tanzen. Es war kein rationaler Gedanke, es war Glaube. Sie hatten einen Fehler gemacht und ihr Selbstvertrauen gegeben.

 

Ein gewaltiges Getöse weckte sie. Es klang wie ein aufgedrehter gigantischer Wasserhahn, begleitet vom schrillen Pfeifen eines Dampfventils. Der Lärm näherte sich, wurde stärker, rauschte über sie hinweg.

Dann ungeheure Trommelschläge. Bum. Bum. Bum-wam-bam - dumpfe, krachende Schläge. Licht flackerte durch das Fensterloch in ihre Zelle, dann ein weiterer Blitz. Gleich darauf eine jähe, donnernde Explosion in der Nähe. Erdbeben. Die Wände erzitterten. Heißes rotes Licht - der Horizont stand in Flammen.

Die Wärter und Wärterinnen liefen draußen im Korridor auf und ab und riefen einander zu. Sie fürchteten sich, und Laura hörte die Furcht in ihren Stimmen mit einer wilden Aufwallung primitiver Freude. Draußen wurde schwächliches Geknatter von Handfeuerwaffen laut, dann, verspätet und aus der Ferne das unheimliche Heulen von Luftschutzsirenen.

Jemand im oberen Stockwerk begann gegen die Zellentür zu schlagen. Gedämpfte Rufe. Andere Gefangene im Oberstock riefen aus ihren Zellen. Laura konnte die Worte nicht verstehen, aber sie erkannte den Tonfall. Wut und Schadenfreude.

Sie schwang ihre Beine von der Pritsche und setzte sich aufrecht. Aus der Ferne drang verspätetes Flakfeuer zu ihr herein. Krump, whump, krump. Spinnennetze von Leuchtspurmunition durchkreuzten den Himmel.

Jemand bombardierte Bamako. »Ja!« schrie Laura. Sie sprang vom Bett, lief zur Tür und schlug mit aller Kraft dagegen.

 

In der folgenden Nacht kamen Tiefflieger. Wieder das jähe Tosen und Pfeifen, Jagdbomber in Baumwipfelhöhe. Sie hörte die Bordkanonen feuern, ein unheimliches, krampfhaftes Kotzen: bup-bup-bup-bup. Das Geräusch verschwand, als die Maschinen über die Stadt hinrasten, dann folgte das Krachen von explodierenden Bomben oder Raketen: Whomp, kromp, und grelle Explosionsblitze erhellten die Nacht.

Dann die verspätete Fliegerabwehr. Diesmal gab es mehr davon, und sie war besser organisiert. Flakbatterien und sogar das hohle Pfeifen von Flugabwehrraketen.

Aber die Jagdbomber ließen es mit einem Überflug bewenden und machten sich aus dem Staub. Malis Radar mußte ausgeschaltet worden sein, folgerte Laura selbstzufrieden. Andernfalls würden sie nicht zu spät das Feuer eröffnen, nachdem der Angriff bereits erfolgt war, sondern wenn die Angreifer sich im Anflug befanden. Wahrscheinlich hatten sie als erstes das Radarnetz zerstört.

Bisher hatte Laura stets den tiefsten Abscheu vor allen Formen kriegerischer Aktivität bekundet, nun aber glaubte sie nie Erhabeneres als diesen Kriegslärm vernommen zu haben. Der Himmel war voll vom Zorn der Engel. Daß in Bamako unschuldige Menschen getötet wurden, verdrängte sie; es kümmerte sie nicht einmal, ob sie das Gefängnis trafen. Um so besser.

Die Wärter feuerten mit Maschinengewehren vom Dach in den schwarzen Himmel. Dummköpfe. Sie waren Dummköpfe.

 

Am Morgen kamen zwei Wärter in ihre Zelle. Sie schwitzten, was nichts Neues war, denn im Gefängnis schwitzten Wärter und Gefangene ohne Unterschied, aber sie waren unruhig und nervös.

»Was macht der Krieg?« fragte Laura.

»Kein Krieg«, sagte einer der Wärter, ein Mann mittleren Alters, der etwas englisch konnte. Er war keiner von denen, die sie verprügelt hatten. »Übung.«

»Luftschutzübung? Mitten in der Nacht?«

»Ja. Unsere Armee. Übung. Nicht sorgen.«

»Diesen Unsinn soll ich glauben?«

»Nicht reden!« Sie legten ihr Handschellen an. Obwohl es schmerzte, lachte Laura innerlich über sie.

Sie führten sie die Treppe hinunter und auf den Hof, wo sie die Ladefläche eines Lastwagens besteigen mußte. Es war kein Gefangenentransportwagen der Polizei, sondern ein Militärlastwagen mit einer Wagenplane und in hellbrauner und gelblich gefleckter Wüstentarnfarbe gespritzt. Unter dem Verdeck waren Holzbänke für Soldaten, Wasserbehälter und Treibstoffkanister.

Sie fesselten ihre Beine an eine der Stützen unter den hölzernen Bänken, und sie saß da und freute sich. Sie wußte nicht, wohin es ging, aber es würde jetzt anders sein.

Zehn Minuten saß sie schwitzend in der Hitze. Dann brachten sie eine zweite Frau. Eine Weiße, blond. Sie fesselten sie an die Bank gegenüber, sprangen hinaus und schlossen die Heckklappe.

Der Motor sprang brüllend an, der Wagen setzte sich mit einem Ruck in Bewegung. Laura musterte die Fremde. Sie war blond und hager und trug gestreifte Gefängniskleidung. Sie mochte dreißig sein. Sie sah sehr vertraut aus, und Laura begriff, daß sie und die Fremde einander hinreichend ähnelten, um Schwestern zu sein. Sie sahen einander an und lächelten scheu.

Der Lastwagen rollte zum Tor hinaus.

»Laura Webster«, sagte Laura.

»Katje Selous.« Die Fremde beugte sich zu ihr und streckte die mit Handschellen gefesselten Arme aus. Sie schüttelten einander die Hände, ungeschickt und lächelten.

»Katje Selous, A.C.A. Corps!« sagte Laura triumphierend.

»Was?«

»Ich weiß nicht, was es bedeutet, aber ich sah es auf einer Liste von Gefangenen.«

»Ach!« sagte Selous. »Wir sind eine staatliche Entwicklungshilfeorganisation. Und ich bin Ärztin in einem Flüchtlingslager.«

»Sie sind aus Südafrika?«

Selous nickte. »Und Sie sind Amerikanerin?«

»Rizome Industries Group.«

»Rizome...« Selous wischte sich Schweiß von der Stirn. Auch sie hatte die ungesunde Blässe einer Gefangenen. »Ich kann sie nicht unterscheiden, die Multis…« Auf einmal lachte sie. »Stellte Ihr Unternehmen nicht diese Sonnencreme her? Die einen schwarz färbt?«

»Wie? Nein!« Laura hielt inne, dachte darüber nach. »Das heißt, ich weiß nicht. Vielleicht haben wir es getan. Ich bin seit zweieinhalb Jahren nicht in Verbindung. Aber ich weiß, daß das Zeug in Grenada entwickelt wurde. Mein Mann probierte es dort aus. Er könnte Rizome dafür interessiert haben. Er ist ein kluger Kopf, mein Mann. David heißt er.«

Die Erwähnung Davids riß plötzlich einen ganzen Teil ihrer Seele aus der Gruft. Ehe sie etwas dagegen unternehmen konnte, brach sie in Tränen aus. Hier saß sie, angekettet auf einem Armeelastwagen und unterwegs zu einem unbekannten Bestimmungsort, aber ein paar wiederbelebende Wort hatten genügt, sie neuerdings zu einem Teil der Welt zu machen, der Welt von Ehemännern und Kindern und Arbeit. Sie lächelte Selous durch ihre Tränen zu und schnupfte und zuckte entschuldigend die Achseln und blickte auf ihre Füße.

»Sie wurden in Einzelhaft gehalten, nicht?« fragte Selous.

»Wir haben auch ein Baby«, plapperte Laura. »Sie heißt Loretta.«

»Sie sind schon länger inhaftiert, als ich es bin«, sagte die andere. »Bei mir ist es ein knappes Jahr, seit sie mich aus dem Lager abholten.«

Laura schüttelte den Kopf, verärgert über den Verlust ihrer Selbstbeherrschung. »Wissen Sie, was vorgeht?«

Selous nickte. »Ich weiß ein wenig. Was ich von den anderen Geiseln hörte. Die Luftangriffe sollen von südafrikanischen Maschinen geflogen worden sein. Von meinen Leuten. Ich glaube, sie trafen irgendein Treibstofflager - der Himmel war die ganze Nacht rot.«

Das also war es, was sie durchgemacht hatte. Ein bewaffneter Zusammenstoß zwischen Mali und Südafrika. Es kam ihr undurchsichtig und unwahrscheinlich vor. Nicht, daß ein innerafrikanischer Krieg unwahrscheinlich gewesen wäre, so etwas kam ständig vor. Diese Auseinandersetzungen waren in den Tageszeitungen der entwickelten Länder längst auf die dritte Seite verbannt worden, und in den Fernsehnachrichten waren sie allenfalls ein paar Sekunden wert. In Europa und Amerika mochte niemand so recht glauben, daß es sich um echte Kriege handelte, daß sie sich in einer wirklichen Welt aus Staub und Hitze und zerfetztem Metall ereigneten.

Die Südafrikaner wurden von den Nachrichtenmedien keiner besonderen Aufmerksamkeit gewürdigt; sie waren nicht sehr beliebt. »Ihre Maschinen müssen eine weite Strecke geflogen sein.«

»Wir haben Flugzeugträger«, sagte Selous nicht ohne Stolz. »Wir haben Ihre Wiener Konvention nicht unterzeichnet.«

»Oh. Verstehe.« Laura nickte.

Selous musterte sie mit kritischer Aufmerksamkeit. »Wurden Sie gefoltert?«

»Wie? Nein.« Laura stutzte. »Vor ungefähr drei Monaten wurde ich einmal verprügelt. Nachdem ich ein Videogerät zerschlagen hatte.« Es war ihr peinlich, davon zu sprechen. Ihr damaliges Verhalten erschien ihr rückblickend sinnlos, unvernünftig. »Aber es ging mir nicht wie diesen armen Leuten unten.«

»Mmm, ja, sie haben gelitten.« Es war die Feststellung einer Tatsache. Seltsam distanziert, ein Urteil von jemandem, der viel davon gesehen hatte. Selous blickte zur Hecköffnung des Lastwagens hinaus. Sie waren wieder in einer Vorstadt von Bamako, einer endlosen alptraumhaften Landschaft aus elenden Hütten und Verschlägen. Üble gelbliche Rauchfahnen erhoben sich aus den Schornsteinen einer entfernten Raffinerie.

»Wurden Sie gefoltert, Dr. Selous?«

»Ja. Ein bißchen. Anfangs.« Selous machte eine Pause. »Wurden Sie angegriffen? Vergewaltigt?«

Laura schüttelte den Kopf. »Sie schienen nicht einmal daran zu denken. Warum, weiß ich nicht.«

Selous lehnte sich zurück und nickte. »Es ist ihre Politik. Es muß wahr sein, glaube ich. Daß der Führer der FAKT eine Frau ist.«

Laura war verblüfft. »Eine Frau…?«

Selous lächelte säuerlich. »Ja, das schwache Geschlecht hat heutzutage eine Neigung, in alle Bereiche vorzudringen.«

»Was für eine Frau könnte…?«

»Gerüchten zufolge soll sie eine amerikanische Milliardärin sein. Oder eine britische Aristokratin. Vielleicht beides - warum nicht?« Selous machte eine Geste, als wollte sie die Hände ausbreiten; ihre Handschellen klapperten, ließen es nicht zu. »Jahrelang war die FAKT nicht viel mehr als eine Söldnertruppe. Dann erschien sie ziemlich plötzlich wie umgewandelt zu sein… sehr gut organisiert, hervorragend ausgerüstet. Eine neue Führung, kluge und entschlossene Leute mit Weitblick. Und an der Spitze eine von uns modernen Frauen.« Sie gluckste.

Zu diesem Thema wußte Laura nichts weiter zu sagen. Wahrscheinlich war es sowieso eine Lüge. »Wohin werden sie uns bringen?«

»Nach Norden, in die Wüste - soviel weiß ich.« Selous überlegte. »Ich frage mich, warum man Sie von uns anderen getrennt hielt. Wir haben nie etwas von Ihnen gesehen. Nur Ihre Hofdame, das war alles.«

»Meine was?«

»Ihre Zellengenossin, die kleine Bambara-Informantin von unten.« Selous zuckte die Achseln. »Tut mir leid, aber Sie wissen, wie es in einem Zellenblock ist. Die Leute langweilen sich zu Tode und denken sich alles mögliche aus. Wir pflegten Sie die Prinzessin zu nennen. Prinzessin Rapunzel.«

»Ja, ich weiß, wie es ist«, sagte Laura. »Einmal glaubte ich meine Optima Persona zu sehen. Aber in Wirklichkeit waren Sie es, nicht wahr? Wir sehen einander ähnlich. Sie kamen herein und behandelten mich, nachdem die Wärter mich geschlagen hatten, nicht wahr?«

Selous sah sie zweifelnd an. »›Optima Persona‹. Das ist sehr… ah… amerikanisch. Kommen Sie aus Kalifornien?«

»Texas.«

»Ich war es bestimmt nicht, Laura… Vor dem heutigen Tag hatte ich Sie nie gesehen.«

Lange, nachdenkliche Pause.

»Meinen Sie wirklich, daß wir uns ähnlich sehen?«

»Gewiß«, sagte Laura.

»Aber ich bin Burin, eine Afrikanerin. Und Sie haben dieses hybride amerikanische Aussehen.«

Das Gespräch war in eine Sackgasse geraten. Staubwolken wirbelten unter dem Heck des Lastwagens heraus und nahmen ihnen die Sicht nach rückwärts. Laura begriff, daß sie es mit einer Fremden zu tun hatte. Irgendwie hatten sie eine Verbindung verpaßt. Sie hatte schon Durst, und sie waren noch nicht einmal aus der Stadt.

Sie bemühte sich, den Faden wieder aufzunehmen.

»Man hielt mich in Einzelhaft, weil man sagte, ich wisse von atomaren Geheimnissen.«

Selous richtete sich erschrocken auf. »Haben Sie eine Bombe gesehen?«

»Wie?«

»Es gibt Gerüchte von einem Testgelände in der Wüste von Mali. Wo die FAKT versuchte, eine Bombe zu bauen.«

»Davon habe ich nie gehört«, sagte Laura. »Ich sah jedoch ihr U-Boot. Sie sagten, es habe Atomraketen an Bord. Und es stimmte, daß das U-Boot Raketen an Bord hatte, denn damit traf es und versenkte ein Schiff, auf dem ich war.«

»Exocets?« fragte Selous.

»Ja, das ist richtig, genau.«

»Aber es könnte auch andere Raketen mit größerer Reichweite an Bord gehabt haben, nicht? Groß genug, um Pretoria zu treffen.«

»Das kann sein. Aber es beweist nicht, daß es Raketen mit nuklearen Sprengköpfen waren.«

»Angenommen, sie bringen uns zu diesem Testgelände, und wir sehen einen großen Krater aus glasig geschmolzenem Sand, dann wäre es der Beweis, nicht wahr?«

Laura nickte.

»Es paßt zu etwas, das mir der Direktor einmal erzählte«, sagte Selous. »Daß sie mich eigentlich nicht als Geisel benötigten - daß unsere Städte Geiseln wären, wir wüßten es bloß nicht.«

»Gott, warum reden die Leute so?« sagte Laura. »Grenada, Singapur…« Es machte sie sehr müde.

»Wissen Sie, was ich glaube, Laura? Ich glaube, Sie bringen uns zu ihrem Testgelände. Um eine Erklärung aufzuzeichnen. Von mir, weil ich Südafrikanerin bin, und weil wir Südafrikaner die Leute sind, die sie im Moment beeindrucken müssen. Von Ihnen, weil Sie an Bord ihres U-Bootes waren. Ihres T rägersystems.«

Laura dachte darüber nach. »Könnte sein. Was dann? Werden sie uns dann freilassen?«

Selous' grünlich graue Augen bekamen einen fernen und unzugänglichen Ausdruck. »Ich bin eine Geisel. Sie werden sich nicht von Südafrika angreifen lassen, ohne einen Preis dafür zu nehmen.«

Das konnte Laura nicht akzeptieren. »Das ist kein nennenswerter Preis, nicht wahr? Zwei hilflose Gefangene zu töten?«

»Wahrscheinlich werden sie uns vor einer laufenden Kamera töten. Und die Videokassette der südafrikanischen Regierung schicken.«

»Aber die südafrikanische Regierung würde sowieso alle Welt unterrichten, nicht wahr?«

»Wir haben die Weltöffentlichkeit von Anfang an über die FAKT unterrichtet«, erwiderte Selous. »Niemand würde uns glauben, wenn wir sagten, Mali habe die Bombe. Niemand glaubt uns, wenn wir etwas sagen. Sie verhöhnen uns nur und nennen uns in ihren Medien ein faschistisches Regime‹ und einen ›aggressiven imperialistischen Staat‹.«

»Oh«, wich Laura aus.

»Wir sind ein Reich«, sagte Selous mit fester Stimme. »Verteidigungsminister Umtali ist ein großer Krieger. Alle Zulus sind große Krieger.«

Laura nickte. »Ja, wir Amerikaner hatten auch mal einen schwarzen Präsidenten…«

»Ach, dieser Mann taugte nicht viel«, sagte Selous. »Ihr Yankees habt nicht einmal eine brauchbare Regierung - nur kapitalistische Kartelle. Aber Umtali kämpfte im Bürgerkrieg auf unserer Seite und brachte Ordnung, wo Wildheit und Barbarei herrschten. Ein brillanter Heerführer und ein echter Staatsmann.«

»Freut mich, daß Sie Ihre Schwarzen für sich gewinnen konnten«, sagte Laura.

»Unsere Schwarzen sind die besten Schwarzen der Welt!«

Hitze und Staub setzten ihr zu, aber Laura konnte es nicht darauf beruhen lassen. »Sehen Sie, ich bin keine große Yankeenationalistin, aber was ist mit Jazz… ah… Blues, Martin Luther King?«

»Martin Luther King«, sagte Selous. »Für ihn war der Kampf um die Gleichberechtigung eine Abendgesellschaft, verglichen mit dem, was Nelson Mandela durchmachen mußte. Er konnte sich nebenher sogar zum Frauenhelden entwickeln.«

»Ja, aber…«

»Eure Schwarzen sind keine richtigen Schwarzen mehr. Sie sind alle angepaßt, versuchen wie Europäer auszusehen.«

»Augenblick!«

»Sie haben nie die Schwarzen in Südafrika gesehen, aber ich habe die amerikanischen Schwarzen gesehen. Sie reisen als Touristen in der Welt herum, drängen sich in den Restaurants und verspielen ihre harte Währung in Spielkasinos. Sie sind reich und verweichlicht.«

»Ja, ich komme selbst aus einem Fremdenverkehrsort.«

»Wir haben eine Kriegswirtschaft, wir brauchen die Devisen… Wir kämpfen gegen das Chaos, den endlosen Alptraum, der Schwarzafrika heißt… Wir wissen, was es bedeutet, Opfer zu bringen.« Sie hielt inne. »Es hört sich hart an, wie? Das tut mir leid. Aber ihr Außenseiter versteht nicht.«

Laura blickte hinaus in die Staubwolken hinter dem Lastwagen. »Das ist wahr.«

»Es scheint das Los meiner Generation zu sein, daß wir für die Fehler der Geschichte geradestehen müssen.«

»Sie sind wirklich überzeugt, daß man uns umbringen wird?«

»Ich würde es bedauern, wenn Sie hineingezogen würden.«

»Sie töteten einen Mann vor meinem Haus«, sagte Laura. »Damit fing alles für mich an. Ich weiß, aus der Perspektive, die man hier gewinnt, nimmt sich ein Toter bedeutungslos aus. Aber ich konnte es nicht auf sich beruhen lassen. Ich fühlte mich verantwortlich dafür, was auf meinem Grund und Boden geschah. Glauben Sie mir, ich hatte viel Zeit, darüber nachzudenken. Und ich denke heute noch, daß ich recht hatte, selbst wenn es mich alles kostete.«

Selous lächelte.

Sie wurden in einen Konvoi eingegliedert. Zwei gepanzerte Halbkettenfahrzeuge scherten hinter ihnen ein und glitten wie Schiffe über die ausgefahrene Piste. Die langen Maschinengewehrläufe schwankten in den Schutzschilden.

»Sie glauben eine Antwort zu haben«, sagte Selous. »Bevor sie kamen, sah es in Mali schlimmer aus.«

»Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen.«

»Das ist nicht etwas, das Sie sich vorstellen könnten - Sie müssen es sehen.«

»Haben Sie eine Antwort?«

»Wir halten durch und warten auf ein Wunder, retten, wen wir retten können… Wir leisteten gute Arbeit in dem Lager, glaube ich, bevor die FAKT es übernahm. Sie fingen mich, aber der Rest unserer Leute entkam im letzten Augenblick. Wir sind Überfälle gewohnt - die Wüste ist voll von Skorpionen.«

»Waren Sie in Mali stationiert?«

»Eigentlich in Niger, aber das ist nur eine Formalität. Keine zentrale Regierungsgewalt. Draußen im Land herrschen meistens die lokalen Warlords, Stammeskriegsherren. Die Fulani-Stammesfront, die Streitkräfte der Sonrai, alle Arten von Banditenarmeen, Dieben, Milizen. Die Wüste wimmelt von ihnen. Und die Maschinen der FAKT.«

»Was verstehen Sie darunter?«

»Sie ziehen es vor, mit ferngesteuerten Geräten zu arbeiten.

Wenn sie die Banditen ausmachen, greifen sie sie mit ferngelenkten Flugzeugen an. Wie stählerne Bussarde, die in der Wüste auf Ratten herabstoßen. Sie verfügen über Spezialisten und Techniker. Sie haben vieles gelernt, im Libanon, in Afghanistan, Namibia. Wie man Gegner bekämpft, ohne daß sie einem etwas anhaben können. Sie brauchen ihre Gegner nicht einmal direkt ins Visier zu bekommen, der Computerschirm genügt.«

Laura nickte eifrig. »Ja, das sind sie… In Grenada sah ich selbst, wie es gemacht wurde.«

Selous nickte. »Der Präsident von Mali war von ihrer Disziplin und Tüchtigkeit angetan. Er beauftragte sie mit der Reorganisation und Modernisierung der Streitkräfte. Heute ist er ihre Marionette.«

»Ich habe den Premierminister von Grenada gesehen. Es sollte mich nicht wundern, wenn sich herausstellte, daß dieser Präsident von Mali überhaupt nicht existiert, es sei denn, als eine Darstellung auf einem Bildschirm und ein paar aufgezeichnete Ansprachen.«

»Können sie das tun?«

»Grenada kann es - ich sah, wie der Premierminister vor meinen Augen verschwand, als hätte er sich in Luft aufgelöst.«

Selous dachte darüber nach. Laura merkte, wie es in ihrem Gesicht arbeitete; wahrscheinlich fragte sie sich, ob Laura verrückt sei, oder ob sie selbst verrückt sei, oder ob die helle Fernsehwelt in ihren finsteren Wodu-Winkeln üble Abscheulichkeiten ausbrüte. »Es ist, als ob sie Zauberer wären«, meinte sie schließlich. »Und wir bloß gewöhnliche Sterbliche.«

»Ja«, sagte Laura und hob die Hände, um zwei Finger in die Höhe zu halten. »Aber wir haben Solidarität, und sie sind damit beschäftigt, einander umzubringen.«

Selous lachte.

»Und wir werden gewinnen.«

Ihr Gespräch wandte sich den anderen zu. Laura hatte sich die Liste eingeprägt. Marianne Meredith, die Fernsehkorrespondentin, war die Rädelsführerin gewesen. Sie hatte die besten Methoden zum Hinausschmuggeln von Nachrichten erfunden - oder bereits gewußt. Lacoste, der französische Diplomat, war ihr Dolmetscher - seine Eltern hatten schon in Afrika gelebt, und er beherrschte zwei der Stammessprachen von Mali.

Sie hatten die drei Agenten aus Wien gefoltert. Einen von ihnen hatten sie umgedreht, die beiden anderen freigelassen oder, was Selous wahrscheinlicher erschien, hingerichtet.

Steven Lawrence war bei einer Razzia in einem Versorgungslager der Oxfam festgenommen worden. Die Lager wurden häufig durchsucht - sie waren Sammelstellen für Scop, das Grundnahrungsmittel von Millionen Einwohnern der Sahelzone. Trotz solcher Bemühungen der Regierung, die Kontrolle über die Verteilung zu behalten, war der Schwarze Markt für Einzellerprotein der wichtigste Wirtschaftszweig der Regierung. So war die ›Regierung‹ von Mauretanien zum Beispiel wenig mehr als ein Scopkartell. Ausländische Nahrungsmittelhilfe, ein paar Pottaschevorkommen und eine Armee - das war Mauretanien.

Der Tschad war eine terroristische Despotie, eine winzige Oberschicht einheimischer Aristokraten, deren Militär jede Demonstration der hungernden Bevölkerung mit automatischen Waffen auseinandertrieb. Der Sudan wurde von einem radikalen Moslemführer beherrscht, der sich von Derwischen beraten ließ, während Fabriken von Überschwemmungen fortgespült wurden und Flugplätze versandeten. Algerien und Libyen waren Einparteienstaaten, mehr oder weniger organisiert in den Küstenprovinzen, aber im Hinterland der Sahara durch Stammesfehden in Anarchie versunken. Die Regierung Äthiopiens wurde von Wien gestützt; sie war zerbrechlich wie ein Strauß getrockneter Blumen und wurde von einem Dutzend ländlicher ›Aktionsfronten‹ bedrängt.

Sie alle bedienten sich aus der tödlichen Erbmasse des letzten Jahrhunderts, einer erschreckenden Tonnage veralteter Waffensysteme, die zu Schleuderpreisen von Regierung an Regierung weitergegeben wurden. Von Amerika an Pakistan, von dort an afghanische und somalische Splittergruppen, die sich allein durch ihren islamischen Fundamentalismus und eine heilige Entschlossenheit zum Märtyrertum empfahlen… Von Rußland über den Südjemen und Angola an die Kader fanatischer Befreiungsbewegungen die jeden erschossen, der wie ein bürgerlicher Intellektueller aussah… Hilfe im Wert von Milliarden Dollar war in die Sahelzone geflossen und hatte die einheimischen Machteliten bereichert und korrumpiert. Große Summen waren in fragwürdige Großprojekte und Prestigebauten gesteckt worden, statt der Erhaltung der Lebensgrundlagen zugute zu kommen, und als die Situation sich verschlechtert hatte, waren mehr und mehr Waffen notwendig gewesen, um ›Ordnung‹ und ›Stabilität‹ und die nationale Sicherheit aufrechtzuerhalten. Die Außenwelt hatte in zynischer Erleichterung geseufzt, als sie ihren tödlichen Schrott an Völker hatte losschlagen können, die noch immer darauf brannten, einander umzubringen…

Um die Mittagszeit hielt die Kolonne. Ein Soldat gab ihnen Wasser und Hirsebrei. Sie waren jetzt, nach ungefähr sechsstündiger Fahrt, in der Sahara. Der Fahrer nahm ihnen die Fußfesseln ab. An Flucht war hier nicht zu denken.

Laura sprang hinaus unter den Hammerschlag der Sonne. Der flimmernde Hitzedunst verzerrte die Horizonte und schloß den Konvoi auf einer schimmernden Fläche aus windgeschliffenem, rissigem rotem Gestein. Die Kolonne bestand aus drei Lastwagen: Der erste beförderte Soldaten, der zweite Sendegerät, der dritte sie. Dazu kamen die beiden gepanzerten Halbkettenfahrzeuge, die den Schluß bildeten. Niemand stieg dort aus, und Laura begann zu vermuten, daß sie keine Mannschaften an Bord hatten, sondern Roboter waren, stark bewaffnete Versionen des Mannschaftstransporters.

Die flimmernden Hitzewellen über der Wüste waren verführerisch. Laura verspürte einen hypnotischen Drang, hinauszulaufen zum silbernen Horizont, als könnte sie sich schmerzlos in die unendliche Landschaft auflösen, verschwinden wie Trockeneis und nur den reinen Gedanken und eine Stimme aus dem Luftwirbel zurücklassen.

Sie war zu lange in einer Zelle gewesen. Der Horizont war fremd, aber verlockend, als versuchte er ihr die Seele durch die Pupillen ihrer Augen herauszuziehen. Ihr Schädel füllte sich mit dem seltsam hämmernden Puls des bevorstehenden Hitzschlages. Sie erleichterte sich rasch und kletterte zurück unter die Plane des Lastwagens.

Sie fuhren den ganzen Nachmittag, den ganzen Abend. Es gab nicht viel Sand, das meiste war ausgeblasener Felsuntergrund, poliert vom Windschliff, oder grobes Geröll. Stundenlang fuhren sie durch ausgeglühte Schotterebenen, dann zwischen Sandsteinrücken, die in allen Abstufungen zwischen Gelb und Braun leuchteten. Am Nachmittag begegneten sie einer anderen Militärkolonne, und einmal zog in der Ferne ein Flugzeug über den südlichen Horizont.

Als es Nacht wurde, verließen sie die Piste und fuhren die Wagen in einem Kreis zusammen. Die Soldaten setzten im Umkreis des Lagers Metallstäbe in den Boden, in denen Laura Monitore vermutete. Sie aßen wieder, während der Tag am Horizont in rotem Feuer verglühte. Die Soldaten gaben jeder von ihnen eine Baumwolldecke, und sie schliefen im Lastwagen auf den Bänken, einen Fuß an die Bank gekettet, um zu verhindern, daß sie sich in der Dunkelheit zu den schlafenden Soldaten schlichen und ihnen die Waffen stahlen.

Sobald die Sonne untergegangen war, wich die Hitze aus den Steinen. Es war die ganze Nacht bitterkalt, trocken und arktisch. Als am anderen Morgen die Sonne emporstieg und die felsige Einöde wieder aufheizte, hörte Laura Felsblöcke mit dem Knall von Gewehrschüssen zerspringen.

Die Soldaten tankten die Lastwagen aus den Treibstoffkanistern auf, danach gab es wieder Hirsebrei, diesmal mit Linsen darin. Anschließend setzten sie die Fahrt mit den üblichen fünfzig Stundenkilometern fort, rumpelnd und schlingernd, durchgeschüttelt und den Staub der zwei vorausfahrenden Lastwagen in Augen, Mund und Nase.

Inzwischen hatten sie einander alles erzählt. Katje und ihre Eltern hatten in einer Gegend gelebt, die während des Bürgerkrieges zum Machtbereich der Aufständischen gehört hatte, und weil ihre Eltern verkrampte waren, burische Nationalisten, wurden sie im Gegensatz zu den liberalen Weißen, den verligten, die auf freiem Fuß blieben, in ein Konzentrationslager gesperrt. Dort war Katje aufgewachsen. Es sei nicht allzu schlimm gewesen, sagte Katje. Die Buren seien KZs gewohnt. Die Briten hätten sie während des Burenkrieges erfunden, und tatsächlich sei der Begriff ›Concentration Camp‹ von den Briten als Bezeichnung für die eingezäunten und bewachten Zelt- und Barackenlager erfunden worden, wo sie die in ihre Gewalt geratenen Frauen, Kinder und Alten der Buren zusammentrieben. Katjes Vater habe während der Haft seine Arbeit in einem Bankhaus in der Stadt unter Aufsicht fortführen müssen, und sie seien manches Mal froh gewesen, im Lager vor den schlimmsten Ausschreitungen geschützt zu sein, als rivalisierende Stammesverbände unter den aufständischen Schwarzen einander blutige Kämpfe geliefert und gefangene Gegner mit ›Halsbändern‹ geschmückt hätten - mit Benzin gefüllten Autoreifen, die den gefesselten Opfern um die Schultern gehängt und angezündet wurden, um sie in aller Öffentlichkeit lebendig zu rösten…

In Südafrika - neuerdings Azania genannt - habe es immer Lager oder lagerähnliche Unterbringungsformen gegeben, sei es für Wanderarbeiter oder die Bewohner der Schwarzensiedlungen, die von der Polizei bewacht und nur mit Ausweisen von den Bewohnern betreten werden durften… Regierungsfeindliche Intellektuelle seien oft für Jahre ›gebannt‹ worden: Die Behörden hätten ihnen einen entlegenen Wohnsitz zugewiesen, dessen Umgebung sie nicht verlassen durften und wo sie nicht mehr als drei Besucher zur Zeit empfangen durften.

Laura hörte diese blonde Frau, die ihr so ähnlich sah, dies alles erzählen, und konnte ihrerseits nur sagen… Nun, natürlich habe ich auch Probleme… zum Beispiel komme ich mit meiner Mutter nicht allzu gut aus… ich weiß, das hört sich nicht besonders aufregend an, aber wenn Sie an meiner Stelle wären, würden Sie sich vielleicht auch mehr dabei denken…

Die Lastwagen verlangsamten, die Piste führte in Windungen abwärts.

»Ich glaube, wir kommen irgendwo an«, sagte Laura, aus ihrer Lethargie erwachend.

»Mal sehen«, sagte Katje, stand auf und spähte aus der

Hecköffnung der Wagenplane hinaus, mit den gefesselten Händen an das Rohrgestänge geklammert. »Richtig«, sagte sie. »Ich sehe Betonbunker. Da stehen Fahrzeuge und… ach du lieber Gott, es ist ein Krater, Laura! Ein Krater, groß wie ein Tal.«

Dann explodierte das Halbkettenfahrzeug hinter ihnen. Es flog auseinander wie eine Porzellanfigur, von einem Augenblick zum anderen. Katje starrte staunend hinaus, während Laura sich instinktiv auf den Boden des Lastwagens unter die Sitzbank warf, noch ehe das Krachen der Detonation verhallt war. Es wurde abgelöst vom rasenden Hämmern automatischer Waffen, deren Geschosse eine gerade Reihe von Löchern grellen Tageslichts in die Plane stanzten und Katjes noch stehende Gestalt kreuzten. Sie zuckte nur kurz zusammen und wandte sich um und sah Laura mit einem Ausdruck von Verblüffung an, bevor sie in die Knie brach.

Und das zweite Halbkettenfahrzeug schwankte unter einem Einschlag und begann zu qualmen, und die Luft war erfüllt vom Rattern der automatischen Waffen und dem Pfeifen der Kugeln. Katje preßte beide Hände gegen den Magen und blickte in erschrockenem Verstehen zu Laura, während ihr das Blut zwischen den Fingern hervorquoll. Dann ließ sie sich unbeholfen auf den Boden sinken.

Die Angreifer schienen ihr Feuer auf die Soldaten im vorderen Lastwagen zu konzentrieren. Es geschah alles innerhalb von Sekunden, mit tödlicher Geschwindigkeit, und die Soldaten schienen das Feuer nicht zu erwidern. Dann fetzte wieder eine Maschinengewehrgarbe ins Fahrerhaus ihres Lastwagens, Glas zerplatzte, und die überschallschnellen Geschosse durchlöcherten das Stahlblech mit hellem Ticken. Das Feuer wanderte weiter, Kugeln rissen den hölzernen Boden des Lastwagens auf, und Holzsplitter spritzten wie tödliches Konfetti. Und wieder kam das Feuer zurück, um ganz sicher zu sein, daß niemand überlebte, und fingerdicke Löcher erschienen in der Wand unter der Plane und fetzten Zentimeter über Lauras Gesicht in die Bänke.

Stille.

Dann weitere Schüsse, vereinzelt und nahe. Gnadenschüsse.

Eine dunkle Hand mit einer Pistole kam über die Heckklappe, gefolgt von einer Gestalt in staubbedeckter Schutzbrille, das Gesicht in dunkelblauen Stoff gehüllt. Die Erscheinung musterte Laura und Katje und murmelte etwas Unverständliches. Eine Männerstimme. Dann schwang sich der verschleierte Mann über die Heckklappe des Lastwagens, landete in kauernder Haltung am Boden und zielte mit der Waffe auf Laura. Laura lag erstarrt, fühlte sich unsichtbar, gasförmig bis auf das Weiße in ihren angstvoll verdrehten Augen.

Der verschleierte Mann rief etwas und winkte mit einem Arm hinaus. Er trug einen blauen Umhang und ein weites, blaues Gewand, und seine Brust war von geschwärzten Lederriemen gekreuzt, an denen Munitionstaschen und Lederbeutel hingen. Außerdem hatte er einen Patronengurt umgehängt und einen Krummdolch, dessen Größe beinahe einer Machete gleichkam, und dicke, schmutzige Sandalen an bloßen, hornigen Füßen. Er stank wie ein wildes Tier nach Schweiß und wochenlangem Überleben in der Wüste.

Augenblicke vergingen. Katje machte ein röchelndes Geräusch. Ihre Beine zuckten, die Lider schlossen sich, zeigten weiße Schlitze. Schock.

Ein zweiter verschleierter Mann erschien am Heck des Lastwagens. Seine Augen waren hinter einer gefärbten Schutzbrille verborgen, und er trug eine Art Panzerfaust. Er zielte damit in den Wagen. Laura starrte das Ding an, sah das Glitzern einer Linse und begriff, daß es keine Panzerfaust war, sondern eine Videokamera.

»He«, sagte sie, kroch unter der Bank hervor und zeigte der Kamera ihre gefesselten Hände.

Der erste Marodeur sah sich nach dem zweiten um und sagte etwas, eine lange Kette von scheinbar zusammenhanglosen Silben. Der zweite nickte und ließ die Kamera sinken.

»Können Sie gehen?« fragte er in akzentfreiem Englisch.

»Ja, aber meine Freundin ist verletzt.«

»Dann kommen Sie heraus.« Er hakte die Heckklappe los und zog sie herunter. Sie kreischte - die Kugeln hatten sie verformt. Laura kroch eilig ins Freie. Der Mann mit der Kamera nickte zu Katje. »Sie sieht schlecht aus. Wir werden sie zurücklassen müssen.«

»Das geht nicht. Sie ist eine Geisel. Südafrikanerin. Sie ist wichtig.«

»Dann werden die Malier sie zusammenflicken.«

»Nein, das werden sie nicht, sie werden sie umbringen! Sie können sie nicht hier sterben lassen! Sie ist eine Ärztin, sie arbeitete in den Lagern!«

Der erste Marodeur kehrte im Trab zurück. Er hatte den Gürtel des toten Fahrers bei sich, mit Reihen von Patronen in Schlaufen und einem Schlüsselring. Er untersuchte Lauras Handschellen, wählte dann auf Anhieb den richtigen Schlüssel und schloß sie auf. Er gab ihr Handschellen und Schlüssel mit einer angedeuteten Verbeugung und legte die Hand ans Herz.

Andere Wüstenmarodeure - ungefähr zwei Dutzend - plünderten die zerschossenen Lastwagen. Sie fuhren skelettartige leichte Geländewagen, die nur aus Aluminiumrohren, Speichen und Draht zu bestehen schienen. Sie rollten beweglich und geländegängig dahin, schnell und leise wie Fahrräder, mit einem drahtigen Knirschen von Rädern aus Metallgeflecht und dem leisen Quietschen von Federn. Die Fahrer waren alle in weite dunkelblaue Gewänder gehüllt und hatten verschleierte Gesichter. Sie sahen riesig, geisterhaft und wie aufgebläht aus. Sie saßen auf Fahrradsätteln, vor sich die Lenkung, hinter und unter sich Ballen und Kisten mit Ladung, unter Segeltuchplanen festgeschnallt.

»Wir haben keine Zeit.« Der englischsprechende Strolch mit der Kamera winkte den anderen zu und rief etwas in ihrer Sprache. Sie riefen zurück, und die Männer begannen die zusammengetragene Beute zu verstauen: Munition, Handfeuerwaffen, Kanister.

»Ich will, daß sie lebt!« rief Laura.

Der große Kerl in seiner Schutzbrille, dem verhüllten Gesicht mit Turban, behangen mit Gürteln und Waffen, starrte auf sie herab. Laura begegnete dem Blick seiner unsichtbaren Augen ohne Wimperzucken.

»Also gut«, sagte er. »Es ist Ihre Entscheidung.«

Sie fühlte das Gewicht seiner Worte. Er sagte ihr, daß sie wieder frei sei. Aus dem Gefängnis, in der Welt der Entscheidungen und Konsequenzen. Ein wildes Hochgefühl ergriff Besitz von ihr. Nach zweieinhalb Jahren Gefangenschaft frei!

»Nehmen Sie meine Kamera. Aber berühren sie den Auslöser nicht.« Der Fremde hob Katje auf und trug sie zu seinem Fahrzeug, das fünf Schritte neben dem Lastwagen hielt.

Laura folgte ihm mit der Kamera. Die unebene Piste, mit einer Planierraupe durch die Wüste gegraben, war steinig, scharfkantig und so heiß, daß sie mit den bloßen Füßen kaum auftreten konnte, und sie hüpfte und wankte zum Fahrzeug.

Dort angekommen, blickte sie den Hang hinab.

Der eiserne Stumpf eines verdampften Turmes markierte den Explosionsort. Der Krater der nuklearen Explosion war nicht so tief, wie sie erwartet hatte, eher flach und breit, gezeichnet von unheimlichen Streifen eingeschmolzener glasiger Schlacke, aufgebrochen wie rissiger Schlamm. Der Anblick war bedrohlich, urwelthaft, doch lag schon der Schleier des Vergessens darüber.

Militärfahrzeuge kamen in scharfer Fahrt aus dem Komplex der Bunker und Baracken und hielten auf den überfallenen Konvoi zu. Die Geländewagen waren voll Bewaffneter, die auf Drehringe geschraubte Maschinengewehre bemannten.

Aus achthundert Metern Entfernung eröffneten sie das Feuer. Laura sah Staubwolken zwanzig Schritte entfernt aus dem Boden spritzen, und kurz darauf folgte das entfernte Geratter der Schüsse.

Der Fremde baute die Ladung seines Geländewagens um. Sorgfältig und mit Bedacht. Er blickte kurz zu den näher kommenden Militärfahrzeugen, wandte sich zu Laura. »Sie setzen sich auf die Ladung und halten Ihre Freundin.«

»Ja, gut.«

»In Ordnung, helfen Sie mir mit ihr.« Sie betteten Katje in den freigemachten Laderaum. Ihre Augen waren wieder offen, aber sie sahen glasig aus, gezeichnet vom einsetzenden Schmerz.

MG-Garben knatterten auf das Wrack eines der Halbkettenfahrzeuge. Querschläger kreischten.

Plötzlich sprang der vorausfahrende Geländewagen schwerfällig in die Höhe, krachte inmitten einer Wolke von Rauch und Staub auf die Piste zurück. Wrackteile flogen in alle Richtungen. Gleich darauf erreichte sie der Explosionsknall der Mine. Zwei folgende Geländewagen scherten nach rechts und links aus und hielten auf der Höhe des Wracks. Laura stieg auf und legte den Arm um Katje.

»Kopf runter!« Der Fremde stieg in den Sattel, setzte das Fahrzeug in Bewegung, sie schnurrten davon, verließen die Piste und holperten querfeldein.

Augenblicke später hatten sie die Verfolger außer Sichtweite zurückgelassen. Ringsum lag Ebene, von niedrigen steinigen Höhen durchzogene Wüste, übersät mit rotem, zersprungenem Schutt und Blöcken, die vom Wüstenlack glänzten. Da und dort hielten sich niedere Dornbüsche, spärliche Büschel trockener Gräser. Die Nachmittagshitze war tödlich, nur durch den Fahrtwind halbwegs zu ertragen; sie brannte von der Oberfläche zurück wie Röntgenstrahlen.

Ein Geschoß hatte Katje ungefähr zwei Finger breit links vom Nabel getroffen und war am Rücken nahe der untersten Rippe wieder ausgetreten. In der trockenen Hitze waren beide Wunden rasch geronnen und zeigten sich als dunkel glänzende Schwielen getrockneten Blutes an Bauch und Rücken. Außerdem hatte sie eine häßliche Schnittwunde am Schienbein, wahrscheinlich eine Splitterverletzung.

Laura selbst war unversehrt. Sie hatte sich am Knöchel und an den Knien ein wenig die Haut abgeschürft, als sie sich zu Boden geworfen hatte, das war alles. Sie war erstaunt über ihr Glück - bis sie sich die Frage nach dem Glück einer Frau stellte, die zweimal in ihrem Leben in Maschinengewehrfeuer geraten war, ohne je irgendeiner Armee angehört zu haben.

Sie legten ungefähr drei Meilen in halsbrecherisch schleuderndem Tempo zurück, mit Mühe und Not den größeren Blöcken ausweichend. Dann verlangsamte der Marodeur. »Sie werden uns verfolgen«, rief er ihr über die Schulter zu. »Nicht die Geländewagen - Flugzeuge. Ich muß in Bewegung bleiben, und wir werden einige Zeit in der Sonne verbringen. Decken Sie die Verletzte mit der Plane zu. Und ziehen Sie sich was über den Kopf.«

»Was?«

»Sehen Sie in dem Sack dort nach. Nein, nicht in dem! Das sind Minen.« Laura band die Plane los und zog sie über Katje und befestigte sie wieder. Dann suchte sie in dem angegebenen Sack. Kleider - sie fand ein schmieriges Militärhemd, das sie wie einen Burnus über Kopf und Schultern drapierte und mit beiden Ärmeln um die Stirn band.

Mit viel Gefummel und vergeblichen Versuchen gelang es ihr, Katje von den Handschellen zu befreien. Dann warf sie die Handschellen über Bord, die Schlüssel hinterher. Teufelszeug. Metallene Parasiten.

Sie kroch auf die Ladung hinter den Fahrer. Er gab ihr seine Schutzbrille. »Versuchen Sie die.« Er hatte blaue Augen.

Sie setzte die Brille auf. Ihre Gummiränder legten sich an die Haut, feucht von seinem Schweiß. Die quälende grelle Helligkeit wurde sofort erträglich. Sie war dankbar. »Nach Ihrer Aussprache sind Sie Amerikaner, nicht?«

»Kalifornier.« Er zog den Stoff vom Gesicht und zeigte ihr seine Züge. Es war ein Gesichtsschleier, wie die Tuareg ihn trugen und mit dem Gesicht und Kopf umwunden wurden, bis ein hoher, kammartiger Turban entstand. Die Enden hingen ihm auf die Schultern. Der in Indigo getauchte Stoff hatte auf seine Haut abgefärbt und verfremdete sein gefurchtes Europäergesicht mit streifigem Graublau.

Er hatte ungefähr zwei Wochen alte rötliche Bartstoppeln, mit Grau durchsetzt. Er lächelte kurz und zeigte weiße Zähne.

Er glich einem Fernsehjournalisten, der endgültig auf Abwege geraten war. Sie vermutete sofort, daß er ein Söldner war, eine Art Militärberater. »Was für Leute sind Sie?«

»Wir sind die Inadin Kulturrevolution. Sie?«

»Rizome Industries. Laura Webster.«

»Ja? Sie müssen eine Geschichte zu erzählen haben, Laura Webster.« Er betrachtete sie mit plötzlich erwachtem Interesse, wie eine schläfrige Katze, die unerwartet Beute sieht.

Eine ungebetene Erinnerung stellte sich ein. Sie mußte daran denken, wie sie als Kind mit ihrer Großmutter in einem Safaripark gewesen war. Unterwegs hatten sie haltgemacht, um einen mächtigen Löwen zu beobachten, der am Straßenrand an einem Kadaver nagte.

Das Bild war ihr im Gedächtnis geblieben: diese furchterregenden weißen Zähne, das gelbbraune Fell mit der dichten Mähne, das mit Blut bis zu den Augen beschmierte Maul… Der Löwe hatte ruhig aufgeblickt, mit einem Ausdruck genau wie dem, der jetzt im Blick des Fremden war.

»Was sind Inadin?« fragte Laura.

»Kennen Sie die Tuareg? Die berühmten, geheimnisvollen Bewohner der Sahara?« Er zog den Turban tiefer und beschattete seine ungeschützten Augen. »Nun, macht nichts. Sie nennen sich selbst die ›Kel Tamashek‹. ›Tuareg‹ werden sie von den Arabern genannt - es bedeutet ›die Elenden‹.« Er beschleunigte wieder die Geschwindigkeit und wich geschickt den größeren Blöcken aus. Federung und Radaufhängung fingen die groben Stöße erstaunlich gut ab, die breiten Reifen aus Drahtgeflecht hinterließen kaum eine Spur.

»Ich bin Journalist«, sagte er. »Freiberuflich. Ich berichte über ihre kriegerischen Aktivitäten.«

»Wie heißen Sie?«

»Gresham.«

»Jonathan Gresham?«

Gresham sah sie von der Seite an. Überrascht, nachdenklich. Er schien sein Urteil über sie zu revidieren. »Soviel für Tarnung«, sagte er schließlich. »Was ist? Bin ich jetzt berühmt?«

»Sie sind Oberst Jonathan Gresham, Autor des Buches Die Lawrence-Doktrin und postindustrieller Aufstand?«

Gresham sah verlegen aus. »Sehen Sie, in diesem Buch gibt es eine Menge Irrtümer. Damals wußte ich nicht genug, die Hälfte ist Theorie, unausgegorenes Zeug. Sie haben es doch nicht gelesen, oder?«

»Nein, aber ich kenne Leute, die wirklich viel von diesem Buch hielten.«

»Amateure.«

Sie sah Gresham an. Er sah aus, als wäre er im Fegefeuer geboren und in der Hölle aufgewachsen. »Das glaube ich kaum.«

Gresham dachte darüber nach. »Die Gefängniswärter haben Ihnen von mir erzählt, wie? Ich weiß, daß es bei der FAKT Leute gibt, die mein Zeug gelesen haben. Auch Wien hat es gelesen, darum bin ich dort in Verschiß. Scheint ihnen aber nicht viel genützt zu haben.«

»Es muß was dahinter stecken! Gerade haben Sie einen ganzen Militärkonvoi ausgelöscht!«

Gresham verzog ein wenig das Gesicht, wie ein Avantgarde-Künstler, der von einem Spießer gelobt wird. »Wenn es um meine Aufklärung besser bestellt gewesen wäre… Tut mir leid, daß Ihre Freundin getroffen wurde. Das sind die Wechselfälle des Krieges.«

»Genauso leicht hätte es mich erwischen können.«

»Ja, das lernt man nach einer Weile.«

»Glauben Sie, daß sie durchkommen wird?«

»Nein, das glaube ich nicht. Wenn einer von uns einen Bauchschuß bekommen hätte, würden wir ihm einfach eine Kugel gegeben haben.« Er blickte über die Schulter zu Laura. »Ich könnte es machen«, sagte er. Er meinte es als eine großzügige Geste, das war deutlich zu sehen.

»Sie braucht nicht mehr Kugeln, sie braucht einen Chirurgen. Gibt es einen Arzt, den wir erreichen können?«

Er schüttelte den Kopf. »Drei Tage von hier gibt es ein Depot für Hilfsgüter, und eine Krankenstation, betrieben von Südafrikanern. Aber wir fahren nicht dorthin. Wir müssen uns bei unserem örtlichen Versorgungsdepot umgruppieren. Wir müssen uns um unser eigenes Überleben kümmern - können keine ritterlichen Gesten machen.«

Laura streckte den Arm aus und faßte den dicken Stoff an Greshams Schulter. »Sie ist eine sterbende Frau!«

»Sie sind jetzt in Afrika. Sterbende Frauen sind hier keineswegs selten, Madam.«

Laura holte tief Atem.

So kam sie nicht weiter.

Sie überlegte angestrengt, versuchte klar zu denken. Ihr Verstand war durch die letzten Ereignisse wie in Fetzen gerissen. Die Wüste ringsum schien sie zu verdampfen. Alle Feinheiten und Verzweigtheiten lösten sich hier in nichts auf; alles war kraß und einfach und elementar. »Ich möchte, daß Sie ihr das Leben retten, Jonathan Gresham.«

»Es ist schlechte Taktik«, sagte Gresham. Er blickte geradeaus. »Sie wissen nicht, daß die Frau tödlich verwundet ist. Wenn sie eine wichtige Geisel ist, werden sie erwarten, daß wir zu diesem Lager fahren. Es ist das einzige, was in diesem Gebiet von den Südafrikanern betrieben wird. Und wir haben nicht bis heute überlebt, indem wir taten, was die FAKT erwartete.«

Sie rückte von ihm ab. Versuchte einen anderen Zugang zu finden. »Wenn sie dieses Lager angreifen, wird die südafrikanische Luftwaffe zusammenschlagen, was von ihrer Hauptstadt noch übrig ist.«

Er sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren.

»Es ist wahr. Vor vier Tagen griffen die Südafrikaner Bamako an. Treibstofflager, Radaranlagen, alles. Mit Maschinen von ihrem Flugzeugträger.«

»Also, ich will verdammt sein.« Gresham grinste plötzlich, aber es war ein Raubtiergrinsen. »Erzählen Sie mir mehr, Laura Webster.«

»Deshalb brachten sie uns zu ihrem AtombombenTestgelände. Um eine Propagandaerklärung aufzuzeichnen und die Südafrikaner abzuschrecken. Ich habe ihr Atom-U-Boot gesehen. Ich habe sogar an Bord gelebt. Wochenlang.«

»Nicht möglich«, sagte Gresham. »Sie haben all das gesehen? Als Augenzeugin?«

»Ja.«

Er glaubte ihr. Sie sah, daß es ihm schwerfiel, daß es Neuigkeiten waren, die ihn zum Umdenken in grundsätzlichen Fragen seines Lebens oder wenigstens seiner Kriegführung zwangen, wenn es zwischen beiden einen Unterschied gab. Aber er erkannte, daß sie ihm die Wahrheit sagte. Es gab eine Verständigung zwischen ihnen, auf einer grundlegenden, menschlichen Ebene.

»Wir müssen ein Interview machen«, sagte er.

Ein Interview. Er hatte eine Videokamera, nicht wahr? Sie fühlte sich verwirrt, erleichtert, auf eine unbestimmte Art beschämt. »Retten Sie meiner Freundin das Leben.«

»Wir können es versuchen.« Er stand auf und zog etwas aus dem Gürtel - einen weißen Fächer. Er klappte ihn auf und reckte ihn in die Höhe, winkte ihn mit scharfen Bewegungen. Jetzt erst wurde Laura bewußt, daß ein anderer Tuareg in Sicht war - ein ameisenartiges Profil, beinahe aufgelöst in der hitzeflimmernden Entfernung, vielleicht anderthalb Kilometer nördlich von ihnen. Ein weißer Punkt winkte zurück.

Katje stöhnte und röchelte wie ein Tier. »Geben Sie ihr nicht zuviel zu trinken«, warnte Gresham. »Wischen Sie sie statt dessen ab.«

Laura kroch nach hinten.

Katje war wach, bei Bewußtsein: Ihre Qual war so groß und elementar, so erschreckend, daß ihr mit Reden oder Denken kaum beizukommen war - mit dem Tod war nicht zu diskutieren. Ihr Gesicht war fahl und eingefallen, und sie kämpfte einsam.

Während die Stunden vergingen, tat Laura, was sie konnte. Ein Wort oder zwei mit Gresham, und sie fand das wenige, was er hatte, um Katje ihre Lage zu erleichtern. Polster für Kopf und Schulter, Lederbeutel mit lauwarmem Wasser, Hautfett, das nach Ziegen roch. Ein Sonnenschutz für das Gesicht.

Die Ausschußwunde im Rücken war am schlimmsten. Sie war groß und aufgerissen, und Laura befürchtete, daß sie bald brandig werden könnte. Der Schorf brach durch die unvermeidlichen Stöße während der Fahrt zweimal auf, und es entstanden frische Blutungen.

Einmal hielten sie an, als sie an einen Felsblock prallten und das rechte Vorderrad zu quietschen begann. Dann noch einmal, als Gresham Suchflugzeuge zu sehen glaubte - es waren zwei Geier.

Als es Abend wurde, begann Katje zu phantasieren.

Bruchstücke eines Lebens. Ihr Bruder, der Anwalt. Mutters Briefe auf geblümtem Briefpapier. Teegesellschaften. Die Schule. Ihr Bewußtsein tastete im Delirium nach einer rettenden Zuflucht, Tausende von Kilometern und Jahre entfernt. Nach einem winzigen Anhaltspunkt menschlicher Ordnung in grenzenloser Einöde.

Gresham fuhr, bis es dunkel wurde. Er schien das Land zu kennen. Sie sah ihn nie über eine Landkarte gebeugt.

Schließlich hielt er im eingeschnittenen Bett eines ausgetrockneten Wasserlaufes - einem ›Wadi‹, wie er es nannte. Auf dem sandigen Boden des Trockenbetts bildeten hüfthohe, stinkende und mit winzigen Kletten besetzte Kreosotbüsche ausgedehnte Dickichte.

Gresham stieg ab und schulterte einen Sack. Er zog seinen langen Krummdolch aus dem Gürtel und begann Büsche abzuhacken. »Am gefährlichsten sind die Maschinen bei Nacht«, sagte er. »Sie arbeiten mit Infrarotgeräten, die jeden warmen Körper anzeigen.« Er tarnte das Fahrzeug mit den abgehackten Büschen. »Deshalb müssen wir alles verteilen und die Plane über uns spannen.«

Laura kroch vom Wagen, durchgeschüttelt, staubig und zum Umfallen müde. »Was soll ich tun?«

»Sie können sich für die Wüste anziehen. Sehen Sie im Rucksack nach.«

Sie trug den Rucksack auf die andere Seite des Geländewagens und zog die Verschlußschleife auf. Drinnen waren Hemden, Ersatzsandalen und ein langes, derbes Gewand aus blauem, verwaschenem Stoff, zerknittert und fleckig. Sie entledigte sich ihrer Gefängnisjacke.

Gott, war sie dünn. Sie konnte jede Rippe sehen. Dünn und alt und erschöpft, wie etwas, das getötet werden sollte. Sie fuhr in das Gewand - die Schulternähte reichten ihr bis zur Mitte der Oberarme, und die Ärmel reichten bis an die Fingerspitzen. Der Stoff war jedoch dick und durch langes Tragen weich geworden. Er stank nach Gresham. Ihr war, als ob er sie in den Armen hielte.

Ein seltsamer Gedanke, schwindelerregend. Sie empfand Verlegenheit. Sie mußte einen jämmerlichen Anblick bieten. Gresham konnte nicht eine Elendsgestalt wie sie wollen…

Der Boden kam hoch und schlug sie ins Gesicht. Sie lag in einem Wirrwarr ihrer eigenen Arme und Beine und wußte nicht, was sie dabei denken sollte. Eine unklare Zeitspanne verging, vage Schmerzen und Wellen von Schwindelgefühl.

Gresham hielt ihren Kopf und versuchte ihr Wasser einzuflößen. Es ermunterte und belebte sie so weit, daß sie sich ihrer Lage bewußt wurde. »Sie waren ohnmächtig«, sagte er, und sie nickte schwächlich. Gresham hob sie auf und trug sie wie ein Bündel; sie fühlte sich leicht, hohl, vogelknochig.

An der steilen Böschung des Trockenbetts war eine Zeltbahn in Tarnfarben aufgespannt. Unter ihr kauerte eine dunkle Gestalt über Katje, deren weiß gestreifte Häftlingskleidung aus dem Dunkel leuchtete - einer der Tuareg-Angreifer, der ein langes Gewehr umgehängt hatte. Gresham setzte Laura ab, tauschte ein paar Worte mit dem Tuareg, der düster nickte. Laura kroch unter das Zeltdach, fühlte grobe Wolle unter den Fingern: einen Teppich.

Sie legte sich darauf zur Ruhe. Der Tuareg summte kaum hörbar vor sich hin. Ein Sternhimmel von unglaublichem funkelndem Reichtum wölbte sich über dem primitiven Schutzdach.

 

Der Duft von frisch aufgegossenem Tee weckte sie. Der Morgen dämmerte, roter Widerschein erhellte den Osten. Jemand hatte ihr während der Nacht eine Decke übergeworfen. Sie hatte auch ein Kissen, einen zusammengelegten Jutesack, der mit einer unbekannten eckigen Schrift bedruckt war. Sie setzte sich aufrecht.

Der Tuareg reichte ihr eine Tasse, behutsam und höflich, als sei der Tee eine Kostbarkeit. Er war heiß, dunkelbraun, schaumig und süß, und roch scharf nach Pfefferminz. Laura nippte davon. Anscheinend waren die Pfefferminzblätter mitgekocht und nicht aufgegossen worden, und die Wirkung war wie die eines Narkotikums, zusammenziehend und stark. Sie empfand den Geschmack als widerwärtig, doch beizte der Tee ihre Kehle und festigte sie gegen die Anstrengungen eines weiteren Tages.

Der Tuareg saß halb abgewandt und schlürfte laut und genießerisch. Schließlich öffnete er einen Beutel, der mit einer Zugschnur versehen war, und bot ihr vom Inhalt an. Kleine braune Kügelchen von etwas wie - Erdnüsse? Vielleicht Scop in einer getrockneten Form. Es schmeckte wie gezuckertes Sägemehl. Frühstück. Sie aß zwei Handvoll.

Gresham tauchte aus dem Dickicht der Kreosotbüsche auf, eine massige Gestalt, eingehüllt bis zu den Augen, einen Sack über die Schulter geworfen. Er griff mehrmals hinein und warf jedesmal eine Handvoll von etwas im Halbkreis auf den Boden, wie ein Sämann. Sie hatte keine Ahnung, was es war.

»Sie hat die Nacht überstanden«, sagte Gresham, während er sich die Hände wischte. »Sprach sogar ein bißchen, heute morgen. Die Schmerzen scheinen erträglich zu sein. Zähe Leute, diese Buren.«

Laura stand auf. Ihre steifen Muskeln schmerzten bei jeder Bewegung. Sie schämte sich. »Ich bin nicht sehr nützlich, nicht wahr?«

»Es ist nicht Ihre Welt.« Gresham half dem Tuareg beim Zusammenfalten des Zeltdachs. »Nicht viel Verfolgung, diesmal… Wir pflanzten ein paar Fackeln, vielleicht haben sie die Suchflugzeuge abgelenkt. Oder sie halten uns für eine südafrikanische Kommandoeinheit… Ich hoffe es. So könnten wir etwas Interessantes provozieren.«

Sein Wohlbehagen entsetzte sie. »Aber wenn FAKT die Bombe hat… Sie können nicht Leute provozieren, die in der Lage sind, ganze Städte zu vernichten!«

Er war unbeeindruckt. »Die Welt ist voll von Städten.« Er blickte auf eine Armbanduhr mit geflochtenem Lederband. »Wir haben einen langen Tag vor uns, also los!«

Er hatte das Gepäck umverteilt und einen Teil seiner Ladung auf einem anderen Wagen verstaut. Katje lag in einem Nest aus Decken und Teppichen, beschirmt von der Zeltbahn, und hatte die Augen offen.

»Guten Morgen«, flüsterte sie.

Laura setzte sich zu ihr und verkeilte die Beine so gut es ging zwischen dem Gepäck, während Gresham das Fahrzeug startete. Es winselte widerwillig, als es träge beschleunigte - Batterieschwächung, dachte sie.

Sie fühlte Katje den Puls. Er war leicht und unregelmäßig. »Wir werden Sie zu Ihren Leuten zurückbringen, Katje. Hauptsache, Sie halten bis morgen durch.«

Katje nickte unmerklich. Ihre Haut war durchsichtig, die Adern schienen durch. »Er ist ein Wilder«, murmelte sie, »ein Anarchist…«

»Versuchen Sie, Ihre Kräfte zu schonen. Sie und ich, wir werden das hier überstehen. Überleben, um davon zu berichten.« Die Sonne spähte über den Horizont, eine orangefarbene Hitzeblase.

Zeit verging, und die Tageserwärmung nahm rascher zu, als sie Kilometer hinter sich brachten. Sie verließen die eigentliche Sahara und kamen durch Gebiete, die ihre Humusschicht noch nicht ganz durch Austrocknung und Winderosion eingebüßt hatten. Dies war einmal Wüstensteppe gewesen, als Weideland genutzt und durch Überweidung zugrunde gerichtet worden. Sie passierten wiederholt die Mumien toter Rinder, bleiche Knochen in rissigen Lederfetzen.

Sie hatte den wahren Umfang des afrikanischen Unheils nie erkannt. Es war von kontinentalen Dimensionen. Sie hatten Hunderte von Kilometern zurückgelegt, ohne ein anderes menschliches Wesen zu erblicken, ohne mehr zu sehen als ein paar kreisende Vögel und die Fährten von Eidechsen. Sie hatte Gresham für rücksichtslos und vorsätzlich brutal gehalten, doch allmählich verstand sie, wie wenig ihn die FAKT und ihr Waffenarsenal kümmerten. Sie lebten hier, es war ihre Heimat. Wenn andere Landstriche durch Atombomben verwüstet wurden, machten sie sich nicht viel daraus; es würde lediglich mehr von dem entstehen, was hier ihre gewohnte Umgebung war.

Am Nachmittag entdeckte ein Suchflugzeug einen der Tuareg-Geländewagen und zerstörte ihn. Laura sah das Flugzeug nicht, kein Zeichen der tödlichen Begegnung, außer einer entfernten Rauchsäule. Sie hielten an und suchten Deckung, bis die Drohne nach einer halben Stunde ihren Treibstoffvorrat oder ihre Munition verbraucht hatte.

Sofort stellten sich Fliegen ein. Große, unerschrockene Wüstenfliegen, auf die Katjes blutbefleckte Kleider wie Magneten wirkten. Sie mußten weggestoßen, weggeschlagen werden, bevor sie endlich ihren Platz aufgaben.

Und selbst dann machten sie nur einen kurzen, summenden Bogen und landeten wieder. Laura wehrte sie grimmig ab, als sie auf ihrer Brille landeten und versuchten, Feuchtigkeit aus ihrer Nase und von ihren Lippen zu saugen.

Endlich signalisierten sich die verstreuten Mitglieder der Kolonne, daß es weitergehen könne. Der Fahrer hatte unverletzt überlebt; ein Gefährte hatte ihn aufgenommen, das ausgebrannte Wrack blieb zurück.

»Nun, damit ist die Sache klar«, bemerkte Gresham, als sie weiterfuhren. Irgendwo hatte er eine Sonnenbrille mit Spiegelgläsern ausgegraben. »Sie wissen jetzt, wohin wir wollen, wenn sie es vorher noch nicht wußten. Hätten wir einen Funken Verstand, würden wir jetzt die Köpfe einziehen, ausruhen und an den Fahrzeugen arbeiten.«

»Aber sie würde sterben.«

»Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß sie die kommende Nacht nicht überleben wird.«

»Wenn sie es schaffen kann, dann können wir es auch.«

»Keine schlechte Wette«, sagte er.

Nach Sonnenuntergang hielten sie in einem verlassenen Dorf aus dachlosen, vom Wind gerundeten Lehmziegelmauern. In den Ruinen waren vereinzelt Dornsträucher, und eine lange Erosionsrinne durchzog den einstigen Dreschplatz des Dorfes. Das Erdreich im Umkreis der noch in Spuren erkennbaren Bewässerungsgräben war so stark versalzen, daß sich weißlich schimmernde Krusten gebildet hatten. Der tiefe, ausgemauerte Brunnen war trocken. Hier hatten einmal Menschen gelebt, Generationen, vielleicht tausend Stammesjahre lang.

Sie versteckten das Fahrzeug in den Ruinen und spannten ihre Zeltplane in der Tiefe eines Grabens auf, unter den Sternen. Laura hatte diesmal mehr Kraft - sie fühlte sich weniger zerschlagen und verwirrt. Die Wüste hatte sie bis auf eine reflektierende Schicht von Vitalität abgetragen. Sie hatte es aufgegeben, sich zu sorgen. Hatte in den asketischen Gleichmut eines Tieres zurückgefunden.

Gresham spannte die Zeltbahn auf und erhitzte einen Topf Suppe auf einer batteriegespeisten elektrischen Kochplatte. Dann verschwand er, machte sich zu Fuß auf, um die verstreuten Mitglieder seines Trupps aufzusuchen. Laura schlürfte dankbar die ölige Proteinbrühe. Der Geruch weckte Katje aus ihrem Dämmerzustand.

»Hunger«, flüsterte sie. »Durst.«

»Nein, Sie dürfen nicht essen.«

»Bitte, ich muß. Ich muß, nur ein wenig. Ich will nicht hungrig sterben.«

Laura überlegte. Suppe war nicht viel schlimmer als Wasser, dachte sie. »Sie haben gegessen«, murmelte Katje. »Sie hatten so viel. Und ich hatte nichts.«

»Na schön, aber nicht zu viel.«

»Sie können es erübrigen.«

»Ich versuche daran zu denken, was für Sie am besten ist…« Keine Antwort, nur Augen voller Argwohn und fiebernder Hoffnung, gezeichnet vom Schmerz. Laura hielt ihr die Schale an den Mund, und Katje schluckte verzweifelt.

»Das ist viel besser.« Sie versuchte zu lächeln, ein Akt herzzerreißenden Mutes. »Ich fühle mich besser… Danke…« Sie schloß die Augen.

Laura streckte sich in ihrer verschwitzten Djellabah aus, lauschte dem röchelnden Atmen Katjes und schlief schließlich ein. Sie erwachte, als Gresham in den Graben und unter die Zeltplane kletterte. Es war wieder bitterkalt, die lunare Kälte der Wüste, und sie fühlte die Wärme, die von seiner Masse ausging, die groß und männlich war, und fleischfressend. Sie setzte sich auf und spähte durch die Dunkelheit zu ihm hin.

»Wir sind heute gut vorangekommen«, murmelte er mit der leisen Stimme der Wüste, die kaum eine Störung der allgegenwärtigen Stille war. »Wenn sie die Nacht übersteht, können wir am Vormittag das Lager erreichen. Ich hoffe nur, daß es nicht voll von südafrikanischen Kommandoeinheiten ist. Dem langen Arm imperialistischer Ordnung und Gesetzlichkeit.«

»›Imperialistisch‹. Das Wort sagt mir nichts.«

»Man muß es ihnen lassen«, sagte Gresham. Er beugte sich über Katje, die bewußtlos lag. »Es sah einmal aus, als würde ihr kleiner Ameisenhaufen mit Sicherheit von der schwarzen Flut hinweggespült werden, aber sie haben sich gehalten… Der Rest Afrikas ist auseinandergefallen, aber diese zähen Burschen haben sich behauptet, und jedes Jahr kommen sie ein bißchen weiter nach Norden voran, sie und ihre verdammten Polizisten und burischen Gesetze.«

»Sie sind besser als die FAKT! Wenigstens helfen sie.«

»Die Hälfte der FAKT besteht aus weißen, südafrikanischen Ultras, die sich von der Nationalpartei abspalteten, als die südafrikanische Regierung den Schwarzen eigene Wahlen und ein paar Ministerposten einräumte. Da gibt es keinen nennenswerten Unterschied… Ihre Freundin hier, die Ärztin, hat vielleicht eine Karotte in der Hand, statt eines Stockes, aber die Karotte ist bloß der Stock in anderer Gestalt.«

»Ich verstehe nicht.« Es schien ihr unfair. »Was wollen Sie?«

»Ich will Freiheit.« Er fummelte in seinem Tragesack. »Mit uns hat es mehr auf sich, als Sie denken, Laura, wenn Sie uns so auf der Flucht sehen. Die Inadin-Kulturrevolution ist nicht bloß irgendein unsinniger Deckname. Sie wollen ihre Kultur erhalten, sie kämpfen und sterben dafür… Nicht, daß nur rein und edel ist, was wir haben, aber die Kurven des Diagramms haben sich hier gekreuzt. Die Kurve des Bevölkerungswachstums und die Kurve der natürlichen Ressourcen, der Lebensgrundlagen. Sie kreuzten sich in Afrika an einem Ort namens Unheil. Und danach ist alles mehr oder weniger ein Durcheinander. Und mehr oder weniger ein Verbrechen.«

Solche Regeln kamen ihr bekannt vor. Sie lachte leise. »Das habe ich schon gehört. In Grenada und Singapur, in den Steueroasen. Sie sind auch ein Insulaner. Bewohner einer Nomadeninsel in einem Wüstenmeer.« Sie hielt inne. »Ich bin Ihre Feindin, Gresham.«

»Ich weiß das«, sagte er. »Ich tue nur so, als ob es anders wäre.«

»Ich gehöre in die andere Welt draußen, wenn ich je zurückfinde.«

»Karrieremädchen.«

»Es sind meine Leute. Und ich habe einen Mann und ein Kind, die ich seit bald drei Jahren nicht gesehen habe.«

Die Neuigkeit schien ihn nicht zu überraschen. »Sie sind im Krieg gewesen«, sagte er. »Sie können zu dem Ort heimkehren, den Sie Heimat nannten, aber es wird nie wieder wie früher sein.«

Das stimmte. »Ich weiß es. Ich fühle es in mir. Die Bürde des Erlebten.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich möchte hören, was Sie erlebt haben, Laura, was Sie erfahren haben. Ich bin Journalist. Ich arbeite unter anderem Namen. Sacramento Internet. Städtische Video-Genossenschaft Berkeley und noch ein Dutzend andere, dann und wann. Ich habe meine Hintermänner… und in einer der Taschen habe ich Video-Make-up.«

Er meinte es ernst. Sie fing an zu lachen. Es machte ihre Knochen zu Wasser. Sie fiel in der Dunkelheit gegen ihn. Seine Arme umfingen sie: Plötzlich küßten sie sich, und sein Bart stach ihr ins Gesicht. Ihre Lippen und ihr Kinn waren sonnenverbrannt, und sie fühlte die Bartstoppeln durch den fettigen Überzug von Öl und Schweiß stechen. Ihr Herz begann wild zu hämmern, eine manische Erregung überkam sie, als wäre sie von einem Kliff gestoßen worden und befände sich im freien Fall. Er drückte sie nieder. Sie war augenblicklich feucht und bereit - es war alles einerlei.

Katje stöhnte laut zu ihren Füßen, murmelte im Delirium und röchelte. Gresham hielt inne, wälzte sich von ihr. »Oh, Mann«, sagte er. »Entschuldige.«

»Schon gut«, schnaufte Laura.

»Zu dumm«, murmelte er mit Widerwillen. Er setzte sich aufrecht und zog seinen Arm unter ihrem Kopf heraus. »Sie liegt da unten und stirbt in diesem KZ-Anzug… und ich habe meine Kondome im Wagen gelassen.«

»Ich denke, die brauchen wir.«

»Ja, und ob wir die brauchen, dies ist Afrika. Jeder von uns könnte das Virus haben, ohne es zu wissen.« Er sprach unverblümt darüber, ohne Verlegenheit. Stark.

Sie setzte sich auf. Die Luft knisterte von ihrer Intimität. Sie nahm seine Hand und streichelte sie. Es schmerzte nicht. Es war jetzt besser zwischen ihnen, die Spannung war gewichen. Sie fühlte sich ihm gegenüber offen und war froh darüber.

»Es ist schon gut«, sagte sie. »Leg deinen Arm um mich. Halt mich fest. Das ist gut.«

»Ja.« Lange Stille. »Möchtest du essen?«

Ihr Magen signalisierte nichts. »Gott, ich habe dieses ewige Scop satt.«

»Ich habe Abalone und ein paar Dosen geräucherte Austern. Aufgespart für einen besonderen Anlaß.«

Ihr lief das Wasser im Mund zusammen. »Geräucherte Austern? Nein. Wirklich?«

Er klopfte auf seinen Tragsack. »Hier in meinem Absprungsack. Sollten sie mir den Wagen in Brand schießen, möchte ich sie nicht verlieren. Warte, ich zünde eine Kerze an.« Er öffnete den Sack, fummelte darin herum. Licht flammte auf.

Ihre Pupillen schrumpften. »Können die Flugzeuge das sehen?«

Die Kerze brannte, ihr Schein fiel auf sein Gesicht. Verfilztes, grau durchschossenes rötlichbraunes Haar. »Wenn sie es sehen, werden wir beim Austernessen sterben.« Er zog drei Dosen aus dem Sack. Ihr buntbedrucktes Papier glänzte. Wunderdinge aus dem Reich der Konsumgesellschaft.

Er öffnete eine Dose mit dem Messer. Sie aßen mit den Fingern, wie es sich für Nomaden ziemte. Der volle Geschmack traf Lauras geschrumpfte Geschmacksknospen wie eine Lawine. Das Aroma durchflutete ihren ganzen Kopf; sie fühlte sich taumelig vor Genuß. Ihr Gesicht fühlte sich heiß an, und in ihren Ohren war ein leises Singen. »In Amerika kannst du die jeden Tag haben«, sagte sie. Sie mußte es laut sagen, nur um das Wunderbare zu betonen.

»Sie sind besser, wenn du sie nicht haben kannst«, sagte er. »Phantastisch, nicht? Pervers. Wie wenn man sich mit einem Hammer auf den Kopf schlägt, weil es sich so gut anfühlt, wenn der Schmerz nachläßt.« Er trank den öligen Saft aus der Dose. »Manche Leute sind so verdrahtet.«

»Bist du deshalb in die Wüste gekommen?«

»Vielleicht«, sagte er. »Die Wüste ist rein. Die Dünen - alles Linien und Formen. Wie gute Computergrafik.« Er stellte die Dose weg. »Aber das ist nicht alles. Diese Gegend hier ist der Kern des Unheils. Unheil ist, wo ich lebe.«

»Aber du bist Amerikaner«, sagte sie mit einem Blick zu Katje. »Du bist freiwillig hergekommen.«

Er dachte nach. Sie merkte, daß er mit etwas rang. Mit einem Bekenntnis.

»Als ich zur Schule ging«, sagte er, »kamen eines Tages ein paar Leute mit Videokamera und Mikrofon in unsere Klasse. Sie wollten wissen, wie wir uns die Zukunft vorstellten. Sie machten Kurzinterviews mit uns. Die Hälfte von uns sagte, sie wollten Ärzte werden, oder Astronauten, und all diesen Scheiß. Und die andere Hälfte sagte, sie rechneten damit, daß sie im Atomblitz geröstet würden.« Er lächelte sinnend. »Ich war einer von denen. Ein Katastrophenfreak. Weißt du, nach einer Weile gewöhnt man sich daran. Man erreicht einen Punkt, wo man Unbehagen verspürt, wenn die Dinge anfangen, sich zum Besseren zu wenden.« Er begegnete ihrem Blick. »Du bist aber nicht so.«

»Nein«, sagte sie. »Zu spät geboren, glaube ich. Ich war immer überzeugt, daß ich helfen könnte, die Verhältnisse zu verbessern.«

»Ja«, sagte er. »Das ist auch mein Vorwand. Möchtest du Abalone?«

Laura schüttelte den Kopf. »Danke, aber ich kann nicht. Ich könnte es nicht genießen, nicht jetzt, nicht vor ihr.« Nach dem Essen überkam sie Schläfrigkeit. Sie legte den Kopf an seine Schulter. »Wird sie sterben?«

Keine Antwort.

»Wenn sie stirbt, und du nicht zu dem Lager fährst, was wirst du mit mir anfangen?«

Langes Stillschweigen. »Ich werde dich zu meinem Harem bringen und deinen Körper mit Silber und Smaragden bedecken.«

»Großer Gott.« Sie starrte ihn an. »Was für eine wundervolle Lüge.«

»Nein, das werde ich nicht tun. Ich werde einen Weg suchen, um dich zurück zu deinem Netz zu bringen.«

»Nach dem Interview?«

Er schloß die Augen. »Ich bin nicht sicher, daß das eine gute Idee ist. Du magst eine Zukunft in der Außenwelt haben, wenn du über FAKT und die Bombe und Wien den Mund hältst. Aber wenn du versuchst, aller Welt zu sagen, was du weißt…«

»Das ist mir gleich«, sagte sie. »Es ist die Wahrheit, und die Welt muß sie wissen. Ich muß es erzählen. Alles.«

»Das ist unklug«, sagte er. »Sie werden nicht auf dich hören und dich hinter Schloß und Riegel bringen.«

»Ich werde sie zwingen, auf mich zu hören, das kann ich.«

»Nein, kannst du nicht. Du wirst als Unperson enden, wie ich. Zensiert, vergessen. Ich weiß es, ich habe es versucht. Du bist nicht groß genug, um das Netz zu verändern.«

»Niemand ist groß genug. Aber es muß sich ändern.«

Er blies das Licht aus.

 

Katje weckte sie vor Tagesanbruch. Sie hatte erbrochen und hustete. Gresham zündete eilig die Kerze an, und Laura kniete über ihr.

Katje wirkte geschwollen und war heiß vom Fieber. Die Verschorfung der Einschußwunde war aufgebrochen, und sie blutete wieder. Die Wunde roch schlimm, ein Todesgeruch von Exkrementen und Infektion. Gresham hielt die Kerze über sie. »Bauchfellentzündung, glaube ich.«

Eine Aufwallung von Verzweiflung ergriff Laura. »Ich hätte ihr nichts zu essen geben sollen!«

»Du gabst ihr zu essen?«

»Sie bettelte mich darum! Ich mußte! Es war ein Akt der Barmherzigkeit…«

»Laura, du darfst jemandem mit einem Bauchschuß nichts zu essen geben!«

»Verdammt! Es gibt nichts, was man bei einer wie ihr richtig machen kann, wenn ärztliche Hilfe nicht möglich ist…« Sie wischte sich mit wütender Bewegung Tränen aus den Augen. »Verdammt noch mal, sie wird sterben, nach allem!«

»Sie ist noch nicht tot. Wir haben es nicht mehr so weit. Fahren wir!«

Sie luden Katje in den Wagen, packten auf und brachen das Lager ab, stolpernd in der Dunkelheit. Unterdessen begann Katje zu sprechen, murmelte abwechselnd auf englisch und afrikaans. Zuerst dachte Laura, sie phantasiere, dann aber hörte sie, daß es Gebete waren. Sie wollte nicht sterben, und nun bat sie Gott um Hilfe. Den Gott, wer immer er war, der über Afrika herrschte und der dies alles sah und geschehen ließ.

Das Lager war ein weitläufiges Rechteck von weißen Baracken aus Betonfertigteilen, umgeben von einem hohen Maschendrahtzaun. Sie fuhren eine staubige Piste entlang, die zu beiden Seiten eingezäunt war und zur Mitte des Komplexes führte.

Kinder waren zum Zaun gerannt. Hunderte, die durch den Maschendraht starrten, vorbeigleitende Gesichter. Laura konnte sie nicht ansehen. Sie fixierte ihren Blick auf ein einziges Gesicht in der Menge. Ein schwarzes junges Mädchen in einem hellroten Schürzenkleid aus irgendeiner Wohltätigkeitsspende. Ein Dutzend billige Plastik-Digitaluhren hingen an ihren dünnen Unterarmen.

Sie hatte Lauras Blick aufgefangen, und er elektrisierte sie. Sie steckte die Arme durch die Maschen und bettelte mit schrill erhobener Stimme. »Mam'selle, mam'selle! Le the de Chine, mam'selle! La canne a Sucre!« Gresham fuhr grimmig weiter. Das Mädchen schrie lauter, schüttelte den Zaun mit ihren dünnen Armen, aber ihre Stimme ging im Geschrei der anderen unter. Laura war nahe daran, sich nach ihr umzusehen, ließ es aber im letzten Augenblick sein. Sie fühlte sich gedemütigt.

Voraus war ein Tor. Ein gestreifter Militärfallschirm war als Schattenspender aufgespannt. Schwarze Soldaten in geflecktem Tarndrillich, auf den Köpfen breitkrempige Hüte, die auf einer Seite hochgeschlagen und mit einem Regimentsabzeichen am Hut festgesteckt waren. Kommandotruppen, dachte Laura. Südafrikanische Truppen. Jenseits des geschlossenen Tores war ein kleineres Lager im größeren Bereich, mit größeren Gebäuden, einigen Baracken, einem Hubschrauberlandeplatz. Ein Verwaltungszentrum.

Gresham verlangsamte. »Da fahre ich nicht hinein.«

»Das ist schon gut, ich werde es regeln.«

Einer der Wächter blies in eine Trillerpfeife und hob die Hand hoch. Neugierig betrachteten die Soldaten das einsame Fahrzeug, nicht sonderlich besorgt. Sie sahen gut genährt aus. Stadtsoldaten. Amateure.

Laura stieg aus, schlappte in Greshams Ersatzsandalen zum Tor. »Ein Arzt!« schrie sie. »Ich habe hier eine verwundete Südafrikanerin, sie ist Lagerpersonal! Bringen Sie eine Trage!«

Die Soldaten eilten näher, um zu sehen. Gresham saß in seinen fließenden Gewändern auf dem Fahrersitz, den Kopf in Schleier und Turban. Ein Uniformierter mit Streifen kam auf Laura zu.

»Wer, zum Teufel, sind Sie?« sagte er.

»Ich bin diejenige, die sie gebracht hat. Beeilen Sie sich, sie liegt im Sterben! Er ist ein amerikanischer Journalist, und er hat ein Mikrofon, also achten Sie auf Ihre Redeweise, Unteroffizier.«

Der Mann starrte auf sie herab. Ihr fleckiges Gewand, ein schmutziges Hemd um den Kopf gewickelt, das Gesicht mit Staub und Fett beschmiert.

»Lieutenant«, sagte er, verletzt. »Mein Rang ist Lieutenant, Miss.«

 

Sie sprach mit dem südafrikanischen Verwalter in einer der langen Baracken. Wandregale bogen sich unter Konserven, medizinischen Ausrüstungen, eingefetteten Ersatzteilen. Die gut isolierten Wände und Decken dämpften den Lärm der Klimaanlage.

Ein Kantinenbediensteter in weißer Jacke, Stammesnarben auf den Wangen, machte die Runde mit einem Tablett voll von Gläsern und gekühlten Flaschen Fanta.

Laura hatte den Leuten der Lagerverwaltung nur einen skizzenhaften Abriß der Ereignisse gegeben, aber die Südafrikaner waren nervös und mißtrauisch und schienen von einem abgerissenen Wüstengespenst wie ihr nicht viel zu erwarten. Der militärische Befehlshaber des Lagers, ein weißer Oberst, befand sich mit seinem Stab auf einer Inspektionsfahrt. Der zivile Verwalter des Lagers war ein dicklicher, pfeiferauchender Schwarzer namens Edmund Mbaqane. Er bemühte sich sehr, bürokratisch untadelig und auf der Höhe der Situation zu erscheinen. »Wir sind wirklich sehr dankbar, Mrs. Webster… vergeben Sie mir, wenn ich anfangs etwas kurz angebunden schien. Je mehr man über dieses Regime in Bamako hört, desto stärker gerät einem das Blut in Wallung.«

Mbaqanes Blut war offenbar nicht sehr in Wallung geraten auch nicht das Blut des übrigen Verwaltungspersonals. Sie waren Zivilisten, Tausende von Kilometern von der Heimat entfernt, und sie befanden sich angesichts der neu aufgeflammten Feindseligkeiten in einer exponierten und prekären Lage, die sie in begreifliche Unruhe versetzte.

Sie waren froh, daß sie ihre Geisel zurückerhalten hatten - eine Kollegin von ihnen -, aber sie war nicht durch offizielle Kanäle wieder in Freiheit gelangt, und nun befürchtete man, daß die Geschichte Weiterungen haben würde.

Das südafrikanische A.C.A. Corps schien aus Gründen politischer Korrektheit nach Gesichtspunkten eines rassischen Proporzsystems zusammengesetzt zu sein. Während die Führung in den Händen weißer Militärs lag, gab es eine Anzahl schwarzer Offiziere bis zum Hauptmannsrang, und ein großer Teil des zivilen Personals bestand gleichfalls aus Farbigen. Vorher hatte Laura eine überarbeitete kleine Frau kennengelernt, Dr. Chandrasekhar, die jetzt in der Klinik war und sich um Katje kümmerte. Laura vermutete, daß die kleine Dr. Chandrasekhar die Seele des Lagers war - sie redete am schnellsten und sah erschöpfter aus als alle anderen.

Es gab auch einen Afrikaaner namens Barnaard, der eine Art Diplomat oder Verbindungsmann zur Regierung von Niger zu sein schien. Auch schien er die politische Situation besser als die anderen zu kennen, was vermutlich der Grund war, daß sein Atem nach Whiskey roch. Bei ihm befand sich der diensthabende Hauptmann, der ein Zulu war, ein schroffer, unangenehmer Typ, der, nach seinem Aussehen zu urteilen, in einer Wirtshausschlägerei eine gute Figur abgeben würde.

Seit den Angriffen ihrer Flugzeuge auf Bamako lebten sie alle in Furcht und Ungewißheit. Gleichwohl bemühten sie sich, Laura zu ermutigen. »Sie können ganz beruhigt sein, Mrs. Webster«, versicherte ihr der Verwalter. »Das Regime in Bamako wird keine weiteren Abenteuer riskieren! Es wird dieses Lager nicht noch einmal angreifen. Nicht, solange unser Flugzeugträger Ohm Paul im Golf von Guinea kreuzt. Ein gutes Schiff«, sagte der Hauptmann.

Barnaard nickte und zündete sich eine Zigarette an. Er rauchte filterlose chinesische Zigaretten der Marke ›Panda‹. »Nach dem gestrigen Zwischenfall hat Niger mit größter Entschiedenheit gegen die Verletzung seines Luftraumes protestiert, und Niger ist ein Signatarstaat der Wiener Konvention. Wir erwarten Abgesandte aus Wien schon morgen in diesem Lager. Ganz abgesehen von dem Streit, den die Regierung von Mali mit uns hat, kann ich mir nicht denken, daß sie es darauf anlegen würde, Wien herauszufordern.«

Laura fragte sich, ob Barnaard glaubte, was er sagte, oder ob er sich nur Mut einreden wollte. Die isolationistischen Südafrikaner schienen erheblich mehr Vertrauen in Wien zu setzen als Leute, die öfter mit Wien zu schaffen hatten.

Eine Ausdruckstation begann zu schnattern. Nachrichten von daheim. Die anderen gingen hin, um mitzulesen. Mbaqane blieb bei Laura. »Ich fürchte, ich habe die Rolle dieses amerikanischen Journalisten, den Sie erwähnten, nicht ganz verstanden.«

»Er war bei den Tuaregs.«

Mbaqane versuchte, nicht verwirrt auszusehen. »Ja, wir haben hier einige sogenannte Tuaregs, oder vielmehr Kel Tamashek… Ich vermute, er möchte sich vergewissern, daß sie ordentlich und gerecht behandelt werden?«

»Sein Interesse an den Tuaregs ist mehr kultureller Art«, sagte Laura. »Er erwähnte allerdings, daß er mit ihnen sprechen wolle.«

»Kulturell? Sie fühlen sich recht wohl, denke ich… Vielleicht sollte ich ein paar der Stammesältesten zu ihm hinausschicken, um mögliche Befürchtungen zu zerstreuen. Wir nehmen mit Freuden jede ethnische Gruppe auf, die unserer Hilfe bedarf - Bambara, Marka, Songai… Wir haben sogar eine größere Gruppe Sarakoe, die nicht einmal Staatsangehörige der Republik Niger sind.«

Er schien eine Antwort zu erwarten. Laura trank von ihrer Orangeade und nickte. Barnaard kam zurückgeschlendert - er hatte die Nachricht rasch als bedeutungslos erkannt. »Schon wieder Journalistenbesuch. Ausgerechnet jetzt.«

Der Verwaltungschef warf ihm einen warnenden Blick zu. »Wie Sie sehen können, Mrs. Webster, stehen wir im Moment etwas unter Druck, aber wenn Sie eine Führung wünschen, würde Mr. Barnaard sicherlich gern bereit sein… ah… unsere Politik vor den internationalen Medien zu erläutern.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen«, sagte Laura. »Unglücklicherweise muß ich selbst ein Interview machen.«

»Gut, das kann ich natürlich verstehen - es muß wirklich ein journalistischer Treffer sein. Die Geiseln, aus den berüchtigten Gefängnissen von Bamako freigekommen…« Er schwenkte weltmännisch seine Pfeife. »Zu Hause in Azania wird es sicherlich das Tagesgespräch sein. Eine der unsrigen, nach fast einjähriger Geiselhaft zurückgewonnen. Ein Aufschwung für unsere Moral, besonders inmitten dieser Krise.« Sie merkte, daß er durch sie zu seinen eigenen Leuten sprach. Und es wirkte - er munterte sie auf. Er wurde ihr sympathischer. »Ich weiß«, fuhr er fort, »daß Sie und Dr. Selous in dieser Zeit sehr gute Freundinnen geworden sein müssen. Die unzerreißbaren Bande zwischen Menschen, die gemeinsam gelitten und gekämpft haben! Aber Sie brauchen sich nicht zu sorgen, Mrs. Webster. Unsere Gebete sind mit Katje Selous! Ich bin überzeugt, daß sie durchkommen wird!«

»Ich hoffe es sehr. Kümmern Sie sich gut um sie. Sie war sehr tapfer.«

»Natürlich werden wir uns um sie kümmern. Eine Nationalheldin! Und wenn wir etwas für Sie tun können…«

»Ich dachte, vielleicht eine Dusche…«

Mbaqane lachte. »Ach du lieber Gott! Selbstverständlich, meine Liebe. Und Kleidung… Wir haben bestimmt etwas Passendes da.«

»Ich werde diese… ah… Djellabah anbehalten«, sagte sie. »Ich werde damit vor die Kamera gehen. Das gibt ein besseres Bild.«

»Oh, ich verstehe… ja.«

 

Gresham stand am Rande des Lagers vor der Videokamera und sprach. Laura machte einen Bogen, sorgfältig darauf bedacht, außerhalb des Kamerabereichs zu bleiben.

Sie war erstaunt über die Schönheit seines Gesichts. Er hatte sich rasiert und Video-Make-up aufgelegt: Lippenrot, Puder, Lidstrich. Auch seine Stimme klang verändert: Sie war wohlklingend und klar, betonte jedes Wort mit der Präzision eines Nachrichtensprechers.

»… ein Bild trostloser Verödung. Aber die Sahelzone war einmal die Heimat der stärksten und blühendsten Staaten Schwarzafrikas. Das Reich der Songai, die Reiche von Mali und Ghana, die heilige Stadt Timbuktu mit ihren Gelehrten und Bibliotheken. Für die moslemische Welt war der Sahel gleichbedeutend mit Reichtum, mit Gold, Elfenbein, Feldfrüchten aller Art. Riesige Karawanen durchzogen die Sahara, Flotten von Kanus befuhren den Niger…«

Sie ging an ihm vorbei. Der Rest seiner Truppe war eingetroffen, und die Tuaregs hatten ihr Lager aufgeschlagen. Nicht die zerlumpten Decken und Planen, unter denen sie sich draußen in der Wüste nach ihrem Überfall verkrochen hatten, sondern sechs geräumige, stabil aussehende Unterkünfte. Es waren vorfabrizierte Kuppelzelte, bespannt mit Gewebe in Wüstentarnfarbe. Im Innern bestanden sie aus zusammenfaltbarem Metallgeflecht, das schirmartig durch Rippen verstärkt war. Aus ihren skelettartigen Wüstenfahrzeugen entrollten die Nomaden lange gegliederte Streifen, die wie Gleisketten von Planierraupen aussahen. Schwarze Silikonoberflächen glänzten im harten Sonnenlicht. Es waren lange Bahnen von Solarzellen zur Energieerzeugung. Die Solarzellen wurden durch Kabel mit Anschlüssen an den Fahrzeugen verbunden. Die Männer arbeiteten mit geübter Leichtigkeit; wären sie mit dem Tränken ihrer Dromedare beschäftigt gewesen, so hätte es nicht viel anders ausgesehen. Bei der Arbeit plauderten sie leise in Tamashek.

Während eine Gruppe die Fahrzeuge auflud, rollten die anderen neben einem der Kuppelzelte Matten aus und bereiteten Tee mit einem elektrischen Tauchsieder. Laura gesellte sich zu ihnen. Ihre Gegenwart schien die Männer ein wenig in Verlegenheit zu bringen, aber sie akzeptierten es als eine interessante Abwechslung. Einer von ihnen zog eine Tube Protein aus einer alten Ledertasche und brach sie über dem Knie auf. Er bot ihr eine nasse Handvoll an und verbeugte sich. Sie kratzte das Zeug aus seinen langen Fingern und aß es und dankte ihm.

Gresham kam mit seinem Kameramann. Er wischte sich das gepuderte Gesicht mit einem geölten Lappen ab. »Wie ging es im Lager?«

»Ich wußte nicht recht, ob sie mich wieder herauslassen würden.«

»So arbeiten die nicht«, sagte Gresham. »Hier ist es die Wüste, die die Menschen einschließt.« Er setzte sich neben sie. »Hast du ihnen von der Bombe erzählt?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich wollte, aber ich konnte einfach nicht. Sie sind sowieso schon nervös, und im Lager sind Kommandotruppen. Obwohl das Lager auf dem Gebiet der Republik Niger liegt, hat Bamako sich nicht daran hindern lassen, es anzugreifen, und sie befürchten, daß der Angriff wiederholt werden könnte. Aber Katje wird es ihnen sagen, sobald es ihr besser geht. Es ist alles so verwirrt - ich bin verwirrt. Ich hatte Angst, sie würden mich einsperren. Und dich auch.«

Der Gedanke erheiterte ihn. »Was, herauskommen und uns festnehmen? - Glaube ich nicht. Ich sprach mit diesem Hauptmann, als er herauskam, uns in Augenschein zu nehmen… Ich weiß, wie er denkt. Klassische Afrikaanertaktik: Er fährt seine Ochsenwagen im Kreis zusammen, alle Mann besetzen den äußeren Ring und halten sich bereit, die Zulus zurückzuschlagen. Natürlich ist er selber ein Zulu, aber er weiß, daß er ein Lager voller kindlicher, wilder Flüchtlinge hat, die er ruhig und friedlich halten muß, bis seine Chefs zurückkommen. Aber er hat uns als Freunde eingestuft, soweit.«

»Aus Wien wird auch jemand erwartet.« .

»O weh.« Gresham dachte darüber nach. »Ein bißchen Wien, oder viel Wien?«

»Das wurde nicht gesagt. Ich nehme an, es hängt davon ab, was Wien will. Sie erzählten mir etwas von Protesten seitens der Regierung von Niger.«

»Nun, Niger ist keine Hilfe. Achtzig Jahre alte Sowjetpanzer und eine Armee, die jedes zweite Jahr meutert und Niamey niederbrennt. Wenn Wien mit Macht eingreift, kann es schwierig werden. Aber sie werden nicht hier eine Demonstration veranstalten, in einem Flüchtlingslager in der Wüste. Wenn Wien tatsächlich mit Gewalt gegen Mali vorgehen will, wird es Bamako angreifen.«

»Das würde es nie tun. Man hat zuviel Respekt vor der Bombe.«

»Ich weiß nicht. Internationale Kontingente sind militärisch nicht viel wert - lausige Soldaten -, aber vor sechs Monaten haben sie Grenada ausgehoben, und das war eine harte Nuß zu knacken.«

»Das haben sie getan? Grenada angegriffen?«

»Ja. Die Hacker in ihren Rattenlöchern ausgeräuchert… Die Taktik ließ jedoch zu wünschen übrig, Frontalangriff, sehr ungeschickt… Sie verloren über zwölfhundert Mann.« Er zog die Brauen hoch, als er ihr Erschrecken sah. »Richtig, du warst ja in Grenada, Laura. Ich dachte, du hättest davon gehört. Die Leute in Bamako hätten es dir sagen sollen - es war ein Triumph ihrer verdammten Politik.«

»Sie haben mir nie etwas gesagt. Überhaupt nichts.«

»Der Kult der Geheimniskrämerei«, sagte er. »Sie leben davon.« Er brach ab, blickte zum Lager. »Ah, gut. Sie haben uns welche von ihren zahmen Tamashek geschickt.«

Gresham zog sich in das Kuppelzelt zurück und bedeutete Laura, ihm zu folgen. Draußen traf ein halbes Dutzend Lagerinsassen ein. Sie näherten sich zögernd.

Es waren alte Männer. Sie trugen Polohemden und groteske Sportmützen aus Papier, chinesische Gummisandalen und zerlumpte Polyesterhosen.

Die Inadin-Tuaregs begrüßten sie mit ritueller Höflichkeit. Gresham dolmetschte für Laura. Herr ist gesund? Ja, recht gesund, gottlob, und Sie? Ich und die meinen sind sehr zufrieden, danke, und die Familie des Herrn, ist sie auch gesund? Ja, recht gesund. Dann Gott sei Dank. Ja, Dank sei Gott, Herr.

Einer der Inadin hob den Teekessel und begann mit einem langen, zeremoniellen Tröpfeln aus der Höhe Tee einzuschenken. Alle tranken Tee. Sie kochten eine neue Portion und schütteten groben Zucker in den Kessel, der bereits zur Hälfte mit Pfefferminzblättern gefüllt war. Sie sprachen eine Weile über den Tee, saßen höflich beisammen und wedelten sich ohne Nervosität die zudringlichen Fliegen aus den Gesichtern. Allmählich ließ die heftigste Tageshitze nach.

Gresham dolmetschte für Laura, seltsame Redewendungen feierlicher Plattitüden. Sie blieben im Hintergrund des Zeltes, außerhalb des Kreises. Die Zeit verging langsam, aber sie war zufrieden, neben ihm zu sitzen und ihre Gedanken schweifen zu lassen.

Dann brachte einer der Inadin eine Flöte zum Vorschein, und ein zweiter schaffte ein kompliziertes Schlaginstrument aus Holz und Flaschenkürbissen herbei, die mit Lederriemen zusammengebunden waren. Er klopfte darauf herum, zog Schnüre fest, und ein dritter zog an einer Lederschnur einen Taschensynthesizer hervor.

Der Mann mit der Flöte zog den Schleier vom Mund; sein hellhäutiges Berbergesicht war vom schweißdurchnäßten Indigo des Stoffes bläulich verfärbt. Er blies einen schnellen Triller auf der Flöte, und es ging los. Der Rhythmus bestand aus hohen, durchdringenden Tönen des wie ein Xylophon bedienten Schlaginstruments. Die Flöte wurde in der Tradition der arabischen Musik gespielt, und alles war unterlegt mit den unheimlichen, seltsam urtümlich klingenden Baßtönen des Synthesizers.

Die anderen unterstützten die Musikanten mit Händeklatschen und jähen, durchdringenden Schreien hinter den Schleiern. Dann begann einer zu singen.

»Er besingt seinen Synthesizer«, murmelte Gresham.

»Was singt er?«

 

Demütig bete ich an den Allerhöchsten,

Der dem Klangerzeuger eine Seele gegeben hat,

So daß die Männer schweigen, wenn er spielt,

Und die Hände über die Schleier legen,

Gefühle zu verbergen.

Die Sorgen des Lebens stießen mich ins Grab,

Doch mit dem Klangerzeuger

Hat Allah mir das Leben zurückgegeben.

 

Die Musik endete. Die Besucher aus dem Flüchtlingslager applaudierten ein wenig, dann rüsteten sie zum Aufbruch. Gresham blickte auf seine Uhr, stand auf und nahm die Videokamera an sich. »Das war nur ein Vorgeschmack«, sagte er zu Laura. »Später wird es weitergehen, und die Leute aus dem Lager werden ihre Familien mitbringen, hoffe ich…«

»Dann laß uns das Interview machen.«

Er zögerte. »Bist du sicher, daß du der Sache gewachsen bist?«

Sie nickte, folgte ihm zu einem anderen Zelt. Es wurde bewacht von zwei Inadin und enthielt ihr Gepäck. Am Boden lagen Teppiche und eine Batterie, ein Ersatzgerät von einem der Geländewagen. An diese angeschlossen, stand ein transportables kleines Bildschirmgerät, ein gewöhnlicher PC, aber mit einer niedrigen Konsoleneinfassung aus handgeschnitztem rotem Holz.

Gresham setzte sich im Schneidersitz davor. »Ich hasse dieses verdammte Gerät«, und fuhr mit der Hand über die elegante Linienführung; es sah eher zärtlich als haßerfüllt aus. Er schloß die Videokamera an das Eingabegerät an.

»Wo ist das Make-up?«

Er gab es ihr. Laura klappte den Handspiegel aus. Sie war so abgehärmt und dünn, wie ein Fall von Magersucht. Egal. Jemand würde dafür bezahlen. Sie steckte die Fingerspitzen in den Puder, trug ihn auf ihre hohlen Wangen auf.

Sie legte Rouge auf. »Gresham, wir müssen überlegen, wie wir die Südafrikaner zur Zusammenarbeit bewegen können. Sie sind altmodisch, eigen, wenn es um Informationen geht. Sie wollten mich nicht an ihren verdammten Fernschreiber heranlassen, und alles soll nur über Pretoria geleitet werden.«

»Wir brauchen sie nicht«, sagte er.

»Gewiß brauchen wir sie, wenn wir das Netz erreichen wollen! Und sie werden zuerst die Aufzeichnung sehen wollen und dabei alles erfahren.«

Er schüttelte den Kopf. »Laura, sieh dich um!«

Sie ließ den Spiegel sinken und tat ihm den Gefallen. Sie waren in einem Kuppelzelt. Stoff in Wüstentarnfarben über Metallrippen und Drahtgeflecht.

»Du sitzt unter einer Satellitenantenne«, sagte er.

Sie war verblüfft. »Du hast Zugang zu Nachrichtensatelliten?«

»Wie soll ich sonst mitten in der Sahara das Netz erreichen? Die Abdeckung ist lückenhaft, aber während der richtigen Überflugzeiten können wir eine Aufzeichnung überspielen.«

»Wie kannst du das tun? Woher kommt das Geld?« Ein schrecklicher Gedanke schoß ihr durch den Sinn. »Gresham, bist du ein Datenpirat?«

»Nein. Aber ich hatte mit ihnen zu tun. Die ganze Zeit.« Er schwieg für einen Augenblick. »Vielleicht sollte ich jetzt ernstlich damit anfangen. Die Konkurrenz ist ausgeschaltet, und ich könnte die Einnahmen gebrauchen.«

»Tu's nicht! Denk nicht einmal daran.«

»Du mußt dich in diesem Geschäft ziemlich gut auskennen. Könntest meine Beraterin sein.« Der Scherz fand keinerlei Anklang. Er schaute sie nachdenklich an. »Du würdest dich wie eine Harpyie auf mich stürzen, was? Du und deine Freunde von Rizome und den anderen Multis. Die das große Geschäft unter sich abmachen wollen.«

Sie sagte nichts.

»Im Augenblick spielt es kaum eine Rolle«, meinte er einlenkend. »Ich würde diese Aufzeichnung nicht über ein Piratennest an die Öffentlichkeit bringen.«

»Wie meinst du das? Wo würdest du sie hinschicken?«

»Nach Wien, natürlich. Die sollen sehen, daß ich Bescheid weiß - daß ich sie an den Pranger stellen kann. FAKT hat die Bombe und hat Wien erpreßt. Also hat Wien ein Abkommen mit ihr getroffen - gab den Nuklearterroristen Rückendeckung, während sie in Wiens mittelbarem Auftrag die Piratennester heimsuchten. Eine bedenkliche Strategie, die gescheitert ist. Um mich zum Schweigen zu bringen, könnten sie versuchen, mich zu jagen und umzubringen, aber ich habe Übung darin, solchen Gefahren auszuweichen. Mit etwas Glück könnten sie mich statt dessen kaufen. Und mich dann in Ruhe lassen - wie sie Mali in Ruhe gelassen haben.«

»Das ist nicht genug! Alle müssen davon erfahren. Die ganze Welt.«

Gresham schüttelte den Kopf. »Ich denke, wir könnten Wien überzeugen, wenn wir es richtig anfangen. Es macht denen nichts aus, Leute zu kaufen, wenn sie müssen. Sie werden für unser Stillschweigen bezahlen. Mehr als du denkst.«

Sie hielt sich den Spiegel vors Gesicht. »Tut mir leid, Gresham. Mir liegt einfach nichts an Wien oder seinem Geld. Das ist nicht meine Art. Mir liegt an der Welt, in der ich leben muß.«

»Ich lebe nicht in deiner Welt«, erwiderte er. »Das mag kraß klingen, aber ich kann dir soviel sagen: Wenn du zurückkehren willst und sein, die du bist, und dein angenehmes Leben unter deinesgleichen in der Welt der Multis und Datennetze führen, dann solltest du lieber nicht versuchen, allzu vielen Leuten auf die Schlipse zu treten. Vielleicht könnte ich solch eine Kraftprobe überleben, hier draußen in der Wüste, wo ich mich auskenne, aber ich glaube nicht, daß du es könntest. Die Welt pfeift darauf, wie edel deine Motive sind - sie rollt über dich hinweg. So liegen die Dinge. Du kannst mit den Leuten reden, da und dort Druck ausüben, aber du kannst es nicht mit der Welt aufnehmen.«

Sie betrachtete ihr Haar im Spiegel. Eine wilde Mähne. Sie hatte es unter der Dusche gewaschen, und die trockene Hitze hatte es spröde gemacht. Es stand ihr wie eine Explosion um den Kopf.

Er ließ nicht locker. »Es hat keinen Sinn, auch nur den Versuch zu machen. Das Netz wird diese Aufzeichnung niemals senden, Laura. Nachrichtendienste bringen grundsätzlich keine Aufzeichnungen von Terroristengeiseln. Bis auf Wien, wo man weiß, daß es wahr ist, werden alle es für phantastischen Unsinn halten, werden glauben, daß du unter Nötigung sprichst, oder in einem Zustand nervöser Überreiztheit, oder daß die ganze Geschichte ein Schwindel ist.«

»Du hast eine Aufzeichnung von diesem atomaren Testgelände, nicht?« sagte sie. »Du könntest das Material an meine Erklärung anhängen. Dann wollen wir sehen, wie sie es leugnen!«

»Das werde ich natürlich machen - aber sie könnten es auch so leugnen.«

»Du hast meine Geschichte gehört«, sagte sie. »Ich überzeugte dich, nicht wahr? Es ist so geschehen, Gresham. Es ist die Wahrheit.«

»Ich weiß, daß es die Wahrheit ist.« Er gab ihr eine lederne Feldflasche.

»Ich kann es schaffen«, sagte sie ihm. »Ich kann es mit der Welt aufnehmen. Nicht bloß mit irgendeiner kleinen Ecke, sondern mit der ganzen gewaltigen Masse. Ich weiß, daß ich es kann. Ich bin gut darin.«

»Wien wird es unterdrücken.«

»Wien wird es nicht unterdrücken können.« Sie preßte einen Strahl lauwarmen Wassers aus dem Lederbeutel in den Mund und stieß das Make-up-Etui aus dem Aufnahmewinkel der Kamera. Sie verschloß die Feldflasche und legte sie neben ihr Knie.

»Es ist zu groß, als daß ich es noch zurückhalten könnte«, sagte sie. »Ich muß es erzählen. Jetzt. Das ist alles, was ich weiß.« Beim Anblick des Objektivs stieg etwas in ihr auf, adrenalinwild und stark. Elektrisch. All die Angst, die Befürchtungen und Schmerzen, zusammengepreßt in einen eisernen Rahmen. »Fang an, Gresham! Ich bin bereit. Los!«

»Du bist auf Sendung.«

Sie blickte in das Glasauge der Welt. »Mein Name ist Laura Day Webster. Ich werde mit den Ereignissen anfangen, die ich an Bord der Ali Khamenei vor Singapur erlebt habe…«

Sie wurde reines Glas, ein Supraleiter. Kein Manuskript, keine Textvorlage, sie sprach ganz frei, aber es kam überzeugend und stark heraus. Sie fühlte sich davongetragen. Die Wahrheit brach sich durch ihren Mund Bahn.

Gresham unterbrach sie mit Fragen. Er hatte eine Liste vorbereitet. Alle waren präzise und auch zur Sache gehörig. Sie waren wie Stiche, die schmerzen sollten, aber sie brachen nur dem Strom der Worte Bahn. Sie erreichten eine Ebene, die sie nie zuvor berührt hatte, eine Ekstase, reine fließende Kunst. Besessenheit.

Diesen Schliff konnte sie nicht aufrechterhalten. Es war zeitlos, solange sie davon besessen war, aber dann fühlte sie es entgleiten. Sie war heiser und begann sich zu versprechen. Die Konzentration ließ nach, Leidenschaft glitt in Geplapper ab.

»Das war's«, sagte er endlich.

»Wie war die Frage?«

»Ich habe keine mehr. Das war's. Das Interview ist beendet.«

Er schaltete die Kamera aus.

Sie seufzte, wischte die verschwitzten Handflächen an ihrer Djellabah. Sie war in Schweiß gebadet. »Wie lang war es?«

»Neunzig Minuten. Ich glaube, ich kann es auf eine Stunde zusammenschneiden.«

Neunzig Minuten. Ihr kam es wie zehn vor. »Wie war ich?«

»Erstaunlich.« Er war respektvoll. »Diese Sache, als sie das Lager angriffen - das war etwas, das niemand so leicht fälschen könnte.«

»Was?«

»Na, als vorhin die Jagdbomber kamen.« Er starrte sie an. »Düsenmaschinen aus Mali haben gerade das Lager angegriffen.«

»Ich habe nichts davon gehört.«

»Also, du blicktest auf, Laura. Und du wartetest. Und dann sprachst du weiter.«

»Der Dämon hatte mich«, sagte sie. »Ich weiß nicht einmal, was ich sagte.« Sie berührte ihre Wange, und Wimperntusche blieb an ihren Fingerspitzen. Natürlich - sie hatte geweint. »Mein Make-up ist völlig verschmiert! Und du hast es zugelassen.«

»Cinema verite«, sagte er. »Es ist Wirklichkeit. Rauhe Wirklichkeit. Wie eine abgezogene Handgranate.«

»Dann wirf sie!« sagte sie. Erleichterung überkam sie, und sie ließ sich zurückfallen, wo sie saß. Ihr Kopf schlug auf einen verborgenen Stein unter dem Teppich, aber der dumpfe Schmerz schien ein zentraler Teil der Erfahrung zu sein.

»Ich wußte nicht, daß es so sein würde«, sagte er. In seiner Stimme klang echte Besorgnis an. Es war, als wäre ihm zum erstenmal klar geworden, daß er etwas zu verlieren hatte. »Es könnte tatsächlich passieren - es könnte ins Netz gehen. Die Leute könnten es wirklich glauben.« Er rückte unruhig auf seinem Platz. »Ich muß zuerst die möglichen Weiterungen bedenken. Was soll werden, wenn Wien fällt? Einerseits wäre das ganz in meinem Sinne, aber die Signatarstaaten könnten sich leicht auf eine Reform des bestehenden Systems einigen und es diesmal mit größeren Zähnen versehen. In diesem Fall hätte ich mir selbst und allem, was ich hier zu schaffen versuchte, einen Bärendienst erwiesen. So etwas kann passieren, wenn man eine abgezogene Handgranate wirft.«

»Es muß an die Öffentlichkeit«, sagte sie leidenschaftlich. »Es wird an die Öffentlichkeit kommen, eines Tages. Die FAKT weiß Bescheid, Wien weiß Bescheid, vielleicht sogar einige Regierungen… Ein Geheimnis von dieser Größenordnung muß früher oder später herauskommen. Es ist nicht nur unser Zutun. Wir sind zufällig die Leute vor Ort.«

»Diese Überlegung gefällt mir, Laura. Sie wird sich gut anhören, wenn sie uns fangen.«

»Das ist unwichtig. Überhaupt können sie uns nichts anhaben, wenn alle die Wahrheit erfahren! Komm schon, Gresham! Du hast die Satellitenverbindung, denk dir etwas aus, wie du die Aufzeichnung durchbringen kannst, verdammt noch mal!«

Er seufzte. »Das habe ich bereits getan«, sagte er, stand auf und ging an ihr vorbei zum Ausgang, eine Kabelrolle hinter sich abspulend. Sie erhob sich auf einen Ellbogen und blickte zur dreieckigen Türklappe hinaus ihm nach. Es war Spätnachmittag, und die Tuaregs warfen zwei ihrer Kuppelzelte auf den Rücken. Gähnende Teetassenmäuler öffneten sich zum trockenen Wüstenhimmel hin.

Gresham kam zurück. Er blickte auf sie herab, wie sie auf dem Teppich lag. »Fehlt dir was?«

»Ich bin ausgehöhlt. Ausgeweidet. Losgesprochen.«

»Ja«, sagte er. »So hast du geredet, die ganze Zeit.« Er setzte sich mit untergeschlagenen Beinen vor seine Konsole und tippte sorgsam mit zwei Fingern.

Minuten vergingen.

Eine Frauenstimme drang plötzlich aus der Konsole.

»Achtung Nordafrika, Sender auf achtzehn Grad, zehn Minuten, fünfzehn Sekunden Breite, fünf Grad, zehn Minuten, achtzehn Sekunden Länge. Sie senden auf einer Frequenz, die nach der Internationalen Konvention für das Kommunikationswesen militärischem Gebrauch vorbehalten ist. Sie sind angewiesen, die Sendung augenblicklich einzustellen.«

Gresham räusperte sich. »Ist Wassilij da?«

»Wassilij?«

»Ja. Da.«

»Da, richtig. Augenblick, bitte.«

Kurz darauf meldete sich eine Männerstimme. Sein Englisch war nicht so gut wie das der Frau. »Ist Jonathan, richtig?«

»Ja. Wie geht's?«

»Sehr gut, Jonathan! Du bekommst die Aufzeichnungen ich schickte?«

»Ja, Wassilij, danke, spassivo, du bist sehr großzügig. Wie immer. Diesmal habe ich etwas ganz Besonderes für dich.«

»Etwas ganz Besonderes, Jonathan?« Die Stimme klang vorsichtig.

»Wassilij, dies ist eine Aufzeichnung von unschätzbarem Wert. Anderswo nicht erhältlich.«

Unglückliches Schweigen. »Ich muß fragen, kann es warten auf unseren nächsten Überflug? Wir haben hier kleines technisches Problem.«

»Ich glaube wirklich, du solltest dieser Sache sofort deine Aufmerksamkeit schenken, Wassilij.«

»Gut. Ich schalte ein Zerhacker.« Eine Pause trat ein. »Bereit für Empfang.«

Gresham gab über die Konsole die erforderlichen Signale ein. Ein hohes Schnurren. Er wandte sich zu Laura. »Das wird eine Weile dauern. Der Zerhacker da oben ist ein bißchen langsam.«

»Das war die russische Raumstation?«

»Ja.« Gresham rieb sich die Hände.

»Du hast unsere Aufzeichnung einem Kosmonauten gesendet?«

Er nickte, stützte die Ellbogen auf die Knie. »Ich will dir sagen, was meines Erachtens geschehen könnte. Sie werden sich die Aufzeichnung da oben ansehen. Sie werden sie für verrückt halten - zuerst. Aber dann könnten sie es glauben. Und wenn sie es glauben, werden sie es nicht zurückhalten können. Die Konsequenzen wären einfach zu extrem. Also werden sie die Aufzeichnung an Moskau weitergeben. Und die Bodenkontrollstation wird die Aufzeichnung anschauen, und die Verantwortlichen für das Nachrichtenwesen. Und sie werden die Aufzeichnung kopieren. Nicht, weil sie glauben, es sollte viele Kopien geben, sondern weil sie des Studiums bedarf. Und sie werden die Kopien herumschicken. Zuerst natürlich nach Wien, weil sie dort ihre Leute haben. Aber auch zu den anderen befreundeten Regierungen, für alle Fälle…«

Er gähnte in seine Hand. »Und dann werden die Leute in der Station merken, daß sie den Publizitätsknüller des Jahrhunderts haben. Und wenn jemand bereit ist, damit Schindluder zu treiben, dann sind sie es. Ich kenne viele Leute, hier und dort, aber die sind die verrücktesten Teufel, die ich kenne! Ich möchte wetten, daß sie anfangen, die Aufzeichnung direkt auszustrahlen, wenn sie die Erlaubnis von ihren Oberen bekommen. Oder vielleicht sogar ohne Erlaubnis.«

»Ich verstehe nicht. Direktsendung? Das hört sich einfach verrückt an.«

»Du weißt nicht, wie es da oben ist! Doch, du solltest es wissen - du hast in einem U-Boot gelebt. Aber die müssen ein ganzes Jahr da oben aushalten, am Rand der Unendlichkeit, und kein Mensch kümmert sich um sie. Hast du nicht herausgehört, wie mitleiderregend Wassilij war? Wie ein greisenhafter Funkamateur, der sich im Keller eingeschlossen hat.«

»Aber sie sind Kosmonauten, hochqualifizierte, hervorragend ausgebildete Leute, die wissenschaftliche Arbeit zu leisten haben. Biologie. Astronomie…«

»Ja. Wird ihnen großen Ruhm einbringen. Junge, Junge.« Gresham schüttelte den Kopf. »Ich gebe der Sache höchstens drei Tage.«

»Gut, und was dann? Wenn es nicht klappt?«

»Dann rufe ich sie wieder an. Drohe damit, daß ich die Aufzeichnung jemand anders gebe. Es gibt auch andere Kontakte… Und wir haben noch immer die Originalaufzeichnung. Wir versuchen einfach weiter, das ist alles, bis wir durchkommen. Oder bis Wien uns mundtot macht. Oder bis die FAKT an einer Stadt demonstrativ ein Exempel statuiert und die Nachricht für alle Welt offensichtlich macht. Damit werden wir rechnen müssen, nicht?«

»Mein Gott! Was wir getan haben, könnte… könnte weltweite Panik hervorrufen!«

»Ja, ich bin überzeugt, daß man sich dies auch in Wien gesagt hatte, während man auf der Wahrheit saß. Jahrelang. Und die Dinge vertuschte und die Leute schützte, die sich als Kämpfer gegen den Terrorismus ausgaben.«

»Richtig! Die mein Haus beschossen!«

Er lächelte. »Es war eines ihrer geringsten Verbrechen, würde ich sagen. Aber ich dachte mir, daß du wieder davon anfangen würdest.«

»Wien ließ sie gewähren«, sagte Laura. »Dort wußte man recht gut, wer Stubbs tötete, aber man kam in mein Haus und belog mich. Weil man Schlimmeres befürchtete.«

»Allerdings. Denk nur an die politischen Konsequenzen. Die Wiener Konvention existiert, um die Weltordnung gegen terroristische Aktivitäten zu schützen, tatsächlich aber haben sie sich seit Jahren mit den Terroristen arrangiert. Das wird sie teuer zu stehen kommen, die Heuchler.«

»Aber wenn sie anfangen, Städte zu bombardieren? Millionen könnten sterben.«

»Millionen? Es hängt davon ab, wie viele Sprengköpfe sie haben. Sie sind keine Supermacht. Fünf Sprengköpfe? Zehn? Wie viele Startanlagen gab es in dem U-Boot?«

»Aber sie könnten es wirklich tun! Sie könnten ganze Städte unschuldiger Menschen auslöschen… aus keinem vernünftigen Grund! Nur um ihre Macht zu demonstrieren…« Ihre Stimme versagte.

»Laura, ich bin älter als du. Ich kenne diese Situation. Ich erinnere mich lebhaft an sie.« Er lächelte. »Ich will dir sagen, wie es ging. Wir warteten einfach ab und lebten weiter, das ist alles. Es passierte nicht - vielleicht wird es nie passieren. Im übrigen müßtest du dir dieses Risikos bewußt gewesen sein, als du den Entschluß faßtest, dich mit deiner Anklage an die Öffentlichkeit zu wenden. Was soll es dir nützen, hinterher darüber zu lamentieren?« Er stand auf. »Wir sind hier fertig. Komm mit, ich möchte dir Verschiedenes zeigen!«

Sie folgte ihm unwillig, fühlte sich elend, verschreckt. Wie er so beiläufig davon reden konnte - zehn Sprengköpfe! Aber für ihn war es nebensächlich, nicht wahr? Er hatte in einer Zeit gelebt, in der es Tausende von atomaren Sprengköpfen gegeben hatte, genug, um alles Leben auf Erden auszulöschen.

Verantwortlich für den Tod ungezählter Unschuldiger. Es erfüllte sie mit Abscheu. Ihre Gedanken rasten, und plötzlich verspürte sie ein Verlangen, in die Wüste zu fliehen, zu verdampfen. Sie wollte nie mehr in der Nähe von irgendwem sein, der jemals mit solchen Waffen zu tun gehabt hatte, der im Schatten dieses Schreckens stand.

Aber sie waren überall, die Leute, die mit Atomwaffen Politik gemacht hatten: Präsidenten, Premierminister, Generäle… kleine alte Männer, die in Parks auf Bänken saßen und Enkelkinder hatten und Mitglieder in exklusiven Golfclubs waren. Sie hatte sie gesehen, unter ihnen gelebt…

Sie war eine von ihnen.

Ihr Verstand erstarrte.

Gresham sah, daß sie stehengeblieben war, nahm ihren Ellbogen. »Da!«

Es war Abend geworden. Eine abgerissene Menge von ungefähr hundert Personen hatte sich vor den Kuppelzelten versammelt. Eines davon war halb zusammengeschoben worden, um als Hintergrund für die Musiker zu dienen, die wieder spielten. Ein weiterer Inadin stand zwischen ihnen und der Menge, wiegte sich im Rhythmus und sang. Sein Gesang war geprägt vom winselnden Auf und Ab arabischer Balladen und schien sich wie diese endlos hinzuziehen. Die anderen Inadin wiegten sich im selben Rhythmus mit ihm und stießen bisweilen zustimmende Rufe aus. Die Zuhörer verfolgten die Darbietung mit offenem Mund.

»Was sagt er?«

Gresham dolmetschte mit gedämpfter Stimme. Er rezitierte Dichtung.

 

Höre, du Volk der Kel Tamashek,

Wir sind die Inadin, die Grobschmiede.

Wir sind die Wanderer zwischen den Stämmen,

Stets haben wir eure Botschaften überbracht.

Das Leben unserer Väter war besser als das unsere,

Das der Großväter wiederum besser.

Einst wanderte unser Volk überall,

Von Kano bis Zanfara, Agades.

Heute leben wir in den Städten,

Sind Nummern und Buchstaben geworden,

Wir leben in Lagern und essen magische Nahrung aus Röhren.

 

Gresham brach ab. »Ihr Wort für Magie ist tisma. Es bedeutet ›die geheime Kunst der Schmiede‹«.

»Weiter«, sagte sie.

 

Süße Milch und Datteln hatten die Väter,

Wir haben nur Nesseln und Dornen.

Warum leiden wir so?

Ist es das Ende der Welt?

Nein, denn wir sind nicht böse Menschen,

Nein, denn wir haben tisma.

Wir sind Schmiede, Hüter geheimer Magie,

Wir sind Schmiede, sehen Vergangenheit und Zukunft.

Dies war ein reiches grünes Land in alter Zeit,

Jetzt ist es Stein und Staub.

 

Der Sänger setzte sich. Zwei seiner Gefährten standen auf und begannen zu tanzen. Sie schwenkten und drehten die ausgestreckten Arme, und ihre in Sandalen steckenden Füße stampften den Staub. Es war ein langsamer Tanz von melancholischer Eleganz. Als er endete, stand der Sänger wieder auf. »Jetzt kommt der bessere Teil«, sagte Gresham.

 

Wo aber Staub ist, kann Gras sein,

Können Baum und Strauch wiederkehren.

Wo sie sind, kommt der Regen,

Die Halme und Blätter zähmen den Sandsturm.

Doch wir waren die Feinde des Grases, der Bäume und Sträucher,

Darum leiden wir.

Was unsere Rinder nicht fraßen, das fraßen die Schafe.

Was die Schafe ließen, verzehrten die Ziegen.

Nun müssen wir Freunde des Grases sein, der Bäume und Sträucher,

Wir müssen Verzeihung erbitten,

Mit Freundlichkeit sie behandeln.

Ihre Feinde sind unsere Feinde.

Wir müssen die Kuh, das Schaf und die Ziege töten.

Tausend Jahre liebten wir unsere Herden,

Tausend Jahre müssen wir nun die Pflanzen ehren.

Wir werden die tisma-Nahrung essen, um zu leben,

Wir werden eiserne Kamele von GoMotion kaufen…

 

Gresham verschränkte die Arme. Der Sänger fuhr in seiner Ballade fort. »Es gibt noch viel mehr«, sagte Gresham, »aber das ist das Wesentliche davon.«

Die Frage lag auf der Hand. »Hast du den Text für sie geschrieben?«

»Nein«, sagte er stolz. »Es ist eine alte Ballade; aktualisiert und ergänzt.«

»Ja.«

»Vielleicht schließen sich ein paar Leute aus dieser Menge uns an. Andere werden bleiben. Das Leben in der Wüste ist hart.« Er sah sie an. »Morgen früh bin ich fort.«

»Morgen? So bald?«

»Es muß so sein.«

Die Grausamkeit schmerzte sie. Nicht seine Grausamkeit, sondern die Grausamkeit der Notwendigkeit. Sie begriff sofort, daß sie ihn niemals wiedersehen würde. Sie fühlte sich verletzt, erleichtert, in Panik.

»Nun, du hast es getan«, sagte sie, Heiserkeit in der Stimme. »Du hast mich gerettet und meiner Freundin das Leben gerettet.« Sie wollte ihn umarmen.

Er wich zurück. »Nein, nicht hier draußen - nicht vor ihnen.« Er nahm sie beim Arm. »Gehen wir hinein!«

Er führte sie zurück zu seinem Kuppelzelt. Die Wachen patrouillierten noch immer um die Zelte. Gegen Diebe, vermutete Laura. Sie befürchteten Übergriffe von Dieben und Plünderern aus dem Lager. Und wahrscheinlich hatten sie Bettler fernzuhalten. Es kam ihr so mitleiderregend vor, daß sie zu weinen begann.

Gresham schaltete den Datenanschluß ein. Das bernsteingelbe Licht des Bildschirms erfüllte das Zelt. Er kehrte zurück zum Zelteingang, sprach zu einem der Wächter, der mit scharfer, hoher Stimme etwas erwiderte und lachte. Gresham schloß die Tür und hakte sie zu.

Er sah ihre Tränen. »Was hat das zu bedeuten?«

»Du, ich. Die Welt. Alles.« Sie wischte sich die Wange am Ärmel. »Diese Lagerbewohner haben nichts. Und obwohl ihr versucht, ihnen zu helfen, würden sie euch all dieses Zeug stehlen, wenn sie könnten.«

»Ach«, sagte Gresham leichthin, »das nennen wir kulturelle Pfuscher die ›unvermeidliche Ebene der Korruption‹.«

»Du brauchst nicht so zu mir zu reden. Nun, da ich verstehe, was ihr euch vorgenommen habt.«

»Gott, ja«, sagte Gresham mit hilfloser Miene. Er ging zur anderen Seite des Kuppelzeltes und sammelte einen Armvoll Jutesäcke auf. Er schleppte sie vor den Datenanschluß und breitete sie als Kissen am Boden aus. »Komm her, setz dich zu mir.«

Sie tat es. Die Säcke hatten einen angenehmen, schwach duftenden Geruch. Sie waren mit Grassamen gefüllt; und Laura bemerkte, daß einige bereits halb leer waren. Während ihrer Flucht hatte er das Gras in die Trockenbetten der Wasserläufe gesät.

»Bilde dir nur nicht ein, ich sei dir allzusehr ähnlich«, sagte er. »Aufrichtig und liebenswürdig und allen das Beste wünschend - vorausgesetzt, sie unterstützen eure Politik… Ich billige dir gute Absichten zu, aber Absichten zählen nicht viel. Korruption - das ist es, was zählt.«

Er meinte es ernst. Sie saßen nebeneinander, aber etwas nagte an ihm, und er wollte sie nicht ansehen. »Was du gerade sagtest - es leuchtet mir nicht ein.«

»Ich war mal in Miami«, sagte er. »Vor langer Zeit. Der Himmel war rosa! Ich sagte zu einem Einheimischen: Sieht so aus, als hättet ihr hier Probleme mit der Luftverschmutzung. Er sagte mir, der Himmel sei voll von Afrika. Und es war richtig! Es war der Harmattan, die Sandstürme. Bodenkrume aus der Sahara und dem Sahel, bis über den Atlantik verweht. Und ich sagte mir: Dort gehörst du hin.«

Er sah ihr in die Augen. »Weißt du, wann es hier wirklich schlimm wurde? Als sie zu helfen versuchten. Mit Medizin. Und Bewässerung. Sie bohrten Tiefbrunnen, aus denen Trinkwasser floß, und natürlich zog das die Nomaden mit ihren Herden an. Statt weiterzuziehen und dem Weidegebiet Gelegenheit zu geben, sich zu erholen, blieben die Nomaden, bis die Herden alles bis zum nackten Boden abgeweidet hatten, im Umkreis von vielen Kilometern um jeden Brunnen. Und die acht, neun Kinder, die afrikanische Frauen von jeher zur Welt brachten, überlebten alle, weil Entwicklungshelfer und Ärzte sich mit Schutzimpfungen und medizinischer Versorgung um sie kümmerten. Es war also ganz und gar nicht so, daß die Außenwelt gleichgültig gewesen wäre. Sie bemühte sich seit Generationen, selbstlos und edel. Aber sie dachten nur an die Menschen, die hier lebten, und was ihnen kurzfristig nützen würde. Daß sie damit die Natur und mit ihr die Lebensgrundlagen zerstörten, begriffen sie nicht. Und so erzeugten sie mit ihrer blauäugigen gutgemeinten Humanität die eigentliche Katastrophe.«

»Das ist mir zu kompliziert, Gresham. Es ist pervers!«

»Du bist mir dankbar, weil du denkst, ich hätte dich gerettet. Von wegen. Wir taten unser möglichstes, alle in diesem Konvoi zu töten. Wir beharkten den Lastwagen dreimal mit Maschinengewehrfeuer. Ich weiß nicht, wie, zum Teufel, du unverletzt überleben konntest.«

»›Die Wechselfälle des Krieges…‹«

»Ich liebe Krieg, Laura. Ich genieße ihn, wie die FAKT. Ihnen macht es Spaß, ihre Feinde mit Robotern zu vernichten. Bei mir kommt es mehr aus dem Bauch. Irgendwo in meinem Innern suchte ich den Kampf, das Chaos des Krieges, der der Vater aller Dinge ist, und dies kommt dem so nahe wie überhaupt möglich. Wo die Erde verbrannt ist und die Übel der Welt sich zuspitzen.«

Er beugte sich näher. »Aber das ist noch nicht alles. Ich bin nicht unschuldig genug, um das Chaos sich selbst zu überlassen. Ich bin vom Netz infiziert, Laura. Von Macht und Planung und Daten, und von der westlichen Methode und der absoluten Unfähigkeit, etwas sich selbst zu überlassen. Auch wenn es meine eigene Freiheit zerstört. Das Netz hat Afrika einmal verloren, weil es keine Gewinne versprach, aber eines Tages wird es den Kontinent wieder bekommen. Grün und angenehm und kontrolliert, und genauso wie anderswo.«

»Also gewinne ich, und du verlierst - ist es das, was du mir sagen willst? Daß wir Feinde sind? Vielleicht sind wir Feinde, in einer abstrakten Weise, aber als Menschen sind wir Freunde, nicht? Und ich würde dir niemals weh tun, wenn ich es verhindern könnte.«

»Du kannst es nicht verhindern. Du tatest mir schon weh, bevor ich von deiner Existenz wußte.« Er lehnte sich zurück. »Vielleicht sind meine Abstraktionen nicht mit deinen identisch, also will ich dir welche von einer Art geben, die dir vertraut ist. Wie, meinst du, habe ich dies alles finanziert? Grenada. Sie waren meine größten Helfer. Winston Stubbs… das war ein Mann mit Weitblick. Wir waren uns nicht immer einig, aber wir waren Verbündete. Es schmerzte sehr, ihn zu verlieren.«

Sie war schockiert. »Ich erinnere mich… Sie sagten, er hätte Terroristengruppen mit Geld unterstützt.«

»Ich bin nicht wählerisch gewesen. Ich kann es mir nicht leisten - dieses Projekt von mir liegt ganz auf der Ebene des Netzes: Geld und noch mal Geld, und die Korruption des Geldes ist in seinen Herzen. Die Tuaregs haben nichts zu verkaufen, sie sind Wüstennomaden, mittellos. Sie haben nichts, was das Netz will, also muß ich betteln gehen und Geld zusammenkratzen. Ein paar reiche Araber, beseelt von nostalgischen Gefühlen für das alte Leben in der Wüste, während sie in ihren klimatisierten Limousinen herumfahren… Waffenhändler, von denen nicht viele übrig sind… ich nahm sogar Geld von der FAKT, damals in den alten Tagen, bevor die Gräfin der Sache ein Ende machte.«

»Katje erzählte mir davon! Daß die FAKT von einer Frau geleitet wird. Die Gräfin! Ist es wahr?«

Er war überrascht, abgelenkt. »Sie ›leitet‹ die FAKT nicht, und sie ist auch nicht wirklich eine Gräfin, das ist bloß ihr nom de guerre... Aber, ja, ich kannte sie, in den alten Tagen. Ich kannte sie recht gut, als wir jünger waren. So gut, wie ich dich kenne.«

»Ihr wart Liebende?«

Er lächelte. »Sind wir Liebende, Laura?«

Eine Stille trat ein, unterbrochen nur von den fernen Rufen der Tuaregs. Sie sah ihm in die Augen.

»Ich rede zuviel«, sagte er bekümmert. »Ein Theoretiker.«

Sie stand auf und zog sich das Gewand über den Kopf, warf es vor ihre Füße. Dann setzte sie sich nackt neben ihn ins Licht des Bildschirms.

Er blieb still. Ungeschickt zog sie an seinem Hemd, strich mit der Hand über seine Brust. Er öffnete sein Gewand und legte sich auf sie.

Zum ersten Mal wurde sie sich mit einer tiefen inneren Vitalität bewußt, daß sie wieder lebte. Als ob ihre Seele wie ein gefesselter Arm eingeschlafen wäre und erst jetzt wieder vom Blut durchströmt würde. Einem Sturzbach von Gefühlen.

Ein Augenblick verging mit dem gedämpften Geräusch des empfängnisverhütenden Gummis. Dann war er in ihr. Sie umschlang ihn mit Armen und Beinen, entbrannt. Fleisch und Muskeln bewegten sich in der Dunkelheit, der Geruch von Schweiß und seiner Haut war in ihrer Nase. Sie schloß die Augen, überwältigt.

Er hielt für einen Moment inne. Sie öffnete die Augen. Er sah sie an, sein Gesicht schien im Widerschein des Bildschirms zu leuchten. Dann streckte er einen Arm aus und drückte Tasten der Dateneingabe.

Der Computer suchte die Kanäle ab. Licht blitzte über ihnen auf, als der Bildschirm ein über Satellit empfangenes Fernsehprogramm ins Zelt brachte. Unfähig, sich zu beherrschen, wandte sie den Kopf, um hinzusehen.

Straßenbild/Straßenbild/Bäume/eine Frau/Marken-zeichen/arabische Schrift/Bilder/Bilder/Bilder…

Sie bewegten sich im gleichen Rhythmus zum Fernsehbild, die Blicke fixiert auf den Schirm.

Lustgefühl durchschoß sie wie kanalisierter Blitz. Sie schrie auf.

Er packte ihre Schultern mit beiden Händen und schloß die Augen. Auch er würde bald zu Ende kommen. Sie tat, was sie konnte, ihm zu helfen.

Und es war vorbei. Er glitt von ihr, berührte eine Bedienungstaste. Das Bild einer Wettervorhersage erstarrte, unterlegt mit Zahlen, eine kühle Computergrafik von Hochs und Tiefs.

»Danke«, sagte er. »Du warst gut zu mir.«

Sie zitterte noch, als sie ihr Gewand überzog, noch im Aufruhr der Empfindungen und außerstande, etwas zu sagen. Als die Realität allmählich wieder einsickerte, spürte sie eine jähe, übermütige Aufwallung von Freude, von Erleichterung.

Es war vorbei, es gab nichts zu fürchten. Sie waren zusammen, ein Mann und eine Frau. Überwältigt von plötzlicher Zärtlichkeit, streckte sie die Hand nach ihm aus. Er tätschelte sie, ein wenig überrascht. Dann stand er auf und trat ins Halbdunkel hinter dem Bildschirmgerät.

Sie hörte ihn herumfummeln, dann kam er zurück. Weißblech glänzte in seiner Hand. »Abalone.«

Sie setzte sich aufrecht. Ihr Magen knurrte vernehmlich. Sie lachten, behaglich in ihrer Verlegenheit, der erotischen Unordnung ihrer Intimität. Er öffnete die Dose, und sie aßen. »Gott, ist das gut«, sagte sie.

»Ich esse nie frisches Grünzeug«, sagte er. »Erstens gibt es hier keins, und zweitens sind Pflanzen voll von gefährlichen natürlichen Insektiziden. Die Menschen sind verrückt, dieses Zeug zu essen.«

»Das sagte mein Mann auch immer.«

Er blickte auf. »Morgen bin ich fort«, wiederholte er. »Mach dir keine Sorgen.«

»Es ist alles in Ordnung, ich werde schon zurechtkommen.« Bedeutungslose Worte, aber die Sorge war da - es war, als hätten sie einander geküßt. Unterdessen war es Nacht geworden, und kalt. Sie fröstelte.

»Ich werde dich ins Lager bringen.«

»Ich kann bleiben, wenn du willst.«

Er stand auf, half ihr auf die Beine. »Nein. Es ist wärmer dort.«

 

Katje lag in einem Feldbett zwischen weißen Laken, und der Blumenduft eines versprühten Parfüms überdeckte den Geruch von Desinfektionsmitteln. Es gab nicht viele Geräte, gemessen an neuzeitlichen Verhältnissen, aber es war eine Klinik, und man hatte sie durchgebracht.

»Wo haben Sie diese Kleider gefunden?« flüsterte sie.

Laura berührte verlegen ihre Bluse. Sie war rot, mindestens eine Nummer zu eng in den Schultern, und dazu gehörte ein Rock mit Volants. »Eine der Krankenschwestern - Sara… Ihren Nachnamen kann ich nicht aussprechen.«

Katje lächelte matt. »Ja… in jedem Lager gibt es so ein Mädchen… Sie müssen bei den Leuten beliebt sein.«

»Es sind gute Leute, sie haben mich sehr gut behandelt.«

»Sie haben Ihnen nicht… von der Bombe erzählt?«

»Nein - das wollte ich Ihnen überlassen. Ich dachte, man würde mir nicht glauben.«

Katje ließ ihr die Lüge durchgehen. »Ich sagte es ihnen… jetzt mache ich mir keine Sorgen mehr… das ist jetzt Sache der Regierung.«

»Gute Idee. Schonen Sie Ihre Kräfte.«

»Ich werde dies nicht mehr weitermachen… ich möchte nach Hause. Glücklich sein und in Frieden leben.« Sie schloß die Augen.

Die Tür ging auf. Der Lagerverwalter, Mbaqane, kam herein, gefolgt von Barnaard, dem Verbindungsmann, und dem Hauptmann.

Und dann die Leute aus Wien. Sie waren zu dritt, zwei Männer in Safarianzügen und Videobrillen, und eine elegante Frau mittleren Alters, in einer Jacke, gutgeschnittenen Khakihosen und glänzenden Lederstiefeln.

»Dies also sind unsere Heldinnen«, sagte die Frau gutgelaunt.

»So ist es, ja«, sagte Mbaqane.

»Mein Name ist Tamara Frolowa - dies ist Mr. Easton, und dies Mr. Neguib von unserem Büro in Kairo.«

»Sehr erfreut«, sagte Laura mechanisch. Sie machte Anstalten, aufzustehen und ihnen die Hand zu geben, dann unterließ sie es. »Das ist Dr. Selous… Ich fürchte, sie ist noch sehr erschöpft.«

»Kein Wunder, nicht wahr? Nachdem Sie mit so knapper Not entkommen sind.«

»Unsere Besucher haben sehr gute Nachricht mitgebracht«, sagte Mbaqane. »Ein Waffenstillstand ist in Kraft getreten. Das Lager ist außer Gefahr! Es scheint, daß die Regierung von Mali bereit ist, Friedensverhandlungen aufzunehmen.«

»Großartig«, sagte Laura. »Wird sie die Bomben ausliefern?«

Unheilvolle Stille.

»Eine natürliche Frage«, sagte Frolowa. »Aber es hat Irrtümer gegeben. Begreifliche Fehler.« Sie schüttelte den Kopf. »Es gibt keine Bomben, Mrs. Webster.«

Laura sprang auf. »Das erwartete ich!«

»Bitte setzen Sie sich, Mrs. Webster.«

»Madame Frolowa, lassen Sie mich zu Ihnen persönlich sprechen. Ich weiß nicht, welche Sprachregelung Ihre Vorgesetzten Ihnen mit auf den Weg gegeben haben, aber das ist jetzt vorbei. Sie können es nicht mehr unter den Teppich kehren.«

Frolowas Miene erstarrte. »Ich weiß, Sie haben Schweres durchgemacht, Mrs. Webster. Aber man sollte nicht unverantwortlich handeln. Sie müssen zuerst überlegen. Leichtfertige Anschuldigungen solcher Art sind eine öffentliche Gefahr für die internationale Ordnung.«

»In Mali brachte man mich - uns beide - von Bamako zu einem atomaren Testgelände! Zum Zweck nuklearer Erpressung! Mit der Aufzeichnung sollte Südafrika - Azania - eingeschüchtert werden. Und es ist ihnen auch so gelungen, weiß Gott.«

»Was Sie sahen, war kein Testgelände.«

»Hören Sie auf, einfältig zu sein! Es bedarf nicht einmal Greshams Aufnahmen davon. Sie mögen diese guten Leute hier überredet haben, aber in Südafrika wird man sich nicht mit Worten zufriedengeben. Man wird die Wüste überfliegen und den Krater suchen wollen.«

»Das wird sich, dessen bin ich sicher, einrichten lassen!« sagte Frolowa. »Nach dem Ende der gegenwärtigen Feindseligkeiten.«

Laura lachte. »Ich wußte auch, daß Sie das sagen würden. Das ist ein Arrangement, das Sie niemals machen werden, wenn Sie es vermeiden können. Aber die Vertuschung ist trotzdem zu Ende. Sie vergessen - wir sind dort gewesen. Die Luft war voller Staub. Sie können unsere Kleider untersuchen und werden Radioaktivität finden, vielleicht nicht viel, aber genug zum Beweis.« Sie wandte sich zu Mbaqane. »Lassen Sie die Herrschaften nicht an unsere Kleider heran. Denn Sie werden dieses Beweismittel an sich bringen, nachdem sie uns ergriffen haben.«

»Wir ›ergreifen‹ niemanden«, sagte Frolowa.

Mbaqane räusperte sich. »Sie sagten allerdings, daß Sie die beiden zur Berichterstattung wünschten. Zur Vernehmung.«

»Die Kleider beweisen nichts! Diese Frau ist in den Händen eines Provokateurs und Terroristen gewesen! Er hat mit der Hilfe von Mrs. Webster bereits ein ernstes Informationsverbrechen begangen. Und nun, da ich Sie höre, sehe ich, daß es keine unfreiwillige Hilfe gewesen ist.« Sie wandte sich zu Laura. »Mrs. Webster, ich muß Ihnen verbieten, weiter darüber zu sprechen! Sie sind unter Arrest.«

»Lieber Gott«, sagte Mbaqane. »Meinen Sie etwa diesen Journalisten?«

»Diese Frau ist seine Komplizin! Mr. Easton! Bitte ziehen Sie Ihre Waffe.«

Easton zog eine Fesselpistole aus dem Achselhalfter.

Katje öffnete die Augen. »Soviel Geschrei… bitte erschießen Sie mich nicht noch einmal.«

Laura lachte in nervöser Spannung. »Das ist gut… es ist wirklich lächerlich! Madame, achten Sie darauf, was Sie sagen. Gresham rettete uns vor weiterer Gefängnishaft in Mali - damit er unsere Kleider mit gesiebtem Uran einstäuben könnte. Erwarten Sie, daß jemand das glauben wird? Was werden Sie sagen, nachdem Mali eine Atombombe auf Pretoria geworfen hat? Sie sollten sich schämen.«

Barnaard wandte sich zu den Wienern. Stirnrunzelnd. »Sie ermutigten uns, Mali anzugreifen. Sie sagten, wir würden Ihre Unterstützung haben - insgeheim. Sie sagten - Wien sagte -, daß wir Afrikas Großmacht seien und daß man uns zur Wiederherstellung der Ordnung benötige… Aber Sie…« - seine Stimme bebte - »Sie wußten, daß sie die Bombe hatten! Sie wollten sehen, ob sie sie gegen uns einsetzen würden!«

»Ich weise diese Beschuldigung auf das Entschiedenste zurück! Keiner von Ihnen besitzt irgendwelche Kenntnisse der globalen Diplomatie, Sie ergehen sich in Mutmaßungen über Dinge, die außerhalb Ihrer Kenntnisse und Erfahrungen liegen.«

»Wie gut müssen wir sein, bevor wir uns ein Urteil über Sie erlauben können?« sagte Laura.

Easton richtete die Waffe auf sie. Mbaqane schlug ihm aufs Handgelenk, und die Waffe fiel zu Boden. Die beiden Männer starrten einander an. Mbaqane fand zuerst seine Stimme wieder: schrill und halberstickt vor Erregung. »Hauptmann! Nehmen sie diese Übeltäter augenblicklich fest!«

»Sie sind Zivilist, Mbaqane«, grollte der Hauptmann. »Ich erhalte meine Befehle von meinen militärischen Vorgesetzten, und während ihrer Abwesenheit aus Pretoria.«

»Sie können uns nicht festnehmen!« sagte Frolowa. »Sie haben keine Jurisdiktion!«

Der Hauptmann ergriff wieder das Wort und sagte: »Aber ich greife Ihre Anregung auf. Für einen Soldaten ist die Entscheidung klar.« Er zog seine Dienstpistole und hielt sie Neguib an den Kopf. »Lassen Sie Ihre Waffe fallen.«

Neguib zog vorsichtig seine Fesselpistole. »Sie schaffen ernste internationale Verwicklungen.«

»Unsere Diplomaten werden sich entschuldigen, wenn Sie mich zwingen, das Feuer zu eröffnen.«

Neguib ließ die Waffe fallen.

»Verlassen Sie diese Klinik. Halten Sie Ihre Hände in Schulterhöhe. Meine Soldaten werden Sie in Gewahrsam nehmen.«

Er drängte sie zur Tür. Barnaard konnte der Versuchung nicht widerstehen, ihnen höhnisch nachzurufen: »Haben Sie vergessen, daß auch unser Land über Uranvorkommen verfügt.«

Frolowa fuhr herum. Sie streckte den Arm aus und zeigte zu Laura. »Sehen Sie? Sehen Sie es jetzt? Es fängt alles wieder von vorne an!«