6. Kapitel

 

Es war ein Alptraum von einem Flug - wie im Viehwaggon. Überall war Gepäck gestapelt, jeder Sitz besetzt, und viele Flüchtlinge saßen in den Gängen. Nichts zu essen oder zu trinken. Sofort entwickelte sich ein Schwarzer Markt, eingezwängt in ein fliegendes Aluminiumgefängnis.

Fünf bewaffnete kubanische Luftverkehrspolizisten waren an Bord. Sie hatten alle Hände voll zu tun, Unternehmer abzuwehren - verschwitzte Geschäftemacher, die versuchten, harte Währung zusammenzukratzen. Ihre grenadinischen Rubel waren nicht konvertierbar und jetzt wertlos; sie brauchten Euro oder Dollar und verkauften alles - Ringe für den kleinen Finger, Streifen mit Drogenaufklebern, Schwestern, wenn sie welche hatten… Abgeschnitten von der Welt, zehntausend Meter über der Karibik, aber immer noch fixiert auf das gewohnte Ritual des Feilschens, nur schneller jetzt, besinnungslos, sprunghaft und nervös…

»Wie eine Eidechse, die ihren Schwanz abwirft«, sagte Laura. »So hat die Bank es mit diesen Leuten gemacht. Soll das Netz dieses Gelichter haben, soll die Wiener Hitze sie in die Mangel nehmen. Zur Ablenkung der Aufmerksamkeit.«

»Du sagtest Andrej, du würdest nach Singapur gehen?« sagte David.

»Ja.«

»Kommt nicht in Frage«, sagte David. In seinem entschlossensten Ton.

»Wir stecken jetzt zu tief drin, um zurückzuweichen.«

»Unsinn«, versetzte er. »Heute hätten wir umkommen können. Dies ist nicht mehr unser Problem. Es ist viel zu groß für uns.«

»Was also sollen wir tun? Zu unserem Ferienheim zurückgehen und hoffen, daß sie uns vergessen werden?«

»Sie hatten es nicht auf uns abgesehen, Laura«, sagte David. »Außerdem gibt es andere Ferienheime. Wir könnten im Austausch eins übernehmen. Irgendwo in den Bergen, ein Refugium, wo wir uns entspannen und der Fernsehhektik entkommen können. Wo wir unsere Gedanken sammeln können.«

Ein Refugium. Laura gefiel die Idee nicht. Das war etwas für Ruheständler, oder für Versager. Ein Leben in ländlicher Abgeschiedenheit mit erholungsbedürftigen, meist älteren Hausgästen, während andere Leute die Entscheidungen trafen. »Das taugt nicht«, sagte sie. »Es würde Rizomes Vermittlungsversuch diskreditieren. Wir hatten recht, den Versuch zu machen. Wir mußten etwas tun. Die Dinge spitzen sich zu - dies beweist es.«

»Dann sollte es Sache des US-Außenministeriums sein«, sagte David. »Oder der Wiener Behörden. Einer globalen Instanz. Nicht unseres Unternehmens.«

»Rizome ist global! Außerdem würde Grenada keinen Yankee-Diplomaten als Verhandlungspartner anerkennen. Das Außenministerium… David, du könntest genausogut Leute mit großen Plakaten vorn und hinten hinschicken, auf denen ›Geisel‹ steht.« Sie rümpfte die Nase. »Es gibt in ganz Lateinamerika keinen vernünftigen Menschen, der an eine faire und uneigennützige Vermittlerrolle der US-Regierung glaubt.«

»Dies ist ein Krieg. Kriege werden von Regierungen geführt, nicht von Unternehmen.«

»Das ist eine veraltete Ansicht«, entgegnete Laura. »Die Welt ist heute anders.«

»Du hättest eine dieser treibenden Leichen im Wasser sein können, die dich so entsetzten. Oder ich, oder das Kind. Begreifst du das nicht?«

»Ich weiß es besser als du«, sagte sie grimmig. »Du standest nicht neben mir, als sie Stubbs töteten.«

David errötete. »Das zu sagen, ist niederträchtig. Ich stehe jetzt neben dir, nicht wahr?«

»Tust du es?«

Seine Backenmuskeln traten heraus, und er blickte auf seine Hände, als müsse er sie mit einer Willensanstrengung daran hindern, sie zu schlagen. »Nun, das kommt darauf an, nicht? Darauf, was du dir in den Kopf setzt.«

»Ich kenne meine langfristigen Ziele«, sagte Laura. »Was du von dir nicht sagen kannst.« Sie streichelte die Wange des Babys. »In welch einer Welt wird sie leben? Das ist, was auf dem Spiel steht.«

»Das hört sich sehr edel an«, sagte er, »und ist doch nur eine Haaresbreite von Größenwahn entfernt. Die Welt ist größer als wir zwei. Wir leben nicht ›global‹, Laura. Wir leben miteinander. Und mit unserem Kind.«

Er holte tief Atem, stieß ihn aus. »Ich habe genug davon, das ist alles. Vielleicht bin ich einmal an die Reihe gekommen – gut, ich habe mich für Rizome in die Frontlinie gestellt. Ich tue meine Pflicht, registriere Kampfhandlungen und Leichen. Ich lasse mir mein Haus über dem Kopf anzünden. Aber zum Sterben zahlen sie mir nicht genug.«

»Niemand hat je genug dafür bezahlt«, sagte Laura. »Aber wir können nicht zusehen, wie Menschen ermordet werden, und sagen, das sei eine traurige Sache, gehe uns aber nichts an.«

»Wir sind nicht unentbehrlich, Laura. Stell deinen Ehrgeiz zurück und laß jemand anders Jeanne d'Arc spielen.«

»Aber ich weiß, was geschieht«, sagte sie. »Das macht mich wertvoll. Ich habe gesehen, was andere Leute nicht gesehen haben. Nicht einmal du, David.«

»Großartig«, sagte David. »Nun fängst du auch noch damit an, daß ich durchs Leben gehe wie durch Nebel. Paß auf, Mrs. Webster, ich habe vom wahren Grenada einen guten Teil mehr gesehen als du. Die eigentlichen Dinge - nicht den Unsinn dieses trivialen Machtgehabes, das du mit der Seilschaft deiner alten Mädchen inszenierst. Verdammt noch mal, Laura! Du mußt lernen, Rückschläge hinzunehmen und deine Grenzen anzuerkennen!«

»Du meinst, deine Grenzen.«

Er starrte sie an. »Klar, wenn du es so sehen willst. Meine Grenzen. Ich habe sie erreicht. Damit hat es sich. Ende der Diskussion.«

Sie sank in ihren Sitz zurück, siedend vor Zorn. Er wollte sie nicht mehr anhören. Sollte er sehen, wie ihm Stillschweigen gefiel.

Nach ein paar Stunden Stillschweigen merkte sie, daß sie einen Fehler gemacht hatte. Aber da war es zu spät zur Umkehr.

Auf dem Flughafen von Havanna kam Polizei an Bord. Die Passagiere wurden abgeführt - nicht gerade mit vorgehaltener Waffe, aber doch so, daß es kein großer Unterschied war. Es war dunkel und regnete. Hinter einer Absperrung drängten sich die Vertreter der spanischsprechenden Presse, hoben Kameras und riefen Fragen. Ein Fluggast versuchte auf sie zuzugehen und winkte mit den Armen, wurde aber rasch wieder zurückgescheucht.

Sie wurden in einen Seitenflügel des Abfertigungsgebäudes geführt, der von Militärfahrzeugen umringt war. Es wimmelte von Zollbeamten. Und die Leute aus Wien waren zugegen - ausgesucht gekleidete Zivilisten mit Videobrillen und tragbaren Datenanschlüssen.

Die Polizei ordnete die Flüchtlinge in Reih und Glied. Kubanische Polizisten, die Ausweise zu sehen verlangten. Sie eskortierten eine Gruppe triumphierend grinsender Techniker an den finster blickenden Wienern vorbei. Kompetenzgerangel der Gesetzeshüter. Kuba hatte sich für die Konvention nie erwärmen können. Jemand rief auf japanisch: »Laura-san ni obanashi shitai no desuga!«

»Wakarimashita«, antwortete sie. Sie machte die Rufer aus - ein junges japanisches Paar, das neben einem uniformierten kubanischen Polizisten neben dem Ausgang stand. »Komm mit!« sagte sie zu David - ihr erstes Wort zu ihm, seit sie vor Stunden das Gespräch abgebrochen hatten - und ging auf die beiden zu. »Donata ni goyo desu ka?«

Die Frau lächelte schüchtern und verneigte sich. »Rara Rebsta?«

»Hai«, sagte Laura. »Die bin ich.« Sie zeigte zu David. »Kore wa David Webster to in mono desu.«

Die Frau griff nach Lorettas Tragtasche. David, überrascht, ließ es geschehen. Die Frau rümpfte die Nase. »O mutsu o torikaete kudasai.«

»Ja, wir haben keine mehr«, sagte Laura. Verständnislose Blicke. Windeln. »Eigo wa shabere masuka?« Sie schüttelten trübe den Kopf. »Sie sprechen nicht englisch«, sagte sie zu David.

»Que tal?« sagte David. »Yo no hablo japones - un poquito solo. Ah, quien estan ustedes? Y su amigo interesante?«

»Somos de Kymera Habana«, sagte der Mann sichtlich erleichtert. Er verbeugte sich und schüttelte David die Hand. »Bienvenidas a Cuba, Senor Rebsta! Soy Yoshio, y mi esposa, Mika. Y el Capitan Reyes, de la Habana Seguridad.«

»Es ist die Kymera Corporation«, sagte David.

»Ja, ich weiß.«

»Anscheinend haben sie eine Art Vereinbarung mit der örtlichen Polizei getroffen.« Er hielt inne. »Kymerasie stehen auf unserer Seite, nicht? Wirtschaftliche Demokraten.«

»Solidaridad«, sagte Yoshio und hob zwei Finger. Er zwinkerte ihnen zu und öffnete die Tür.

Kymera hatte einen Wagen bereitgestellt.

Kymera war sehr gut vorbereitet. Sie hatten alles. Neue Pässe für sie - echte. Neue Kleider. Windeln und Babynahrung. Die Kleider paßten beinahe, oder würden gepaßt haben, wenn sie nicht Ritas Festmähler genossen hätten. Kymera hatte sich bei den kubanischen Behörden für sie verwendet. Laura hielt es für zweckmäßig, nicht nach dem Wie zu fragen.

Sie verbrachten einen ruhigen Abend in wunderbarer gemütlicher Sicherheit in einer Gästewohnung der Kymera-Niederlassung Havanna. Und sie waren frei vom Netz, in privater Zurückgezogenheit - ein Gefühl wie Genesung nach überstandener Krankheit. Die Räume waren kleiner und alles war näher am Boden, doch ansonsten war es wie in einem Rizome-Ferienheim. Sie plauderten auf japanisch und spanisch bei Meeresfrüchten und Sake und lernten das reizende vierjährige Kind der Takedas kennen.

»Rizome hat uns einige Ihrer Aufzeichnungen vorgeführt«, sagte Yoshio. »Wir koordinieren. Legen zwischen uns alle

Karten auf den Tisch.«

»Sie sahen den Angriff der Terroristen«, sagte Laura.

Yoshio nickte. »Mali ist zu weit gegangen.«

»Sind Sie sicher, daß es Mali ist?«

»Wir wissen es«, sagte Yoshio. »Wir ließen sie für uns arbeiten.«

Laura war betroffen. »Kymera ließ die FAKT Aufträge ausführen?«

Yoshio schaute verlegen, schien jedoch entschlossen, die Sache hinter sich zu bringen. »Wir hatten schwer unter Piraterie zu leiden. Die ›Freie Armee Kontra Terrorismus‹ bot uns ihre Dienste an. Um die Piraten zu entmutigen, ja, sie sogar auszuschalten. Die FAKT erwies sich als tüchtig. Wir bezahlten sie jahrelang für diese Arbeit, aber die Verbindung blieb geheim. Viele andere Unternehmungen verhielten sich ähnlich. Es schien uns eine bessere Lösung zu sein, als aus unseren eigenen Leuten eine Truppe aufzubauen.«

David und Laura berieten. David war entsetzt. »Die Japaner mieteten terroristische Söldner?«

»Wir sind kein japanisches Unternehmen«, entgegnete Yoshio. »Kymera hat ihren Stammsitz in Mexiko.«

»Ja, richtig.«

»Sie wissen, wie die Verhältnisse in Japan sind«, fuhr Yoshio fort. »Fett! Träge! Voll von älteren Leuten, weit hinter der Zeit zurück…« Er klopfte mit dem Knöchel an seine Schale, und Mika füllte sie mit Sake nach. »Zuviel Erfolg in Japan! Die japanische Politik schuf diese Weltkrise. Zuviel hinter den Kulissen. Zu viele höfliche Lügen, Heuchelei… Wir hielten die Freie Armee für ein notwendiges Übel«, führte er aus. »Wir wußten nicht, daß sie so ehrgeizig war. So klug, so schnell. Die Freie Armee ist die Kehrseite unserer wirtschaftlichen Konglomerate - unserer Keiretsu.«

»Aber was hat Mali zu gewinnen?«

»Nichts! Die Freie Armee besitzt dieses Land. Sie eroberte es, als es durch Hungersnöte geschwächt war. Dort ist sie stärker und stärker geworden, während wir sie ohne Aufhebens bezahlten und vorgaben, nicht zu wissen, daß sie existierte. Sie pflegte sich zu verstecken, wie eine Ratte - doch heute ist sie groß wie ein Tiger.«

»Sehen Sie eine Lösung?« fragte David.

»Ich sage, das Netz hat zu viele Löcher. All diese kriminellen Operationen - Singapur, Zypern, Grenada, auch Mali, das wir in seiner heutigen Form mitgeschaffen haben - müssen zerschmettert werden. Es mußte so kommen. Was heute geschieht, war vorauszusehen. Der Dritte Weltkrieg ist da.«

Mika lachte hinter vorgehaltener Hand.

»Es ist ein kleiner Krieg«, räumte Yoshio ein. »Wird der Presse nicht gerecht, die er hat, nicht wahr? Klein, still, ferngesteuert. Kämpfe an Orten, wo niemand hinschaut, wie Afrika. An Orten, die wir vernachlässigten, weil wir dort keine Gewinne machen konnten. Jetzt müssen wir aufhören, so blind zu sein.«

»Ist das heute die offizielle Politik Kymeras?« fragte Laura.

»Nicht bloß unsere«, sagte Yoshio. »Seit der Angriff auf Grenada erfolgte, werden überall alte Positionen überprüft und neue Überlegungen angestellt. Wir waren auf etwas dieser Art vorbereitet. Kymera wird eine diplomatische Offensive einleiten. Wir suchen eine Abstimmung mit vielen anderen multinationalen Unternehmen. Wenn wir gemeinsam handeln können, ist unsere Macht sehr groß.«

»Sie denken an ein globales Sicherheitskartell?« fragte Laura.

»An eine weltweite Wohlstandssphäre!« sagte Mika. »Wie hört sich das an?«

»Hmm«, machte David. »In Amerika würde man darin eine ›Verschwörung zu Handelsbeschränkungen sehen.«

»Wo liegt Ihre Loyalität«, fragte Yoshio. »Bei den Vereinigten Staaten oder Rizome?«

Laura und David tauschten Blicke. »Sicherlich wird es nicht dazu kommen«, sagte Laura.

»Glauben Sie, die Vereinigten Staaten werden einschreiten? Neue Eingreifverbände aufstellen, die Steueroasen angreifen und ihnen ihren Frieden aufzwingen?«

»Kann ich mir nicht vorstellen«, sagte David. »Die anderen Signatarmächte der Wiener Konvention würden alle über uns herfallen… ›Amerikanischer Imperialismus‹ - Großer Gott, es würden keine sechs Monate vergehen, bis die Leute uns überall auf der Welt mit Brandanschlägen und Entführungen verfolgen würden.« Er stocherte mit seinen Eßstäbchen im Sukiyaki. »Und die Russen - nicht daß sie heutzutage eine große Rolle spielten, aber wenn sie sich auf den Schlips getreten fühlen… Sehen Sie, die richtige Adresse zur Behandlung dieser Angelegenheiten ist die Wiener Konvention. Ihre internationalen Ermittler und Polizisten sind zur Bekämpfung des Terrorismus da.«

»Warum tun sie es dann nicht?« fragte Yoshio.

»Ja«, sagte David mit einigem Unbehagen, »ich denke mir, es ist wie damals mit den Vereinten Nationen. Eine gute Idee, aber wenn es darauf ankommt, will keine souveräne Regierung wirklich Einbußen ihrer Entscheidungsfreiheit hinnehmen…«

»Exactamente«, sagte Yoshio. »Keine Regierung. Aber wir könnten uns mit einer wirksamen internationalen Polizeistreitmacht zufriedengeben. Und Wien verfügt darüber. Un grupo nuevo milenarios. Wie ein moderner Keiretsu.«

Laura schob ihren Teller von sich. Sie hatte Mühe, ihr eingerostetes Japanisch wiederzubeleben. »Die Wiener Konvention existiert zum Schutz der ›politischen Ordnung‹, zum Schutz von Regierungen. Sie gehört nicht zu uns. Unternehmen können keine diplomatischen Verträge abschließen.«

»Warum nicht?« erwiderte Yoshio. »Ein Vertrag ist ein Vertrag. Sie reden wie meine Großmutter. Es ist jetzt unsere Welt. Und in dieser Welt ist ein Tiger los - ein Tiger, den wir selbst aufpäppelten, weil wir so töricht waren, andere Leute zu bezahlen, daß sie die Klauen und Zähne unserer Unternehmen seien. Ein Grund mehr, daß wir den Fehler berichtigen und einen neuen Kurs einschlagen. Sie handelten bereits als Diplomaten Ihres Unternehmens, um Grenada zugunsten Ihrer Unternehmenspolitik zu untergraben. Das ist es! Wir müssen moderner sein!« Er streckte die Arme aus. »Das Problem mit beiden Händen ergreifen.«

»Ich sehe nicht, wie das möglich sein sollte«, sagte Laura.

»Es ist durchaus möglich«, antwortete Yoshio. »Kymera und I.G. Farben haben dieses Problem untersucht. Mit der Hilfe anderer Verbündeter wie Rizome könnten wir Wiens Budget binnen kurzem um ein Mehrfaches aufstocken. Wir könnten viele Söldner anwerben und sie unter Wiener Befehl stellen. Wir könnten einen Überraschungsangriff gegen Mali führen und den Tiger zur Strecke bringen.«

»Ist das legal?« sagte David.

Yoshio zuckte die Achseln. »Wen wollen Sie das fragen? Wer trifft diese Entscheidung? Regierungen wie die amerikanische oder japanische? Oder Mali, Grenada? Oder entscheiden wir statt ihrer? Stimmen wir darüber ab.« Er hob die Hand. »Ich sage, es ist legal.«

Mika hob die Hand. »Ich auch.«

»Wie lange können wir warten?« sagte Yoshio. »Die Freie Armee hat eine kleine Insel angegriffen, doch hätte es genausogut auch Manhattan sein können. Sollten wir darauf warten?«

»Aber Sie sprechen davon, daß wir die Internationale Polizei bestechen sollten«, sagte Laura. »Das nimmt sich wie ein Coup d'etat aus!«

»›Kudetah‹«, wiederholte Yoshio verständnislos. »Warum noch durch Regierungen arbeiten? Lassen Sie uns den Zwischenhandel ausschalten.«

»Aber Wien würde dem niemals zustimmen.«

»Warum nicht? Ohne uns bringen sie es nicht zu einer wirklich einsatzfähigen internationalen Streitmacht.«

»Damit wir uns recht verstehen«, sagte Laura. »Sie reden einer Armee der multinationalen Unternehmen das Wort, ohne irgendeine legale staatliche Unterstützung, die souveräne Nationen angreifen soll?«

»Eine Revolution ist keine Abendgesellschaft«, sagte Mika. Sie erhob sich anmutig und begann das Geschirr abzuräumen.

Yoshio lächelte. »Die modernen Regierungen sind schwach. Wir haben sie schwach gemacht. Warum so tun, als ob es anders wäre? Wir können sie gegeneinander ausspielen. Sie benötigen uns dringender als wir sie.«

»Traicion«, sagte David. »Verrat.«

»Nennen Sie es einen Streik«, schlug Yoshio vor.

»Bis Sie alle Unternehmen unter einem Dach hätten«, sagte Laura, »würde die Polizei Sie und Ihre Mitverschwörer rechts und links verhaften.«

»Es ist ein kleiner Wettlauf, nicht wahr?« bemerkte Yoshio ungerührt. »Aber lassen Sie uns sehen, wer die Wiener Internationale Polizei beherrscht. Sie werden noch viele Verhaftungen vornehmen müssen, bevor dies ausgestanden sein wird. Die Bürokraten nennen uns Verräter? Wir können sie Sympathisanten des Terrorismus nennen.«

»Aber Sie reden einem weltweiten Umsturz das Wort, einer Machtverschiebung von den nationalen Regierungen zu den wirtschaftlichen Multis.«

»Nennen Sie es Rationalisierung«, sagte Yoshio. »Es hört sich hübscher an. Wir entfernen unnötige Hindernisse auf dem Weg zu einer integrierten Weltwirtschaft. Barrieren, die zufällig Regierungen sind.«

»Haben Sie einmal überlegt, was für eine Welt uns das bescheren würde?«

»Es würde davon abhängen, wer die neuen Gesetze macht«, sagte Yoshio. »Wer sich der Gewinnerseite anschließt, wird ein Stimmrecht bekommen. Wer nicht, nun…« Er zuckte die Achseln.

»Ja? Und wenn Ihre Seite verliert?«

»Dann werden die Nationen sich darum schlagen, wer uns wegen Verrats vor Gericht stellen darf«, sagte Mika. »Die Gerichte könnten das Problem zur allseitigen Zufriedenheit lösen. Vielleicht in fünfzig Jahren.«

»Ich glaube, ich werde meinen japanischen Paß verbrennen und mexikanischer Staatsbürger werden«, überlegte Yoshio. »Vielleicht könnten wir alle mexikanische Staatsbürger werden. Mexiko würde keine Einwände erheben. Oder wir könnten es mit Grenada versuchen! Jedes Jahr ein neues Land versuchen.«

»Wir dürfen unsere eigene Regierung nicht verraten«, meinte Mika, »nur alle anderen. Das hat noch nie jemand Verrat genannt.«

»Bei Rizome stehen Wahlen vor der Tür«, sagte Yoshio. »Sie sagen, Sie seien Wirtschaftsdemokraten. Wenn Sie an das Netz glauben - wenn Sie an Ihre eigene Unternehmensdoktrin glauben -, können Sie dieser Entscheidung nicht ausweichen. Sie sollten die Frage zur Abstimmung stellen.«

 

Schon auf dem Flughafen von Atlanta hatte Laura dieses beengte, nervenaufreibende Gefühl, daß diese Stadt ihr immer verschaffte. Diese Megalopolis, dieses gereizte Tempo… So viele Amerikaner, mit ihren sauberen, teuren Kleidern, ihrem vollgestopften Gepäck. Ein wimmelnder Ameisenhaufen unter den gigantischen Verstrebungen einer Kuppelhalle, deren glatte, geometrische Architektur von Raum und Licht viele Millionen gekostet hatte. Rosarote abstrakte Mobiles drehten sich langsam über der Menge, von ihren Strömungen bewegt, wie explodierte cybernetische Flamingoschwärme…

»Huh«, sagte David und stieß sie mit der Tragtasche an. »Wo ist Emily?«

Zwei Frauen bahnten sich den Weg zu ihnen. Eine, klein und rundgesichtig, mit langem Rock und Rüschenbluse: Emily Donato. Freude und Erleichterung erfüllten Laura. Emily war da, Rizomes Kavallerie. Laura winkte ihr zu.

Emily war in Begleitung einer hochgewachsenen Schwarzen mit einer kunstvoll maschinengelockten Mähne kastanienbraun gefärbten Haares. Die Frau bewegte sich wie ein Mannequin, dünn und elegant, mit kaffeefarbener Haut und Backenknochen, um die sie viele Geschlechtsgenossinnen beneideten. »Brr«, sagte Laura. »Das ist - wie heißt sie noch gleich? - Arbright Soundso.«

»Dianne Arbright vom Kabelfernsehen«, sagte David. »Die Nachrichtensprecherin. Schau an, sie hat Beine wie ein richtiger Mensch!«

David schloß Emily fest in die Arme und hob sie dabei vom Boden. Emily lachte ihn an und küßte ihn auf die Wangen. »Hallo«, sagte Laura zu der Fernsehjournalistin. Sie schüttelte Arbright die kühle, sehnige Hand. »Ich nehme an, dies hat zu bedeuten, daß wir berühmt sind.«

»Ja, in dieser Menge wimmelt es von Journalisten«, sagte Arbright. Sie klappte das Revers ihrer safrangelben Seidenjacke um. »Unser Gespräch wird aufgenommen.«

»Wir sind auch verdrahtet«, sagte Laura. »Ich habe eine Videobrille in der Handtasche.«

»Ich werde meine Daten mit den anderen Korrespondenten in einen Topf tun«, sagte Arbright. Unter der Vollkommenheit ihres Video-Make-ups war ein dünner Hauch von Schweißperlen auf ihrer Oberlippe. »Nicht, daß wir es ausstrahlen könnten, aber wir… verbreiten es hinter den Kulissen.« Sie blickte zu Emily. »Sie wissen alle, wie es ist.«

Laura sah Arbright mit einem Gefühl von Verwirrung. Dianne Arbright persönlich zu begegnen, hatte etwas Unwirkliches - zu viele Reproduktionen hatten die eigentliche Realität dieser Person ausgebleicht. »Ist es Wien?« fragte sie.

Arbright erlaubte sich eine Grimasse. »Vor zwei Tagen sendeten wir eine Zusammenfassung von Rizomes Katastrophenaufzeichnung. Wir wissen, wie schlimm es gewesen ist - die Zahl der Todesopfer, die Formen des Angriffs. Aber Grenada hat inzwischen seine Grenzen geschlossen. Und Wien zensiert alles, was wir ausstrahlen.«

»Aber dies ist zu groß, um es unter der Decke zu halten«, sagte Emily. »Und jeder weiß es. Es geht weit über die erträglichen Grenzen hinaus - jemand überfiel und verwüstete einfach ein ganzes Land, das läßt sich nicht vertuschen.«

»Es ist die größte terroristische Operation seit Vicenza«, sagte Arbright.

»Was geschah dort?« fragte David unschuldig.

Arbright warf David den verständnislosen Blick zu, der für hoffnungslos Uninformierte bereitgehalten wird. Endlich sagte sie, ohne auf seine Frage einzugehen: »Vielleicht können Sie mir genau berichten, was in Ihrem Ferienheim in Galveston geschehen ist.«

»Ach, das«, sagte David. »Ich dachte, es sei längst allgemein bekannt.«

»Schadensbegrenzung«, sagte Laura. »Das ist in Galveston geschehen.«

»Und an vielen anderen Orten - seit Jahren«, sagte Arbright. »Also sind Sie beide Unpersonen, Hintergrundfiguren, nicht für die Öffentlichkeit…« Sie riß den Arm hoch und machte ein Zeichen zu einem Fremden in braunem Anzug, der zurückgrinste und ihr zunickte. »Aber Wien kann uns nicht daran hindern, die Wahrheit aufzudecken - nur an Ihrer V eröffentlichung.«

Sie schoben sich mit der Menge zu einem der Ausgänge. Arbright sah auf ihre Platinuhr. »Ich habe draußen einen Wagen…«

»Die Wiener Hitze ist da!« sagte David.

Arbright blickte gelassen auf. »Nein. Das ist bloß jemand, der eine Videobrille trägt.«

»Woran können Sie das erkennen?« fragte David.

»Er hat die falsche Ausstrahlung«, erläuterte Arbright geduldig. »Videobrillen haben nicht viel zu sagen - ich trage sie manchmal selbst.«

»Wir haben seit Tagen welche getragen«, sagte Laura.

Arbright merkte auf. »Ja, richtig. Das heißt, Sie haben alles aufgezeichnet? Ihren ganzen Aufenthalt in Grenada? Auf Band?«

»Jede Minute«, sagte David. »Annähernd.«

»Das ist viel wert«, sagte Arbright.

»Sollte es auch«, brummte David. »Es war die Hölle.«

»Emily«, sagte Arbright, »wem gehören die Rechte, und was verlangen Sie dafür?«

»Rizome verkauft Nachrichten nicht für Geld«, sagte Emily tugendhaft. »Das geht die ganze Gesellschaft an… Außerdem wäre zu erklären, was Rizome-Personal in einer Hochburg von Datenpiraten zu suchen hatten.«

»Mmm«, sagte Arbright. »Ja, das ist ein schwieriger Gesichtspunkt.«

Glasschiebetüren zischten für sie auf und schoben sich hinter ihnen wieder zu, und Arbrights Wagen stand inmitten einer Reihe von Taxis am Straßenrand. Die Fenster der Limousine waren aus verspiegeltem Glas, und auf dem Dach war ein Satz Mikrowellen-Sendeantennen, die an wassergekühlte Schnellfeuerkanonen erinnerten. Sie stiegen mit Arbright ein, der Wagen setzte sich in Bewegung.

»Jetzt sind wir unter uns«, erklärte Arbright. Sie klappte einen Spiegel aus und überprüfte ihr Make-up. »Meine Leute haben den Wagen untersucht - er ist abhörsicher.«

Sie fuhren eine gebogene Zufahrtsrampe hinunter. Es war ein schöner Tag; eine graue Wolkendecke lastete schwer über der Silhouette Atlantas. Ein Gebirge von Wolkenkratzern: postmodern, organischer Barock, neoklassizistisch, sogar ein paar kastenförmige Relikte aus den Jahrzehnten vor der Jahrtausendwende mit fleckigen Fassaden aus Glas und Aluminium, längst in den Schatten gestellt von ihren eigenartigen Abkömmlingen. »Drei Wagen folgen uns«, sagte Emily.

»Eifersüchtig auf meine Quellen.« Arbright lächelte, und ihre Augen leuchteten auf, als sähe sie sich vor einer Fernsehkamera. David wandte den Kopf.

»Sie sind hinter uns allen her«, sagte Emily. »Der gesamte Zentralausschuß von Rizome wird bespitzelt. Sie beobachten unsere Wohnungen, und ich glaube, Wien zapft unsere Leitungen an.« Sie rieb sich die Augen. »In letzter Zeit bin ich kaum zum Schlafen gekommen - ich bin ein bißchen überdreht und müde.«

»Die Wiener sind wirklich hinter uns her?« fragte David.

»Sie sind hinter jedem her. Wie ein aufgestocherter Ameisenhaufen. Diese Konferenz, die wir mit Kymera und I.G. Farben veranstaltet haben - ›Gipfelkonferenz‹, nannten sie die Gespräche…« Sie zwinkerte und gähnte. »Laura, ich habe dich vermißt.«

»Zum Verrücktwerden«, sagte Laura. Eine alte Redensart aus gemeinsamen Collegetagen. Wie müde Emily aussah - Krähenfüße, die feinknochige Höhlung ihrer Schläfen wie durchsichtig, erste graue Fäden im Haar - von wegen müde, dachte Laura, warum herumreden? Sie waren beide Mitte dreißig. Keine Studentinnen mehr. Alt. Einer plötzlichen Regung folgend, rieb sie Emily die Schultern. Emily lächelte dankbar zurück. »Ja«, sagte sie.

»Bei wem sind Sie?« fragte David die Journalistin.

»Sie meinen, bei welcher Gesellschaft?«

»Ich meine, wem gilt Ihre Loyalität?«

»Oh«, sagte Arbright. »Ich bin Profi. Eine amerikanische Journalistin.«

»›Amerikanische‹?«

»Ich glaube nicht an die Wiener Konvention«, erklärte

Arbright. »Zensurinstanzen, die uns sagen, was wir verbreiten dürfen, und was nicht. Vertuschungen, um den Terroristen keine Publizität zu geben - das war schon immer eine unausgegorene Idee.« Sie schüttelte den Kopf. »Jetzt wird das ganze System, die ganze politische Struktur zum Teufel gehen!« Sie schlug mit der flachen Hand auf den Sitz. »Seit Jahren habe ich darauf gewartet! Mann, ich bin darüber so froh wie eine Eulenlarve im Mais!« Sie machte ein überraschtes Gesicht. »Wie mein Großvater zu sagen pflegte…«

»Hört sich irgendwie anarchisch an…« David schaukelte die Tragtasche auf den Knien. Die kleine Loretta schätzte das Geräusch politischer Schrillheit nicht. Ihr Gesicht umwölkte sich.

»Wir Amerikaner haben immer so gelebt! Wir nannten es ›Freiheit‹.«

David schien zu zweifeln. »Ich meinte, realistisch gesprochen… die globale Informationsstruktur…« Er überließ Loretta seine Finger und versuchte sie zu besänftigen.

»Ich bin der Meinung, daß wir die Masken abreißen und unsere Probleme direkt angehen sollten«, sagte Arbright. »Gut, Singapur ist ein Außenseiterstaat und hat gerade seinen Rivalen überfallen - was geht es uns an? Sollen die Leute von Singapur den Preis für ihre Aggression bezahlen.«

»Singapur?« sagte David. »Sie glauben, Singapur sei die FAKT?«

Arbright lehnte sich zurück und ließ ihren Blick über die drei anderen schweifen. »Nun, ich sehe, bei Rizome hat sich eine andere Meinung gebildet.« Eine gefährliche Leichtigkeit war in ihrer Stimme.

Laura kannte diesen Tonfall von Interviews, kurz bevor Arbright irgendeinen armen Teufel auf etwas festnagelte.

Das Baby wimmerte laut.

»Sprechen Sie nicht alle auf einmal«, sagte Arbright.

»Woher wissen Sie, daß es Singapur ist?« fragte Laura.

»Wie? Gut, ich will es Ihnen sagen.« Sie stieß mit der Spitze ihres italienischen Schuhs das Make-up-Kabinett zu. »Ich weiß es, weil die Datenbanken der Piraten in Singapur voll davon sind. Wir Journalisten brauchen einen Ort zum Austausch von Informationen, wo wir frei von Zensurbestimmungen sind. Darum ist jeder von uns, der sein Geld wert ist, ein Datenpirat.«

»Oh…«

»In Singapur lachen sie darüber. Brüsten sich damit. Es ist ein offenes Geheimnis.« Sie blickte von Laura zu David. »Ich habe Ihnen gesagt, was ich weiß. Nun sagen Sie mir, was Sie wissen.«

Emily ergriff das Wort. »Die FAKT ist die Geheimpolizei der Republik Mali.«

»Nicht das schon wieder«, sagte Arbright, sichtlich enttäuscht. »Hören Sie, über Mali hört man die ganze Zeit häßliche Gerüchte. Das ist nichts Neues. Mali ist ein Land am Rande des Hungertodes, voll von Söldnern, die das Regierungssystem stützen, und sie haben natürlich einen schlechten Ruf. Aber einen so groß angelegten und flagranten Überfall wie den Angriff der FAKT auf Grenada würden sie nicht riskieren - vorausgesetzt, sie hätten überhaupt die Mittel dazu. Daß ausgerechnet Mali sich durch Greuel internationaler Ausmaße die Wiener Konvention zum Feind macht, ergibt keinen Sinn.«

»Wieso nicht?« fragte Laura.

»Weil Wien die Regierung von Mali jederzeit stürzen könnte. Es gibt nichts, was es daran hindern könnte. Ein weiterer Staatsstreich in Afrika würde nicht einmal in die Mitternachtsnachrichten kommen. Wenn FAKT und Mali eins wären, hätte Wien sie längst ausgelöscht. Aber Singapur - das ist eine andere Sache! Haben Sie jemals Singapur gesehen?«

»Nein, aber…«

»Singapur haßt Grenada. Und verabscheut die Wiener Konvention. Die ganze Idee einer weltweiten politischen Ordnung ist den Singapurern verhaßt - es sei denn, sie könnten darin eine bestimmende Rolle spielen. Sie sind schnell und stark und risikofreudig, und sie haben gute Nerven. Dagegen sehen diese kleinen grenadinischen Rastas wie Bill Cosby aus.«

»Wie wer?« fiel David ein. »Sie meinen Bing Crosby?«

Arbright starrte ihn an. Offensichtlich ließ sie sich ungern auf Fehler aufmerksam machen. »Sie sind nicht wirklich schwarz, nicht wahr? Entweder das, oder das Baby ist nicht von Ihnen.«

»Was?« sagte David. »Tatsächlich hat es mit dieser… ah… Sonnencreme zu tun…«

Arbright winkte ab. »Schon gut, ich bin in Afrika gewesen, und dort sagten sie mir, ich sähe französisch aus. Aber Mali - das ist bloß Desinformation. Sie haben kein Geld und kein Motiv, und es ist ein altes Gerücht…« Die Limousine hielt an und unterbrach sie.

»Oxford Towers, Miss Arbright.«

»Das ist unsere Haltestelle«, sagte Emily. »Wir melden uns wieder, Dianne.«

Arbright sank zurück in die Polster. »Sehen Sie, ich möchte diese Grenada-Aufzeichnungen.«

»Ich weiß.«

»Und sie werden nicht mehr soviel wert sein, wenn Wien sich zu einer größeren Aktion entschließt. Das würde alles andere aus den Nachrichten verdrängen.«

Emily stieg aus. Laura und David krabbelten nach ihr ins Freie. »Danke fürs Mitnehmen, Dianne.«

»Geben Sie Nachricht.« Die Tür schlug zu.

Das Erdgeschoß der Oxford Towers war eine kleine Stadt für sich. Gesund aussehendes falsches Sonnenlicht strömte aus Fluoreszenzlampen über die kleinen Feinkostläden und diskreten Boutiquen. Privatpolizisten in Uniformen wie vor hundertfünfzig Jahren, mit hohen Tschakos und Messingknöpfen an den Uniformröcken. Sanftmütig aussehende Jugendliche auf Liegerädern kreuzten vor den pastellfarbenen Ladenfronten.

Sie gingen in eine Drogerie, um Windeln und Babynahrung zu erstehen, und bezahlten mit Emilys Kreditkarte. Dann gesellten Sie sich zu einer Gruppe von zwei Dutzend gelangweilten Mietern, die auf körpergerecht geformten Hartholzbänken warteten. Ein Aufzug kam, und alles drängte hinein und setzte sich. Stockwerke glitten in der geisterhaften Stille magnetischer Linearbeschleunigung vorüber; die einzigen Geräusche waren das Geraschel von Zeitungen und ein gelegentliches Hüsteln.

Sie stiegen in Emilys Stockwerk aus, und in ihren Ohren knackte es. Die Luft hatte hier oben im fünfzigsten Stockwerk einen etwas muffigen Geruch. An den Wänden waren geheimnisvolle, farbcodierte Karten. Sie nahmen einen Korridorbus. Nischen und Winkel zweigten ab und führten in Innenhöfe - was die Soziologen ›zu verteidigender Raum‹ nannten. Emily führte sie vom Bus in eine dieser Abzweigungen. Eine Monitormaus kam ihnen am Boden entgegengeeilt - ein bösartig aussehender kleiner Mikrobot mit Kameraaugen und einer staubverklebten Rauchspürnase. Emily öffnete die Tür mit ihrer Karte.

Eine Dreizimmerwohnung - ganz in Art Deco-Schwarzweiß. David brachte das Baby ins Bad, während Emily in die kleine offene Küche trat. »Huh«, sagte Laura. »Du hast alles umgebaut!«

»Das ist nicht meine Wohnung«, sagte Emily. »Es ist Arthurs. Du weißt schon, der Fotograf«.

»Dieser Typ, mit dem du gegangen bist?«

An den Wänden hingen Arthurs Vergrößerungen: stimmungsvolle Landschaftsstudien, kahle Bäume, ein Fotomodell in Schwarzweiß, mit einem genießerischen Ausdruck im Gesicht… »Hallo«, sagte Laura halb lachend und zeigte darauf. »Das bist du! He! Hübsch.«

»Gefällt es dir?« fragte Emily. »Mir auch. Beinahe unretuschiert.« Sie spähte ins Gefrierfach. »Wir haben Hühnchen mit Mandeln - Seewolf - Lamm mit Curry für zwei Personen…«

»Etwas Mildes und Amerikanisches«, schlug Laura vor. »Als ich zuletzt von ihm hörte, warst du mit Arthur im Streit.«

»Jetzt sind wir wieder ganz dick miteinander«, sagte Emily mit selbstzufriedener Miene. »Es tut mir leid, daß ich euch nichts Besseres anbieten kann, aber Arthur und ich, wir kochen hier nicht viel… Du weißt, sie beobachten meine Wohnung, aber sie ist acht Stockwerke tiefer, und in einem Bienenkorb wie den Oxford Towers könnte das genausogut in Dallas sein… In dieser Wohnung bin ich sicher und unbeobachtet wie irgendwo im Wald. Arthur nimmt es leicht - ich glaube, er fühlt sich durch all das Aufhebens ein bißchen geschmeichelt.« Sie lächelte breit. »Ich bin seine geheimnisvolle Frau.«

»Kriege ich ihn zu sehen?«

»Er ist jetzt nicht in der Stadt, aber ich hoffe es.« Emily schob Fertiggerichte in Folie in den Mikrowellenherd. »Ich mache mir allerlei Hoffnungen… Vielleicht, denke ich, bin ich endlich auf den Dreh gekommen. Auf die Methode einer modernen Romanze.«

Laura lachte. »Ja?«

»Besser leben mit Chemie«, sagte Emily und errötete. »Habe ich dir davon erzählt?«

»O nein, Em.« Laura griff in die Hosentasche, fummelte zwischen Wechselgeld und gesalzenen Erdnüssen aus dem Flugzeug. »Du meinst diese?«

Emily starrte das Röhrchen an. »Großer Gott! Und du bist damit einfach durch den Zoll gegangen?«

Laura verzog das Gesicht. »Sie sind nicht verboten, oder? Ich hatte sie ganz vergessen.«

»Wo hast du sie her?«

»Von einer Prostituierten in Grenada.«

Emilys Kiefer klappte herunter: »Ist das die Laura Webster, die ich kenne? Du stehst doch nicht auf diese Dinger, oder?«

»Sag mir lieber, ob du sie schon einmal genommen hast?«

»Nur ein paarmal… Darf ich mal sehen?« Emily schüttelte das kleine Röhrchen. »Himmel, die sehen nach einer Riesendosis aus. Ich weiß nicht, als ich sie nahm, machten sie mich irgendwie blöd… Du würdest wahrscheinlich sagen, ich sei nach diesem Streit zu Arthur zurückgekrochen, aber es scheint uns beiden gut getan zu haben. Vielleicht ist es verkehrt, allzu stolz zu sein. Nimmst du eine von diesen Pillen, so kommt dir das andere Zeug, die Probleme, irgendwie sinnlos vor… Ihr habt doch keine Schwierigkeiten, du und David, wie?«

»Nein…« David kam aus dem Bad und trug das Baby mit frisch gewechselter Windel. Emily tat die Röhre schnell in eine Küchenschublade.

»Was gibt es?« sagte David. »Ihr zwei habt wieder diesen Blick von Verschwörern.«

»Wir haben bloß davon gesprochen, wie Ihr alle euch verändert habt«, sagte Emily. »Weißt du was, Dave? Zuerst bekam ich einen Schreck, als ich dich sah. Aber schwarz steht dir. Du siehst wirklich gut aus.«

»Ich habe in Grenada zugenommen«, sagte er.

»An dir sieht es gut aus.«

Er lächelte mit einem Mundwinkel. »Nur zu, den Schwachsinnigen muß man schmeicheln… Ihr zwei habt über Firmenpolitik gesprochen, stimmt's? Verratet mir ruhig das Schlimmste.« Er setzte sich auf einen Küchenhocker aus verchromtem Stahlrohr und schwarzem Kunststoff. »Vorausgesetzt, man kann hier ungestört reden…«

»Alles redet über euch«, sagte Emily. »Mit diesem Unternehmen habt ihr Websters eine Menge Punkte gemacht.«

»Gut. Vielleicht können wir es jetzt etwas ruhiger angehen lassen.«

»Ich weiß nicht«, sagte Emily. »Offen gesagt, Ihr seid ziemlich gefragt. Der Ausschuß will euch zu einer Sitzung einladen. Ihr seid jetzt unsere Situationskenner! Und dann ist da die Sache mit Singapur.«

»Was soll das uns angehen?« sagte David.

»Das Parlament von Singapur veranstaltet öffentliche Anhörungen über die Datenpolitik. Suvendra ist jetzt dort, als unsere Kontaktperson zur Islamischen Bank, und wird eine Aussage machen.« Emily schwieg einen Augenblick lang. »Es ist etwas kompliziert.«

»Suvendra kann das erledigen«, sagte David.

»Gewiß«, sagte Emily, »aber wenn sie ihre Sache gut macht, ist ihre Wahl in den Ausschuß gesichert.«

Davids Augen weiteten sich. »Augenblick mal…«

»Du weißt nicht, wie diese Geschichte hier gelaufen ist«, sagte Emily. »Vor einem Monat war es Nebensache, aber jetzt ist es eine schwere Krise. Du hörtest, wie Dianne Arbright redete. Vor einem Monat hätte sie mich auf der Straße nicht gegrüßt, aber jetzt sind wir auf einmal Schwestern, ganz dicke Solidarität.« Emily hielt zwei Finger hoch. »Es wird etwas passieren, und das bald. Es liegt in der Luft. Es wird wie Paris 1968 sein, oder der frühe Gorbatschow. Aber global.« Es war offensichtlich ihr Ernst. »Und wir können ganz oben mitmischen.«

»Wir können zwei Meter unter der Erde liegen!« rief David. »Was habt ihr vor? Habt ihr mit diesen Knallköpfen von Kymera gesprochen?«

Emily zuckte. »Kymera… die Weltherrschaft der Multis stößt bei uns nicht auf Gegenliebe, aber man muß die Entwicklung natürlich beobachten… Wien benimmt sich sehr aufgeregt.«

»Wien weiß, was es tut«, sagte David.

»Vielleicht, aber ist es das, was wir wollen?« Emily brachte Teller und Plastikbesteck zum Vorschein. »Ich glaube trotzdem, daß Wien abwarten wird. Diesmal werden sie zusehen, bis es wirklich schlimm ist - bis es einen politischen Blankoscheck bekommt. Um das Haus zu säubern, im Weltmaßstab. Eine neue Weltordnung, und eine neue internationale Armee.«

»Das gefällt mir weniger«, sagte David.

»Im Grunde haben wir diese Situation schon jetzt, aber dann wird es ohne die Schlupflöcher sein.«

»Ich mag Schlupflöcher.«

»In diesem Fall solltest du nach Singapur gehen und den Leuten vernünftig zureden.« Der Mikrowellenherd läutete. »Es ist nur für ein paar Tage, David. Und Singapur hat eine richtige Regierung, nicht so eine zwielichtige Fassade wie Grenada. Eure Zeugenaussage vor dem Parlament könnte wesentlichen Einfluß auf ihre Politik haben. Suvendra sagt…«

Davids Gesicht wurde hart. »Wir werden umkommen«, sagte er. »Habt ihr das noch nicht verstanden? Alle die kleinen Schlupflöcher werden Kampfgebiet. Es gibt da draußen genug Leute, die uns für nichts umbringen würden, und wenn sie uns für Profit umbringen können, sind sie begeistert! Und sie wissen, wer wir sind. Das ist es, was mir Angst macht. Wir sind jetzt wertvoll…«

Er rieb sich die stoppelige Wange. »Wir werden machen, daß wir von hier verschwinden, in ein Ferienhaus oder eine Berghütte, und wenn ihr euch um Singapur kümmern wollt, Emily, dann könnt ihr Wien anrufen und eine Panzerdivision finanzieren. Denn diese Piraten sind nicht zum Scherzen aufgelegt, und wir werden sie nie mit Schmeicheleien zu etwas überreden! Zuerst müssen wir einen Panzer an jede verdammte Straßenecke stellen! Und die Schweinekerle ausfindig machen, die in Grenada auf die Knöpfe gedrückt haben, daß diese kleinen Kinder ertranken und unschuldige Menschen dran glauben mußten. Aber nicht mein Kind! Nie wieder!«

Laura durchstieß die Folie über ihrem dampfenden Hühnchen mit Mandeln. Sie verspürte keinen Appetit. Diese ertrunkenen Kinder… steif und tot, von dunklen Strömungen getrieben… dunklen Strömungen des Hasses. »Er hat recht«, sagte sie. »Nicht meine Loretta. Aber einer von uns muß gehen. Nach Singapur.«

David glotzte. »Warum?«

»Weil wir dort gebraucht werden, darum. Weil es hat, was wir wollen«, sagte sie. »Die Macht, über unser eigenes Leben zu bestimmen. Und die wirklichen Antworten. Die Wahrheit.«

David starrte sie weiter an. »Die Wahrheit. Du glaubst du kannst sie dort finden? Hältst du dich für so wichtig?«

»Ich bin nicht wichtig«, sagte Laura. »Ich weiß, ich bin jetzt nicht viel - eine Person, die herumgeschubst und beleidigt wird, und der man ungestraft ins Haus schießen kann. Aber ich könnte mich wichtig machen, wenn ich es richtig anfange. Es könnte möglich sein. Wenn Suvendra mich braucht, werde ich gehen.«

»Du kennst Suvendra nicht einmal!«

»Ich weiß, daß sie Rizome ist und für uns kämpft. Wir können einer Gesellschafterin nicht die kalte Schulter zeigen. Und wer auf unser Ferienheim geschossen hat, soll dafür bezahlen.«

Loretta fing an zu weinen. David saß zusammengesunken auf seinem Hocker. »Was ist mit uns, Laura«, sagte er mit leiser Stimme. »Mit dir und mir und Loretta? Du könntest dabei umkommen.«

»Ich tue das nicht bloß für das Unternehmen - auch für uns! Durch Davonlaufen können wir keine Sicherheit finden.«

»Und was soll ich dann tun?« sagte David. »Am Ufer stehen und dir Kußhände zuwerfen? Während du ausfährst, die Welt sicher für die Demokratie zu machen?«

»Na und? In Kriegszeiten haben Frauen das immer getan!« Laura bemühte sich, ihre Lautstärke zu mäßigen. »Du wirst sowieso hier benötigt, um den Ausschuß zu beraten. Ich werde nach Singapur gehen.«

»Ich wünsche nicht, daß du gehst.« Er versuchte kurz und entschieden zu sein, es in Emilys Anwesenheit wie ein Ultimatum klingen zu lassen, aber es fehlte alle Kraft. Er fürchtete für sie, und es war fast mehr eine Bitte.

»Ich werde zurückkommen, und nichts wird mir zustoßen«, sagte sie. Die Worte klangen wie eine Ermutigung statt einer Weigerung. Aber er war darum nicht weniger verletzt.

Gespannte Stille. Emily sah unglücklich aus. »Vielleicht ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, darüber zu sprechen. Ihr habt beide unter großer Anspannung gestanden.«

David achtete nicht auf sie. »Laura, du wirst es tun, nicht wahr, gleichgültig, was ich zu dir sage?«

Es hatte keinen Sinn, jetzt zu zögern. Besser, sie brachte es hinter sich. »Ja. Ich muß«, sagte sie. »Es hat mich jetzt gepackt. Es ist in mir, David. Ich habe zuviel davon gesehen. Wenn ich mich da nicht irgendwie durcharbeite, werde ich nie wieder ruhig schlafen.«

»Nun«, sagte er, »dann hat es keinen Sinn mehr, zu diskutieren, oder? Dann ist der Punkt erreicht, wo ich dich entweder in die Unterwerfung prügele oder mit Scheidung drohe.« Er stand mit ruckartigen Bewegungen vom Hocker auf und ging auf und ab, steif vor innerer Spannung, mit schleifenden Schritten. Sie zwang sich, ruhig zu bleiben und ihn mit sich ringen zu lassen.

Schließlich hob er den Kopf und sagte: »Es kann sein, daß wir jetzt drinstecken, ob es uns gefällt oder nicht. Keiner von uns kann sagen, ob nicht die Hälfte der Rizome-Gesellschafter auf irgendeiner terroristischen Abschußliste steht, nur weil wir Stellung bezogen haben. Wenn wir vor Kriminellen die Köpfe einziehen, werden wir sie nie überwinden. Klar.« Er blieb stehen und schaute sie an.

Sie hatte gewonnen. Ihr Gesicht, starr und hartnäckig, löste sich in einem Lächeln. Hilflos und strahlend, ein Lächeln für ihn. Sie war sehr stolz auf ihn. Stolz, weil er war, was er war; stolz auch, daß Emily es gesehen hatte.

Er setzte sich wieder auf den Hocker und blickte ihr in die Augen. »Aber du wirst nicht gehen«, sagte er ihr. »Ich werde es tun.«

Sie nahm seine Hand und hielt sie in ihren Fingern, eine gute, starke, warme Hand. »Das wäre nicht, wie es bei uns funktioniert«, sagte sie mit freundlicher Stimme. »Du bist der Mann mit Ideen, David. Ich bin diejenige, die mit Menschen umgeht.«

»Lieber lasse ich mich erschießen«, sagte er. »Ich könnte es nicht ertragen, wenn dir etwas zustoßen würde: Das ist mein Ernst.«

Sie umarmte ihn. »Nichts wird geschehen, Lieber. Ich werde einfach den Auftrag ausführen und zurückkommen. Mit Ruhm bedeckt.«

Er machte sich von ihr los, stand auf. »Du willst nicht einmal einen Fußbreit nachgeben, wie?« Er schritt zur Tür. »Ich gehe.«

Emily öffnete den Mund. Laura hielt sie am Arm zurück. David verließ die Wohnung.

»Laß ihn gehen«, sagte Laura. »Er ist so, wenn wir streiten. Er braucht das.«

»Es tut mir leid«, sagte Emily.

Laura fühlte sich den Tränen nahe. »Es ist für uns wirklich schlimm gewesen. Die ganze Zeit an der Leitung. Er muß Dampf ablassen.«

»Ihr seid bloß nervös und übermüdet. Ich bring dir ein Papiertaschentuch, Laura.«

»Gewöhnlich bin ich besser mit ihm«, schnupfte Laura. Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Aber im Moment bin ich…«

»Sei still.« Emily gab ihr ein Papiertaschentuch. »Kein Wunder.«

»Entschuldige.«

Emily berührte ihre Schulter. »Immer plage ich dich mit meinen Problemen, Laura. Aber du stützt dich nie auf mich. Immer bist du so beherrscht. Alle sagen das.« Sie zögerte. »Ihr braucht etwas Zeit zusammen, du und David.«

»Nach meiner Rückkehr werden wir alle Zeit der Welt haben.«

»Vielleicht solltest du es noch einmal überdenken.«

»Es hat keinen Zweck, Emily. Wir kommen nicht daran vorbei.« Sie wischte sich die Augen. »Stubbs machte mir das klar, bevor sie ihn umbrachten. Eine Welt bedeutet, daß es keinen Ort gibt, wo du dich verstecken kannst.« Sie schüttelte den Kopf, warf das Haar zurück und zwinkerte das Brennen aus ihren Augen. »Ach was, Singapur ist nur ein Telefongespräch entfernt. Ich werde David jeden Tag von dort anrufen. Werde es an ihm gutmachen.«

Singapur.