7. Kapitel

 

Singapur. Heißes tropisches Licht stieß schräg durch braune hölzerne Läden. Ein Deckenventilator quietschte und flatterte, quietschte und flatterte, und Staubteilchen kreisten in einem langsamen atomistischen Tanz über ihrem Kopf.

Sie lag auf einem Feldbett im Obergeschoß eines älteren Hauses an der Uferstraße. Rizomes Niederlassung in Singapur.

Sie richtete sich auf, gähnte, blinzelte. Dünnes Linoleum mit Holzmaserung, kühl und klebrig unter ihren schwitzenden Füßen. Der Mittagsschlaf hatte ihr Kopfschmerzen hinterlassen.

Massive Stahlträger durchbohrten Boden und Decke; die weiße Wandfarbe, mit der sie gestrichen waren, löste sich über Rostflecken. An den Wänden ringsum standen hohe, wacklige Stapel von Kisten und Kartons. Dosen mit Haarspray, dessen FCKW-Treibmittel die Ozonschicht der Atmosphäre schädigte. Schönheitsseife voll Breitspektrum-Antibiotika. Wunderkuren aus Zink und Ginseng, die behaupteten, von Impotenz zu heilen, die Milz zu reinigen und einen ausgeglichenen Gemütszustand zu erzeugen. All dieser üble Schund war im Haus zurückgeblieben, als die Vorbesitzer bankrott gemacht hatten. Suvendras Rizome-Niederlassung weigerte sich, es zu vermarkten.

Früher oder später würden sie es der Sammelstelle für Sondermüll übergeben, einstweilen aber hatte sich in den Winkeln und Spalten eine nützliche Sippe von Geckos angesiedelt, die an Wänden und Decke auf Insekten Jagd machte. Gerade kam wieder einer mit seinen lustigen Haftzehen über die wasserfleckige Decke gelaufen. Es war der große, matronenhaft Aussehende, der gern bei der Lampenfassung saß. »Hallo, Gwyneth«, sagte Laura zu ihm und gähnte.

Sie blickte auf die Armbanduhr. Sechzehn Uhr. Sie hatte noch viel Schlaf nachzuholen, um die Anstrengungen der Eile und Sorge und den Timelag der Flugreise zu überwinden, aber sie durfte den Nachmittag nicht vertrödeln.

Sie stieg in ihre Jeans, steckte die Bluse hinein. Ihr tragbarer Datenanschluß stand auf einem kleinen Klapptisch hinter einem Flechtkorb mit Papierblumen. Irgendeine Singapurer Regierungsbehörde hatte Laura den Strauß als Begrüßungsgeschenk zustellen lassen. Es entsprach dem Brauch hierzulande. Sie hatte das Gebinde behalten, weil sie noch nie Papierblumen von der Art gesehen hatte, wie sie hier in Singapur gemacht wurden. Sie waren äußerst fein und elegant, beinahe beängstigend in ihrer Vollkommenheit. Rote Hibiskusblüten, weiße Chrysanthemen, Singapurs Nationalfarben. Schön und vollkommen und unwirklich. Sie dufteten nach Kölnisch Wasser.

Sie setzte sich, schaltete das Gerät ein und gab Daten ein. Öffnete eine Flasche Mineralwasser und goß daraus in eine drachenumgurtete Teetasse. Sie arbeitete und trank und konzentrierte sich, Die Welt um sie her verblich. Grüne Schrift in schwarzem Glas. Die innere Welt des Netzes.

 

PARLAMENT DER REPUBLIK SINGAPUR
Ausschuß zu Fragen der Informationspolitik
Protokoll der öffentlichen Anhörung
9. Oktober 2023

 

VORSITZENDER

S. P. Jeyaratnam, (Jurong), VEP

STELLVERTRETENDER VORSITZENDER

Y. H. Leong, (Moulmein), VEP

MITGLIEDER

A. bin Awang, (Bras Basah), VEP

T. B. Pang, (Queenstown), VEP

C. H. Quah, (Telok Blangah), VEP

Dr. R. Razak, (Anson), Anti-Arbeiterpartei

JEYARATNAM: Diese Anschuldigungen kann man nur als verleumderisch bezeichnen!

WEBSTER: Die Flexibilität der geltenden Gesetze gegen

Verleumdung sind mir bewußt.

JEYARATNAM: Wollen Sie die Integrität unseres Rechtssystems verunglimpfen?

WEBSTER: Amnesty International hat eine Liste von achtzehn einheimischen politischen Aktivisten, die wegen des Vorwurfs der Verleumdung durch Maßnahmen Ihrer Behörden in den Bankrott getrieben oder ins Gefängnis gebracht wurden.

JEYARATNAM: Dieser Ausschuß läßt sich nicht zur Plattform regierungsfeindlicher Propaganda machen! Haben Ihre guten Freunde in Grenada Sie vor einem Parlamentsausschuß sprechen lassen?

WEBSTER: Grenada ist eine autokratische Diktatur, Herr Vorsitzender.

JEYARATNAM: In der Tat. Dies aber hat Sie und andere Amerikaner nicht daran gehindert, sich dort einzuschmeicheln. Oder uns anzugreifen, eine industrielle Demokratie mit vergleichbaren Wertvorstellungen.

WEBSTER: Ich bin keine Diplomatin der Vereinigten Staaten. Ich bin Gesellschafterin eines weltumspannenden Unternehmens. Unmittelbarer Anlaß meiner Anwesenheit hier ist Ihre Wirtschaftspolitik. Die Gesetzgebung Singapurs fördert oder gestattet zumindest industrielle Piraterie und Mißachtung des Datenschutzes. Ihre Yung Soo Chim Islamische Bank mag eine bessere Fassade scheinbarer Legalität haben, aber sie hat die Interessen meines Unternehmens ebenso geschädigt wie die United Bank of Grenada. Wenn nicht mehr. Wir wollen nicht Ihren Stolz oder Ihre Souveränität verletzen, aber wir wünschen, daß diese Politik geändert wird. Darum bin ich gekommen.

JEYARATNAM: Sie setzen unsere demokratische Regierung einem terroristischen Regime gleich.

WEBSTER: Ich setze sie nicht gleich, weil ich nicht glauben kann, daß Singapur für den bösartigen Angriff, den ich sah, verantwortlich ist. Aber die Grenadiner glauben es, weil ihnen nur zu gut bewußt ist, daß Sie und sie Rivalen in der Datenpiraterie sind, und daß Sie somit ein Motiv haben. Und was die Vergeltungsmaßnahmen angeht, so glaube ich - so weiß ich -, daß sie zu beinahe allem fähig sind.

JEYARATNAM: Zu allem? Wie viele Bataillone hat dieser Medizinmann?

WEBSTER: Ich kann Ihnen nur sagen, was sie mir sagten. Kurz vor meiner Abreise gab mir ein grenadinischer Kader namens Andrej Tarkowskij eine Botschaft für Sie.

(Mrs. Websters Zeugnis gelöscht)

JEYARATNAM: Ich bitte um Ruhe! Das ist offenkundige terroristische Propaganda… Ich erteile dem Abgeordneten Pang das Wort.

PANG: Ich beantrage, daß die subversive terroristische Botschaft aus dem Protokoll gestrichen werde.

QUAH: Ich unterstütze den Antrag.

JEYARATNAM: Es ist so angeordnet.

DR. RAZAK: Herr Vorsitzender, ich möchte meinen Einspruch gegen diesen törichten Akt von Zensur zu Protokoll geben.

WEBSTER: Singapur könnte das nächste Opfer sein! Ich sah es geschehen! Verfahrensfragen werden Ihnen nicht helfen, wenn sie Minen und Brandbomben auf Ihre Stadt streuen!

JEYARATNAM: Ich bitte um Ruhe, meine Damen und Herren.

DR. RAZAK:... eine Art Gastwirtin?

WEBSTER: Gesellschafter bei Rizome haben keine ›Jobs‹,

Dr. Razak. Nur Dinge, die zu tun sind, und Leute, die sie tun.

DR. RAZAK: Meine geschätzten Kollegen von der Volkserneuerungspartei könnten das ›ineffizient‹ nennen.

WEBSTER: Nun, unsere Vorstellung von Effizienz hat mehr mit persönlicher Erfüllung als mit… ah… materiellem Besitz zu tun. DR. RAZAK: Ich hörte, daß zahlreiche Beschäftigte Ihrer Unternehmen nach eigenem Belieben arbeiten.

WEBSTER: Nun, wir kümmern uns um unsere Leute. Natürlich finden viele Aktivitäten außerhalb der Geldwirtschaft statt. In einer unsichtbaren Ökonomie, die in Geld nicht quantifizierbar ist. Sie können es mit Hausarbeit vergleichen: Sie bekommen kein Geld dafür, daß Sie sie verrichten, aber so kann Ihre Familie überleben, nicht wahr? Der Umstand, daß es nicht in einer Bank liegt, bedeutet nicht, daß es nicht existiert.

DR. RAZAK: Mit anderen Worten, Sie stellen Lebensfreude über den Profit. Sie haben den herkömmlichen Begriff der ›Arbeit‹, das demütigende Gespenst erzwungener Produktion durch aufgelockerte Strukturen ersetzt, die viel Zeit für verschiedenartigen, spielerischen Zeitvertreib lassen. Und das Motiv der Besitzgier durch ein Geflecht gesellschaftlicher Bindungen, verstärkt durch eine gewählte Machtstruktur.

WEBSTER: Ja, ich denke schon… wenn ich Ihre Definition richtig verstanden habe.

DR. RAZAK: Wie lange wird es dauern, bis Sie die ›Arbeit‹ ganz abschaffen können?

 

Singha Pura bedeutete ›Löwenstadt‹. Aber auf der Insel Singapur hatte es niemals Löwen gegeben.

Der Name mußte jedoch irgendeinen Sinn ergeben. Also sagte die lokale Legende, der ›Löwe‹ sei ein Seeungeheuer gewesen.

Auf der gegenüberliegenden Tribüne des Singapurer Nationalstadions hob eine guteingeübte Menschenmenge verschiedenfarbige Karten in die Höhe, und zeigte das

Ungeheuer, den Singapurer ›Merlion‹ in einem bunten Mosaik aus Kartonquadraten.

Lauter, patriotischer Applaus aus einer dichtgedrängten Menge von sechzigtausend Zuschauern.

Der Merlion hatte einen langen, schuppigen Fischkörper und den Löwenkopf des alten britischen Empires. Im Merlionpark an der Mündung des Singapurflusses gab es eine Statue davon, zehn Meter hoch, ein wirklich monströses Mischwesen.

Es schien Ost und West - so verschieden wie Katzen und Fische - bestimmt, sich niemals zu vermischen. Aber dann hatte irgendein Optimist dem Fisch einfach den Kopf abgeschlagen und den des Löwen angepappt. Und das Ergebnis war Singapur.

Inzwischen hatte es vier Millionen Einwohner und die höchsten Wolkenkratzer.

Suvendra, die neben Laura auf der unbedeckten Tribüne saß, bot ihr eine Papiertüte mit gerösteten Bananenscheiben an. Laura nahm eine Handvoll und trank Zitronenlimonade. Die fliegenden Verkäufer im Stadion verkauften die beste Schnellimbißkost, die sie je gegessen hatte.

Gegenüber entstand neue, präzise eingeübte Bewegung, und diesmal erschien ein großes, grinsendes Gesicht, grob gerastert wie schlechte Computergrafik.

»Das ist der Raumfahrer«, sagte Suvendra hilfsbereit. Sie war eine winzig kleine Malaiin Mitte der Fünfzig, das ölige blauschwarze Haar im Nacken verknotet, und mit zerbrechlich aussehenden, abstehenden Ohren. Sie trug ein gelbes Kleid, einen Tennishut und ein Rizome-Halstuch. Auf ihrer anderen Seite kaute ein fleischiger Europäer Sonnenblumenkerne und spuckte die Schalen sorgsam in einen kleinen Plastikbeutel.

»Ah, richtig.« Das also war Singapurs Astronaut, wie er aus seinem Schutzhelm grinste. Die Wiedergabe erinnerte an einen abgeschnittenen Kopf, der in einem Fernsehgerät steckte.

Ein Donnern, ein schrilles Jaulen vom Westhimmel.

Laura krümmte sich unwillkürlich. Sechs mattschwarze Kampfflugzeuge der Luftwaffe von Singapur fegten im Tiefflug über das Stadion, bösartig aussehende Geräte. Es waren Maschinen der Kunstflugstaffel… Chromengel, oder wie sie sich nannten. Drei bliesen orangefarbene Rauchfahnen korkenzieherartig aus den Spitzen ihrer Dreiecksflügel. Die Menge sprang begeistert auf, jubelte und winkte mit ihren Programmblättern.

Die Brigaden der Jungen und Mädchen ergossen sich auf das Fußballfeld, einheitlich gekleidet in weiße Hemden und Blusen und rote Hosen und Röcke, kleine Schirmmützen auf dem Kopf. Sie stellten sich in Formationen auf und wirbelten lange, gebänderte Wimpel an Besenstielen. Präzise marschierende, tanzende, fahnenschwenkende Schulkinder, denen man aus der Entfernung nicht ansah, daß sie ein buntes Rassengemisch von Chinesen, Malaien, Indern und Tamilen waren.

»Sie sind sehr gut einexerziert, nicht?« sagte Suvendra.

»Ja.«

Am östlichen Ende des Stadions ragte eine VideoAnzeigetafel auf. Sie zeigte jetzt eine Direktübertragung der Fernsehaufnahmen vom Singapurer Rundfunkdienst. Auf dem Bildschirm erschien eine Nahaufnahme aus der Prominentenloge des Stadions. Die einheimischen Bonzen verfolgten das Schauspiel mit jenem strahlenden, gefühlvollen Ausdruck, den Politiker für die Kinder der Wähler reservieren.

Laura versuchte sie zu identifizieren. Der Mann im Leinenanzug war S. P. Jeyaratnam, Singapurs Regierungsbeauftragter für Funk und Fernsehen, ein Tamile mit buschigen Brauen und dem unbestimmt salbungsvollen Ausdruck eines der blutdürstigen Göttin Kali opfernden Mitgliedes der Thug-Raubmörderkaste. Jeyaratnam war ein ehemaliger Journalist, jetzt einer der mächtigsten Männer der Volkserneuerungspartei. Er war ein wortgewandter Mann mit einem Talent für unterschwellige Beleidigungen; Laura hatte sich ungern seinen Angriffen gestellt.

Singapurs Premierminister bemerkte die Fernsehkamera. Er schob seine goldumrandete Sonnenbrille auf die Nase und spähte über den Rand hinweg ins Objektiv. Er zwinkerte.

Die Menge wand sich vor Vergnügen.

Der Premierminister schmunzelte liebenswürdig und murmelte der Frau neben sich etwas zu. Es war eine junge chinesische Schauspielerin mit hochaufgetürmtem Haar und einem golddurchwirkten Chiton. Sie lachte mit geübtem Charisma. Der Premierminister warf eine glatte, schwarze Haarsträhne aus der Stirn. Seine kräftigen jungen Zähne blitzten.

Die Videokamera verließ die Prominenz und schwenkte zu den stiefelbekleideten Beinen einer Tambourmajorin an der Spitze einer Schar weiblicher Spielleute.

Die Kinder verließen das Stadion, begleitet von freundlichem Applaus, und zwei lange Reihen Militärpolizisten marschierten ein. Stahlhelme mit weißen Kinnriemen, weiße Gürtel, frisch gebügelte Khakiuniformen, blitzblanke Stiefel. Die Soldaten stellten sich vor den Tribünen auf und begannen mit Gewehrexerzieren.

»Kim sieht heute gut aus«, sagte Suvendra. In Singapur nannte jedermann den Premierminister beim Vornamen. Sein voller Name war Kim Swee Lok - oder Lok Kim Swee, für seine chinesischen Landsleute.

»Mmh«, sagte Laura.

Suvendra berührte Lauras Arm leicht wie ein Schmetterling. »Sie sind still heute abend. Noch müde von der Anhörung?«

»Er erinnert mich an meinen Mann«, platzte Laura heraus.

Suvendra lächelte. »Er ist ein gutaussehender Bursche, ihr Mann.«

Laura verspürte Unbehagen. Sie war ohne Pause um die Welt geflogen, und die Zeitumstellung und der Kulturschock hatten seltsame Nebenwirkungen. Irgendeine nach Grundmustern forschende Seite ihres Verstandes drohte heißzulaufen. Sie hatte in Singapur Ladenverkäufer mit den Gesichtern von Popstars gesehen, und Polizisten, die wie Präsidenten aussahen. Und Suvendra erinnerte Laura irgendwie an Grace Webster, ihre Schwiegermutter. Keine körperliche Ähnlichkeit, aber die Ausstrahlung, das Gefühl war da. Laura war mit Grace immer gut ausgekommen.

Kims publikumswirksames Auftreten erzeugte in Laura zwiespältige Empfindungen. Sein Einfluß auf diesen kleinen Stadtstaat war von einer beinahe erotischen persönlichen Intimität. Es war, als hätte Singapur ihn geheiratet. Seine Volkserneuerungspartei hatte die Opposition mit dem Wahlzettel vernichtet. Demokratisch und legal, doch war die Republik Singapur jetzt ein Einparteienstaat.

Die ganze kleine Republik mit ihrem wimmelnden Verkehr und ihrer fröhlichen, disziplinierten Bevölkerung war jetzt in den Händen eines zweiunddreißigjährigen visionären Genies. Seit er mit dreiundzwanzig als Abgeordneter ins Parlament gewählt worden war, hatte Kim Lok den öffentlichen Dienst reformiert, eine umfassende Planung zur Stadtentwicklung eingeleitet und die Streitkräfte revitalisiert. Und während er in eine Reihe allseits bekannter Liebesaffären verstrickt gewesen war, hatte er außerdem noch die Zeit aufgebracht, Studienabschlüsse in Politikwissenschaft und Ingenieurswesen zu erlangen. Sein Aufstieg zur Macht war unaufhaltsam gewesen, getragen von einer seltsamen Mischung von Drohung und jugendlichem Charme.

Die Soldaten beendeten ihre Vorführung, nahmen Haltung an und salutierten. Die Menge erhob sich zum Absingen der Nationalhymne, einem eingängigen Gassenhauer in verlangsamtem Tempo, der mit den Worten ›Zähl auf mich, Singapur‹ begann. Zehntausende von lächelnden, ordentlich gekleideten Chinesen, Malaien und Tamilen sangen sie alle auf englisch.

Die Menge nahm ihre Tribünenplätze wieder mit dem lauten, eigentümlichen Geraschel ein, das von Tonnen bewegten menschlichen Fleisches ausgeht. Sie rochen nach Sassafras und Sonnenöl und Speiseeis. Suvendra setzte das Fernglas an und richtete es auf das kugelsichere Glas der Prominententribüne. »Jetzt kommt die große Ansprache«, sagte sie zu Laura. »Er mag mit der Raumfahrt anfangen, aber enden wird er mit der Grenada-Krise. Sie sollten eine Tonaufzeichnung machen, um seine Rhetorik zu studieren.«

»Richtig.« Laura schaltete ihr kleines Kassettengerät ein.

Erwartungsvoll blickten sie zum Videoschirm.

Der Premierminister erhob sich, steckte die Sonnenbrille achtlos in die Brusttasche seines Anzugs. Er umfaßte mit beiden Händen den Rand des Rednerpults und beugte sich zum Mikrofon, das Kinn vorgereckt, die Schultern gespannt.

Eine gespannte und aufmerksame Stille ergriff Besitz von der Menge. Die Frau neben Laura, eine chinesische Matrone in Stretchhosen und einem Strohhut, drückte nervös die Knie zusammen und stieß die Hände in den Schoß. Der Mann, der Sonnenblumenkerne gemümmelt hatte, stellte den Beutel zwischen seine Füße.

Nahaufnahme. Kopf und Schultern des Premierministers ragten zehn Meter hoch auf der Video-Anzeigetafel. Eine seidenweich verstärkte Stimme, glatt und vertraulich, tönte aus dem hervorragend eingestellten Lautsprechersystem.

»Meine lieben Mitbürger«, sagte Kim.

Suvendra flüsterte hastig: »Das wird eine bedeutende Ansprache, ganz sicher!« Der Mann mit den Sonnenblumenkernen zischte tadelnd um Stille.

»In den Tagen unserer Großeltern«, begann Kim, »besuchten Amerikaner den Mond. Zu dieser Stunde umkreist noch immer eine alte Raumstation unsere Erde.

Doch hat das größte Abenteuer der Menschheit bis heute ein halbvergessenes Schattendasein gefristet. Die Mächte außerhalb unserer Grenzen sind an einem neuen Aufbruch nicht mehr interessiert. Die Globalisten haben diese Ideale erstickt. Ihre unbeholfenen, altmodischen Raketen erinnern noch an die nuklearen Gefechtsköpfe, mit denen sie einst die Welt bedrohten.

Aber meine Damen und Herren, liebe Mitbürger, heute kann ich vor Ihnen stehen und Ihnen sagen, daß die Welt nicht mit dem Weitblick Singapurs gerechnet hat!«

Begeisterter Applaus. Der Premierminister wartete lächelnd. Er hob die Hand, und Stille kehrte ein.

»Der Orbitalflug Hauptmann Yong-Joos ist die größte raumfahrttechnische Errungenschaft unserer Ära. Seine Leistung zeigt der ganzen Welt, daß unsere Republik jetzt über die fortgeschrittenste Technik auf Erden verfügt. Technik, die sauber, schnell und effizient ist - eine Frucht wissenschaftlich-technischer Durchbrüche auf den Gebieten der Supraleiter und modulationsfähigen Lasern. Neuerungen, die anderen Nationen unerreichbar zu sein scheinen - oder die sie sich nicht einmal vorstellen können.«

Ein halb mitleidiges Lächeln von Kim. Wilde Freudenschreie aus den sechzigtausend Kehlen.

»Heute richten Männer und Frauen in allen Teilen der Welt ihre Augen auf Singapur. Sie sind verwirrt von der Größe unserer Leistung - einer unleugbaren Tatsache, die Jahre globalistischer Verleumdung Lügen straft. Sie wundern sich, wie unsere Stadt von vier Millionen Seelen triumphieren konnte, wo kontinentale Nationen versagten.

Aber unser Erfolg ist kein Geheimnis. Er war bereits unserem Schicksal als Nation inhärent. Unsere Insel ist schön, aber sie kann uns nicht ernähren. Seit zwei Jahrhunderten haben wir von der Löwenstadt jede Handvoll Reis durch Klugheit und Geschick verdienen müssen.«

Ein strenges Stirnrunzeln auf dem enorm vergrößerten Gesicht. Erregte Unruhe in der Menge.

»Dieses Ringen gab uns Kraft. Bittere Notwendigkeit zwang Singapur, die Bürde der Vortrefflichkeit auf sich zu nehmen. Seit unserer Unabhängigkeit haben wir die Leistungen der entwickelten Welt eingeholt und übertroffen. Hier hat es niemals Raum für Schlamperei, Müßiggang und Korruption gegeben. Doch während wir voranschritten, haben diese Laster sich tief in den Kern der westlichen Zivilisation gefressen.«

Ein selbstzufriedenes Lächeln mit blitzenden Zähnen, beinahe höhnisch.

»Heute schläft der amerikanische Riese; seine Regierung ist auf eine Fernsehparodie reduziert. Der Sozialistische Block verfolgt noch immer seine hohlen Träume von Konsumbefriedigung. Selbst die einst mächtigen Japaner sind vorsichtig geworden und verweichlicht.

Heute gleitet die Welt unter dem schädlichen Einfluß der Wiener Konvention unaufhaltsam grauer Mittelmäßigkeit entgegen.

Aber der Flug unseres Hauptmanns Yong-Joo bezeichnet einen Wendepunkt. Heute tritt unser historisches Ringen in eine neue Phase ein, und es geht um Einsätze, die höher sind als alle, die wir bisher gewagt haben.

Fremde Reiche haben stets versucht, diese Insel zu beherrschen. Wir bekämpften die japanischen Unterdrücker in drei Jahren militärischer Besetzung. Wir schickten die britischen Imperialisten zurück in ihren europäischen Verfall. Der chinesische Kommunismus und der malaysische Verrat suchten uns zu untergraben - ohne Erfolg!

Und heute, in diesem Augenblick, speit das globalistische Mediennetz propagandistischen Geifer gegen unsere Insel aus.«

Laura fröstelte in der lauen tropischen Luft.

»Zölle werden erhöht, unsere Erzeugnisse durch Einfuhrquoten von den Märkten der westlichen Welt ferngehalten, ausländische multinationale Unternehmen verschwören sich gegen unsere bahnbrechenden Industrien. Warum? Was haben wir getan, daß wir solche Behandlung verdienen?

Die Antwort ist einfach. Wir haben sie auf ihrem eigenen Feld geschlagen. Wir sind erfolgreich gewesen, wo die Globalisten versagten!«

Seine Hand durchschnitt die Luft mit einem jähen Aufblinken goldener Manschettenknöpfe.

»Reisen Sie durch jede andere entwickelte Nation! Sie werden Trägheit, Verfall und Zynismus antreffen. Überall eine Absage an den Pioniergeist. Mit Unrat übersäte Straßen, rostzerfressene Fabriken. Männer und Frauen, die zu einem nutzlosen Leben in der Schlange der Sozialhilfeempfänger verurteilt sind. Künstler und Intellektuelle ohne Ziel und Perspektive, die sinnentleerte Spiele lustloser Entfremdung spielen. Und überall das betäubende Netz der Eine-Welt-Propaganda.

Das Regime der Einheitskultur macht vor nichts halt, um seinen Status quo zu verteidigen und auszuweiten. Die graue Einheitskultur kann der dynamischen Kraft unseres freien Wettbewerbs nicht standhalten. Also geben ihre Wortführer vor, unseren Wagemut und unseren Einfallsreichtum zu verabscheuen. Wir leben in einer Welt von Maschinenstürmern, die Milliarden für die Erhaltung von Wildnissen ausgeben, aber nichts für das höchste Streben der Menschheit.

Eingelullt von leeren Sicherheitsversprechen, legt sich die Welt außerhalb unserer Grenzen schlafen.

Das ist eine traurige Aussicht. Doch gibt es Hoffnung. Denn Singapur ist heute wach und lebendig, wie keine Gesellschaft es je zuvor gewesen ist.

Meine Mitbürger - Singapur wird sich nicht länger mit einer aufgezwungenen unbedeutenden Rolle am Rande der Welt zufriedengeben. Unsere Löwenstadt ist niemandes Hinterhof, niemandes Marionettenstaat! Wir leben in einem Zeitalter der Information, und unser Mangel an Territorium schränkt uns nicht länger ein. In einer Welt, die in mittelalterlichen Schlummer zurücksinkt, ist unser Singapur der potentielle Mittelpunkt einer Renaissance!«

Die Frau in den Stretchhosen tastete ergriffen nach der Hand ihres Ehemanns.

»Ich bin heute vor Sie hingetreten, um Ihnen zu sagen, daß ein Kampf bevorsteht - ein Ringen um die Seele der Zivilisation. Unser Singapur wird diesen Kampf führen! Und wir werden ihn gewinnen!«

Überall im Stadion sprangen Männer und Frauen auf - vielleicht Parteikader? Darauf brandete die gesamte Menge von ihren Sitzen hoch, und auch Laura und Suvendra standen auf, um nicht auffällig zu werden. Die Rufe verstummten, und das Oval des Stadions hallte vom rhythmischen Händeklatschen wider.

»Er ist gehässig«, murmelte Laura. Suvendra nickte, während sie ohne Geräusch in die Hände klatschte.

»Liebe Damen und Herren«, fuhr der Premierminister fort, und die Menge ließ sich wieder auf die Sitze nieder, »wir sind niemals ein Volk von Selbstzufriedenen gewesen. Wir haben unsere weise Tradition umfassender Wehrertüchtigung niemals aufgegeben. Heute profitieren wir von diesem langen Opfer an Zeit und Anstrengung. Unsere kleinen, aber hervorragend ausgebildeten und modern ausgerüsteten Streitkräfte zählen heute zu den besten der modernen Welt. Unsere Gegner haben seit Jahren Drohungen ausgestoßen, aber sie wagen nicht, ihr Spiel mit der Festung Singapur zu treiben. Sie wissen recht gut, daß unsere Schnellen Eingreifverbände binnen Stunden rasche, chirurgische Vergeltung in jeden Winkel des Erdballs tragen können!

Also wird der Kampf, dem wir uns gegenübersehen, subtil sein, ohne klare Fronten. Er wird unseren Willen, unsere Unabhängigkeit und unsere Traditionen herausfordern - unser Überleben als Volk.

Die erste Prüfung ist uns bereits auferlegt worden. Ich meine die jüngste terroristische Greueltat gegen die karibische Inselnation Grenada. Die grenadinische Regierung - ich gebrauche die Bezeichnung ganz zwanglos…«

Ein Ausbruch von Gelächter löste die Spannung.

»Grenada hat öffentlich behauptet, daß gewisse Elemente in Singapur für diesen Angriff Verantwortung trügen. Ich habe das Parlament aufgefordert, eine gründliche und öffentliche Untersuchung der Angelegenheit durchzuführen. Gegenwärtig, meine lieben Damen und Herren, kann ich mich nicht ausführlich zu dieser Angelegenheit äußern. Ich möchte der parlamentarischen Untersuchung nicht vorgreifen, noch möchte ich unsere Nachrichtenquellen gefährden. Ich kann Ihnen jedoch sagen, daß Grenadas Feinde möglicherweise Singapurs kommerzielle Leitungen benutzt haben, um die wahre Urheberschaft zu verschleiern.

Wenn sich diese Wahrscheinlichkeit zur Gewißheit verdichtet, gelobe ich heute vor Ihnen allen, daß die Verantwortlichen einen hohen Preis bezahlen werden.«

Ein Ausdruck grimmiger Aufrichtigkeit. Laura beobachtete die Zuhörer ringsum. Sie saßen auf den Kanten ihrer Sitze, blickten ernst, hingebungsvoll und opferbereit.

»Liebe Damen und Herren, wir hegen keine bösen Absichten gegen das leidende Volk von Grenada. Durch diplomatische Kanäle haben wir bereits Verbindung gesucht und in dieser Krisenzeit medizinische und technische Hilfe angeboten.

Diese Geste guten Willens ist zurückgewiesen worden. Betäubt von dem grausamen Schlag, ist die Regierung Grenadas zerfallen, und ihre Rhetorik kann kaum noch als rational bezeichnet werden. Bis die Lage sich beruhigt, müssen wir gegen Provokationen gewappnet sein. Wir müssen Geduld haben. Erinnern wir uns, daß die Grenadiner noch nie ein diszipliniertes Volk gewesen sind. Wir müssen hoffen, daß sie zur Besinnung kommen werden, sobald ihre Panik verfliegt.«

Kim ließ das Rednerpult los, das er mit weißen Knöcheln umklammert hatte, und strich sich eine Haarsträhne aus den Augen. Er wartete einen Augenblick lang und bewegte seine Finger, als juckten sie.

»Einstweilen jedoch fahren sie fort, kriegerische Drohungen auszustoßen. Grenadia hat die grundlegende Gemeinsamkeit unserer Interessen noch nicht erkannt.«

Laura merkte auf. Grenadia?

»Ein Angriff auf Grenadias Souveränität ist eine potentielle Bedrohung unserer eigenen Unabhängigkeit. Wir müssen die Möglichkeit - die Wahrscheinlichkeit - einer verdeckten Strategie in Betracht ziehen, die Grenadia und uns gegeneinander auszuspielen sucht, um uns beide zu beherrschen…«

Kim blickte zur Seite. Plötzlich standen Schweißperlen auf seiner gepuderten Stirn - auf dem riesenhaften Bildschirm waren sie groß wie Fußbälle. Sekunden verstrichen. Da und dort wurde besorgtes Gemurmel laut.

»Heute - morgen - werde ich den Ausnahmezustand ausrufen - die Ermächtigung durch das Parlament vorausgesetzt… notwendig, um unsere Bürger gegen Subversion zu schützen. gegen Angriffe der Globalisten, oder Schwarzen. Der Grenadiner. Der… der Nigger!«

Kim taumelte vom Rednerpult zurück. Er blickte wieder nach links und rechts, schwindlig, haltsuchend. Abseits der Kamera redeten besorgte Stimmen durcheinander.

»Was sagte ich?« murmelte Kim. Er zog an seinem Einstecktuch, und seine Brille fiel klappernd zu Boden. Er wischte sich Stirn und Nacken, dann ergriff ihn ein plötzlicher Krampf, er stolperte vorwärts und schlug aufs Rednerpult. Sein Gesicht lief rot an, und er schrie einen Strom zusammenhangloser Verwünschungen, Obszönitäten und Beleidigungen in die Mikrofone.

Entsetzte Schreie. Ein dumpfes Getöse, als die Menge der Sechzigtausend in Verwirrung aufstand.

Kim erschlaffte und brach hinter dem Rednerpult zusammen.

Plötzlich sprang er wieder auf, wie eine Marionette. Er öffnete den Mund.

Im nächsten Augenblick erbrach er Blut und Feuer. Bleiche Flammen schossen ihm aus Mund und Augen. Innerhalb von Sekunden schwärzte sich sein Gesicht von unmöglicher Hitze. Ein ohrenbetäubender, qualvoller Schrei gellte aus dem Lautsprecher, ein Geräusch wie von zerreißendem Blech und dem Geheul verdammter Seelen.

Sein Haar flammte auf wie eine Fackel, seine Haut wurde dunkel geröstet, kräuselte sich und platzte. Er krallte nach seinen brennenden Augen. Zugleich erfüllte ein gellendes metallisches Lärmen und Kreischen die Luft.

Zuschauer von den unteren Tribünenreihen verließen ihre Plätze, übersprangen und überkletterten die Sperren und liefen hinaus aufs Spielfeld, überrannten die weißbehelmten Polizisten, die wie Bojen in einer Flutwelle dem Ansturm zu widerstehen suchten, aber einfach umspült wurden.

Das Geräusch dauerte an.

Jemand zog an Lauras Knie. Es war Suvendra. Sie kauerte im Fußraum vor dem Sitz auf Knien und Ellbogen und rief ihr etwas Unverständliches zu, winkte ihr dann, in Deckung zu gehen.

Laura zögerte, sah sich um, und schon war die Menge über ihr.

Sie ergoß sich wie eine Sturzflut über die Tribüne abwärts. Ellbogen, Knie, Schultern, trampelnde Füße. Eine jähe Springflut menschlicher Körper, und Laura wurde rücklings über die Sitzreihe hinabgerissen. Sie prallte auf etwas, was schwammig nachgab - einen menschlichen Körper.

Ihr Gesicht schlug auf rauhen Beton, sie lag am Boden und zwei, drei Schuhe trampelten ihr über den Rücken und trieben ihr die Luft aus den Lungen. Ohne Luft, ohne Sicht. Sterbend!

Sekunden schwarzer Panik. Dann merkte sie, daß sie instinktiv in die Deckung unter der Sitzbank kroch, die unter den Tritten ächzte und sich bog. Menschen strömten über sie hinweg, eine schier endlose, in Panik tobende und trampelnde Masse von Beinen. Ein Fuß in einer Sandale stampfte ihr auf die Finger, und sie zog hastig die Hand zurück.

Ein kleiner Junge flog, vorwärts gestoßen, über sie hinweg. Seine Schulter prallte gegen die harte Kante einer Sitzreihe, und er blieb liegen: Schatten und Hitze und der Gestank von Angst und Lärm, fallende, krabbelnde Körper…

Laura biß die Zähne zusammen und schob sich bis zur Mitte aus der Deckung. Ihr ausgestreckter Arm bekam den Jungen zu fassen und zog ihn zu sich unter die Bank. Sie schlang die Arme um ihn und drückte ihn an sich.

Er preßte sein Gesicht gegen ihre Schulter, krallte sich in seiner Angst so fest an sie, daß es schmerzte. Der Beton der Tribüne zitterte unter ihr, das Stadion erbebte unter der Lawine menschlichen Fleisches.

Plötzlich verstummte der Höllenlärm aus den Lautsprechern. Laura dröhnten die Ohren. Auf einmal konnte sie den Jungen schluchzen und wimmern hören.

Das Spielfeld war von der Menge überflutet, die Tribünen ringsum übersät mit verlorenen und weggeworfenen Habseligkeiten: Schuhen, Hüten, tropfenden Getränkepackungen. Unten an der Einzäunung wankten verletzte und benommene Gestalten wie Betrunkene. Manche knieten, schluchzend. Andere lagen ausgestreckt und rührten sich nicht.

Laura kroch langsam aus der Deckung heraus, zog den Jungen nach und setzte ihn auf ihren Schoß. Er drückte noch immer das Gesicht an ihre Schulter.

Die Streifen von Bildstörungen zuckten lautlos über die riesige Anzeigetafel. Laura atmete angestrengt und zitternd. Solange es gedauert hatte, war keine Zeit für Überlegungen gewesen, nur eine betäubende, nichtendenwollende Raserei. Der Wahnsinn war wie ein Wirbelsturm durch die Menge gegangen. Jetzt war er fort.

Es hatte ungefähr eine Minute gedauert.

Ein alter Sikh mit einem Turban auf dem Kopf hinkte vorbei. Aus seinem weißen Bart tropfte Blut.

Unten auf dem Fußballplatz wogte und quirlte die Menschenmenge langsam durcheinander. Die Polizei sammelte sich da und dort, bildete Zusammenballungen von weißen Helmen. Sie versuchte die Leute zum Niedersitzen zu bewegen. Manche gehorchten, aber die meisten scheuten zurück, dumm und widerwillig, wie Vieh.

Laura lutschte an ihren abgeschürften Fingerknöcheln und blickte verwundert umher.

Es war alles zwecklos gewesen. Vernünftige, zivilisierte Menschen waren von ihren Sitzen aufgesprungen und hatten einander in panischer Flucht zu Tode getrampelt. Aus keinem vernünftigen Grund. Nun, da es vorbei war, versuchten sie nicht einmal, das Stadion zu verlassen. Einzelne kehrten sogar zu ihren Tribünensitzen zurück, mit leeren Gesichtern, unsicheren Bewegungen - den Ausdruck von belebten Toten.

Ein Stück weiter hatte sich eine fette Frau in einem geblümten Sari vom Boden aufgerappelt und schlug mit ihrem breitkrempigen Strohhut schreiend auf ihren Mann ein.

Laura fühlte eine Berührung an der Schulter und wandte den Kopf. Suvendra setzte sich neben sie, das Fernglas in der Hand. »Haben Sie es gut überstanden?«

»Mama«, jammerte der kleine Junge. Er war ungefähr sechs, hatte eine goldene Kette mit Namensschild am Handgelenk und trug ein Sporthemd mit der aufgedruckten Büste des Sokrates.

»Ich verkroch mich, wie Sie es taten«, sagte Laura. Sie räusperte sich. »Das war klug.«

»Ich habe Ähnliches früher schon erlebt, in Djakarta«, sagte Suvendra.

»Was ist überhaupt geschehen?«

Suvendra klopfte an ihr Fernglas und zeigte zur Prominentenloge. »Ich habe Kim dort ausgemacht. Er lebt.«

»Kim? Aber… aber wir sahen ihn sterben!«

»Wir sahen einen schmutzigen Trick«, sagte Suvendra.

»Was wir sahen, war nicht möglich. Selbst Kim Swee Lok kann nicht Feuer speien und explodieren.« Sie verzog säuerlich das Gesicht. »Sie wußten, daß er heute eine Rede halten würde. Sie hatten Zeit, sich darauf vorzubereiten. Die Terroristen.«

Laura ballte die Fäuste. »Ach du lieber Gott.«

Suvendra deutete mit einem Nicken zur Anzeigetafel. »Die Behörden haben die Übertragung eingestellt.

Weil sie sabotiert worden war, vermute ich. Jemand schaltete die Leitung um und brachte einen Alptraum auf den Bildschirm. Um die Bevölkerung zu ängstigen.«

»Aber wie erklären Sie dieses unheimliche, geisteskranke Geschwätz, das Kim von sich gab… Er sah aus, als hätte er den Verstand verloren oder stehe unter Drogen!« Laura strich dem Jungen geistesabwesend übers Haar. »Aber das muß auch manipuliert gewesen sein. Es war alles ein zurechtgemachtes Band, nicht wahr? Also ist Kim in Wahrheit gesund und munter?«

»Nein, ich sah ihn. Sie trugen ihn… Ich fürchte, die Prominentenloge war mit einer Falle versehen, der Kim zum Opfer fiel.«

»Sie meinen, alles das geschah wirklich? Kim redete tatsächlich irre?«

»Einen Mann unter Drogen zu setzen, daß er sich lächerlich macht, und ihm dann scheinbar lebendig verbrennen zu lassen - das könnte einem Woduzauberer reizvoll erscheinen.« Suvendra stand auf und knüpfte die Bänder ihres Sonnenhutes unter dem Kinn zu einer Schleife.

»Aber Kim sagte, er wolle Frieden mit Grenada!«

»Kim zu verletzen, ist ein törichter Mißgriff. Wir hätten eine vernünftige Lösung finden können«, sagte Suvendra. »Aber schließlich sind wir keine Terroristen.« Sie öffnete die Handtasche und nahm eine Packung Zigaretten heraus.

Eine Frau in zerrissener Seidenbluse hinkte den Tribünenaufgang herauf und rief nach jemandem namens Lee.

»Sie können in der Öffentlichkeit nicht rauchen«, sagte Laura. »Das ist hier illegal.«

»Richtig.« Suvendra lächelte. »Es ist besser, wir kümmern uns um diese armen Leute hier. Ich hoffe, Sie erinnern sich Ihrer Erste Hilfe-Ausbildung.«

Laura lag auf ihrem Feldbett in der Rizome-Niederlassung und fühlte sich wie durch den Fleischwolf gedreht. Sie blickte auf ihre Uhr. Drei Uhr früh nach der Zeit von Singapur, Freitag, der 13. Oktober. Das Rechteck des Fensters leuchtete matt im bläulichen Schein der Bogenlampen über den Hafenkais der Ostlagune. Laderoboter auf dicken Reifen rollten unfehlbar durch Licht und Dunkelheit. Ein skeletthafter Kran tauchte in die Laderäume eines rumänischen Frachters und bewegte große Frachtcontainer wie Bauklötze.

Am Fuß von Lauras Feldbett flimmerte ein Fernsehgerät mit abgeschaltetem Ton. Irgendein lokaler Nachrichtenmann, ein von der Regierung anerkannter Lakai wie alle Journalisten hier in Singapur… wie die Journalisten überall, wenn man es genau nahm. Er berichtete aus einem Krankenhaus…

Wenn Laura die Augen schloß, konnte sie noch immer die unter zerrissenen Hemden mühsam atmenden Körper sehen und die behandschuhten, abtastenden Finger der Notärzte. Die Schreie waren am Schlimmsten gewesen, entnervender als der Anblick von Blut. Dieses nervenzermürbende Schmerzgeheul, die tierhaften Geräusche, die Menschen machten, wenn sie ihrer Würde beraubt waren…

Elf Tote. Nur elf, ein Wunder. Bis zu diesem Tag hatte sie nie gewußt, wie zäh der menschliche Körper war, daß Fleisch und Blut wie Gummi waren, voll unerwarteter Elastizität. Frauen, kleine alte Damen, hatten zuunterst in den massiven, zappelnden Menschenhaufen gelegen und waren irgendwie lebendig wieder herausgekommen. Wie die kleine chinesische Großmutter, die ein paar gebrochene Rippen davongetragen, ihre Perücke verloren und sich bei Laura immer wieder mit entschuldigendem Nicken ihres kahlen kleinen Kopfes bedankt hatte, als ob die Panik allein ihre Schuld gewesen wäre.

Laura konnte nicht schlafen. Schrecken und Erleichterung prickelten noch immer gedämpft in ihrem Nervensystem. Wieder waren die schwarzen Wasser ihrer Alpträume in ihr Leben eingebrochen. Aber sie wurde besser darin. Diesmal hatte sie tatsächlich jemanden gerettet. Sie hatte mitten im schlimmsten Ansturm den kleinen Geoffrey Yong gerettet, der im Bezirk Buki Timah wohnte, in die erste Klasse ging und Geigenunterricht nahm. Sie hatte ihn lebendig und ganz seiner Mutter zurückgegeben.

»Ich habe selbst ein kleines Mädchen«, hatte Laura zu ihr gesagt. Und Frau Yong hatte ihr einen unvergeßlichen, erhebenden Blick grenzenloser und mystischer Dankbarkeit geschenkt. Der Edelmut des Schlachtfeldes, unter SchwesterSoldaten in der Armee der Mutterschaft.

In Georgia war jetzt Mittagszeit. Sie könnte David wieder anrufen, in seinem Rizome-Schlupfwinkel in den Bergen. Es würde ihr gut tun, seine Stimme zu hören. Sie vermißten einander sehr, aber wenigstens gab es die Telefonverbindung, die ihr einen Blick in die Außenwelt öffnete und ihr sagte, daß sie ihre Sache gut machte. Darauf kam es an, denn es nahm ihr die drückende Last von der Seele. Sie verspürte ein tiefes Bedürfnis, über das, was geschehen war, mit einer vertrauten Person zu sprechen. Und das süße kleine Krähen des Babys zu hören. Und Vorbereitungen zu treffen, diese Stadt so bald wie möglich zu verlassen und dorthin zurückzukehren, wo sie ihre Wurzeln hatte.

Sie machte Licht und wählte die Nummer auf ihrem Uhrtelefon. Nichts. Das verdammte Ding war defekt oder was. Im Gedränge beschädigt worden.

Sie setzte sich im Bett auf und probierte einige Funktionen. Ihre Verabredungstermine waren noch abrufbereit, auch die Touristeninformationen, die man ihr beim Zoll gegeben hatte… Vielleicht war das Signal schlecht, der Empfang zu schwach, zuviel Stahl in den Wänden dieses Gebäudes. Sie hatte im Laufe der Jahre in manchen Behelfsquartieren geschlafen, aber dieses alte Geschäfts- und Lagerhaus ohne Klimaanlage und Wasseranschluß in den provisorischen Fremdenzimmern war selbst für Rizome-Verhältnisse ärmlich.

Heftige Bewegung auf dem Bildschirm. Laura blickte zum Fernseher.

Vier junge Burschen in weißer Karatekleidung - oder waren es griechische Tuniken? - waren über den Reporter hergefallen. Sie warfen ihn vor dem Krankenhaus aufs Pflaster und bearbeiteten ihn methodisch mit Fußstößen und Faustschlägen. Junge Kerle, vielleicht Studenten. Nase und Mund waren hinter gestreiften Halstüchern verborgen. Einer von ihnen wandte sich zur Kamera und machte mit der Hand hastig chinesische Schriftzeichen in die Luft, als wolle er protestieren.

Die Szene blendete aus und zurück in ein Studio, wo eine Frau mittleren Alters bestürzt ihren Monitor anstarrte.

Laura schaltete schnell den Ton ein. Die Frau im Studio griff zu einem Blatt Papier und begann chinesisch zu sprechen.

»Verdammt!« Laura schaltete auf einen anderen Kanal um.

Pressekonferenz. Ein Chinese in weißer Arztkleidung. Er hatte das unheimliche, irgendwie abstoßende Aussehen, das einigen älteren Singapurern eigentümlich schien - den reicheren. Ein pergamentenes Vampirgesicht, glatte, alterslose Haut. Zum Teil gefärbtes Haar, zum Teil operativ entfernte Runzeln, zum Teil vielleicht Affendrüsen, oder wöchentliche Blutwäsche…

»…volle Funktion, ja«, sagte Dr. Vampir. »Heutzutage können viele Menschen mit dem Tourettesyndrom ein ganz normales Leben führen.«

Murmel murmel murmel aus den Reihen der Journalisten. Diese Sache sah aufgezeichnet und redigiert aus, Laura war nicht sicher, warum. Irgendwie fehlte das Gefühl von Unmittelbarkeit.

»Nach dem Angriff hielt Miss Ting dem Premierminister die Hände«, sagte Dr. Vampir. »Dadurch kontaminierte das Übertragungsmittel auch ihre Finger. Natürlich war die Drogendosis sehr viel niedriger als jene, die der Premierminister empfing. Wir haben Miss Ting noch unter Beobachtung. Aber die Krämpfe und Zuckungen und so weiter waren in ihrem Fall nur andeutungsweise erkennbar.«

Laura war schockiert. Die arme kleine Schauspielerin. Sie hatten Kim durch etwas getroffen, das er berührt hatte und sie hatte ihn bei den Händen gehalten. Eine makabre Art von handgreiflichem Humor, den Premierminister eines Landes durch Drogen zu einem Zerrbild seiner selbst zu machen, daß er wie ein tollwütiger Pavian schäumte und schrie. Großer Gott. Laura verpaßte die nächste Frage. Murmel murmel Grenada murmel.

Stirnrunzeln, abwinkende Handbewegung. »Die Anwendung biomedizinischer Mittel im politischen Terrorismus eröffnet furchterregende Perspektiven. Sie verletzt alle ethischen Grundsätze.«

»Elender Heuchler!« rief Laura dem Fernseher zu.

Kurz darauf klopfte es leicht an ihre Tür. Laura schrak zusammen, zog ihren Schlafanzug zurecht. »Ja bitte?«

Suvendras Mann steckte die Nase durch den Türspalt, ein zierlicher kleiner Mann mit einem Haarnetz und einem Papierpyjama.

»Ich höre Sie wach«, sagte er höflich. Sein Akzent war noch schwerer verständlich als Suvendras. »An der Laderampe ist ein Bote. Er fragt nach Ihnen!«

»Oh. Ja, gut, ich gehe gleich.« Er verschwand, und Laura fuhr in ihre blaue Hose und zog das Sporthemd über. Es war die grenadinische Arbeitshose - nun, nachdem sie sich daran gewöhnt hatte, fand sie Gefallen daran. Sie steckte die Füße in die billigen Sandalen aus geschäumten Kunststoff, die sie in Singapur für den Preis einer Packung Kaugummi gekauft hatte.

Hinaus in den Korridor, die steile Treppe unter der Stahlkonstruktion mit den staubigen, von fern bläulich erhellten Fenstern hinunter. Draußen im Hof standen Dominostapel von Frachtcontainern. Ein Laderoboter stand räderlos auf einer hydraulischen Hebebühne. Es roch nach Reis und Fett und Kaffeebohnen und Gummi.

Bei der Verladerampe stand einer von Suvendras Rizome-Leuten und sprach mit dem Boten. Sie sahen Laura kommen, und es gab ein kurzes rotes Aufglimmen in der Dunkelheit, als der Rizome-Angestellte eine Zigarette austrat.

Der Bote hatte seine Füße auf die Lenkstange seiner Rikscha gelegt, einem eleganten, gefederten Dreirad aus lackierten Bambusstangen.

Der Junge sprang mit balletthafter Leichtigkeit und Anmut von seinem Sitz. Er trug ein weißes Unterhemd und billige Papierhosen. Er mochte vielleicht siebzehn sein, ein Malaienjunge mit braunen Knopfaugen und sehnigen Armen. »Guten Abend, Madam.«

»Guten Morgen wäre passender«, sagte Laura. Sie gaben sich die Hände, und er knickte den kleinen Finger ab, so daß er in ihre Handfläche drückte. Ein geheimes Erkennungszeichen?

»Er ist faul und dumm«, sagte der Rizome-Angestellte mit eigentümlicher Betonung. Wie Suvendras übrige Leute, war auch dieser nicht aus Singapur, sondern ein Indonesier aus Djakarta. Er hieß Ali.

»Wie?« sagte Laura.

»Ich bin ungeeignet für normale Beschäftigung«, sagte der Bote bedeutsam.

»Ah, ich verstehe.« Laura ging ein Licht auf. Der Junge kam von der einheimischen Opposition.

Suvendra hatte ein wenig Solidarität mit dem Führer der Opposition zusammengekratzt. Sein Name war Razak. Wie Suvendra, war auch Razak Malaie und gehörte damit in einer zu achtzig Prozent chinesischen Stadt einer ethnischen Minderheit an. Bei den letzten Wahlen war es ihm gelungen, mit Mühe die notwendigen Stimmen für ein Parlamentsmandat zusammenzukratzen: zum Teil unter den ethnischen Minderheiten, zum Teil unter mehr oder weniger zweifelhaften Randgruppen.

Razaks politische Philosophie war abenteuerlich und opportunistisch, aber er hatte den Angriffen von Kims herrschender Partei hartnäckig widerstanden. Dadurch war er jetzt in der Lage, im Parlament für die Regierung peinliche Themen zur Sprache zu bringen und unbequeme Anträge zu stellen. Seine Interessen deckten sich in einigen Bereichen mit Rizomes, also waren sie Verbündete.

Und Razaks Anhänger nutzten dieses Bündnis weidlich aus. Zerlumpte Banden von ihnen lungerten ständig bei der Rizome-Niederlassung herum, bettelten, benutzten Telefon und Toilette und vervielfältigten mit dem firmeneigenen Kopiergerät fragwürdige Propagandaschriften und Handzettel. Morgens versammelten sie sich in einem der städtischen Parks, aßen Proteinpaste und übten in ihren zerrissenen Papierhosen Karate.

Laura schenkte dem Jungen einen verschwörerischen Blick. »Danke für den späten Besuch. Hoffentlich weiß die Partei deine Hingabe zu würdigen.«

Der Junge zuckte die Achseln. »Kein Problem, Madam. Ich bin der Beobachter für Ihre Bürgerrechte.«

Laura blickte zu Ali. »Was?«

»Er bleibt die ganze Nacht hier«, sagte Ali. »Er beobachtet für Ihre Bürgerrechte.«

»Ach so. Danke«, sagte Laura. Als ein Vorwand, sich bei der Rizome-Niederlassung herumzutreiben, schien diese Erklärung so gut geeignet wie jede andere. »Wir könnten etwas zu essen herunterschicken.«

»Ich esse nur Scop«, sagte der Junge. Er zog einen zerknitterten Umschlag aus einem verborgenen Schlitz unter seinem Rikschasitz. Parlamentarisches Briefpapier: DER EHRENWERTE DR. ROBERT RAZAK, ABGEORDNETER DES WAHLBEZIRKS ANSON.

Sie öffnete den Umschlag. Darin steckte ein Computerausdruck, der mit einer hastig hingeworfenen Begleitnotiz in roter Tinte versehen war.

 

Trotz unserer wohlbegründeten ideologischen Opposition unterhält unsere Partei selbstverständlich Beziehungen zur Yung Soo Chim Islamischen Bank, und dort traf um 21:50 Uhr Lokalzeit diese Nachricht für Sie ein. Wenn Antwort erforderlich ist, benutzen Sie nicht das Telefonsystem. Mit den besten Wünschen in diesen schwierigen Zeiten.

Botschaft folgt: YDOOL EQKOF UHFNH HEBSG HNDGH QNOQP LUDOO. JKEIL KIFUL FKEIP POLKS DOLFU JENHF HFGSE! IHFUE KYFEN KUBES KUVNE KNESE NHWQQ? JEUNF HFENA OBGHE BHSIF WHIBE. QHIRS QIFES BEHSE IPHES HBESA HFIEW HBEIA!

DAVID

 

»Es ist von David«, platzte Laura heraus. »Meinem Mann.«

»Mann«, sagte der Botenjunge. Er schien zu bedauern, daß sie einen hatte.

»Warum dies? Warum hat er nicht das Leitungsnetz benutzt?« fragte Laura.

»Die Telefone sind außer Betrieb«, sagte der Junge. »Voller Spuk.«

»Spuk?« sagte Laura. »Du meinst Spione?«

Der Junge murmelte malaiische Worte. »Er meint Dämonen«, dolmetschte Ali. »Böse Geister.«

»Machst du Witze?«

»Es gibt böse Geister«, erwiderte der Junge ruhig. »Sie verbreiten terroristische Drohungen, um Panik und Zwietracht zu säen. So steht es in der Zeitung.« Er runzelte die Stirn. »Aber nur auf englisch, Madame! Sie gebrauchen keine malaiische Sprache, obwohl Malaiisch in der Verfassung von Singapur als eine Amtssprache gilt.«

»Was sagen die Dämonen?« fragte Laura.

»›Die Feinde der Rechtschaffenen werden in schwefligem Feuer brennen‹«, zitierte der Junge, ›»und der Wirbelsturm den Unterdrücker zu Boden schleudern‹. Und noch vieles in der Art. Sie nannten mich sogar beim Namen.« Er zuckte die Achseln. »Meine Mutter weinte.«

»Seine Mutter meint, er solle sich eine Arbeit suchen«, vertraute Ali ihr an.

»Die Zukunft gehört den Dummen und Faulen«, erklärte der Junge. Er machte es sich auf dem Passagiersitz seiner Fahrradrikscha bequem und legte die gekreuzten Füße auf den Sattel.

Ein Windstoß fuhr von der See herein. Laura rieb sich die Arme. Sie überlegte, ob sie dem Jungen ein Trinkgeld geben solle. Nein, dachte sie - Suvendra hatte ihr gesagt, Razaks Leute hätten eine seltsame Abneigung, Geld anzufassen. »Der Sumatra-Monsun kommt, Madame.« Er öffnete Scharniere und zog das Faltverdeck seiner Rikscha nach vorn. Der weiße Nylonstoff war rot, schwarz und gelb bemalt: ein lachender Buddha, mit Dornen gekrönt.

 

Im Büro der Niederlassung saß Suvendras Mann auf einer gesteppten grauen Decke unter dem wäßrigen Licht der Leuchtstoffröhren. Er hatte einen Fernseher eingeschaltet und trank Kaffee. Laura setzte sich zu ihm. »Wie soll man Schlaf finden?« sagte er. »Eine schreckliche Nacht. Ihre Botschaft, was sagt sie?«

»Was sagen Sie dazu? Sie ist von meinem Mann.«

Er las den Ausdruck. »Nicht englisch… eine Computerchiffre.«

Draußen rollte ein Laderoboter mit einem Frachtcontainer in den Hof. Er stapelte ihn mit einem mächtigen Zischen der Hydraulik. Mr. Suvendra beachtete ihn nicht. »Sie und Ihr Mann haben eine Chiffre? Einen Code? Um die Bedeutung einer Nachricht zu verbergen?«

»Wir haben nie so etwas benutzt! Das tun vielleicht die Triaden.«

Mr. Suvendra lächelte. »Triaden, tong. Wie wir, gute Gemeinschaft.«

»Nein, ich mache mir Sorgen! Ich muß sofort David anrufen!«

»Das Fernsehen sagt, der Telefonverkehr sei zusammengebrochen. Subversive Aktionen.«

Laura dachte nach. »Ich kann ein Taxi über die Wasserstraße nehmen und von einem Telefon in Johore anrufen. Das ist malaysisches Territorium.«

»Am Morgen«, sagte Suvendra.

»Nein! David könnte verletzt sein. Erschossen! Im Sterben liegen! Oder vielleicht unser Kind…« Schuldgefühle und Ängste brachen über sie herein. »Ich rufe sofort ein Taxi.« Sie befragte die Touristeninformation an ihrem Uhrtelefon.

»Taxis«, verkündete eine winzige blecherne Stimme. »Singapur besitzt rund zwölftausend automatische Taxis, davon achttausend mit Klimaanlage. Der Fahrpreis beträgt zwei Dollar für die ersten fünfzehnhundert Meter oder einen Teil davon…«

»Nun mach schon!« knirschte Laura.

»… werden auf der Straße angerufen oder telefonisch über die Taxizentrale bestellt. Die Nummer ist 452-5555…«

»Aha.« Laura drückte die Ziffern. Nichts geschah. »Scheiße!«

»Trinken Sie eine Tasse Kaffee«, sagte Mr. Suvendra.

»Sie haben das Telefonnetz lahmgelegt!« sagte sie, aber diesmal mit echtem Schmerz. »Das Netz ist unten! Ich kann nicht an das verdammte Netz!«

Suvendra strich über seinen bleistiftdünnen Schnurrbart. »So sehr wichtig ist es? In Ihrem Amerika?«

Sie schlug sich ärgerlich aufs Handgelenk. »David sollte jetzt hier sprechen! Was ist dies nur für ein Kaff!« Kein Zugang zum Netz. Auf einmal schien sie kaum Luft zu bekommen. »Passen Sie auf, Sie müssen eine andere Leitung haben, nicht? Fernschreiber oder Telefax oder was.«

»Nein, bedaure. Hier bei Rizome-Singapur ist alles noch ein bißchen roh und unfertig. Erst kürzlich sind wir in dieses wundervolle Haus gezogen.« Mr. Suvendra wedelte mit dem Arm. »Sehr schwierig für uns. Trinken Sie Kaffee, Laura, entspannen Sie sich. Könnte sein, daß die Botschaft nichts ist. Ein Trick von der Bank.«

Laura schlug sich vor die Stirn. »Ich wettet, die Bank hat Fernschreibverbindungen in alle Welt. Klar. Geschützte Faseroptik! Selbst Wien kann sie nicht anzapfen. Und die Bank ist in der Bencoolen Street, nicht so weit von hier.«

»Ach du liebe Zeit«, sagte Suvendra. »Sehr schlechte Idee.«

»Sehen Sie, ich kenne dort Leute. Den alten Mr. Shaw und ein paar von seinen Wächtern. Sie waren meine Hausgäste. Sie schulden mir eine Gefälligkeit.«

Er hob abwehrend die Hand. »Nein, nein.«

»Sie schulden mir eine Gefälligkeit. Die dummen Teufel, wozu sind sie sonst gut? Was sollen sie schon tun, mich erschießen? Das würde im Parlament schlecht aussehen, nicht wahr? Ich fürchte sie nicht, der Teufel soll sie doch alle holen! Ich gehe sofort hin.« Laura stand auf.

»Es ist sehr spät«, sagte Mr. Suvendra.

»Es ist eine Bank, nicht wahr? In Singapur haben die Banken vierundzwanzig Stunden geöffnet.«

Er blickte zu ihr auf. »Sind sie alle wie Sie, in Texas?« Laura furchte die Stirn. »Was soll das heißen?« Er überging die Frage. »Sie können kein Taxi rufen«, sagte er. »Sie können nicht im Regen gehen. Sie werden sich erkälten.« Er stand auf. »Sie warten hier, ich hole meine Frau.« Er ging.

 

Laura verließ das Gebäude. Ali und der Botenjunge saßen zusammen unter dem Verdeck auf dem Passagiersitz der Rikscha und hielten sich bei den Händen. Hatte vielleicht nichts zu bedeuten. Andere Kultur… wahrscheinlich aber doch…

»Hallo«, sagte sie. »Hmm… ich habe vorhin deinen Namen nicht mitgekriegt.«

»Sechsunddreißig«, sagte der Junge.

»Oh… Gibt es hier in der Nähe einen Taxistand? Ich brauche eins.«

»Ein Taxi«, sagte Sechsunddreißig, als hätte er nicht verstanden.

»Zur Yung Soo Chim Bank. In der Bencoolen Street.«

Sechsunddreißig zischte durch die Zähne. Ali grub eine Zigarette aus.

»Kann ich eine haben?« fragte Laura.

Ali entzündete und gab sie ihr, grinsend. Sie paffte. Der Rauch schmeckte wie brennender Müll mit Gewürznelkenaroma. Sie fühlte ihre Geschmacksknospen unter einem Überzug krebserregenden Speichels absterben. Ali war erfreut.

»In Ordnung, Madam«, sagte Sechsunddreißig mit fatalistischem Achselzucken. »Ich bringe Sie hin.« Er stieß Ali mit dem Ellbogen vom Rücksitz, machte eine einladende Gebärde zu Laura. »Steigen Sie auf, Madam! Fangen Sie an zu treten!«

Sie trat in die Pedale und fuhr aus dem Hafen und einen Kilometer die Trafalgar Street hinauf. Dann öffneten sich die Schleusen des Himmels, und der Regen kam in unglaublichen Sturzbächen herunter. An einer Straßenecke hielt sie an und zog einen Plastikregenmantel aus einem Verkaufsautomaten.

Angestrengt tretend, fuhr sie die Anson Road hinauf, dampfend in ihrer billigen Plastikhülle. Wasser sprühte von den Rädern, der prasselnde Regen tanzte auf Gehsteigen und Straßen und gurgelte in reißenden Strömen durch die makellosen, abfallfreien Rinnsteine.

Am Hafen gab es noch ein paar alte Gebäude aus der Kolonialzeit: weiße Säulen, Veranden und Balustraden. Doch in dem Maße, wie sie sich dem Stadtzentrum näherten, begann die Stadt in die Höhe zu schießen. Die Anson Road wurde zu einer engen Schlucht in einem Gebirge aus Stahl, Glas, Beton und Keramik.

Es war wie die Innenstadt von Houston. Aber mehr als Houston zu werden den Mut hatte. Es war ein brutaler Angriff auf jedes vernünftige Gefühl für Größenverhältnisse. Alptraumhafte Turmhäuser, deren massige Fundamente ganze Blocks einnahmen. Strebebogen und verglaste Schnellstraßen schwebten Hunderte von Metern über dem Meeresspiegel. Die Staffeln der Geschosse erhoben sich lautlos und traumartig, die Gebäude waren so gewaltig, daß sie aus der Ferne schwerelos wirkten; sie hingen wie Wolkengebirge über der Erde, die Gipfel verschwimmend im stahlgrauen Dunst.

Der Junge wies ihr den Weg von der Straße durch die automatischen Türen einer Einkaufspassage. Der kühle Luftstrom einer Klimaanlage blies auf sie herab. Sie fuhr vorüber an Textilgeschäften, Videoläden und unheimlich aussehenden ›Gesundheitsstudios‹, die Blutwäsche zu herabgesetzten Preisen anboten.

Sie fuhren etwa anderthalb Kilometer durch gekachelte Verbindungstunnels, deren Wände mit grellen, sinnverwirrenden Plakaten bepflastert waren, leere Rampen hinauf und hinunter, und einmal hielten sie vor einem Aufzug. Sechsunddreißig stellte seine Rikscha auf die Hinterräder, schob den Vorderteil zusammen und zog das Gefährt wie einen Gepäckkarren hinter sich her.

Die Einkaufspassagen lagen nahezu verlassen; gelegentlich ein Restaurant oder Cafe, in denen nüchterne, gepflegt aussehende Gäste unter leblos stilisierten Wandgemälden von kreisenden Möwen und Blumenarrangements schweigend ihre Salate aßen. Einmal sahen sie Polizisten, Singapurs Elite, in makellos gebügelten blauen Gurkhashorts, mit meterlangen Bambusstöcken.

Laura wußte nicht mehr, wo die Erdoberfläche war; es schien hier beinahe belanglos.

Sie kreuzten einen Fußgängerüberweg. Eine Etage unter ihnen lungerte eine Fahrradbande halbwüchsiger Chinesen mit geölten Stirnlocken, gestärkten weißen Seidenhemden und verchromten Rädern an einer Kreuzung. Sechsunddreißig, der es sich mit hochgelegten Füßen auf dem Rücksitz bequem gemacht hatte, richtete sich auf und schrie ihnen etwas zu. Die Zurufe begleitete er mit einer Anzahl geheimnisvoller Gebärden, deren letzte unverkennbar obszön waren.

Er lehnte sich wieder zurück. »Treten Sie schnell«, drängte er Laura. Die Jungen im Untergeschoß teilten sich hastig in Jagdgruppen auf.

»Lassen Sie mich treten«, sagte Sechsunddreißig. Laura warf sich keuchend auf den Rücksitz. Sechsunddreißig stand in den Pedalen, und das Dreirad sauste davon wie ein verbrühter Affe. Sie nahmen die Ecken auf zwei Rädern, überquerten den Singapur River Hunderte von Metern über dem Boden in einer verglasten Brücke, wo es Imbißstände und Münzferngläser gab. Der kleine Fluß, angeschwollen von tropischen Regenfällen, wälzte sich hoffnungslos in seinem betonierten Bett dahin. Etwas an dem Anblick deprimierte sie zutiefst.

Der Regen hatte aufgehört, als sie die Bencoolen Street erreichten. Hibiskusfarbene tropische Dämmerung berührte die höchsten Stahlgipfel des Stadtzentrums.

Die Yung Soo Chim Islamische Bank war ein eher bescheidenes Bauwerk aus den 90er Jahren, ein hochgestellter Karton aus Stahl und Spiegelglas, sechzig Stockwerke hoch.

Vor dem Eingang wartete eine hundert Meter lange Menschenschlange. Sechsunddreißig radelte daran vorbei, wich geübt den automatischen Taxis aus. »Augenblick«, murmelte Laura zu sich selbst. »Ich kenne diese Leute…«

Sie hatte sie alle schon einmal gesehen. Auf dem Flugplatz von Grenada, kurz nach dem Angriff. Die Übereinstimmung war unheimlich. Die gleichen Leute, nur waren es Japaner, Koreaner und Südostasiaten anstelle der Yankees und Europäer und Südamerikaner. Die gleiche Mischung - schäbige Techniker, und Geschäftemacher mit leeren Geldaugen, und unseriös aussehende Finanzbetrüger in zerknitterten Leinenanzügen. Das gleiche, nervös gewordene parasitische Gelichter, das seiner unsauberen Tätigkeit gern hinter den Kulissen nachgeht und sich an der Öffentlichkeit sehr unglücklich fühlt.

Ja. Es war, als hätte die Welt in der Badewanne eine Schmutzschicht abgespült, und diese Warteschlange sei der Abfluß, voll von Seifenrückständen, Hautschuppen und Haaren.

Spülicht, treibender Unrat, der ausgesiebt und endgelagert werden mußte. Plötzlich stellte sie sich die ruhig wartende, aber nervös aussehende Warteschlange vor, wie sie an die Wand gestellt und erschossen wurde. Die Vorstellung verschaffte ihr häßliche Befriedigung. Es war kein gutes Gefühl. Sie verlor die Selbstbeherrschung. Das Überspringen schlechter Ausstrahlung…

»Halt!« rief sie. Sie sprang aus der Rikscha und ging zielbewußt auf die Spitze der Warteschlange zu: zwei japanische Techniker. »Konnichi-wa!« Die zwei Männer sahen sie verdrießlich an. Sie lächelte. »Denwa wa doko ni arimasu ka?«

»Wenn wir ein Telefon hätten, würden wir es benutzen«, sagte der Größere der beiden. »Und Sie können Ihr schulmäßiges nihongo für andere aufsparen; ich bin aus Los Angeles.«

»Wirklich?« sagte Laura. »Ich bin aus Texas.«

»Texas!« Seine Augen weiteten sich. »Gott, Harvey, das ist sie! Wie heißt sie noch gleich?«

»Webster«, sagte Harvey. »Barbara Webster. Hat man Sie aus dem Wasser gezogen? Sie sehen aus wie eine ertrunkene Ratte!« Er schaute zur Rikscha hinüber und lachte. »Sind Sie mit dem Dreirad da gekommen?«

»Wie komme ich an dieser Menge vorbei und ans Netz?« fragte sie.

Los Angeles lächelte breit. »Warum sollten wir es Ihnen sagen? Sie haben uns vor dem Parlament schlecht gemacht. Stellen Sie sich hinten an, bis Ihnen die verdammten Beine brechen!«

»Ich bin nicht die Feindin der Bank«, sagte Laura. »Ich bin Integrationistin. Dachte, das hätte ich in meiner Anhörung deutlich gemacht.«

»Unsinn«, sagte Harvey. »Das können Sie jemandem erzählen, der keine Krempe am Hut hat! Seit wann gibt es in Ihrer kleinen Rizome Platz für Leute, die Fremdprogramme kopieren? Sie haben hier die Rechtschaffene gespielt, aber ich habe das Gefühl, daß man Sie in Grenada umgedreht hat! Denn ich sehe nicht, wie eine bourgeoise Mama-Papa-Demokratin sich aus Prinzip mit der VEP anlegen sollte.«

Sechsunddreißig hatte seine Rikscha zusammengeklappt und über den Bürgersteig gezogen. »Sie könnten höflicher zu Madam sein«, sagte er.

Los Angeles musterte den Jungen. »Sagen Sie bloß, Sie treiben sich mit diesen kleinen Scheißern herum…« Plötzlich schrie er auf und schlug auf seinen Schenkel. »Verdammt noch mal! Da ist es wieder! Etwas hat mich gestochen!«

Sechsunddreißig lachte. Los Angeles' Antlitz umwölkte sich. Er holte aus, dem Jungen einen Stoß zu versetzen, aber Sechsunddreißig wich leichtfüßig aus. Blitzschnell zog er einen Bambusstock unter dem Passagiersitz heraus, umfaßte ihn und lächelte böse. Seine dunklen Knopfaugen glänzten wie zwei Tropfen Schmierfett.

Los Angeles wandte sich zu den Umstehenden. »Etwas hat mich gestochen!« rief er aus. »Wie eine Wespe! Und wenn es dieser Junge war, wie ich glaube, sollten wir ihm eine Abreibung geben! Und außerdem stehen wir schon die ganze Nacht hier draußen! Diese eingebildete Ziege hier glaubt, sie braucht bloß zu kommen und kann als erste hinein! Aber da hat sie sich geschnitten! Es ist diese Webster-Kanaille! Lauren Webster!«

Drohendes Gemurmel erhob sich auf seine Worte hin; die Wartenden schienen entschlossen, jedes Vordrängen zu verhindern. Sechsunddreißig spielte jetzt eher verlegen mit seinem Bambusstock.

Während Laura überlegte, was zu tun sei, kam ein Tamile dahergehinkt. Er trug einen Dhoti, den Lendenschurz des Südinders. Sein bloßes dunkles Schienbein war mit einem Verband umwickelt, und er stützte sich auf einen Spazierstock. Er blieb stehen und stieß Harvey die Gummispitze des Stockes vor die Brust. »Beruhige deinen Freund, da«, sagte er. »Benehmt euch wie zivilisierte Menschen!«

»Scheiß dich weg, Kuttenbrunzer!« sagte Harvey in eher umgänglichem Ton.

Ein automatisches Taxi hielt am Straßenrand und klappte die Tür auf.

Ein tollwütiger Hund sprang heraus.

Es war ein großer häßlicher Köter, halb Dobermann, halb Hyäne. Sein Fell war naß und schlüpfrig wie von Öl. Er warf sich mit rasendem Knurren aus dem Taxi und stürzte sich wie aus einer Kanone geschossen auf die Schlange der Wartenden.

Tobend und wild um sich schnappend, brach er in die Reihen ein. Drei Männer fielen schreiend zu Boden. Die Menge wogte entsetzt zurück.

Laura hörte die Kiefer des Hundes wie Kastagnetten schnappen. Er riß einen Fetzen Fleisch aus dem abwehrend erhobenen Unterarm eines dicken Mannes, warf sich herum, schnellte hoch und war an seinem nächsten Opfer. Wildes, geiferndes Knurren begleitete seine Angriffe. Die Menschen drängten zurück, stießen sich und fielen in panischer Flucht übereinander…

Der Hund sprang zwei Meter in die Luft, wie ein Schwertfisch am Angelhaken. Sein Fell schwelte. Flammen loderten entlang seinem Rücken, sein Körper platzte auf.

Feuer sprühte heraus.

Er explodierte mit nassem Schmatzen. Eine groteske Entladung von Dampf und Gestank, von umherspritzendem Blut und Kot und Eingeweiden. Er klatschte auf das Pflaster, augenblicklich tot, ein Klumpen brennenden Fleisches. Fäden unerklärlicher Hitze glommen darin…

Laura rannte davon.

Der Tamile holte sie mit erstaunlicher Behendigkeit ein und faßte sie bei der Hand. Die Menge floh in alle Richtungen, über die Straßen, wo Taxis kreischend anhielten und protestierend hupten… »Da hinein«, sagte der Tamile und kletterte in einen Wagen.

Im Innern war es still, klimatisiert. Der Wagen bog bei der ersten Abzweigung nach rechts und ließ die Bank hinter sich zurück. Der Tamile ließ ihre Hand los, lehnte sich zurück und lächelte sie an.

»Danke«, sagte Laura und rieb sich das Handgelenk. »Vielen Dank, Sir.«

»Kein Problem«, sagte der Tamile. »Der Wagen wartete auf mich.« Er hielt inne, dann berührte er das verbundene Bein mit dem Stock. »Mein Bein, Sie sehen.«

Laura holte tief Atem, schauderte. Sie brauchte Zeit, die Fassung zurückzugewinnen. Der Tamile musterte sie mit interessiertem Blick. Für einen Gehbehinderten hatte er sich sehr schnell bewegt - er hatte sie im Nu eingeholt und dann zum Wagen gezogen. »Hätten Sie mich nicht festgehalten, würde ich noch immer laufen«, verriet sie ihm dankbar. »Sie sind sehr mutig.«

»Sie auch«, sagte er.

»Ich nicht, nein«, widersprach sie. Sie zitterte.

Der Tamile schien Gefallen an der Situation zu finden. Er stieß sich den Handgriff seines Spazierstocks unter das Kinn und beäugte sie listig von der Seite. »Madame, sie stritten auf der Straße mit zwei großen Datenpiraten.«

»Ja?« sagte sie überrascht. »Nun, das hat nichts zu sagen.« Nach einer verlegenen Pause fügte sie hinzu: »Jedenfalls bin ich Ihnen dankbar, daß Sie für mich Partei ergriffen haben.«

Der Tamile nickte und machte eine flüchtig abwehrende Bewegung. Dann fiel sein Blick auf etwas. »Oh, sehen Sie - dieser eklige Wodu-Zauber hat Ihren hübschen Mantel verdorben.«

An Lauras Regenmantel hafteten schleimig-blutige Flecken. Rot, dunkel glänzend. Sie keuchte angewidert und versuchte die Schultern aus dem Mantel zu befreien. Ihre Arme hinderten sie daran…

»Hier«, sagte der Tamile lächelnd, als wollte er helfen. Er hielt ihr etwas unter die Nase. Sie hörte ein Knacken.

Eine Welle von Hitze und Schwindelgefühl überkam sie, und einen Augenblick später verlor sie das Bewußtsein.

Ein stechender Geruch bohrte sich in Lauras Kopf. Ammoniak. Ihre Augen tränten. »Licht!« krächzte sie.

Die Deckenbeleuchtung verglomm zu trübem Bernstein. Sie fühlte sich alt und krank, als ob Stunden sich mit den schweren Füßen des Katzenjammers durch sie hindurchgeschleppt hätten. Sie war halb in etwas begraben - zappelte in jäher klaustrophobischer Panik…

Sie lag auf einer Art Bohnensack, gefüllt mit rundlichen Plastikkernen. Nachdem die Deckenbeleuchtung gedämpft war, bestimmte der bläuliche Schein von Fernsehgeräten die Lichtverhältnisse im Raum.

»Wieder im Land der Lebenden, Blondie?«

Laura schüttelte den Kopf. Nase und Kehle fühlten sich wie ausgebrannt. »Ich bin…« Sie nieste schmerzhaft. »Verdammt!« Sie stemmte die Ellbogen in die nachgebenden Kügelchen des Bohnensacks und richtete den Oberkörper auf.

Der Tamile saß auf einem Stuhl aus Plastik und Stahlrohr und aß eine chinesische Mahlzeit zum Mitnehmen von einem Resopaltisch. Der Duft von Ingwer und gerösteten Garnelen bewirkte, daß ihr Magen sich schmerzhaft zusammenzog. »Sind Sie es?« sagte sie endlich.

Er blickte zu ihr herab. »An wen denken Sie?«

»Sticky?«

»Ja«, sagte er mit dem kinndrehenden Kopfnicken der Tamilen. »Ich und mein rechtschaffenes Ich.«

Laura rieb sich die Augen. »Sticky, diesmal sind Sie wirklich ganz anders… Ihre Wangen sind nicht richtig, und Ihre Haut… Ihr Haar… Sie hören sich nicht mal wie sonst an.«

Er grunzte.

Sie setzte sich aufrecht. »Was, zum Teufel, haben sie mit Ihnen gemacht?«

»Geschäftsgeheimnis«, sagte Sticky.

Laura blickte umher. Der Raum war klein und dunkel und stank. Nackte Spanplattenregale waren beladen mit Videokassetten, Segeltuchsäcken, Drahtspulen, Stapeln von Polyurethangeweben, Styropornudeln und Zellulose.

Ein weiteres, an die Wand geschraubtes Regal enthielt ein Dutzend billiger chinesischer Fernsehgeräte, auf denen Singapurer Straßenszenen flimmerten. An der anderen Wand lagerten aufeinandergestapelt Dutzende von halb ausgeweideten Kartons: Farben, Frühstücksflocken, Zellstofftücher, Kernseife, dazu Kanister unbekannten Inhalts und Rollen mit Isolierband. Jemand hatte Badeanzugaufnahmen von Miss Ting in die schmutzige Kochnische geheftet.

Es war heiß. »Wo sind wir?«

»Fragen Sie nicht«, sagte Sticky.

»Dies ist aber Singapur, nicht?« Sie blickte auf ihr bloßes Handgelenk. »Wie spät ist es?«

Sticky hielt das zerschmetterte Wrack ihrer Telefonuhr hoch. »Tut mir leid. Konnte dem Ding nicht trauen.« Er zeigte über den Tisch. »Setzen Sie sich, Memsahib!« Er grinste müde. »Ihnen traue ich.«

Laura stand auf und tappte zum zweiten Stuhl. Sie stützte sich auf den Tisch. »Wissen Sie was? Ich bin verdammt froh, Sie zu sehen. Ich weiß nicht, warum, aber es ist so.«

Sticky schob ihr die Reste seiner Mahlzeit zu. »Da, essen Sie. Sie waren eine Weile weggetreten.« Er wischte seine Plastikgabel an einer Papierserviette ab und gab sie ihr.

»Danke. Gibt es in diesem Depot eine Toilette?«

Er nickte. »Da drüben. Haben Sie bei der Bank einen Stich gefühlt? Sie sollten Ihre Beine da drin nach Nadellöchern untersuchen.«

Das Bad hatte die Größe einer Telefonzelle. Sie hatte sich während ihrer Bewußtlosigkeit naß gemacht - glücklicherweise nicht sehr, und die Flecken waren an ihrer weiten grenadinischen Arbeitshose nicht zu sehen. Sie säuberte sich, so gut es ging, und kam zurück. »Keine Nadellöcher, Hauptmann.«

»Gut«, sagte er. »Bin froh, daß ich Ihnen nicht eine von diesen bulgarischen Schrotkugeln aus dem Hintern graben muß. Was wollten Sie überhaupt bei diesen Leuten vor der Bank?«

»David anrufen«, sagte sie, »nachdem Sie das Telefonnetz sabotiert hatten.«

Sticky lachte. »Warum haben Sie nicht soviel Verstand, daß Sie bei Ihrem Bwana bleiben? Er ist nicht so dumm, wie er aussieht - hat jedenfalls genug Verstand, nicht hier zu sein.«

»Was tun Sie hier?«

»Ich amüsiere mich köstlich«, sagte er. »Das letzte Mal, vielleicht.« Er rieb sich die Nase - sie hatten auch etwas mit seinen Nasenlöchern gemacht: Sie waren schmaler. »Zehn Jahre wurde ich für so etwas ausgebildet. Aber nun bin ich hier und tue es, und es ist…«

Der Faden schien ihm zu entgleiten, und er zuckte die Achseln. »Ich sah Ihre Parlamentsanhörung. Einen Teil davon. Zu spät, aber wenigstens erzählen Sie ihnen das gleiche Zeug, das Sie uns erzählten. Das gleiche in Galveston, in Grenada und hier - für Sie ist es überall das gleiche, was?«

»Richtig, Hauptmann.«

»Das ist gut«, sagte er unbestimmt. »Wissen Sie, in Kriegszeiten… meistens tut man nichts. Man hat Zeit, nachzudenken… Wie unten bei der Bank. Wir wußten, daß diese verdammten Blutsauger dorthin laufen würden, wenn die Telefonleitungen gestört wären, und wir wußten, daß sie genau wie diese Blutsauger sind, die wir haben, aber sie dann dort zu sehen... es so geschehen zu sehen, so berechenbar…«

»Wie Uhrwerkspielzeug«, sagte Laura. »Wie Käfer… als ob sie überhaupt nicht zählten.«

Er sah sie überrascht an. Sie war selbst überrascht. Es war leicht, so zu reden, wenn sie zusammen mit ihm im Halbdunkel saß. »Ja«, meinte er. »Wie Spielzeug. Wie kleine Uhrwerkmännchen zum Aufziehen, die so tun, als ob sie Seelen hätten… Es ist eine aufgezogene Stadt, dieses Singapur. Voll von Lügen und Geschwätz und Bluff, und die Registrierkassen klingeln rund um die Uhr. Es ist Babylon. Wenn es je ein Babylon gab, ist es hier.«

»Ich dachte, wir seien Babylon«, sagte Laura. »Das Netz, meine ich.«

Sticky schüttelte den Kopf. »Diese Leute sind mehr wie Sie, als Sie es je waren.«

»Oh«, sagte Laura. »Danke.«

»Sie würden nicht tun, was die mit Grenada gemacht haben«, sagte er.

»Nein. Aber ich glaube nicht, daß sie es waren, Sticky.«

»Vielleicht nicht«, erwiderte er, »aber es ist mir gleich. Ich hasse sie für das, was sie sind, für das, was sie sein wollen. Für das, was sie aus der Welt machen wollen. Sie können ein Land mit Spielzeug niederbrennen, wenn Sie wissen, wie. Es sollte nicht wahr sein, ist es aber. Sie können einem Volk Herz und Seele herausreißen. Wir wissen das in Grenada so gut wie sie es hier wissen. Wir wissen es besser.«

Er machte eine Pause. »All dieses Gerede von der Bewegung, das Ihrem David so gefiel, die Ausbildung von Kadern, die Sicherung der Ernährungsgrundlage… Wenn der Krieg kommt, ist es weg. Wie fortgeblasen. In diesem Irrenhaus unter Fedons Festung gehen sie einander alle auf die Nerven. Ich weiß, daß ich meine Befehle von diesem Scheißer Castleman bekomme. Von diesem fetten Hacker, der überhaupt kein richtiges Leben hat - nur einen Bildschirm. Jetzt gibt es nur noch Prinzipien. Taktik und Strategie. Jemand hat dies oder das zu tun, ganz gleich, wo oder wer, nur um zu beweisen, daß es möglich ist…«

Er beugte sich auf dem Stuhl vor und rieb sich das nackte Bein. Der Verband war jetzt fort, aber sein Schienbein ließ noch Spuren erkennen. »Dieses Ding wurde in Fedons Festung geplant«, sagte er. »Dieses Dämonen-Ding. Dieses Demonstrationsprojekt. Seit zwanzig Jahren arbeiten sie dort an solchen Dingen, Laura, sie haben eine Technik entwickelt wie… wie… sie ist nicht menschlich. Ich wußte nichts davon, niemand wußte davon. Ich kann mit dieser Stadt Dinge anstellen - ich, noch ein paar eingeschmuggelte Kameraden, nicht viele -, die Sie sich nicht vorstellen können.«

»Wodu«, sagte Laura.

»Richtig. Mit der Technik, die sie uns gaben, kann ich Dinge anstellen, die Sie nicht von Zauberei unterscheiden können.«

»Was für Befehle haben Sie?«

Er stand plötzlich auf. »Sie kommen darin nicht vor.« Er ging in die Kochnische und öffnete den rostfleckigen Kühlschrank.

Auf dem Tisch lag ein Buch, ein dicker Loseblattband. Kein Rückentext, kein fester Einband. Laura schlug das Buch auf. Alle Seiten stammten aus einer Kopiermaschine. Der Titel lautete: Die Lawrence-Doktrin und postindustrieller Aufstand, von Oberst Jonathan Gresham.

»Wer ist Jonathan Gresham?« fragte sie.

»Er ist ein Genie«, sagte Sticky. Er kam mit einem Karton Joghurt zurück an den Tisch. »Es ist keine Lektüre für Sie. Schauen Sie nicht einmal hin. Wenn Wien wüßte, daß Sie dieses Buch in der Hand hatten, würden Sie nie wieder das Tageslicht erblicken.«

Sie legte es sorgsam zurück. »Es ist bloß ein Buch.«

Sticky lachte gellend auf. Er begann Joghurt in den Mund zu schaufeln, mit dem zusammengekniffenen Ausdruck eines kleinen Jungen, der Medizin löffelt. »Haben Sie in letzter Zeit Carlotta gesehen?«

»Zuletzt auf dem Flughafen in Grenada.«

»Werden Sie von hier abreisen? Nach Hause gehen?«

»Ich möchte es natürlich gern. Offiziell ist meine Anhörung vor dem Parlamentsausschuß noch nicht abgeschlossen. Außerdem möchte ich ihre Entscheidung über die Informationspolitik wissen…«

Er schüttelte den Kopf. »Wir werden es Singapur besorgen.«

»Nein, das werden Sie nicht«, sagte sie. »Egal was Sie tun können, Sie werden die Datenhaie nur in irgendwelche Verstecke treiben. Ich möchte sie ans Tageslicht ziehen - alles ans Licht bringen. Wo jeder sich offen und ehrlich damit auseinandersetzen kann.«

Sticky sagte nichts. Er atmete plötzlich schwer, sein Gesicht sah grünlich aus. Dann rülpste er und öffnete die Augen. »Sie und Ihre Leute - Sie wohnen am Hafen, im Bezirk Anson.«

»Richtig.«

»Wo dieser Anti-Labour-Trottel, Rashak…«

»Dr. Razak, ja, das ist sein Wahlbezirk.«

»Gut«, sagte er. »Wir können Razaks Leute in Ruhe lassen. Soll er diese Stadt regieren - wenn etwas von ihr übrig bleibt. Bleiben Sie dort, und Sie werden sicher sein. Verstanden?«

Laura dachte darüber nach. »Was wollen Sie von mir?«

»Nichts. Gehen Sie nach Hause - wenn man Sie läßt.« Es blieb eine Weile still zwischen Ihnen. »Wollen Sie das essen, oder was?« sagte Sticky endlich. Laura bemerkte, daß sie die Plastikgabel genommen und zwischen den Fingern gebogen hatte, hin und her, als wäre sie an ihrer Hand festgeklebt.

Sie legte sie aus der Hand. »Was ist ›bulgarischer Schrott‹, Sticky?«

»Schrot«, antwortete Sticky. »Der alte bulgarische KGB gebrauchte ihn vor langer Zeit. Winzig kleine Stahlkugeln, mit Löchern durchbohrt und mit Wachs verschlossen. Stecken sie unter der Haut, schmilzt das Wachs in der Körperwärme, und das darin enthaltene Gift kann heraus. Meistens Ricin, ein gutes starkes Gift… Aber nicht, was wir gebrauchen.«

»Was gebrauchen Sie?«

»Karbol. Warten Sie.« Er verließ den Tisch, öffnete einen Küchenschrank und zog einen verschlossenen Beutel heraus. Diesem entnahm er eine flache schwarze Kunststoffpatrone. »Hier.«

Sie drehte das Ding zwischen den Fingern. »Was ist das? Ein Schreibband?«

»Wir verdrahten sie mit den Taxis«, sagte Sticky. »In dieser Patrone ist ein starker Federmechanismus, dazu zwanzig, dreißig Schrotkugeln mit Karbol. Wenn das Taxi auf der Straße einen Mann sieht, entlädt sich die Waffe manchmal. Ein automatisches Taxi ist leicht zu stehlen und dafür herzurichten. Die Taxis vor dieser Bank waren alle mit dem Spielzeug präpariert. Karbol wirkt aufs Gehirn, erzeugt Schrecken, Terror. Das Gift wird langsam freigesetzt, die Wirkung hält Tage und Tage an! Warum sich abmühen, um irgendeinem Dummkopf zu terrorisieren, wenn man es auch einfach haben kann, elegant und ohne Aufhebens?«

Sticky lachte. Er kam allmählich in Fahrt. »Dieser schlitzäugige Yankee in der Schlange, der mit Ihnen redete, wird sich jetzt in seinem Bett herumwerfen und schwitzen und schlimme Träume haben. Ich hätte ihn genauso leicht töten können, mit Gift. Er könnte jetzt tot sein, aber warum das Fleisch töten, wenn ich die Seele fassen kann? Allen, die jetzt um ihn sind, wird er Furcht und Schrecken einflößen, er wird mit seinen Worten Furcht und Schrecken verbreiten, so sicher wie verbranntes Fleisch stinkt.«

»Sie sollten mir das nicht sagen«, sagte Laura.

»Weil Sie hingehen und es der Regierung erzählen müssen, nicht wahr?« Sticky lachte wieder. »Tun Sie mir den Gefallen, machen Sie nur! In Singapur gibt es zwölftausend Taxis, und nachdem Sie es erzählt haben, werden sie jedes einzelne untersuchen müssen! Zuviel Arbeit, ihr Transportsystem zu ruinieren, wenn wir sie dazu bringen können, daß ihre Polizisten es für uns tun! Und vergessen Sie nicht zu sagen, daß wir auch ihre Magnetzüge präpariert haben. Und wir haben noch eine ganze Menge von diesen kleinen Dingern übrig.«

Sie legte die Patrone auf den Tisch zurück. Vorsichtig, als wäre sie aus hauchdünnem Glas.

»Inzwischen wissen sie, daß ihr Häuptling, dieser Kim, seine Finger in etwas gesteckt hat, wo er sie besser herausgehalten hätte.« Er zeigte zu den Kanistern. »Sehen Sie die Kanister?« Er lachte. »Abendhandschuhe werden in Singapur wieder modern! Regenmäntel und Atemmasken sind auch angezeigt!«

»Das ist genug!«

Er schlug mit der Faust auf den Tisch. »Schreien Sie mich nicht an! Wollen Sie nichts über die Büroklammer-Minen hören? Wie billig sie sind, wie leicht sie einem den Fuß abreißen können?«

»Ich schreie nicht!«

Er sprang auf, stieß seinen Stuhl zurück. »Fangen Sie nicht an zu heulen! Sparen Sie sich das für den Tag auf, wenn man mich hier tot herausholt!«

»Hören Sie auf!«

»Ich bin der Teufel in der Kathedrale! Überall bunte Glasfenster, aber ich mit einem Blitz unter jeder Fingerspitze! Ich bin das springende Rasiermesser, die Stimme der Zerstörung, sie werden jeden Inder in dieser Stadt einsperren müssen, wenn sie mich fangen wollen, und was wird dann aus ihrer beschissenen multikulturellen Gesellschaft und ihrer Gerechtigkeit? Ich werde das Chaos über sie ausgießen. Nicht ein Stein soll auf dem anderen bleiben! Kein Brett soll stehenbleiben, kein Glassplitter, der nicht bis auf den Knochen schneidet!« Er tanzte im Raum herum, schwenkte die Arme, trat mit den Füßen auf Abfall. »Ja, Feuer! Donner! Ich kann es tun, Mädchen! Es ist leicht! So leicht…«

»Nein! Niemand muß sterben!«

»Es ist groß! Und prachtvoll! Ein großes Abenteuer! Es ist ruhmreich! Die Macht in sich zu haben, und ihr freien Lauf zu lassen, das ist eines Kriegers Leben! Das ist es, was ich hier und jetzt habe, und es ist alles wert, alles!«

»Nein, ist es nicht!« schrie sie ihn an. »Es ist verrückt! Nichts ist leicht, Sie müssen es durchdenken…«

Er verschwand vor ihren Augen. Es war schnell, und einfach. Er sprang seitwärts und wand sich dabei, als hätte er sich eingefettet, um besser durch ein Loch in der Wirklichkeit zu schlüpfen. Und dann war er fort.

Sie sprang von ihrem Stuhl auf. Ihre Knie fühlten sich weich an, zitterten. Sie sah sich um. Stille. Staub setzte sich, der feuchte, warme Geruch von all dem gestapelten Zeug. Sie war allein.

»Sticky?« sagte sie. Die Worte fielen in Leere. »Kommen Sie zurück, sprechen Sie zu mir.«

Ein Rascheln menschlicher Gegenwart. Hinter ihr, in ihrem Rücken. Sie wandte sich um, und da stand er. »Sie sind ein albernes Mädchen«, sagte er. »Jemandes Mutter.« Er schnippte ihr mit den Fingern unter der Nase.

Sie versuchte ihn wegzustoßen. Mit der Schnelligkeit eines Peitschenschlages packte er sie beim Hals. »Nur zu«, grunzte er. »Atmen Sie!«