8. Kapitel

 

Laura überblickte die Stadt vom Dach der Rizome-Niederlassung. Ihr Haar flatterte im Monsunwind. Das Netz war zerrissen. Der Telefonverkehr war zusammengebrochen, das Fernsehen bis auf einen Notstandskanal der Regierung eingestellt. Laura spürte die Stille lebloser Elektrizität in den Knochen.

Das Personal der Rizome-Niederlassung, ein knappes Dutzend Männer und Frauen, war auf dem Dach versammelt und löffelte ein Frühstück aus Seetang und Kaschi. Laura rieb sich nervös das leere Handgelenk. Drei Stockwerke unter ihr übte eine Gruppe junger Anti-Labour-Anhänger ihr morgendliches Tai Chi Chuan. Weiche, matte, hypnotische Bewegungen. Niemand leitete sie an, aber sie bewegten sich in völliger Übereinstimmung.

Sie hatten die Straße durch eine Barrikade gesperrt, ihre Bambusrikschas mit gestohlenen Säcken Zement, Kaffeebohnen und Gummi beladen und ineinander geschoben. Es war ihre Art, gegen die Ausgangssperre zu protestieren, die mit der unerwarteten und drakonisch durchgesetzten Verhängung des Kriegsrechtes von der Regierung angeordnet worden war. Sie lag wie eine bleierne Decke über Singapur. Die Straßen gehörten jetzt der Armee. Und auch der Himmel… Gewaltig aufgetürmte Monsunwolken über dem morgendlichen Südchinesischen Meer, ein schimmernder tropischer Glanz wie gebauschte graue und weiße Seide. Vor dem Wolkenhimmel die insektenhaften Schattenrisse von Polizeihubschraubern.

Zuerst hatte die Opposition erklärt, daß sie sich bei ihrem Widerstand gegen die Suspendierung der Bürgerrechte auf gewaltfreie Proteste beschränken wolle, doch hatte sich schon bald gezeigt, daß ihre Führung die Masse der Anhänger nicht in der Hand hatte. In der Nacht des Vierzehnten waren Trupps von Randalierern und Plünderern in Kaufhäuser und Bürogebäude eingedrungen, hatten Schaufensterscheiben eingeschlagen und Straßensperren errichtet. Inzwischen hatte sich der Aufruhr wie ein Flächenbrand ausgeweitet, und jetzt schwärmten die Rebellen durch die Rizome-Niederlassung und eigneten sich an, was sie für nützlich hielten…

Hunderte von ihnen durchstreiften plündernd und verwüstend die Hafenfront, schlangenäugige junge Radikale in blutroten Stirnbändern und zerknitterten Papierkleidern, Operationsmasken vor Mund und Nase, um ihre Identitäten vor den Videokameras der Polizei zu verbergen: Wenn Gruppen einander an Straßenecken begegneten, gab es jedesmal ein rituelles Händeschütteln. Einige von ihnen hatten Funksprechgeräte.

Das Hafengebiet war einer ihrer Hauptsammelplätze. Wahrscheinlich steckte eine Art Einsatzplan dahinter, denn der Bezirk war schon lange das Bollwerk der Opposition, ihr natürlicher Nährboden.

Infolge der gegen Singapur gerichteten internationalen Handelsbeschränkungen litten Schiffahrt und Schiffbau seit Jahren unter einer schleichenden Krise. Die mächtige Hafenarbeitergewerkschaft hatte mit wachsender Erbitterung gegen die Herrschaft der Volkserneuerungspartei protestiert, bis die Regierung sie durch eine gezielte Investition in Industrieroboter entmachtet hatte.

Durch das Handelsembargo aber waren selbst die Verladeroboter einen großen Teil der Zeit untätig. So war es Rizome ohne größere Schwierigkeiten gelungen, im Schiffahrtsgeschäft Fuß zu fassen: Obwohl sie gewußt hatte, daß Rizomes Absichten auf ihre politische Destabilisierung abzielten, hatte die Regierung von Singapur sich die Chance, das Embargo auf diesem Weg zu unterlaufen, nicht entgehen lassen.

Der Angriff der Regierung auf die Gewerkschaft war, wie die meisten ihrer Aktionen, scharfsinnig, weitblickend und von rücksichtsloser Konsequenz gewesen, hatte aber nicht ganz die erwartete Wirkung gehabt. Die oppositionelle Gewerkschaft war nicht zerbrochen, sondern hatte unter dem Druck ihrer Basis eine veränderte Form und neue Strategien angenommen. Sie hatte auf die Forderung nach Schaffung neuer Arbeitsplätze verzichtet und eine Kampagne umfassender Arbeitsverweigerung eingeleitet.

Laura sah nur wenige Frauen und ältere Männer auf den Straßen unten; die meisten verkörperten den klassischen Typ des jungen Unruhestifters. Sie hatte einmal irgendwo gelesen, daß neunzig Prozent aller Gewaltakte, Plünderungen und aufrührerischen Handlung von jungen Burschen zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig verübt wurden. Sie beschmierten Wände und Straßen mit wunderlichen Wahlsprüchen: SPIEL STAU ARBEIT… PROLETARIER ALLER LÄNDER, ENTSPANNT EUCH!

Razaks Anhänger, die Bäuche gefüllt mit billigem bakteriellen Futter. Seit Jahren hatten sie beinahe von nichts gelebt, in leerstehenden Lagerhäusern übernachtet und aus öffentlichen Brunnen getrunken. Die Politik und das Gemeinschaftserlebnis füllten ihre Tage, eine primitive Verweigerungsideologie, die als Druckmittel nur wirksam werden konnte, wenn sich weite Kreise der arbeitenden Bevölkerung ihr anschlossen.

Wie die meisten Singapurer, hielten sie große Stücke auf körperliche Ertüchtigung. Tag für Tag versammelten sie sich zu gesunden körperlichen Übungen, bei denen es sich in ihrem Fall freilich um Formen des waffenlosen Kampfes handelte, einen sehr billigen Sport, der keiner Ausstattung als des menschlichen Körpers bedurfte.

Man konnte sie auf der Straße schon an ihrem Gang erkennen: Den Kopf erhoben, in den Augen das glasige Selbstbewußtsein von Karatejüngern, die erfüllt sind von der Überzeugung, daß sie mit den bloßen Händen anderen die Knochen brechen können. Sie waren parasitisch und stolz, nahmen jede soziale Vergünstigung in Anspruch, die das System bot, zeigten jedoch keine Spur von Dankbarkeit. Da es kein Gesetz gab, das zur Arbeit zwang, konnte man ihnen das Nichtstun nicht verwehren, auch wenn es gegen alle Grundsätze industrieller Arbeitsethik verstieß.

Laura verließ die Brüstung. Mr. Suvendra hatte eine Kleiderbügelantenne für seinen batteriebetriebenen Fernseher improvisiert, und sie bemühten sich, eine Sendung aus Johore aufzufangen. Endlich kam ein flimmerndes Bild zustande, und alle drängten sich vor dem Gerät. Laura geriet zwischen Ali und Suvendras jugendliche Nichte, Dervit.

Nachrichten aus Singapur. Es wurde malayisch gesprochen, und das Bild war verschwommen und kratzig, sei es, daß die provisorische Antenne fehlerhaft war, sei es, daß der Empfang durch Singapur gestört wurde.

»Invasionsgerede«, dolmetschte Suvendra. »Die der Wiener Konvention angeschlossenen Staaten verurteilen den Ausnahmezustand; sie nennen ihn einen Staatsstreich.«

Eine junge Nachrichtensprecherin in einem moslemischen Tschador aus Chiffon führte eine Landkarte der malayischen Halbinsel vor. Bedrohlich aussehende Wetterfronten veranschaulichten die potentielle Reichweite der Flugzeuge und Schiffe Singapurs.

»Die Unterzeichner der Wiener Konvention werden sich nie darauf einigen, gegen diese Streitmacht Krieg zu führen.«

»Die Luftwaffe von Singapur hat ein paar Staffeln nach Nauru entsandt, um die Startanlagen zu schützen!«

»Die Bewohner dieser verarmten kleinen Pazifikinsel müssen den Tag, als sie das Stützpunktabkommen mit Singapur schlossen, inzwischen bitter bereuen!«

Trotz der schlechten Nachrichten munterte das Fernsehen alle auf. Das Gefühl, wieder mit dem Netz in Verbindung zu sein, erzeugte ein neues Gemeinschaftsgefühl. Schulter an Schulter vor dem Fernseher zusammengedrängt, bildeten sie beinahe eine eigene Rizome-Ausschußversammlung. Auch Suvendra spürte es - sie blickte mit ihrem ersten Lächeln seit Stunden auf.

Laura blieb still im Hintergrund. Die anderen hatten ihr übelgenommen, daß sie früher verschwunden war, ohne sie zu verständigen. Sie war fortgelaufen, um mit David Verbindung zu bekommen, und war erst viel später bewußtlos in einem Taxi zurückgekehrt. Sie hatte ihnen von der Begegnung mit Sticky berichtet und vorgeschlagen, die Regierung zu informieren - aber die Regierung hatte bereits über die Neuigkeiten verfügt. Die Abschußgeräte für vergifteten Schrot, die Minen, der unsichtbare Lack, dessen Berührung Geistesgestörtheit hervorrief, hatten dem amtierenden Premierminister Jeyaratnam zur Rechtfertigung der Verhängung des Kriegsrechtes gedient. Er hatte die Bevölkerung über den Regierungskanal gewarnt und sie in ihren Häusern eingesperrt.

Im Anschluß an die Nachrichtensendung klatschte Suvendra in die Hände, und während ein junges Mädchen vor dem Fernseher blieb, um die weitere Entwicklung zu verfolgen, ergriffen die anderen sich bei den Händen und sangen die Rizome-Hymne auf malayisch. In der bedrohlichen Stille, die über der Stadt lag, vermittelten ihnen die im gemeinsamen Gesang erhobenen Stimmen ein gutes Gefühl. Es ließ Laura fast vergessen, daß die Beschäftigten der Rizome-Nieder- lassung jetzt Flüchtlinge waren, die sich auf das Dach ihres eigenen Hauses gerettet hatten.

»Ich bin der Meinung«, sagte Suvendra, »daß wir getan haben, was wir können. Die Regierung hat das Kriegsrecht verhängt, und wir müssen mit gewalttätigen Auseinandersetzungen rechnen. Möchte jemand von uns gegen die Regierung kämpfen? Ich bitte um Handzeichen.«

Niemand stimmte für Gewalt. Sie hatten bereits mit den Füßen abgestimmt, indem sie aufs Dach geflüchtet waren.

»Könnten wir nicht die Stadt verlassen?« fragte Ali.

»Auf dem Seeweg?« fügte Dervit hinzu.

Sie blickten über den Hafen hinaus: Die vor Anker liegenden Frachter, die stillgelegten Kräne und Laderoboter, deren Steuerzentrale von den Rebellen der Opposition besetzt war. Draußen auf See waren die rasch dahingleitenden Gischtfahnen patrouillierender Tragflügelboote der Marine zu sehen.

»Das ist nicht Grenada. Sie lassen niemanden hinaus«, sagte Mr. Suvendra. »Sie würden auf uns schießen.«

»Das meine ich auch«, sagte seine Frau. »Aber wir könnten unsere Festnahme verlangen. Durch die Regierung.«

Die anderen schauten mißmutig drein.

»Hier sind wir Radikale«, sagte Suvendra. »Wir sind wirtschaftliche Demokraten unter einer autoritären Regierung.

Wir verlangen eine Reform des Systems, aber die Chance ist vorläufig vertan. Also ist das Gefängnis der geeignete Ort für uns in Singapur.«

Lange, nachdenkliche Stille. Von der See rollte dumpf Monsundonner herüber.

»Die Idee gefällt mir«, sagte Laura.

Ali zog an seiner Unterlippe. »Im Gefängnis sind wir sicher vor Wodu-Terroristen.«

»Außerdem ist die Gefahr geringer, daß die Armee uns aus Versehen totschießt.«

»Wir müssen für uns entscheiden. Wir können nicht Atlanta fragen«, sagte Suvendra.

Eine Diskussion kam in Gang. »Aber vom Gefängnis aus können wir nichts bewirken.«

»Doch, wir können. Die Regierung in Verlegenheit bringen! Das Kriegsrecht kann nicht von Dauer sein.«

»Hier sind wir sowieso zur Untätigkeit verdammt«.

Von den Straßen drangen Schreie herauf. »Ich gehe nachsehen«, sagte Laura und stand auf.

Sie ging über das heiße Flachdach zur Brüstung. Jetzt ertönte eine Polizeisirene, und einen Augenblick lang konnte sie den Wagen zwei Blocks entfernt sehen: einen rotweißen Streifenwagen, der vorsichtig eine verlassene Kreuzung überfuhr. Er hielt vor einer primitiven Straßenbarrikade.

Ali kam zu ihr. »Wir haben abgestimmt«, sagte er. »Die Mehrheit ist für Gefängnis.«

»Gut.«

Ali beobachtete den Streifenwagen, lauschte seiner Lautsprecherdurchsage. »Es ist Mr. Bin Awang«, sagte er. »Der malayische Abgeordnete von Bras Basah.«

»Ach ja«, sagte Laura. »Ich erinnere mich an ihn von der Anhörung.«

»Kapitulationsaufforderung. Geht friedlich nach Hause zu euren Familien, sagt er.«

Rebellen kamen aus den Durchfahrten und Hauseingängen. Sie schlenderten auf den Streifenwagen zu, lässig, furchtlos. Laura sah, wie sie dem Fahrer hinter dem kugelsicheren Glas mit Gesten bedeuteten, er solle umkehren und wegfahren. Befreites Territorium, für Polizisten verboten…

Der auf das Dach montierte Lautsprecher wiederholte die Aufforderung.

Einer der Burschen begann eine Losung auf die Kühlerhaube zu sprühen. Der Streifenwagen antwortete mit zornigem Sirenengejaul und begann sich zurückzuziehen.

Auf einmal zogen die Rebellen Waffen hervor, schwere Macheten, die sie in Händen und Hosen verborgen hatten und mit denen sie nun wütend auf die Reifen und Türscharniere des Streifenwagens einhackten. So unglaublich es scheinen mochte, das Stahlblech gab nach, mit gequältem metallischem Kreischen, das im weiten Umkreis hörbar war…

Laura war entsetzt. Die Rebellen verwendeten die gleichen tödlichen Keramikmacheten, die sie in Grenada gesehen hatte, mit der Dr. Prentis eine Ecke von seinem Schreibtisch geschlagen hatte.

Die anderen kamen zu ihnen an die Brüstung. Unterdessen hatten die Rebellen die Kühlerhaube weggehackt und den Motor zum Schweigen gebracht. Sie rissen die Türen heraus, hieben den Wagen buchstäblich in Stücke.

Sie zerrten die verblüfften Polizisten heraus, schlugen sie nieder und brachten den Abgeordneten in ihre Gewalt.

Dann aber war plötzlich ein Hubschrauber über ihnen.

Tränengaskanister fielen und zerplatzten, hüllten den Schauplatz in sich ausbreitende Wolken. Die Rebellen spritzten auseinander. Ein stämmiger Bursche, der eine Schnorchelbrille trug, brachte ein gestohlenes Fesselgewehr in Anschlag und feuerte Plastikstreifen nach oben. Sie klatschten harmlos gegen Bauch und Fahrgestell des Hubschraubers, um sich dort netzförmig auszubreiten und zu verfestigen, doch sie konnten der Maschine nichts anhaben, und sie stieg außer Reichweite.

Weiteres Sirenengeheul, und drei unterstützende Streifenwagen rasten über die Kreuzung, hielten mit kreischenden Bremsen vor dem zerschlagenen Fahrzeug. Junge Burschen rannten gebückt vom Wrack fort, gestohlene Fesselmunition und Kanister in den Händen. Einige trugen Schutzbrillen, die ihnen ein unheimliches, entmenschlichtes Aussehen verliehen. Ihre Atemmasken schienen gegen das Tränengas zu helfen.

Türen flogen auf, und Polizisten in voller Sonderausrüstung sprangen heraus: Schutzhelme mit Visier, Schlagstöcke, Fesselgewehre und Gasmasken. Die Rebellen suchten in den umliegenden Gebäuden Deckung. Die Polizisten berieten, zeigten auf einen Eingang, bereit, das Haus zu stürmen.

Plötzlich gab es eine dumpfe Explosion im Wrack des ersten Streifenwagens. Die Sitze spuckten Flammen.

Ein paar Augenblicke später explodierte der Tank, und eine Säule aus schwarzem, von Feuer durchschossenem Qualm erhob sich über die Hafenfront.

Ali schrie etwas und streckte den Arm aus. Ein halbes Dutzend Rebellen waren einen halben Block vom Schauplatz entfernt wieder zum Vorschein gekommen. Sie schleppten einen bewußtlosen Polizisten durch ein Rattenloch in der Seite eines Lagerhauses. Sie hatten mit ihren Macheten eine Öffnung durch die Mauersteine geschlagen.

»Sie haben Parangs!« sagte er mit einem Ausdruck von Entsetzen, in den sich freudige Genugtuung mischte. »Die magischen Kung-Fu-Schwerter!«

Die Polizisten, gerade ein Dutzend Mann stark, konnten sich nicht entschließen, in die Häuser einzudringen. Kein Wunder. Laura konnte sich vorstellen, wie sie mutig hineinstürmten, vor sich die Trichtermündung eines Fesselgewehrs, nur um einen jähen Schmerz zu verspüren, vornüber zu fallen und zu entdecken, daß ihm irgendein rattengesichtiger kleiner Anarchist hinter der Tür gerade das Bein am Knie abrasiert hatte… Diese verfluchten Macheten! Sie waren wie Laser! Was für ein kurzsichtiger, verantwortungsloser Kerl hatte diese Dinger erfunden?

Sie fröstelte, als die Implikationen sich mehrten… All dieses alberne, theatralische Kung Fu, die blödsinnigste Idee der Welt, daß bornierte Schwertfechter ohne Panzer oder Schußwaffen modernen Polizisten oder ausgebildeten Soldaten standhalten könnten… Nein, die Rebellen konnten es im offenen Kampf nicht mit den Polizisten aufnehmen, aber im Häuserkampf, von einem Zimmer zum anderen, mit durchlöcherten Wänden, konnten sie sicherlich plötzliche Überfälle durchführen und sich ebenso schnell zurückziehen.

Laura begriff, daß es hier nicht ohne Todesopfer abgehen würde. Sie waren zu allem entschlossen. Razak schreckte vor nichts zurück. Menschen würden sterben…

Die Polizisten bestiegen wieder ihre Streifenwagen. Sie zogen sich zurück. Niemand kam heraus, ihnen nachzuschreien oder höhnische Gebärden zu machen, und irgendwie war es schlimmer, daß sie es nicht taten.

Die Rebellen waren anderswo geschäftig am Werk. Überall entlang der Hafenfront stieg Rauch auf. Schwarzer, fettig brodelnder Rauch, vom Monsun wie gebrochene Finger landeinwärts gedrückt. Es mochte kein Fernsehen geben, keine Telefone, aber nun würde ganz Singapur wissen, daß der Teufel los war. Rauchsignale wirkten noch immer. Und ihre Botschaft war offensichtlich.

Am Hafenkai hinter der Rizome-Niederlassung übergossen drei Aktivisten einen Haufen gestohlener Lastwagenreifen mit Benzin aus einem Kanister. Sie wichen zurück und warfen eine angezündete Zigarette. Der unordentliche Haufen ging mit einem dumpfen Schlag in Flammen auf, und die Reifen sprangen wie Krapfen, die von einem Teller gefallen sind. Dann entzündete sich das Gummi und spie schwarzen Rauch.

Dervit wischte sich die Augen. »Es stinkt…«

»Lieber hier oben sein, als da unten auf den Straßen!«

»Wir könnten uns einem Hubschrauber ergeben«, sagte Suvendra. »Hier auf dem Dach ist genug Platz für eine Landung, und wenn wir mit einer weißen Fahne signalisieren, könnten sie uns rasch festnehmen.«

»Sehr gute Idee!«

»Wir brauchen ein Leintuch, wenn sie uns welche gelassen haben…«

Mr. Suvendra und ein Gehilfe namens Bima gingen hinunter, um ein Laken aufzutreiben.

Lange, ermüdende Minuten vergingen. Im Augenblick waren keine Zeichen von Gewalt auszumachen, aber die Stille brachte keine Erleichterung. Sie verstärkte nur das paranoide Gefühl, verfolgt zu sein, belagert zu werden.

Unten am Kai drängten sich Gruppen von Rebellen um ihre Funksprechgeräte. Es waren billige, massenproduzierte Spielzeuggeräte, Dritteweltexport, deren Herstellungskosten wenige Cents betrugen. Wer, zum Teufel, brauchte Funksprechgeräte, wenn man ein drahtloses Telefon am Handgelenk tragen konnte? Aber die Leute von der ALP dachten nicht so.

»Ich glaube nicht, daß die Polizei damit fertig wird«, sagte Laura. »Sie wird wohl die Armee herbeirufen müssen.«

Endlich kamen Mr. Suvendra und Bima zurück, beladen mit hastig zusammengerafften Bettlaken und ein paar Packungen Fertignahrung, die von den Plünderern übersehen worden waren. Die Rebellen hatten sie nicht belästigt; hatten sie anscheinend kaum beachtet.

Sie breiteten ein Laken auf dem Dach aus, Suvendra kniete darauf nieder und schmierte mit einem dicken Filzstift ein schwarzes SOS auf das Gewebe. Ein zweites Laken zerrissen sie zu einer weißen Fahne und weißen Armbinden.

»Primitiv, aber wirksam«, sagte Suvendra.

»Jetzt winken wir dem nächsten Hubschrauber.«

Der Junge, der den Fernseher überwachte, schrie herüber: »Die Armee ist in Johore!«

Sie ließen alles fallen und stürzten zum Fernseher.

Der malayische Nachrichtensprecher war bestürzt. Singapurs Armee hatte in einem Überraschungsangriff die Meerenge überwunden und war in Johore Bahru eingedrungen. Eine gepanzerte Kolonne raste durch die Stadt, ohne auf Widerstand zu stoßen - nicht, daß Maphilindonesia im Augenblick viel dagegen unternehmen konnte. Singapur bezeichnete den Angriff als ›Polizeiaktion‹.

»Gott, nein«, sagte Laura. »Wie können sie nur so dumm sein?«

»Sie besetzen die Reservoire«, sagte Mr. Suvendra.

»Was?«

»Der größte Teil der Wasserversorgung von Singapur kommt vom Festland. Ohne Wasser kann Singapur nicht verteidigt werden.«

»Sie haben es schon einmal so gemacht, während der Konfrontation«, sagte Mrs. Suvendra. »Die Regierung Malaysias war sehr verärgert über Singapur und versuchte ihm die Wasserversorgung abzuschneiden.«

»Was geschah damals?« fragte Laura.

»Sie stürmten durch Johore und drangen gegen Kuala Lumpur vor, der Hauptstadt Malaysias… Die malaysische Armee lief davon, die malaysische Regierung wurde gestürzt… Darauf wurde die neue Föderation Maphilindonesia gegründet. Die neue Bundesregierung war sehr freundlich zu Singapur, bis man hier Bereitschaft zeigte, hinter die Grenzen zurückzukehren.«

»Sie haben gelernt, nicht in die ›Giftige Garnele‹ zu beißen«, sagte Mr. Suvendra. »Singapur hat eine sehr tüchtige Armee.«

»Die Singapurer Chinesen arbeiten zu viel«, sagte Dervit. »Verursachen all diese Schwierigkeiten.«

»Jetzt sind wir auch noch fremde Feinde«, sagte Bima mit unglücklicher Miene. »Was sollen wir tun?«

Sie warteten auf einen Polizeihubschrauber. Einen zu finden, war nicht schwierig: Mittlerweile hatte sich ein Dutzend über dem Hafengebiet versammelt. Sie patrouillierten hin und her, wichen den Rauchsäulen aus.

Die Rizome-Leute winkten begeistert mit ihrer weißen Flagge, wann immer einer in die Nähe kam, aber es dauerte eine gute Weile, bis einer sich herbeiließ, über ihnen zu schweben. Ein Polizist steckte den behelmten Kopf aus der Tür, schob das Visier hoch.

Stimmengewirr und Geschrei folgten. »Keine Sorge, Rizome!« rief der Polizist schließlich. »Wir retten Sie, kein Problem!«

»Wie viele von uns?« schrie Suvendra. Sie mußte ihren breitkrempigen Hut mit beiden Händen festhalten, daß er ihr nicht vom Wind der Rotorblätter weggerissen wurde.

»Alle!«

»Mit einer Maschine?« rief Suvendra verwirrt. Der kleine Polizeihubschrauber mochte bestenfalls drei oder vier Passagieren Platz bieten.

Er unternahm keinen Landeversuch. Wenige Sekunden später stieg er wieder auf und schwenkte in einem eleganten Bogen nordwärts ab.

»Sie sollten sich beeilen«, sagte Suvendra mit einem Blick zur Monsunfront. »Es zieht ein Unwetter auf!«

Sie legten ihr SOS-Laken zusammen, falls die Rebellen heraufkommen und nach dem Rechten sehen sollten. Verhandlungen mit ihnen oder der ALP waren eine Möglichkeit, aber in der Beratung hatte Suvendra darauf gedrungen, sie nicht zu forcieren. Die Rebellen hatten bereits die Niederlassung besetzt und geplündert; gerade so leicht könnten sie das Rizome-Personal gefangensetzen und zu Geiseln machen. Daß sie keinerlei Hemmungen hatten, bewies das Schicksal der beiden Streifenpolizisten und des Abgeordneten, die sie entführt hatten.

Wieder vergingen zwanzig nervenaufreibende Minuten erzwungener Untätigkeit, während im Viertel eine gespannte, trügerische Stille herrschte, die niemanden täuschen konnte. Die Sonne stieg über die Monsunfront, und tropischer Vormittag brannte über der schweigenden Stadt. Es ist unheimlich, dachte Laura - eine Millionenstadt ohne Menschen.

Ein anderer Hubschrauber, größer und mit zwei Rotoren, näherte sich mit pfeifenden Triebwerken der Hafenfront. Er drehte sich auf der Stelle und schwebte über der menschenleeren Hälfte des Daches. Eine Klappe im Boden öffnete sich, und drei schwarzbekleidete Männer sprangen heraus. Der Hubschrauber stieg wieder auf.

Die drei Männer standen einen Augenblick beisammen und brachten ihre Ausrüstung in Ordnung, dann kamen sie näher. Sie trugen schwarzen Drillich, schwarze Stiefel, breite schwarze Textilgurte mit Messingkarabinern, Handgranaten, Munitionstaschen und Waffenhalftern. In den Händen hielten sie kurzläufige, geheimnisvoll aussehende Maschinenpistolen.

»Guten Morgen, beisammen«, sagte der Anführer in munterem Ton. Er war ein großer, rotgesichtiger Engländer mit kurzgeschnittenem weißem Haar, einer blaurotgeäderten Nase und einem permanenten tropischen Sonnenbrand. Er sah ungefähr um die Sechzig aus, schien jedoch für sein Alter verhängnisvoll gut erhalten. Blutwäsche? dachte Laura.

»Morgen…« murmelte jemand.

»Hotchkiss ist mein Name. Oberst Hotchkiss, Kommandoeinheit für Sonderaufgaben. Dies sind die Oberleutnants Lu und Aw. Wir sind zu Ihrer Sicherheit hier, meine Damen und Herren. Also machen Sie sich keine Sorgen.« Hotchkiss zeigte ihnen zwei weiße Zahnreihen.

Er war riesig. Einsfünfundneunzig groß, mindestens hundertzwanzig Kilo schwer. Arme wie Baumstämme. Laura hatte fast vergessen, wie groß Europäer sein konnten. Mit seinen dicken schwarzen Stiefeln und der schweren, bedrohlich aussehenden Ausrüstung war er wie von einer anderen Welt. Hotchkiss nickte ihr zu, ein wenig überrascht. »Ich kenne Sie vom Fernsehen, Mädchen.«

»Die Anhörungen?«

»Ja. Ich habe…«

Mit einem plötzlichen metallischen Krachen flog die Stahlblechtür zum Dach auf. Eine brüllende Bande jugendlicher Rebellen quoll heraus, Bambusstöcke in den Händen.

Mit einer schnellen Körperdrehung aus der Hüfte brachte Hotchkiss die Maschinenpistole in Anschlag und eröffnete das Feuer auf den Ausstieg. Der Feuerstoß machte einen nervenzerfetzenden Lärm. Zwei Rebellen wurden von den einschlagenden Geschossen rücklings zu Boden geschleudert, die anderen flohen kreischend die Treppe hinunter. Die Rizome-Leute lagen plötzlich alle auf dem Dach und krallten die Finger entsetzt in die kiesbedeckte Oberfläche.

Lu und Aw traten die Tür zu und feuerten aus einem Fesselgewehr eine Ladung gegen den Türpfosten, der sie versiegelte. Sie zogen dünne Plastikschleifen aus den Gürteln und fesselten die zwei gefallenen, keuchenden Rebellen. Dann setzten sie sie aufrecht.

»Okay, okay«, sagte Hotchkiss zu den anderen und wedelte mit der fleischigen Hand. »Nur Geleekugeln. Sehen Sie? Kein Problem.« Die Rizome-Gruppe erhob sich langsam. Als ihnen die Wahrheit aufging, gab es nervöses, verlegenes Gekicher. Die zwei Rebellen, blutjunge Burschen, waren von der Garbe quer über die Oberkörper getroffen worden, und in ihren Papierhemden gähnten Löcher. Die Haut darunter zeigte faustgroße Flecken unauslöschlicher purpurner Farbe.

Hotchkiss half Laura kavaliersmäßig auf die Beine. »Geleekugeln töten nicht«, verkündete er. »Haben aber trotzdem eine hübsche Wucht.«

»Sie haben uns mit Maschinengewehr beschossen!« sagte einer der Rebellen.

»Sei still, Junge«, erwiderte Hotchkiss, nicht unfreundlich. »Lu, Aw, diese zwei sind zu klein. Schmeißen wir sie wieder hinunter, nicht?«

»Die Tür ist gesichert, Sir«, sagte Lu.

»Gebrauchen Sie Ihren Kopf, Lu. Sie haben Ihre Seile.«

»Jawohl, Sir«, sagte Lu und grinste. Er und Aw nahmen die beiden Jungen an Kragen und Hosenboden und trugen sie zur Straßenseite des Daches. Sie zogen ihrem ersten Gefangenen eine Seilschlaufe unter den Schultern durch und sicherten sie im Nacken mit einem Karabinerhaken, der durch eine dünne Zugleine von oben geöffnet werden konnte. Von der Uferstraße drei Stockwerke tiefer stiegen wütende, blutgierige Schreie aus der Menge der erregten Rebellen herauf.

»Na«, bemerkte Hotchkiss beiläufig, »die Krawallmacher scheinen aus Ihrer Filiale ein Operationszentrum gemacht zu haben.« Lu stieß den Gefangenen über die Brüstung, während Aw Seil und Zugleine ausgab. Der Junge segelte hilflos abwärts.

»Aber keine Sorge«, sagte Hotchkiss. »Wir können sie zersprengen, egal wo sie stehen.«

Suvendra verzog das Gesicht. »Wir sahen, wie sie Ihren Streifenwagen demolierten…«

Hotchkiss rümpfte die Nase. »Den Streifenwagen hineinzuschicken, war die Idee der Politiker. Aber jetzt ist es unsere Sache.«

Laura bemerkte, daß Hotchkiss ein militärisches Multifunktions-Uhrtelefon hatte. »Was können Sie uns sagen, Oberst? Wir sind hier oben ohne Verbindung mit der Außenwelt. Ist die Armee wirklich in Johore?«

Er lächelte sie an. »Dies ist nicht Ihr Texas, liebes Kind. Die Armee ist bloß auf der anderen Seite der Meerenge - bloß über die Brücke. Ein paar Minuten entfernt.« Er hielt zwei Finger hoch, einen Zentimeter auseinander. »Alles Miniatur, sehen Sie.«

Die zwei chinesischen Offiziere hatten den ersten Rebellen hinuntergelassen und hakten jetzt den zweiten an ihr Seil. In der Tiefe machten die Aufrührer ihrer Wut in einem Geheul frustrierter Beschimpfungen Luft. Steine kamen in Bogen heraufgeflogen und landeten auf dem Dach. »Knallt ihnen ein paar Magazine Farbgelee vor den Latz!« rief Hotchkiss.

Die zwei Chinesen nahmen ihre Maschinenpistolen vom Rücken und feuerten über die Brüstung hinunter. Die automatischen Waffen machten einen Höllenlärm und spuckten Patronenhülsen. Auf der Straße kreischte die Menge vor Angst und Schmerz. Laura hörte sie auseinanderspritzen. Sie fühlte eine Aufwallung von Übelkeit.

Hotchkiss faßte sie am Ellbogen. »Fehlt Ihnen was?«

Sie schluckte angestrengt. »Ich sah mal einen Mann, der von einem Maschinengewehr getötet wurde.«

»Ach, tatsächlich?« sagte Hotchkiss, interessiert. »Waren Sie in Afrika?«

»Nein…«

»Sie scheinen ein bißchen jung zu sein, um richtige Action gesehen zu haben… Ach ja, Grenada, ich verstehe.« Er ließ sie los. Wildes Gehämmer ließ die Stahltür zum Dach erzittern. Hotchkiss feuerte den Rest seines Magazins dagegen. Hämmerndes Knallen und Klatschen. Er warf das leere Magazin weg und stieß mit dem beiläufigen Ausdruck eines Kettenrauchers ein neues in die Waffe.

»Ist dies nicht ›richtige Action‹?« rief Laura. Ihre Ohren dröhnten.

»Dies ist bloß Theater, Kind«, sagte Hotchkiss in geduldigem Ton. »Diese kleinen Krawallmacher haben nicht mal Gewehre. Hätten wir so was in den schlimmen alten Tagen versucht - in Belfast oder Beirut -, würden wir jetzt mit großen Scharfschützenlöchern in uns daliegen.«

»›Theater‹ - was soll das heißen?« fragte Laura.

Hotchkiss schmunzelte. »Stellen Sie sich nicht dümmer, als Sie sind. Ich weiß, was richtiger Krieg ist. Falkland-Inseln, 1982. Das war ein klassischer kleiner Krieg. Kaum Fernsehleute.«

»Dann sind Sie also Engländer, Oberst? Europäer?«

»Engländer. Ich war S.A.S.« Hotchkiss wischte sich Schweiß vom Gesicht. »Kommandoeinheit. Aber Europa! Was für ein Verein ist das, die Gemeinsame Europäische Armee? Ein verdammter Witz, das ist es. Als wir für Königin und Vaterland kämpften… ach, das werden Sie sowieso nicht verstehen, Mädchen.« Er blickte auf seine Uhr. »Okay, da kommen unsere Jungs.«

Hotchkiss marschierte zur Frontseite des Gebäudes. Die Rizome-Mannschaft folgte in seinem Kielwasser.

Ein sechsrädriger gepanzerter Mannschaftstransporter brandete wie ein mächtiges graues Rhinozeros auf Gummirädern mit Leichtigkeit über und durch die Straßenbarrikade. Rikschas wurden zermalmt, Zement- und Kaffeesäcke zermalmt und beiseite geschoben. Der im Drehturm untergebrachte Wasserwerfer schwenkte wachsam hin und her.

Hinter ihm kamen zwei Transporter mit drahtgeschützten Fenstern. Sie öffneten die doppelten Hecktüren, und Dutzende von Polizisten sprangen heraus und nahmen Aufstellung. Alle waren mit Schilden, Helmen und Schlagstöcken ausgerüstet.

Niemand zeigte sich, ihnen Widerstand zu leisten. Und aus gutem Grund, denn ein paar Hubschrauber hingen wie bösartige Riesenwespen über der Straße. Ihre Seitentüren waren offen, und die im Innern kauernden Polizisten bemannten Tränengaswerfer und Revolver-Fesselgewehre.

»Ganz einfach«, sagte Hotchkiss. »Straßenkampf hat keinen Sinn, wenn wir die Anführer des Aufruhrs nach Belieben greifen können. Jetzt werden wir uns ein Hausvoll von ihnen schnappen und… Oh, verflucht!«

Zwei große Verladeroboter rollten mit Schwung vom Hof auf die Straße hinaus. Ihr Manövrieren war unberechenbar und von einer rohen Sinnlosigkeit, einem Anzeichen schlechter Programmierung. Sie waren gebaut, um Container zu verladen; nun machten ihre Greifer sich über alles her, was von annähernd vergleichbarer Größe war.

Die Mannschaftstransportwagen kippten sofort um, ihre Flanken wurden unter den Greifversuchen der Roboter verbeult. Der gepanzerte Einsatzwagen schaltete den Wasserwerfer ein, als die Roboter mit unbarmherziger mechanischer Stumpfsinnigkeit an ihm zerrten und stießen. Schließlich warfen sie ihn um, so daß er auf einen Ladearm des zweiten Roboters fiel, der den Rückwärtsgang einschaltete, den Arm aber nur verbogen und mit metallischem Kreischen herausziehen konnte. Der Wasserwerfer schoß unterdessen eine vier Stockwerke hohe Fontäne ziellos in die Luft.

Die Rebellen brachen wieder aus ihren Schlupfwinkeln hervor und lieferten der Polizei eine Straßenschlacht. Der Asphalt glänzte vor Nässe, die Füße der Kämpfenden patschten im Wasser. Wildes Handgemenge, hin und her wogender Kampf, rücksichtslos und erbittert, wie ein Krieg zwischen Ameisenvölkern.

Laura beobachtete das Geschehen in völliger Verblüffung. Sie konnte nicht glauben, daß es dazu gekommen war. Eine der am besten organisierten Städte der Welt, und hier tobten die Leute durch die Straßen und schlugen mit Stöcken aufeinander ein.

»Ach du lieber Gott«, sagte Hotchkiss. »Wir sind besser bewaffnet, aber unsere Moral läßt zu wünschen übrig… Nun, die Luftunterstützung wird zeigen, wer den längeren Atem hat.« Die Hubschrauber feuerten mit Fesselmunition auf die Randbereiche des Getümmels, doch ohne viel Erfolg. Der Kampfplatz war zu dicht bevölkert, das Geschehen zu chaotisch, die Nässe verminderte das Haften der Plastikstreifen. Laura zuckte zusammen, als ein Laderoboter ins Kampfgetümmel geriet und mit seinen massigen Reifen mehrere Straßenkämpfer zu Boden warf.

Von der Tür zum Treppenaufgang drangen erneuerte Schläge an ihr Ohr. Jemand hatte die Keramikschneide einer Machete durchgestoßen und sägte energisch die Plastikhaftstreifen durch. Einer der Offiziere ging hin und jagte einen Feuerstoß Krawallmunition durch den Spalt ins Treppenhaus. Die anderen wandten sich zurück zur Hafenseite und sahen jenseits der Straßenschlacht einen Ladekran in Bewegung. Sein skelettartiger langer Ausleger, von dessen Ende zwei lange Ketten hingen, drehte sich und beschleunigte mit schwerfälliger Anmut, und ehe jemand wußte, was geschah, peitschten seine schwingenden Ketten in die blitzenden Rotorblätter eines über der Hafenfront schwebenden Hubschraubers, der wie ein Stein abstürzte und dramatisch ins schmutzige Hafenwasser platschte. Dort lag er, langsam vollaufend, auf der Seite zwischen treibenden Kistenbrettern und Plastikmüll, wie eine ertrunkene Libelle.

»Wie haben sie das gemacht?« wollte Hotchkiss wissen.

»Ist eine sehr kluge Maschine«, sagte Mr. Suvendra.

»Ich werde alt«, sagte Hotchkiss traurig. »Wo werden diese verdammten Dinger gesteuert?«

»Unten«, sagte Mr. Suvendra. »Es gibt Konsolen…«

»Fein.« Hotchkiss packte sein dürres Handgelenk. »Sie bringen mich hin. Lu! Aw! Wir gehen!«

»Nein«, sagte Mr. Suvendra.

Seine Frau griff den anderen Arm ihres Mannes. Plötzlich zerrten sie von beiden Seiten an ihm. »Wir tun keine Gewalt!« sagte sie.

»Sie tun was?«

»Wir kämpfen nicht«, sagte Suvendra leidenschaftlich. »Wir mögen Sie nicht! Wir mögen Ihre Regierung nicht! Wir kämpfen nicht! Verhaften Sie uns!«

»Dieser verfluchte Kran hat all unsere Piloten getötet…«

»Dann hören Sie auf zu kämpfen! Schicken Sie sie fort!« Suvendra hob ihre Stimme in einem schrillen Befehl: »Alle hinsetzen!« Die Rizome-Mannschaft folgte der Aufforderung auf der Stelle. Auch Mr. Suvendra setzte sich, obwohl er an einem Arm noch immer in Hotchkiss' riesiger, sommersprossiger Pranke hing.

»Ihr elendes Politgesindel«, sagte Hotchkiss in verächtlichem Ton. »Ich kann das nicht glauben. Wollen Sie mit dem Terroristenpack gemeinsame Sache machen? Ich befehle Ihnen als Bürgern…«

»Wir sind nicht Ihre Bürger«, schrillte Suvendra. »Wir gehorchen auch nicht Ihrem illegalen Kriegsrechtsregime. Verhaften Sie uns!«

»Und ob wir Sie verhaften werden, alle miteinander! Teufel noch mal, Sie sind so schlimm wie dieses Straßengesindel!«

Suvendra nickte, holte tief Atem. »Wir sind gegen Gewalt. Aber wir sind Feinde Ihrer Regierung, Oberst!«

Hotchkiss nahm Laura ins Visier. »Sie auch, wie?«

Laura blickte zornig zu ihm auf, weil er sie aus ihren Leuten herausgepickt hatte. »Ich kann Ihnen nicht helfen«, sagte sie. »Ich bin Globalistin, und Sie sind ein Arm des Staates.«

»Blutiger Christus, was sind Sie für ein trauriger Haufen von Schleimscheißern«, sagte Hotchkiss in bekümmertem Ton. Er ließ den Blick über sie schweifen und kam zu einer Entscheidung. »Sie«, sagte er zu Laura.

Ehe sie reagieren konnte, war er über ihr und schloß ihr die Arme mit Handschellen auf dem Rücken zusammen.

»Er stiehlt Laura!« kreischte Suvendra in höchster Empörung. »Versperrt ihm den Weg!«

Hotchkiss hebelte Laura in die Höhe. Sie wollte nicht mitgehen, rappelte sich aber schnell auf, als ein stechender Schmerz durch ihre Schultergelenke fuhr. Die Rizome- Mannschaft umdrängte den Oberst, fuchtelte mit den Armen und rief Proteste. Hotchkiss rief eine Warnung, trat Ali in die Kniescheibe und zog seine Fesselpistole. Ali, Mr. Suvendra und Bima gingen zu Boden, krallten in den sich klebrig um sie schlingenden Plastikstreifen. Die anderen rannten über das Dach davon.

Die Aufrührer brachen wieder durch. Am oberen Rand der Tür klaffte bereits ein breiter Spalt. Hotchkiss nickte Oberleutnant Lu zu, der eine schwarze Eierhandgranate vom Gürtel nahm und durchwarf.

Zwei Sekunden vergingen, dann entlud sich hinter der Stahltür ein greller Lichtblitz, gefolgt von einem fürchterlichen Krachen, und die Tür flog auf. Eine Rauchwolke strömte heraus. »Los!« schrie Hotchkiss.

Die obere Treppe war übersät mit Rebellen, die betäubt, geblendet, heulend durcheinanderfielen. Einer war noch auf den Füßen, schlug wie ein Rasender mit einer Keramikmachete auf Wand und Treppengeländer ein und schrie wie von Sinnen: »Märtyrer! Märtyrer!«

Lu warf ihn mit einem Feuerstoß von Krawallmunition die Treppe hinunter. Dann marschierten sie durch das Treppenhaus, feuerten mit den Fesselpistolen in die wogende Menge weiter unten.

Aw warf eine weitere Blendgranate auf den Treppenabsatz unter ihnen. Ein erneuertes höllisches Krachen, begleitet von einem grellen Lichtblitz. »Okay«, sagte Hotchkiss hinter Laura. »Wenn Sie Gandhi spielen wollen, werden Sie es mit zwei gebrochenen Armen tun. Vorwärts!« Er stieß sie voran.

»Ich protestiere!« rief Laura. Sie mußte tanzen, um Armen und Beinen auszuweichen.

Hotchkiss riß sie rückwärts gegen seine Brust. »Hören Sie gut zu, Yankee«, sagte er mit eisiger Aufrichtigkeit. »Sie sind eine niedliche kleine Blondine, die sich gut auf dem Bildschirm macht. Aber wenn Sie bei mir herumstänkern, werde ich Ihnen das Gehirn herauspusten - und sagen, daß es die Rebellen waren. Wo ist die gottverdammte Steuerungsanlage?«

»Erdgeschoß«, keuchte Laura. »Hinten - verglast.«

»Also los, wir gehen. Marsch-marsch!« Ohrenbetäubendes, ratterndes Gehämmer, als Lu wieder ein Magazin verschoß. In der abgeschlossenen Enge des Treppenhauses stach ihr der höllische Lärm durch den Kopf. Laura brach am ganzen Körper der Schweiß aus. Hotchkiss riß sie mit, die Hand in ihre Achselhöhle gekeilt. Er stürmte die Treppe hinunter, zwei, drei Stufen auf einmal nehmend, Laura im Arm und ohne auf die Körper zu treten, die auf der Treppe lagen. Ein Hüne von einem Mann, unglaublich stark - Laura hatte das Gefühl, von einem Gorilla mitgeschleift zu werden.

Beißender Rauch brannte ihr in den Augen, sengte ihr die Kehle. An den Pastellfarben der Wände große blasige Spritzer: purpurne Farbe oder Blut. Wimmernde, schreiende Rebellen am Boden, die Hände vor den Augen oder Ohren. Rebellen klebten am Treppengeländer, die Gesichter geschwärzt, keuchend im lähmenden Griff der Plastikstreifen. Laura stolperte über die ausgestreckten Beine eines Jungen, der bewußtlos oder tot auf dem Treppenabsatz lag, das Gesicht von einem Geleegeschoß verunstaltet und verfärbt, blutend aus einer leeren Augenhöhle…

Dann waren sie unten im Erdgeschoß und verließen das Treppenhaus. Sonnenschein strömte durch die eingeschlagenen Schaufensterscheiben und lag auf der Uferstraße, wo Polizisten und Aufrührer einander noch immer eine Straßenschlacht lieferten. Die Rebellen schienen dank ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit allmählich die Oberhand zu gewinnen. Im Erdgeschoß der Rizome-Niederlassung hatten die Aufrührer eine Kombination von Gefechtsstand, Lazarett und Gefangenenlager eingerichtet, brüllten aufgeregt durcheinander, sägten mit Macheten die zähen Plastikstreifen von ihren Fessel-Opfern, schleiften gefangene Polizisten in Handschellen hinter einen Wall aus Lattenverschlägen… Sie blickten überrascht auf, dreißig schweißdurchnäßte, blutbeschmierte, aufgeregte Burschen, im Gegenlicht der sonnenbeschienenen Straße draußen.

Einen Augenblick standen sie alle wie erstarrt. »Wo ist der Kontrollraum?« flüsterte Hotchkiss.

»Ich habe gelogen«, zischte Laura zurück. »Ich weiß nicht, wo er ist.«

»Verfluchte Kanaille«, knurrte Hotchkiss.

Die ALP-Leute schoben sich vorwärts. Einige trugen erbeutete Polizeihelme, die meisten hatten Schutzschilde. Einer von ihnen feuerte plötzlich eine Fesselpatrone, die Oberleutnant Aw knapp verfehlte und sich wie geschmolzenes, spastisches Unkraut am Boden wand.

Laura ließ sich schwer zu Boden fallen. Hotchkiss wollte sie hochreißen, besann sich eines Besseren und trat den Rückzug an, flankiert von seinen Helfern. Plötzlich machten sie kehrt und rannten nach hinten.

Ein Strudel von Menschenleibern, Armen und Beinen, erfaßte Laura. Brüllende Männer rannten den Uniformierten nach, andere sprangen zu den Treppen, wo Hotchkiss' betäubte und geblendete Opfer stöhnten, jammerten, fluchten. Laura zog die Beine an, ballte die Fäuste stützend hinter den Rücken auf den Boden und versuchte sich mit eingezogenem Kopf klein zu machen.

Ihre Gedanken rasten. Sie sollte zurück aufs Dach, sich ihren Leuten anschließen. Nein - lieber den Verletzten helfen. Nein - fliehen, die Polizei suchen, sich verhaften lassen. Nein, sie sollte…

Ein schnurrbärtiger malaiischer Jüngling mit einer geschwollenen, aufgeschürften Backe bedrohte sie mit einer Machete. Er bedeutete ihr, aufzustehen, stieß sie mit dem Fuß.

»Meine Hände«, sagte Laura.

Der Junge sah sie erstaunt an. Er trat hinter sie und durchschnitt das zähe Kunststoffmaterial der Handschellen. Mit einem plötzlichen, befreienden Ruck und einem fast angenehmen Schmerz in den Schultern kamen ihre Arme frei.

Er fauchte sie in zornigem Malaiisch an. Sie stand auf. Plötzlich war sie einen Kopf größer als er. Er trat einen Schritt zurück, zögerte, wandte sich zu einem anderen…

Von der Straße blies Wind durch die zerbrochenen Scheiben, ein durchdringendes singendes Zischen von Triebwerken, das Pfeifen von Rotoren drang herein. Ein Hubschrauber war beinahe bis auf die Straßenebene heruntergegangen - man konnte die ausdruckslosen Helme hinter der Kanzelverglasung sehen. Ein explosives, puffendes Geräusch, als das Preßluftkatapult einen Kanister auswarf. Er flog durch die zerstörten Fenster herein, rollte, platzte auf, verströmte sprudelnd Nebel…

Oh, verdammt. Tränengas. Ein erstickender Schwall davon traf sie, und sie spürte das Brennen der Säure an ihren Augäpfeln. Sie geriet in Panik. Nur hinaus! Sie krabbelte auf allen vieren, halbblind von Tränen, ausdörrenden, brennenden Schmerz in der Kehle. Keine Luft. Sie stieß gegen andere Leute, die hustend und schreiend umherwankten, stieß sich weiter, kam auf die Füße und lief…  lief ins Freie…

Tränen strömten ihr über die Wangen. Wo sie ihre Lippen berührten, fühlte sie ein Prickeln und einen Geschmack wie von Kerosin. Sie lief weiter, mied die verschwommenen grauen Fronten der Gebäude am Straßenrand. Ihre Kehle und Lunge schien voller Angelhaken zu stecken.

Bald erreichte sie das Ende ihres Adrenalinstoßes. Sie war zu verschreckt, um ihre Müdigkeit zu fühlen, aber die Knie gaben von selbst nach. Mit versagender Kraft hielt sie auf einen Hauseingang zu und ließ sich in einen Winkel fallen.

Wenige Augenblicke später öffneten sich die Schleusen des Himmels, und ein weiterer Wolkenbruch ging auf die Stadt nieder. Monsunregen. Stürzende Wassermassen trommelten auf die leere Straße. Laura kauerte elend im Hauseingang, fing mit den Händen Regen auf, badete ihr Gesicht und die bloße Haut ihrer Arme. Zuerst schien das Wasser es schlimmer zu machen - ein böses Stechen, als hätte sie Tabascosoße geatmet.

Über der geröteten Haut ihrer Handgelenke hatte sie jetzt zwei Plastikarmreifen. Ihre Füße in den billigen, klebrigen Sandalen brannten auch - nicht vom Regen, sondern von den Pfützen aus dem mit ätzender Lösung versetzten Tankinhalt des Wasserwerfers. Sie streckte die Beine hinaus in den prasselnden Regen, um sie reinzuwaschen.

Sie mußte blindlings durch die Straßenschlacht gerannt sein. Niemand hatte sie auch nur angerührt. Aber an ihrem Schienbein klebte ein langer Plastikstreifen von einem Fesselgeschoß, und noch immer zuckte es schwächlich und zog sich zusammen, wie der abgetrennte Schwanz einer Eidechse. Sie zog den Streifen vom Hosenbein.

Allmählich fand sie die Orientierung wieder - sie war bis in die Gegend der Victoria-und-Albert-Docks gelaufen, im Westen der Ostlagune. Im Norden sah sie die Hochhäuser des Sozialen Wohnungsbaus von Tanjong Pagar. Gelbbraune einförmige Ziegelbauten.

Sie saß da, atmete schnell und flach, hustete in Abständen und spuckte aus. Sie wünschte, sie wäre bei ihren Leuten auf dem Dach. Aber es gab keine Möglichkeit, zu ihnen durchzukommen; es war keine vernünftige Option.

Im Gefängnis würde sie ihnen ohnedies wieder begegnen. Wichtig war vor allem, aus diesem Kampfgebiet zu verschwinden und irgendwie ihre Verhaftung zu erreichen. Eine hübsche ruhige Gefängniszelle. Ja. Hörte sich gut an.

Sie stand auf und wischte sich den Mund. Drei Fahrradrikschas sausten an ihr vorbei zur Ostlagune, alle besetzt mit durchnäßten, finsterblickenden Rebellen. Sie ignorierten Laura.

Zwischen ihr und Tanjong Pagar waren zwei provisorische Straßensperren. Sie verließ ihren Hauseingang, lief durch den prasselnden Regen und überkletterte die Barrikaden. Niemand war in der Nähe, sie aufzuhalten.

Die erste zum Tanjong-Sozialkomplex gehörende Glastür war aus ihrem Aluminiumrahmen geschlagen. Laura tappte über körniges, knirschendes Sicherheitsglas ins Innere. Das Haus war klimatisiert; ein unangenehm kühler Luftstrom durchdrang ihre nassen Kleider.

Sie sah sich in einer schäbigen, aber sauberen Eingangshalle. Ihre Schaumstoffsandalen schmatzten unangenehm laut auf dem abgetretenen Linoleum. Der Hauseingang lag verlassen, die Bewohner respektierten vermutlich die Ausgangssperre der Regierung und hielten sich in ihren Wohnungen auf. Hier unten im Erdgeschoß gab es eine Anzahl kleiner Läden, Fahrradreparaturwerkstätten, ein Fischgeschäft, die Praxis eines Quacksalbers. Die Tür stand offen, alle Leuchtstoffröhren brannten, aber alles lag verlassen.

Sie hörte ein entferntes Gemurmel von Stimmen. Ruhige, autoritätsgesättigte Töne. Sie ging darauf zu.

Die Geräusche kamen von den Fernsehgeräten in einem Elektrogeschäft. Billige Apparate aus Brasilien und Maphilindonesia mit unnatürlich grellen Farben. Sie waren alle eingeschaltet, ein paar zeigten den Regierungskanal, auf anderen flimmerten schlecht eingestellte, zuckende Stationssymbole.

Laura schob sich durch die Tür. Messingglocken klingelten. Das Innere des Ladens roch nach Jasmin-Räucherstäbchen. Die Wände waren tapeziert mit lächelnden, aufreizend gesunden Popstars aus Singapur: lässigen Burschen in glitzernden Smokings und niedliche Mädchen in Strohhüten und anliegendem Flitter. Laura stieg vorsichtig über einen umgeworfenen Kaugummiautomaten.

Eine kleine alte Tamilenfrau war vor ihr in den Laden eingedrungen. Eine runzlige Alte, weißhaarig und einszwanzig groß, mit einem Witwenbuckel und Handgelenken, die dünn wie Vogelknochen waren. Sie saß in einem segeltuchbespannten Regisseurstuhl, starrte die leeren Bildschirme an und lutschte auf einem Mundvoll Kaugummikugeln.

»Hallo?« sagte Laura. Keine Antwort. Die alte Frau sah aus, als ob sie taub wie ein Türpfosten wäre - senil, sogar. Laura näherte sich mit schmatzenden Sandalen. Plötzlich blickte die alte Frau erschrocken auf und zog den Schulterlappen ihres Saris sittsam über den Kopf.

Laura kämmte sich das Haar mit den Fingern und fühlte Regenwasser über den Rücken rinnen. »Sprechen Sie englisch, Madam?« Die alte Frau lächelte schüchtern. Sie zeigte zu einem Stapel der Segeltuchstühle, die zusammengeklappt an der Wand lehnten.

Laura holte einen. Die Rückenlehne trug eine Inschrift in exzentrisch aussehenden tamilischen Schriftzeichen - wahrscheinlich etwas Witziges und Amüsantes. Laura klappte den Stuhl auf und setzte sich neben die alte Frau. »Ah, können Sie mich hören, oder uh…«

Die alte Frau starrte geradeaus.

Laura seufzte. Es war ein gutes Gefühl, sich zu setzen.

Diese arme verwirrte alte Frau - Laura schätzte sie auf neunzig - war anscheinend heruntergewandert, vielleicht um Futter für den Kanarienvogel oder was zu besorgen, zu taub oder senil, um von der Ausgangssperre zu wissen. Und sie hatte eine leere Welt vorgefunden.

Laura untersuchte die Fernsehgeräte. Jemand - die alte Frau? - hatte sie auf alle möglichen Kanäle eingestellt.

Plötzlich stabilisierte sich das Flimmern und Zucken auf Kanal Drei.

Mit der Schnelligkeit eines Revolverhelden zog die alte Frau eine Fernbedienung. Der Regierungssprecher erlosch. Die Lautstärke vom Kanal Drei wurde aufgedreht, daß ein knisterndes Rauschen den Raum erfüllte.

Die Wiedergabe war kratziges Heimvideo. Laura sah das Bild wackeln, als der Mann im Senderaum die Kamera auf sein eigenes Gesicht richtete. Er war ein Chinese aus Singapur, sah ungefähr fünfundzwanzigjährig aus, hatte Hamsterbacken, eine dicke Brille und viele Schreibwerkzeuge in der Brusttasche.

Kein übel aussehender Bursche, aber ganz entschieden kein Fernsehmaterial. Normal aussehend. Auf der Straße würde man ihn nicht zweimal ansehen.

Er saß zurückgelehnt auf seiner Couch: Hinter seinem Kopf hing ein kitschiges Seestück an der Wand. Er trank aus einer Kaffeetasse und fummelte mit einem Mikrofon, das er an seinen Kragen geklemmt hatte. Laura konnte ihn laut schlucken hören.

»Ich glaube, ich bin jetzt auf Sendung«, verkündete er.

Laura tauschte einen Blick mit der kleinen alten Frau. Das alte Mädchen sah enttäuscht aus. Sprach nicht englisch.

»Dies ist mein privates VCR«, sagte der junge Mann. »Es sagt immer: ›Häng dich nicht an die Hausantenne, das kann Kanalverseuchung verursachen^ Streusignale, nicht wahr? Also habe ich es gemacht. Ich sende! Glaube ich jedenfalls.«

Er schenkte sich Kaffee nach. Seine Hand zitterte ein wenig. »Heute«, sagte er, »wollte ich mein Mädchen fragen, ob es mich heiraten will. Sie ist vielleicht kein solch wunderbares Mädchen, und ich bin auch kein besonders großartiger Mann, aber wir haben das Normalmaß. Ich glaube, wenn man das Bedürfnis hat, ein Mädchen zu fragen, ob es einen heiraten will, dann sollte das möglich sein. Alles andere ist unzivilisiert.«

Er beugte sich näher zur Kamera, und sein Kopf und die Schultern gerieten aus der Proportion. »Aber dann kommt diese Sache mit der Ausgangssperre. Sie gefällt mir nicht sehr, aber ich bin ein guter Bürger, und so sage ich mir, gut. Nur voran, Jeyaratnam, fang die Terroristen und gib ihnen Saures, wie sie es verdient haben. Dann kommt die Polizei in mein Haus.«

Er lehnte sich wieder zurück, ein nervöses Zucken im Gesicht, und seine Brille reflektierte eine Lichtspur. »Ich bewundere Polizisten. Der Polizist ist ein feiner, notwendiger Mann. Wenn ich einem begegne, der Streife geht, sage ich immer zu ihm: ›Guten Morgen, Wachtmeister, das ist gut so, bewahren Sie den Frieden.‹ Sogar zehn Polizisten sind in Ordnung. Sind es aber hundert, ändere ich schnell meine Meinung. Plötzlich ist meine Nachbarschaft voll von Polizisten. Tausenden. Mehr als andere Leute. Stürmen in meine Wohnung. Durchsuchen jeden Raum, durchwühlen meine Sachen. Nehmen meine Fingerabdrücke, sogar meine Blutprobe.«

Er zeigte ein Heftpflaster am Daumenballen. »Sie füttern mich in den Computer, ruckzuck, sagen mir, ich solle meine gebührenpflichtige Verwarnung endlich bezahlen. Dann rennen sie davon, lassen die Tür offen, kein Bitte oder Danke, vier Millionen andere müssen auch noch belästigt werden. Also schalte ich den Fernseher ein, um die Nachrichten zu sehen. Nur ein Kanal. Ich höre, wir haben wieder das Wasserreservoir in Johore besetzt. Wenn wir soviel Wasser haben, warum scheint die Südseite der Stadt dann zu brennen? Das frage ich mich.«

Er stellte seine Kaffeetasse energisch ab. »Ich kann meine Freundin nicht anrufen, kann meine Mutter nicht anrufen.

Kann mich nicht einmal bei meinem Abgeordneten beschweren, weil das Parlament jetzt suspendiert ist. Was ist der Nutzen von all diesen Wahlen und dummen Wahlkampfveranstaltungen, wenn es schließlich darauf hinausläuft? Ich frage mich, ob noch jemand so denkt. Ich bin nicht politisch, aber ich traue der Regierung nicht einen Millimeter. Ich bin eine kleine Person, aber ich bin nicht gar nichts.«

Auf einmal schien er den Tränen nahe. »Wenn dies zum Besten der Stadt ist, wo sind dann die Bürger? Die Straßen sind leer! Wo sind alle? Was für eine Stadt ist das geworden? Wo ist die Polizei aus Wien? Sie sind die Sachverständigen zur Terrorismusbekämpfung. Warum geschieht dies? Warum fragt mich niemand, ob ich es in Ordnung finde? Ich finde es kein bißchen in Ordnung! Ich möchte Erfolg, wie jeder andere, ich arbeite und kümmere mich um meine Angelegenheiten, aber dies ist zuviel. Bald werden sie kommen und mich verhaften, weil ich diese Sendung mache. Fühlen Sie sich nicht besser, wenn Sie von mir hören? Ist es nicht besser, als dazusitzen und allein zu verschimmeln?«

Plötzlich wurde heftig an die Tür des Mannes geschlagen. Er schaute verängstigt, streckte hastig die Hand aus, und der Bildschirm erlosch.

Lauras Wangen waren naß. Sie weinte wieder. In ihren Augen war ein Gefühl, als hätte sie sie mit Stahlwolle gekratzt. Keine Selbstbeherrschung. Ach Gott, dieser arme tapfere kleine Mann…

Jemand stand am Ladeneingang und rief etwas herein. Laura blickte erschrocken auf. Es war ein großer, martialisch aussehender Sikh mit Turban, Khakihemd und Shorts. Er hatte eine Plakette und Achselklappen und trug einen Schlagstock. »Was machen Sie hier?«

»Oh…« Laura sprang auf. Der Segeltuchsitz ihres Klappstuhls war durchnäßt, wo sie gesessen hatte, und zeigte den gerundeten dunklen Abdruck ihres Hinterteils. Tränen standen ihr in den Augen; sie war verschreckt und fühlte sich in einer unbestimmten Weise zutiefst gedemütigt.

»Nicht…« Sie wußte nicht, was sie sagen sollte.

Der Wachmann sah sie an, als ob sie vom Mars heruntergefallen wäre. »Sie sind hier Mieterin, Madam?«

»Der Aufruhr«, stammelte Laura. »Ich dachte, hier… hier könnte ich Zuflucht finden.«

»Madam sind Touristin?« Er starrte sie an, dann zog er eine schwarzgefaßte Brille aus der Brusttasche und setzte sie auf. »Amerikanerin - ah!« Anscheinend hatte er sie erkannt.

»Gut«, sagte Laura und streckte die Hände aus, noch in den durchtrennten Kunststoffhandschellen. »Nehmen Sie mich fest. Bringen Sie mich in Gewahrsam.«

Der Sikh hob abwehrend die Hand. »Madam, ich bin nur privater Wachmann. Kann Sie nicht festnehmen.«

Die kleine alte Frau stand plötzlich auf und schlurfte direkt auf ihn zu. Im letzten Augenblick trat er unbeholfen beiseite. Sie wanderte hinaus in die Halle. Er starrte ihr stirnrunzelnd nach.

»Hielt Sie für Plünderer«, sagte er. »Bedaure sehr.«

»Können Sie mich zu einem Polizeirevier bringen?«

»Aber Sie werden doch nicht, Mrs… Mrs. Webber… Madam, ich kann nicht übersehen, daß Sie ganz naß sind.«

Laura versuchte ihn anzulächeln. »Regen. Auch Wasserwerfer.«

Der Sikh richtete sich auf. »Es ist sehr großer Kummer für mich, daß Sie dies in unserer Stadt erfahren, als Gast der Regierung von Singapur, Mrs. Webber.«

»Das ist schon in Ordnung«, murmelte Laura. »Wie ist Ihr Name, Sir?«

»Singh, Madam.«

Natürlich. Alle Sikhs hießen Singh. Laura kam sich wie eine Idiotin vor. »Ich könnte die Polizei gebrauchen, Mr. Singh. Ich meine, ein hübsches ruhiges Polizeirevier außerhalb des Aufstandsgebietes.«

Singh klemmte seinen Stock unter den Arm. »Sehr wohl, Madam.« Er bemühte sich, nicht zu salutieren. »Sie folgen mir, bitte.«

Sie gingen zusammen durch die leere Passage. »Wir werden Sie bald versorgen«, sagte Singh in ermutigendem Ton. »Die Pflicht ist schwierig in diesen Zeiten.«

»Sie sagen es, Mr. Singh.«

Sie betraten einen Lastenaufzug und fuhren ein Stockwerk tiefer in eine staubige Tiefgarage. Viele Fahrräder, einige wenige Wagen, größtenteils alte Klapperkästen. Singh zeigte mit seinem Stock. »Sie fahren auf dem Beifahrersitz meines Motorrollers, wenn genehm?«

»Gewiß, in Ordnung.« Singh sperrte das Lenkschloß auf und startete die Maschine. Sie saßen auf und fuhren mit einem komisch hohen Schnurren eine Rampe hinauf zur Straßenebene. Der Regen hatte vorübergehend nachgelassen. Singh fuhr langsam auf die Straße.

»Es gibt Straßensperren«, sagte Laura.

»Ja, aber…« Singh zögerte, dann trat er auf die Bremse.

Eines der Schrägflügel-Kampfflugzeuge der Luftwaffe von Singapur überflog sie mit gedrosselten Triebwerken. Plötzlich legte es sich in einem eleganten Schwenk auf die Seite und stieß im Zielanflug abwärts, als wollte es seinem eigenen Schatten ausweichen. Wirklich gekonntes Fliegen. Sie beobachteten es mit offenem Mund.

Etwas flog unter seinen Flügeln heraus. Eine Rakete. Sie hinterließ eine Rauchspur in der wassergesättigten Luft. Vom Hafen kam ein jäher Ausbruch grellgelben Feuers. Stahltrümmer und Fetzen vom zerrissenen Ladekran wirbelten durch die Luft.

Donner rollte durch die leeren Straßen.

Singh fluchte und wendete den Motorroller. »Feindlicher Angriff! Wir kehren sofort um!«

Sie fuhren wieder die Rampe hinunter in die Tiefgarage. »Das war eine Maschine aus Singapur, Mr. Singh.«

Singh tat, als höre er sie nicht. »Die Pflicht ist jetzt klar. Sie kommen mit mir, bitte.«

Sie nahmen einen Aufzug zum sechsten Stock. Singh war schweigsam und hielt sich kerzengerade. Er wich ihrem Blick aus.

Er führte sie einen Korridor entlang zu einer Wohnungstür und klopfte dreimal.

Eine dickliche Frau in schwarzen Pumphosen und einem weiten Übergewand öffnete die Tür. »Meine Frau«, sagte Singh und bedeutete Laura, einzutreten.

Die Frau starrte sie verblüfft an, dann faßte sie sich, lächelte liebenswürdig und nahm Laura bei der Hand. Laura hätte die Frau am liebsten umarmt.

Es war eine Dreizimmerwohnung. Sehr bescheiden. Drei niedliche Kinder kamen neugierig ins Wohnzimmer gerannt: ein Junge von vielleicht neun Jahren, ein kleineres Mädchen und noch ein Junge, vielleicht zwei. »Sie haben drei Kinder, Mr. Singh?«

Singh bejahte lächelnd. Er hob den Kleinsten auf und zauste ihm das Haar. »Macht viele Steuerprobleme. Man muß zwei Jobs arbeiten.« Er und seine Frau begannen in Hindi zu sprechen, gänzlich unverständlich, aber durchsetzt mit englischen Lehnwörtern wie fighter jet und television.

Mrs. Singh, deren Name Aratavari oder so ähnlich war, führte Laura ins Elternschlafzimmer. »Wir werden Sie in trockene Kleider stecken«, sagte sie. Sie öffnete den Schrank und nahm ein zusammengelegtes Stück Stoff heraus. Es war atemberaubend: smaragdgrüne Seide mit goldener Stickerei. »Ein Sari wird Ihnen passen«, sagte sie und schüttelte das Kleidungsstück aus. Es war offensichtlich ihr bestes Stück. Eine Maharani hätte es zur rituellen Witwenverbrennung tragen können.

Laura trocknete sich das Haar mit einem Handtuch. »Ihr Englisch ist sehr gut.«

»Ich bin aus Manchester«, sagte Mrs. Singh. »Aber hier sind die Chancen besser.« Sie kehrte ihr höflich den Rücken, während Laura ihre durchnäßte Bluse und die Jeans auszog. Die zum Sari gehörende Bluse war in der Oberweite zu groß und um die Rippen zu eng. Mit dem Sari kam sie nicht zurecht. Mrs. Singh half ihr beim Anlegen und steckte ihn fest.

Laura kämmte sich vor dem Spiegel. Ihre vom Tränengas brennenden Augen sahen wie gesprungene Murmeln aus. Aber der schöne Sari verlieh ihr ein halluzinatorisches Aussehen exotischer Majestät. Wenn David nur hier wäre… Plötzlich fühlte sie sich überwältigt vom Kulturschock.

Barfuß und raschelnd folgte sie Mrs. Singh ins Wohnzimmer. Die Kinder lachten scheu, und Singh grinste sie an. »Oh. Sehr gut, Madam. Sie würden gern etwas trinken?«

»Ein Glas Whiskey könnte ich wirklich vertragen.«

»Kein Alkohol.«

»Haben Sie eine Zigarette?« platzte sie heraus. Das Ehepaar Singh sah schockiert aus. »Verzeihung«, murmelte sie erstaunt, daß sie es gesagt hatte. »Es ist sehr freundlich von Ihnen, daß Sie mich aufgenommen haben.«

Mrs. Singh schüttelte bescheiden den Kopf. »Ich sollte Ihre Kleider zur Wäscherei bringen, aber die Ausgangssperre verbietet es.« Der größere Junge brachte Laura eine Dose mit gekühltem Guavensaft. Er schmeckte wie gezuckerte Spucke.

Sie setzten sich auf die Couch. Der Regierungskanal war eingeschaltet, mit gedämpfter Lautstärke. Ein chinesischer Journalist der Bodenkontrollstation interviewte den Kosmonauten, der noch in einer Umlaufbahn war. Der Kosmonaut brachte grenzenloses Vertrauen in die Regierungsbehörden zum Ausdruck. »Mögen Sie Curry?« fragte Mrs. Singh besorgt.

Laura war überrascht. »Ja, schon, aber ich kann nicht bleiben.«

»Sie müssen!«

»Nein. Meine Firma hat abgestimmt. Es ist eine Frage der Politik. Wir gehen alle ins Gefängnis.«

Die Singhs waren nicht überrascht, ließen es sich jedenfalls nicht anmerken, aber sie machten unglückliche und beunruhigte Gesichter. Laura hatte Mitleid mit ihnen. »Aber warum?« fragte Mrs. Singh.

»Wir sind hierher gekommen, um unseren Standpunkt vor dem Parlamentsausschuß zu vertreten und mit der Regierung zu verhandeln. Das wurde durch die Verhängung des Kriegsrechtes verhindert. Wir sind gegen dieses Kriegsrecht. Wir sind jetzt Feinde des Staates. Wir können nicht mehr mit ihm arbeiten.«

Singh und seine Frau berieten, während die Kinder am Boden saßen, ernst und mit großen Augen. »Sie bleiben hier in Sicherheit, Madam«, sagte Singh endlich. »Es ist unsere Pflicht.

Sie sind wichtiger Gast. Die Regierung wird verstehen.«

»Es ist nicht mehr dieselbe Regierung«, sagte Laura. »Die ganze Gegend um die Ostlagune ist jetzt Aufstandsgebiet. Dort bringen sie einander um. Ich sah es selbst. Die Luftwaffe hat gerade eine Rakete in das Hafengebiet gefeuert, vielleicht in unser Eigentum. Vielleicht tötete sie einige von unseren Leuten, ich weiß es nicht.«

Mrs. Singh erbleichte. »Ich hörte die Explosion - aber im Fernsehen haben sie nichts gebracht…« Sie wandte sich zu ihrem Mann, der verdrießlich auf den Teppich starrte. Sie begannen wieder zu reden, aber Laura fiel ihnen ins Wort.

»Ich habe kein Recht, Sie alle in Schwierigkeiten zu bringen.« Sie stand auf. »Wo sind meine Sandalen?«

Auch Singh stand auf. »Ich begleite Sie, Madam.«

»Nein, bleiben Sie lieber hier und bewachen Sie Ihr Haus«, widersprach Laura. »Sie werden bemerkt haben, daß die Türen unten aufgebrochen sind. Diese ALP-Leute haben unsere Niederlassung besetzt - sie könnten jederzeit auch hier hereinkommen und alle Bewohner als Geiseln nehmen: Es ist ihnen ernst; sie sind fanatisch.«

»Ich fürchte den Tod nicht«, beharrte Singh. Seine Frau begann ihn zu schelten. Laura fand ihre Sandalen - das Kleinkind spielte hinter der Couch mit ihnen. Sie schlüpfte hinein.

Singh stürmte mit rotem Kopf aus der Wohnung. Laura hörte ihn im Hauskorridor rufen und mit seinem Stock an die Türen schlagen. »Was geht vor?« fragte sie.

Die beiden älteren Kinder waren zu Mrs. Singh gelaufen, hielten sich an ihr fest und drückten die Gesichter in ihre Kleider. »Mein Mann sagt, er sei es, der Sie gerettet habe, eine bekannte Frau vom Fernsehen, die wie eine verirrte nasse Katze ausgesehen habe. Und daß Sie in seinem Haus das Brot mit ihm gebrochen hätten. Er werde keine hilflose Ausländerin fortschicken, daß sie wie ein streunender Hund auf der Straße erschlagen werde.«

»Er scheint in seiner Sprache recht wortgewandt zu sein.«

»Das erklärt es vielleicht«, sagte Mrs. Singh und lächelte.

»Ich glaube nicht, daß man bei einer Dose Guavensaft von ›Brotbrechen‹ sprechen kann.«

Sie tätschelte den Kopf ihrer kleinen Tochter. »Er ist ein guter Mann. Er ist ehrlich und arbeitet sehr angestrengt, und ist nicht dumm oder böse. Niemals schlägt er mich oder die Kinder.«

»Das ist sehr nett«, versicherte Laura.

Mrs. Singh blickte ihr ins Auge. »Ich sage Ihnen dies, Laura Webster, weil ich nicht will, daß Sie das Leben meines Mannes wegwerfen: Nur weil Sie eine Politische sind, und er nicht viel zählt.«

»Ich bin keine Politische«, protestierte Laura. »Ich bin bloß eine Person, wie Sie.«

»Wenn Sie wie ich wären, würden Sie zu Hause bei Ihrer Familie sein.«

Plötzlich stürzte Singh herein, faßte Laura beim Arm und zog sie aus der Wohnung. Überall im Hauskorridor waren die Türen offen, und verwirrte und zornige Inder in Unterhemden drängten durcheinander. Als sie Laura erblickten, verstummte ihr aufgeregtes Geschnatter. Sie umringten sie. »Namaste, namaste«, murmelten sie die indische Begrüßung, nickten über den zusammengelegten Handflächen. Dann neuerliches Stimmengewirr.

»Mein Sohn, mein Sohn«, rief ein fetter Kerl auf englisch. »Er ist ALP, mein Sohn!«

Der Aufzug kam, und sie drängten mit Laura hinein, bis es den Fahrkorb zu sprengen drohte; die anderen liefen zur Treppe. Der Aufzug sank langsam tiefer, knarrend, mit ächzenden Kabeln.

Minuten später waren sie draußen auf der Straße. Laura wußte nicht, wie es zu der Entscheidung gekommen war, oder ob überhaupt jemand bewußt eine getroffen hatte. Überall waren die Fenster aufgerissen, und in der feuchten Nachmittagshitze riefen die Leute hinauf und herab. Mehr und mehr Bewohner kamen aus den Häusern, eine menschliche Flut: nicht zornig, sondern in manischer Aufgeregtheit, wie Kinder, die aus der Schule kommen - ein einziges Durcheinanderwogen, Rufen, Schulterklopfen.

Laura hielt sich an Singhs Khakiärmel fest. »Hören Sie, ich brauche das alles nicht…«

»Es sind die Leute«, murmelte Singh. Seine Augen blickten glasig und ekstatisch.

»Laßt sie sprechen!« schrie ein Mann in einem weiten, gestreiften Überrock. »Laßt sie sprechen!«

Der Ruf wurde aufgenommen. Zwei junge Burschen rollten eine Mülltonne auf die Straße und stellten sie wie ein Postament vor sie hin. Sie hoben Laura hinauf. Es gab hektischen Applaus. »Ruhe! Ruhe!«

Plötzlich schauten sie alle zu ihr auf.

Laura fühlte einen so tiefen Schrecken, daß sie sich einer Ohnmacht nahe wähnte. Sag etwas, Idiot, schnell, bevor sie dich umbringen. »Ich danke Ihnen, daß Sie mich schützen wollen«, quäkte sie. Die Menge jubelte - nicht, weil sie ihre Worte verstanden hätte, sondern anscheinend aus Vergnügen darüber, daß sie sprechen konnte wie ein richtiger Mensch.

Sie fand ihre Stimme wieder. »Keine Gewalt«, rief sie. »Singapur ist eine moderne Stadt.« Da und dort dolmetschten Männer mit halblauten Stimmen. Die Menge ringsum wuchs weiter und verdichtete sich. »Aufgeklärte und vernünftige Menschen bringen einander nicht um«, rief sie. Der Sari rutschte ihr von der Schulter. Sie zog ihn wieder zurecht. Die Zuhörer applaudierten, stießen einander. Das Weiße in den Augen ihrer dunklen Gesichter war entnervend.

Es war der verdammte Sari, dachte sie benommen. Es gefiel ihnen. Eine große blonde Ausländerin auf einem Postament, eingehüllt in Grün und Gold, eine verrückte Priesterin der Kali…

»Ich bin bloß eine dumme Ausländerin!« kreischte sie. Ein paar Augenblicke vergingen, bis sie entschieden, ihr zu glauben - dann lachten und applaudierten sie. »Aber ich will nicht, daß Menschen durch Gewalt verletzt werden. Darum will ich ins Gefängnis gehen!«

Verständnislose Blicke. Sie begriffen nicht, was sie sagen wollte. Die Inspiration kam ihr zu Hilfe. »Wie Gandhi!« rief sie. »Der Mahatma. Gandhi.«

Plötzliche Stille.

»Also wäre ich dankbar, wenn einige von Ihnen mich ganz ruhig zu einem Gefängnis bringen würden. Ich danke Ihnen.« Sie sprang von der Mülltonne.

Singh fing sie auf und hielt sie fest. »Das war gut!«

»Sie kennen den Weg«, sagte Laura. »Sie führen uns, ja?«

»Gut!« Singh schwang den Stock über seinem Kopf. »Wir marschieren alle! Zum Gefängnis!«

Er bot Laura seinen Arm. Sie gingen rasch durch die Menge, die vor ihnen auseinanderwich und sich hinter ihnen wieder zusammenschloß.

»Zum Gefängnis!« rief der Gestreifte, auf und nieder springend, mit den Armen fuchtelnd. »Nach Changi!« Andere nahmen den Ruf auf. »Changi, Changi.« Das Ziel schien ihre Energien zu kanalisieren. Die Atmosphäre explosiver Unbesonnenheit verlor sich, Kinder liefen voraus, um sich immer wieder umzuwenden und die marschierende Menge zu bestaunen. Sie gafften und sprangen und stießen einander. Leute beobachteten den Zug aus den Gebäuden zu beiden Seiten. Fenster und Türen wurden geöffnet.

Nach drei Blocks war die Menge noch immer im Anwachsen. Sie marschierten nach Norden. Vor ihnen ragten die zyklopischen Gebäude des Stadtzentrums auf. Ein hagerer Chinese mit glänzend pomadisiertem schwarzem Haar und einem lehrerhaften Ausdruck erschien neben Laura. »Mrs. Webster?«

»Ja?«

»Ich freue mich, mit Ihnen nach Changi zu marschieren! Amnesty International war moralisch im Recht!«

Laura zwinkerte. »Wie?«

»Die politischen Gefangenen…« Die Menge brandete plötzlich vorwärts, und er wurde abgedrängt. Der Zug hatte jetzt eine Eskorte - zwei Polizeihubschrauber, die den Zug überwachten. Laura verzagte, und das Brennen in ihren Augen verstärkte sich mit der Erinnerung, aber die Menge winkte und jubelte, als ob die Hubschrauber eine Art Ehreneskorte wären.

Endlich kam ihr der rettende Gedanke. Sie faßte Singh am Ellbogen. »He! Ich möchte einfach zu einem Polizeirevier gehen. Nicht zur verdammten Bastille marschieren!«

»Wie, Madame?« rief Singh. Er grinste wie in Trance. »Was still?«

O Gott, wenn sie nur davonlaufen könnte! Sie blickte wild umher, und die Leute winkten ihr zu und lächelten; wie idiotisch, diesen Sari anzuziehen. Es war, als wäre sie in grünes Neon gewickelt.

Nun zogen sie mitten durch Singapurs Chinesenviertel. Temple Street, Pagoda Street. Zu ihrer Linken erhob sich die psychedelische, mit Statuen bedeckte Stupa eines Hindutempels. Sri Mariamman lautete die Aufschrift. Beleibte, buntbemalte Göttinnen lächelten einander zu, als hätten sie dies alles zu ihrer Erheiterung geplant. Voraus jaulten Sirenen an einer größeren Kreuzung. Sie marschierten gerade darauf zu. Tausend zornige Polizisten. Ein Massaker. Und dann kam es in Sicht. Überhaupt keine Polizisten, sondern ein anderer Demonstrationszug von Zivilisten. Männer, Frauen und Kinder strömten auf die Kreuzung. Über ihnen ein Transparent, jemandes Bettlaken, zwischen Bambusstangen gespannt. Hastig aufgetragene Schriftzeichen: LANG LEBE KANAL DREI!

Lauras Menge stieß ein erstaunliches, aus tiefstem Herzen kommendes Seufzen aus, als hätte jeder einzelne Teilnehmer an dem Marsch einen lang vermißten Angehörigen entdeckt. Plötzlich liefen alle vorwärts. Die beiden Züge trafen sich und verschmolzen miteinander. Lauras Nackenhaare prickelten. In dieser Menge war etwas freigesetzt, etwas rein Magisches - eine mystische gesellschaftliche Elektrizität. Sie fühlte es in den Knochen, eine triumphierende Freude, ganz im Gegensatz zu der häßlichen Massenpanik, die sie im Stadion gesehen hatte. Auch hier wurden Leute zu Boden gestoßen, aber sie halfen einander wieder auf und umarmten sich.

Sie verlor Singh. Plötzlich war sie allein in der Menge, inmitten eines sinnverwirrenden Wirbels. Sie versuchte die Straße zu überblicken. Einen Block weiter war wieder eine kleinere Menge zu sehen, und eine Traube roter und weißer Polizeiwagen.

Ihr Herz tat einen Freudensprung. Sie arbeitete sich durch die Menge und lief auf die Polizeifahrzeuge zu, so schnell der Sari es ihr erlaubte.

Die Polizisten waren umringt, eingebettet in die Menge wie Schinken in Aspik. Die Leute umdrängten sie einfach und machten sie unbeweglich. Die Türen der Streifenwagen standen offen, und die Polizisten versuchten den Leuten gut zuzureden, doch ohne Erfolg.

Laura drängte sich durch die Menge näher. Alles schnatterte durcheinander, und Laura bemerkte, daß viele Leute die Hände voll hatten - nicht mit Waffen, sondern mit allen sonstigen möglichen Dingen: Broten, Transistorradios, sogar eine Handvoll Ringelblumen sah sie, die jemand aus einem Blumentopf gezogen hatte.

Dies alles hielten sie den Polizisten hin und baten sie, die Sachen anzunehmen. Eine chinesische Matrone vorgerückten Alters rief einem Polizeioffizier leidenschaftlich zu: »Ihr seid unsere Brüder! Wir sind alle Singapurer. Singapurer töten einander nicht!«

Der Offizier vermied es, der Frau in die Augen zu sehen. Er saß mit zusammengepreßten Lippen auf der Kante des Fahrersitzes, in qualvoller Demütigung. Drei Polizisten saßen in seinem Wagen, alle in voller Ausrüstung: Helme, Schutzwesten, Fesselgewehre. Sie hätten die Menge in ein paar Augenblicken auseinandertreiben können, aber sie sahen verwirrt aus, hilflos.

Ein Mann in einem seidenen Straßenanzug streckte den Arm zum offenen Fenster in den Fond hinein. »Nehmen Sie meine Uhr, Wachtmeister! Als Erinnerungsstück! Bitte - dies ist ein großer Tag…« Der Angeredete schüttelte den Kopf mit einem freundlichen, aber benommenen Ausdruck. Sein Nachbar aß einen Reiskuchen.

Laura trat auf den Offizier zu. Er blickte auf und erkannte sie, dann verdrehte er die Augen nach oben, wie um ihr zu verstehen zu geben, daß sie alles sei, was ihm noch gefehlt habe. »Was wollen Sie?«

Laura sagte es ihm halblaut.

»Ich soll Sie hier festnehmen?« erwiderte der Polizeioffizier. »Vor diesen Leuten?«

»Ich kann Sie hier herausbringen«, sagte Laura. Sie kletterte auf die Kühlerhaube des Streifenwagens, stand auf und hob beide Arme. »Bitte hören Sie! Vielleicht kennen Sie mich - ich bin Laura Webster. Bitte lassen Sie uns durch! Wir haben sehr wichtige Angelegenheiten zu regeln! Ja, so ist es recht, machen Sie bitte Platz, meine Damen und Herren… Danke sehr, Sie sind so gute Leute, ich bin Ihnen so dankbar…«

Sie setzte sich auf die Kühlerhaube, die Füße auf die Stoßstange gestemmt. Der Wagen kroch vorwärts, und die Menge wich seitwärts aus. Viele, wenn nicht die meisten Leute, kannten sie nicht, aber sie reagierten instinktiv auf das Totemsymbol einer Ausländerin in einem grünen Sari auf dem Kühler eines Streifenwagens. Laura streckte die Arme aus und machte Schwimmbewegungen. Es wirkte. Die Menge machte die Bahn frei.

Sie erreichten die freie Straße und hielten an. Laura zwängte sich zwischen den Hauptmann und einen Leutnant auf den Vordersitz. »Gott sei Dank«, sagte sie.

»Mrs. Webster«, erklärte der Polizeioffizier, dessen Namensschild ihn als Hauptmann Hsiu auswies, »Sie sind wegen Anstiftung zum Aufruhr und Behinderung der Vollzugsorgane festgenommen.«

»In Ordnung«, atmete Laura auf. »Wissen Sie, was mit dem Rest der Rizome-Leute geschehen ist?«

»Sie sind auch in Gewahrsam. Die Hubschrauber haben sie geholt.«

Laura nickte eifrig, dann merkte sie auf. »Ahmm… sie sind nicht in Changi, oder?«

»Gegen Changi ist nichts einzuwenden!« sagte der Hauptmann in gereiztem Ton. »Hören Sie nicht auf die Lügen der Globalisten.«

Sie fuhren langsam die Pickering Street hinauf, in der sich die Schönheitssalons und Etablissements für kosmetische Chirurgie drängten. Die Gehsteige waren voll grinsender, feixender Übertreter des Ausgehverbotes, aber sie hatten noch nicht daran gedacht, die Straße zu sperren. »Ihr Ausländer«, knurrte der Hauptmann, »habt uns betrogen. Singapur hätte eine neue Welt errichten können, aber ihr habt unseren Führer vergiftet, uns beraubt und auch noch Zwietracht und Aufruhr gesät.«

»Grenada hat Kim vergiftet.«

Hauptmann Hsiu schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht an Grenada.«

»Und die Unruhen sind von Ihren eigenen Landsleuten ausgegangen«, sagte Laura. »Jedenfalls wurden Sie nicht überfallen.«

Der Hauptmann sah sie aus seinen Schlitzaugen von der Seite an. »Überfallen vielleicht nicht, aber überlaufen. Wußten Sie es nicht?«

Sie war sprachlos. »Was? Wien hat internationale Einheiten geschickt?«

»Nein«, sagte einer von den Rücksitzen. »Es ist das Rote Kreuz.«

»Das Rote Kreuz?« wiederholte sie verblüfft. »Die Gesundheitsorganisation?«

»Niemand schießt auf das Rote Kreuz, nicht wahr?« sagte Hauptmann Hsiu. »Sie kamen von Johore herüber, ein paar Kolonnen. Sie sind in Ubin und Tekong und Sembawang. Hunderte von Leuten.«

»Mit Verbandzeug und medizinischen Geräten«, sagte der Reiskuchen essende Polizist. »›Zivile Katastrophenhilfe.‹« Er lachte.

»Sei still, du!« sagte der Hauptmann, und der Polizist schluckte sein Lachen hinunter.

»Ich habe nie gehört, daß das Rote Kreuz so etwas macht«, sagte Laura.

»Die Globalisten stecken dahinter, die Multis«, sagte Hauptmann Hsiu mit finsterer Miene. »Sie wollten Wien kaufen und Krieg gegen uns anzetteln. Aber das ist zu teuer und würde zu lange dauern. Also verfielen sie auf die Idee, das Rote Kreuz zu kaufen und uns mit Freundlichkeit zu überwältigen. Wir werden alle Mühe haben, sie wieder loszuwerden. Hoffentlich hat die Regierung den Mut, sie auszuweisen.«

Der Polizeifunk quakte aufgeregt. Eine Menschenmenge war in das Redaktionsgebäude des Vierten Fernsehkanals eingedrungen. Hauptmann Hsiu knurrte etwas Unfreundliches auf Chinesisch und schaltete aus. »Ich wußte, daß sie früher oder später die Fernsehanstalten überfallen würden«, sagte er. »Aber was sollen wir tun? Wir sind zu wenige, und die Regierung zögert noch, die Armee voll einzusetzen.«

»Morgen werden wir neue Befehle bekommen«, sagte der Leutnant. »Wahrscheinlich auch Gehaltserhöhungen. Arbeitsreiche Monate liegen vor uns.«

»Verräter«, sagte Hauptmann Hsiu ohne Leidenschaft.

Der Leutnant zuckte die Achseln. »Man muß leben.«

»Dann haben wir gewonnen?« platzte Laura heraus. Erst jetzt wurde es ihr in vollem Umfang bewußt. Schwoll in ihr an. All diese Verrücktheit und die Opfer - irgendwie hatte es gewirkt. Nicht ganz so, wie alle erwartet hatten, aber so war es mit der Politik. Es war vorbei. Das Netz hatte gewonnen.

»Scheint so«, sagte der Hauptmann. Er bog nach rechts ab in die Clemenceau Avenue.

»Dann wird es auch nicht viel Sinn haben, mich zu verhaften, nicht wahr? Der Protest ist jetzt bedeutungslos. Und wegen dieser Anklagen werde ich nie vor Gericht gestellt.« Sie lachte fröhlich.

»Vielleicht stecken wir Sie spaßeshalber in die Arrestzelle«, sagte der Leutnant. Ein Wagen voll junger Leute kam ihnen entgegen; einer beugte sich zum offenen Fenster heraus und ließ eine Flagge von Singapur wehen.

»Lieber nicht«, sagte der Hauptmann. »Dann müssen wir uns ihre moralisierenden Globalistenreden anhören.«

»Nein, nein!« sagte Laura hastig. »Ich werde von hier verschwinden, sobald ich kann, zurück zu meinem Mann und meinem Kind.«

Hauptmann Hsiu hielt inne. »Sie wollen Singapur verlassen?«

»Lieber heute als morgen! Glauben Sie mir.«

»Wir könnten sie trotzdem ins Untersuchungsgefängnis bringen«, schlug der Leutnant vor. »Würde wahrscheinlich zwei, drei Wochen dauern, bis sie gefunden wird.«

»Besonders, wenn wir die Einlieferung nicht zu den Akten geben«, sagte der Polizist mit dem Reiskuchen. Er lachte durch die Nase.

»Wenn Sie mir damit Angst einjagen wollen, tun Sie es nur!« bluffte Laura. »Ich könnte sowieso nicht hinaus. Das Kriegsrecht besteht fort, und der Flughafen ist geschlossen.«

Sie fuhren über die Clemenceau-Brücke. Sie wurde von Panzern bewacht, aber der Streifenwagen konnte ohne Aufenthalt durchfahren.

»Keine Sorge«, sagte der Hauptmann. »Um Laura Webster loszuwerden, ist kein Opfer zu groß!«

Und er brachte sie zur Yung Soo Chim Islamischen Bank.

 

Es war eine unheimliche Reprise. Sie waren alle auf dem Dach des Bankgebäudes versammelt, das Personal von Yung Soo Chim und eine beträchtliche Zahl assoziierter Geschäftemacher, Datenhaie und Schmarotzer. Sie standen und saßen zwischen dem stachligen weißen Wald der Mikrowellenantennen und den fettigen, regenfleckigen Satellitenschüsseln.

Laura hatte ihren Kopf in den Sari gewickelt und trug eine spiegelnde Sonnenbrille, die sie Hauptmann Hsiu abgebettelt hatte. Der Anblick des Streifenwagens, dem sie entstiegen war, hatte den privaten Sicherheitsbeamten genügt; um sie in die Bank einzulassen, wo die Reißwölfe an der Arbeit waren und einen Geruch wie von frischgemähtem Heu verbreiteten. Der Rest war leicht gewesen. Niemand überprüfte Ausweise - sie hatte keinen, auch kein Gepäck.

Niemand behelligte sie - anscheinend hielt man sie für jemandes Geliebte, oder vielleicht für eine exotische Geschäftsfrau aus hoher Hindukaste. Erfuhren die Piraten, daß sie hier unter ihnen weilte, konnte es unangenehm werden. Aber Laura wußte mit sicherem Gespür, daß sie ihr nichts antun würden. Nicht hier, nicht jetzt, nicht nach allem, was sie durchgemacht hatte.

Sie fürchtete sich nicht. Sie fühlte sich jetzt kugelfest, unbezwingbar, voll von Elektrizität. Sie wußte jetzt, daß sie stärker war als diese Leute. Ihre Leute hatten die stärkeren Bataillone. Sie konnte im Tageslicht gehen, aber diese konnten es nicht. Sie hatten geglaubt, die Welt mit ihren verbrecherischen Verschwörungen überziehen zu können, hatten gedacht, sie hätten Zähne, aber ihre Knochen waren aus Glas.

Der kriminellen Organisation fehlte es einfach am Gemeinschaftsgefühl. Sie waren Ganoven, Treibgut, und es gab nichts, was sie zusammenhielt, kein grundlegendes Vertrauen. Sie hatten sich unter der schützenden Hand der Regierung von Singapur versteckt, und nun, da diese Hand von ihnen genommen war, hatte die Bank ihre Sicherheiten eingebüßt; sie konnte nicht in der alten Weise weiterarbeiten. Es würde sie Jahre kosten, die Organisation wieder aufzubauen, wenn die Beteiligten es versuchen wollten, und die Zeitströmung war gegen sie. Dieser Ort und seine Träume, sagte sich Laura, hatte ausgespielt; die Zukunft lag anderswo.

Wie sie mit diesem Abenteuer würde prahlen können! Wie sie sich inmitten der Bankenhaie und Datenpiraten aus Singapur davongemacht hatte. In kurzen Abständen landeten und starteten Doppelrotor-Transporthubschrauber der Streitkräfte von Singapur auf dem Dachlandeplatz. Zwei bis drei Dutzend Flüchtlinge kletterten an Bord und verschwanden im bleiernen Monsunhimmel.

Die anderen warteten wie Krähen an der umlaufenden Brüstung und den Betonverankerungen der Mikrowellentürme. Einige standen um tragbare Fernsehgeräte und verfolgten Jeyaratnams Ansprache auf Kanal Zwei. Er sah übermüdet und grau aus, zitierte aus der Verfassung und den Bestimmungen des Kriegsrechtes, die er als segensreich für die Bevölkerung hinstellte, und forderte die Bürger auf, in ihre Häuser zurückzukehren.

Laura umrundete einen Gepäckwagen, auf dem sich prall gefüllte reißfeste Koffer aus braunem und gelbem Synthetikmaterial türmten. Drei Männer saßen auf der anderen Seite des Wagens, hatten die Ellbogen auf den Knien und verfolgten ein Fernsehprogramm. Zwei Japaner und ein Anglo, alle drei in gestärkten neuen Safarianzügen und Buschhüten.

Sie sahen Kanal Vier, und es gab ›Auf Sendung - Für die Menschen‹, eine Informationssendung, in der Miss Ting, Kims alte Flamme, als stotternde, errötende Moderatorin auftrat.

Laura beobachtete und lauschte aus diskreter Distanz. Sie empfand eine seltsame Verbundenheit mit Miss Ting, die offensichtlich durch ein seltsam synchrones Geschick in ihre gegenwärtige Lage geraten war.

So war es jetzt überall in Singapur, unbeständig und zerbrechlich und ungewiß. Hier oben mochten Düsternis und Trübsinn herrschen, doch unten auf den Straßen hupten die Fahrzeuge, zogen Menschenmassen wie in einem großen Straßenfest umher, und die Bevölkerung beglückwünschte sich zu ihrem Heldentum. Der Monsun trug die letzten Rauchwolken vom Hafen landeinwärts. Diese Datenpiraten hatten ein feines Gespür für Veränderungen; sie suchten das Weite, bevor sie vertrieben oder gar zur Rechenschaft gezogen wurden.

Der kleinere Japaner nahm seinen Hut ab und zupfte an einem Verkaufsetikett am Schweißband. »Kiribati«, sagte er.

»Wenn wir die Wahl haben, nehmen wir Nauru«, sagte der Anglo. Nach seinem Akzent war er Australier.

Der Japaner riß das Aufklebeetikett heraus und verkniff das Gesicht. »Kiribati ist nirgendwo, Mann. Es gibt keine sicheren Kabelverbindungen.«

»Die Hitze wird über Nauru kommen. Sie fürchten diese Startanlagen…«

Nauru und Kiribati, dachte Laura, kleine pazifische Inselstaaten, deren ›nationale Souveränität‹ käuflich war. Günstige Voraussetzungen für Bankgangster. Aber das war ihr recht. Beide Inseln waren am Netz, und wo es Telefone gab, gab es Kredit. Und wo es Kredit gab, gab es Flugtickets. Und wo es Flugzeuge gab, war die Heimat nicht fern.

Heimat, dachte sie, an den vollbeladenen Gepäckkarren gelehnt. Nicht Galveston, noch nicht. Das Ferienheim würde irgendwann wieder eröffnen, aber das war sowieso nicht ihr Zuhause. Ihr Zuhause war David und das Baby. Mit David im warmen Bett zu liegen, heimatliche Luft zu atmen, draußen vielleicht ein angenehmes Zwielicht, Bäume, den Schatten von Laub, rote Erde und Kudzu, wie es in Georgia üblich war, in einem sicheren Rizome-Ferienhaus. Loretta auf den Arm zu nehmen, ihre festen kleinen Rippen zu fühlen und ihr Babylachen zu sehen. Ach Gott…

Der größere Japaner starrte sie an. Sie richtete sich auf und zupfte irritiert an ihrem Sari, und er sah gelangweilt weg. Laura hörte ihn etwas murmeln, verstand es aber nicht.

»Ach was«, sagte der Australier. »Sie fangen an, Gespenster zu sehen, glauben, jeder sei feuerpräpariert… Dieser Wodu-Unsinn mit ›Spontaner Verbrennung‹. Sie sind gut, aber nicht so gut.«

Der größere Japaner rieb sich den Nacken und erschauerte. »Sie haben diesen Hund nicht ohne Grund vor unserer Tür verbrannt.«

»Ich vermisse den armen Jim Dae Jung«, sagte sein kleinerer Kollege. »Die verbrannten Füße noch in den Schuhen, der Schädel zur Größe einer Orange geschrumpft.«

Der Australier schüttelte den Kopf. »Wir wissen nicht, ob er auf seiner eigenen Toilette Feuer gefangen hatte. Bloß weil wir seine Füße dort fanden.«

»Da, sehen Sie«, sagte der größere Japaner und zeigte zum Himmel.

Die beiden anderen spähten in die angezeigte Richtung, erwarteten vielleicht den nächsten Hubschrauber. Aber am Himmel ging etwas vor. Vor dem bleigrauen Hintergrund der Wolken erschienen Streifen blutroten Rauches, wie Kratzer auf schlammiger Haut.

Der Monsunwind verformte die Streifen bald, aber sie blieben eine Weile als Symbole in rotem Rauch erkennbar, an den Himmel gekritzelt. Buchstaben, Zahlen:

3A3

»Himmelsschreiber«, sagte der Australier. »Schade, daß wir kein Fernglas haben. Ich sehe kein Flugzeug.«

»Sehr kleine Fernlenkdrohne«, sagte der größere Japaner. »Oder vielleicht ist es aus Glas.« Inzwischen waren alle auf dem Dach aufmerksam geworden, streckten die Arme aus, beschatteten die Augen und beobachteten das Phänomen.

3A3v-0/

»Es ist ein Code«, sagte der Australier: »Dahinter stecken die Wodu-Jungs.«

Der Wind hatte die ersten Zeichen schon zerblasen, aber weitere folgten.

= Ä-

»Drei A drei v Strich null Schrägstrich ist gleich A Umlaut Strich Strich erhöhter Strich«, wiederholte der Australier. »Was, zum Teufel, kann das bedeuten?«

»Vielleicht ist es ihr Evakuierungssignal«, sagte der größere Japaner.

»Das würde Ihnen gefallen, wie?« erwiderte der Australier.

Der kleinere Japaner begann zu lachen. »Keine Vertikalen in den Buchstaben«, verkündete er triumphierend. »Schlechte Programmierung. Grenada war nie gut mit Fernlenkdrohnen.«

»Keine Vertikalen?« sagte der Australier, mit zusammengekniffenen Augen zum Himmel starrend. »Ah, ich verstehe. ›BABYLON FÄLLT‹; nicht wahr? Unverschämte Bande.«

»Ich glaube, sie haben nie wirklich gedacht, daß dies geschehen würde«, sagte der Japaner. »Sonst hätten sie es besser angekündigt.«

»Immerhin, man muß es ihnen lassen«, sagte der Australier. »Ein unsichtbarer Finger schreibt mit Blut an den Himmel… Wenn sie es nicht vermurkst hätten, würden sie den Leuten wahrscheinlich den heißen Schiß herausgetrieben haben.« Er schmunzelte. »Murphys Gesetz, nicht? Jetzt ist es nur eine Unheimlichkeit mehr.«

Laura verließ den Gepäckkarren. Ein weiterer Hubschrauber war in Sicht gekommen und steuerte das Dach an - ein kleinerer. Sie wollte versuchen, an Bord zu kommen - das Gespräch der drei Männer hatte sie entnervt.

Als sie dem Landeplatz näher kam, hörte sie leises, mitleiderregendes Schluchzen. Nicht demonstrativ - nur ein unkontrolliertes Stöhnen und Schnupfen.

Der schluchzende Mann kauerte unter dem zylindrischen Körper eines Wassertanks. Sein Blick suchte unaufhörlich den Himmel ab, als erwarte er in Angst und Schrecken eine weitere Botschaft.

Er war ein Yuppie - wie die Bösewichter im chinesischen Fernsehen. Junge Männer in den Dreißigern, die Haare im Laserschnitt frisiert, mit Zigarettenspitzen aus Jade. Dieser hockte jedoch auf den Fersen unter der kühlen Rundung des Tanks, eine schwarze Wolldecke, die er mit beiden Händen vor der Brust zusammenhielt, um die Schultern gelegt. Er war unruhig wie ein Korb voll Garnelen.

Als er ihren Blick auf sich fühlte, riß er sich zusammen und betupfte seine Augen. Er sah aus, als wäre er einmal wichtig gewesen. Jahre von Maßanzügen und Handball und willfährigen Massagemädchen. Aber jetzt glich er mehr einem Häuflein Elend.

Irgendwo in ihm steckte eine von diesen ›bulgarischen Schrotkugeln‹ und entließ nach und nach ihre Milligramm flüssigen Schreckens. Er wußte es, jeder wußte es, der ihn sah: Die Nachricht von den präparierten Schrotkugeln war über das Regierungsfernsehen verbreitet worden. Aber er hatte keine Zeit gehabt, das Ding suchen und herausoperieren zu lassen.

Die anderen mieden ihn. Er war ein Unglücksrabe.

Ein Doppelrotor-Hubschrauber der Küstenwache ging auf dem Landeplatz nieder. Sein Wind fegte Sandkörner und kleine Steine über das Flachdach, und Laura zog den Sari fester über den Kopf. Der Unglücksrabe sprang auf und rannte auf den Hubschrauber zu; keuchend erreichte er ihn als erster. Als die Tür aufging, krabbelte er an Bord.

Laura folgte ihm und schnallte sich in einen der harten Kunststoffsitze im rückwärtigen Teil der Kabine. Ein Dutzend weiterer Flüchtlinge drängte nach ihr an Bord.

Eine kleine Sergeantin der Küstenwache in Tarnanzug und Helm schaute zu ihnen herein. »He, Miss!« rief ein fetter Kerl vor Laura. »Wann kriegen wir Salzmandeln?« Die anderen Flüchtlinge schmunzelten trübe.

Die Rotoren beschleunigten mit hohem Singen, die Maschine hob ab, und die Stadt fiel unter ihnen zurück.

Sie flogen in südwestliche Richtung, vorbei an den brutalen, hochragenden Wolkenkratzern von Queenstown. Dann über eine Gruppe von vorgelagerten Inseln mit Namen, die wie Töne von Gamelans klangen: Samulun, Merlimau, Seraya. Tropisches Grün mit einem Saum vielstöckiger Strandhotels. Weißer Sandstrand mit kompliziert angelegten Yachthäfen und Landungsstegen.

Lebe wohl, Singapur.

Über den vom Monsun geriffelten Wassern der Malakkastraße änderten sie den Kurs. In der Kabine war es laut. Die Passagiere machten zum Triebwerkslärm ein wenig heisere, vorsichtige Konversation, aber niemand näherte sich Laura. Sie lehnte den Kopf gegen die nackte Kunststoffverkleidung beim faustgroßen kleinen Bullauge und versank in einen benommenen Dämmerzustand.

Sie kam zu sich, als der Hubschrauber stoppte und schwindelerregend schwankte.

Sie schwebten über einem Frachter. Am Hafen war sie mit Schiffen vertraut geworden: Dies schien ein Trampschiff zu sein, mit den seltsamen rotierenden Windsäulen, die vor zehn Jahren groß in Mode gekommen waren. Die Besatzung - oder vielmehr, weitere Flüchtlinge - standen und saßen auf dem Deck herum.

Die kleine Sergeantin kam wieder herein. Sie hatte eine Maschinenpistole über die Schulter gehängt. »Wir sind da«, rief sie.

»Es gibt keinen Landeplatz!« entgegnete der dicke Mann.

»Sie springen.« Sie stieß die Ladetür auf. Wind brauste durch die Öffnung. Sie schwebten anderthalb Meter über dem Deck. Die Sergeantin klopfte einer anderen Frau auf die Schulter. »Sie zuerst. Gehen Sie!«

Irgendwie kamen sie alle von Bord. Plumpsend, fallend, auf das sanft rollende Deck purzelnd. Die schon an Bord waren, halfen ein wenig, versuchten ungeschickt, die Herabspringenden aufzufangen.

Der letzte war der Unglücksrabe. Er fiel heraus, als hätte er einen Tritt bekommen. Dann stieg der Hubschrauber höher, schwenkte ab und zeigte ihnen eine Unterseite mit Schwimmern. »Wo sind wir?« fragte der Unglücksrabe, als er sich aufrappelte. Er rieb sich eine geprellte Kniescheibe.

Ein chinesischer Techniker mit moosiggrünen Zähnen und einem Songkakhut antwortete ihm. »Dies ist die Ali Khamenei. Zielhafen Abadan.«

»Abadan!« schrie der Unglücksrabe. »Nein! Nicht die verdammten Iraner!«

Leute starrten ihn an, und als sie sein Leiden erkannten, begannen einige sich zu entfernen.

»Islamische Republik Iran«, sagte der Techniker.

»Ich wußte es!« rief Unglücksrabe. »Sie liefern uns den verdammten Koranjüngern aus! Die Hände werden sie uns abhacken! Nie wieder kann ich einen Datenanschluß bedienen!«

»Nur mit der Ruhe«, riet ihm der Techniker mit einem Seitenblick.

»Sie haben uns verkauft! Sie haben uns auf diesem Robotschiff abgeladen, damit wir verhungern!«

»Keine Sorge«, sagte eine kräftige Europäerin, für Katastrophenfälle mit einem derben Arbeitshemd aus Drillich und Cordhosen vernünftig ausgerüstet. »Wir haben die Ladung untersucht - es gibt jede Menge Sojamilch und Scop.« Sie lächelte, zog eine ausgezupfte Augenbraue hoch. »Wir haben mit dem Kapitän gesprochen - armer kleiner Kerl! Er hat den Retrovirus - sein Immunsystem ist erledigt.«

Unglücksrabe wurde noch bleicher. »Nein! Der Kapitän hat Aids?«

»Wer sonst würde solch einen elenden Job übernehmen, ganz allein auf diesem Schiff zu arbeiten?« sagte die Frau. »Er versteckt sich jetzt auf der Brücke und hat zugesperrt. Befürchtet, eine Infektion von uns zu bekommen. Er fürchtet uns viel mehr als wir ihn.« Sie warf Laura einen neugierigen Blick zu. »Kenne ich Sie?«

Laura schlug den Blick nieder und murmelte etwas über Arbeit in der Datenverarbeitung. »Gibt es hier ein Telefon?«

»Da werden Sie sich anstellen müssen, meine Liebe. Alle wollen ans Netz… Sie haben Geld außerhalb von Singapur, ja? Sehr vernünftig.«

»Singapur hat uns beraubt«, murrte Unglücksrabe.

»Wenigstens haben sie uns herausgebracht«, sagte die praktisch denkende Europäerin. »Es ist besser als abzuwarten, bis diese Wodu-Kannibalen uns vergiften… Oder die Gerichtshöfe der Globalisten… Die Iraner sind nicht so schlimm.«

Unglücksrabe starrte sie an. »Sie ermorden Techniker! Antiwestliche Säuberungen!«

»Das liegt Jahre zurück - vielleicht ist das sogar der Grund, warum sie uns jetzt brauchen! Hören Sie auf zu jammern! Leute wie wir finden immer einen Platz.« Sie blickte wieder zu Laura her. »Spielen Sie Bridge, meine Liebe?«

Laura schüttelte den Kopf.

»Cribbage? Pinochle?«

»Tut mir leid.« Laura zog den Sari fester um den Kopf.

»Sie gewöhnen sich schon an den Tschador?« Die Frau schlenderte davon, bezwungen.

Laura ging unauffällig zum Bug, mied die verstreuten Gruppen von Flüchtlingen. Niemand behelligte sie.

Die grauen Wasser der Malakkastraße waren voll von Fahrzeugen - Tanker, Massengutfrachter, Containerschiffe. Koreanische, chinesische, indonesische, manche ohne Nationalflagge, nur mit den Kennbuchstaben oder Firmenzeichen irgendwelcher Multis.

Es war wirkliche Majestät in dem Anblick. Schiffe im bläulichen Dunst der Ferne, die graue See, die grünen Höhen Sumatras. Diese Wasserstraße zwischen dem asiatischen Festland und dem vorgelagerten indonesischen Archipel mit Sumatra, Java und Borneo war seit Anbeginn der Zivilisation eine der großen Handelsrouten der Welt gewesen. Die Lage am Südausgang der Malakkastraße hatte Singapur zu Wohlstand verholfen; und die Aufhebung des Handelsembargos würde dieser Hauptverkehrsader des Welthandels neuen Aufschwung bringen.

Sie hatte dabei mitgewirkt, dachte sie. Und das war keine Kleinigkeit. Nun, als sie allein an der Bugreling stand und die sanften Bewegungen des Decks unter ihren Füßen spürte, konnte sie ermessen, was sie getan hatte. Sie erlebte einen Augenblick mystischer Befriedigung. Sie hatte die Arbeit der Welt getan, spürte den subtilen Strom einer Selbstzufriedenheit, die ihr Auftrieb gab und sie trug.

Sie fühlte, wie ihre Spannung sich löste, atmete die feuchte Monsunluft unter dem endlosen grauen Himmel und konnte nicht mehr an ihre persönliche Gefahr glauben. Sie war wieder kugelfest.

Die Piraten waren jetzt diejenigen, die in Schwierigkeiten steckten. Das Führungspersonal der Bank war in kleinen verschwörerhaften Gruppen über das Deck verteilt, und die Männer steckten die Köpfe zusammen und blickten über die Schulter. Es war eine überraschend große Zahl von hohen Tieren an Bord - anscheinend waren sie als erste ausgeflogen worden. Laura sah ihnen an, daß sie Direktoren waren, weil sie gut gekleidet waren und hochmütig aussahen. Und alt waren.

Sie hatten jenes straffgespannte, altersfleckige Vampiraussehen, das die Frucht langjähriger Anwendung der pseudowissenschaftlichen chinesischen Langlebigkeitsbehandlungen war: Blutwäsche, Hormontherapie, Vitamin B, elektrische Akupunktur, pulverisierte tierische Substanzen und Gott allein wußte, was noch für unsinnige und sündteure Schwarzmarktartikel. Vielleicht hatten sie durch ihre kostenträchtige Kurpfuscherei ein paar zusätzliche Jahre herausgeholt, aber nun mußten sie auf einmal ohne ihre Behandlungen auskommen. Und das würde ihnen nicht leichtfallen.

Als es dämmerte, traf ein großer ziviler Transporthubschrauber mit einer letzten Ladung Flüchtlinge ein. Laura stand bei einer der hohen, sanft zischenden Windsäulen, als die Flüchtlinge ausstiegen. Wieder waren Spitzenleute dabei. Einer von ihnen war Mr. Shaw.

Laura zuckte erschrocken zusammen und zog sich zum Bug zurück, ohne sich umzusehen. Wenn dieses Schiff nach Abadan fuhr, mußte es eine besondere Regelung gegeben haben. Wahrscheinlich hatten Shaw und seine Leute sie längst für einen Fall, wie er nun eingetreten war, ausgearbeitet. Singapur mochte erledigt sein, aber die Datenpiraten hatten ihren eigenen Überlebensinstinkt. Für sie kamen keine billigen Naurus und Kiribatis in Frage - das war etwas für Dummköpfe. Sie gingen dorthin, wo das Ölgeld noch reichlich floß.

Die Islamische Republik Iran war der Wiener Konvention nicht beigetreten.

Laura bezweifelte jedoch, daß sie ungeschoren davonkommen würden. Singapur mochte versuchen, die Bankgangster und mit ihnen das Beweismaterial abzuschieben, aber zu viele Leute mußten Bescheid wissen. Ein Emigrantenschiff wie dieses mußte für jeden Reporter eine heiße Spur sein. Unter dem Deckmantel des Roten Kreuzes schwärmten wahrscheinlich schon Medienberichterstatter aus aller Welt nach Singapur, eifrige Pioniere einer weiteren waffenlosen, weltumspannenden Armee, die Mikrofone und Videokameras im Gepäck hatten. Sobald das Schiff internationale Gewässer erreichte, würden die Reporter nicht mehr lange auf sich warten lassen.

Den Piraten würde es sicherlich nicht sehr gefallen - ihre Haut zog Blasen, wenn sie der Publizität ausgesetzt waren. Aber wenigstens waren sie den Grenadinern entkommen.

Es schien eine unausgesprochene Überzeugung vorzuherrschen, daß die Grenadiner ihr Kriegsziel erreicht hätten und sich mit dem Erreichten begnügen würden. Daß ihr Terrorfeldzug jetzt, da die Bank zerstreut und die Regierung handlungsunfähig war, keinen Sinn mehr hatte.

Vielleicht hatten sie recht. Vielleicht hatte erfolgreicher Terrorismus immer auf diese Weise gearbeitet - eine Regierung produziert, bis sie unter dem Gewicht ihrer eigenen Repression zusammengebrochen war. ›Babylon fällt‹ hatten sie geprahlt. Vielleicht würden Sticky und seine Freunde im Durcheinander der Revolte nun unbemerkt aus Singapur verschwinden.

Wenn noch ein Funken Vernunft in ihnen war, würden sie die Gelegenheit wahrnehmen und wie sie die Heimreise antreten, stolz und triumphierend. Wahrscheinlich erstaunt, noch am Leben zu sein. Sie konnten zu Hause in ihrer karibischen Heimat als fleischgewordene Wodu-Legenden einherstolzieren, unvergleichliche Meister des Spukes.

Laura wollte gern glauben, daß sie es tun würden. Sie wollte, daß ein Ende sei, konnte es kaum ertragen, an Stickys fieberhaftes Menü technischer Greueltaten zurückzudenken. Ein Schaudern überkam sie, eine Welle tiefer, unbestimmter Furcht. Für einen Augenblick kam ihr der Gedanke, daß sie womöglich vom bulgarischen ›Schrot‹ getroffen worden sei. Oder vielleicht hatte Sticky ihr eine Dosis verabfolgt, als sie bewußtlos gewesen war, und das Mittel begann jetzt erst zu wirken… Gott, welch ein schrecklicher Verdacht.

Der Wiener Agent, den sie in Galveston kennengelernt hatte, kam ihr plötzlich in den Sinn: der höfliche, ansehnliche Russe, der von dem ›schlimmen Druck in einer Kugel‹ gesprochen hatte.

Erst jetzt begriff sie, was der Mann gemeint hatte. Den Druck der Möglichkeit. Wenn etwas möglich war - bedeutete das nicht, daß jemand es irgendwo, irgendwie tun mußte? Der Wodu-Drang, sich mit Dämonen einzulassen. Der Reiz des Widernatürlichen. Tief im menschlichen Geist, die fleischfressende dunkle Seite der Wissenschaft.

Es war eine Dynamik wie die Schwerkraft. Ein Vermächtnis der Evolution, tief in den menschlichen Nerven, unsichtbar, aber wirksam wie ein Computerprogramm.

Sie wandte sich um. Von Shaw war nichts zu sehen, aber wenige Schritte hinter ihr hing der Unglücksrabe über der Reling und würgte und spuckte vernehmlich. Er bemerkte ihren Blick, sah auf und wischte sich den Mund am Ärmel.

Laura sagte sich, daß sie an seiner Stelle hätte sein können. Sie zwang sich zu einem Lächeln.

Er schenkte ihr einen Blick kläglicher Dankbarkeit und kam zu ihr. Sofort wollte sie die Flucht ergreifen, aber er hob die Hand. »Es ist schon gut«, sagte er. »Ich weiß, daß ich eine Dosis abbekommen habe. Es kommt in Wellen. Im Moment geht es mir besser.«

»Sie sind sehr tapfer«, sagte Laura. »Ich bedaure Sie, Sir.«

Er starrte sie an. »Das ist nett. Sie sind freundlich. Sie behandeln mich nicht wie einen Aussätzigen.« Er hielt inne, seine heißen kleinen Augen musterten sie. »Sie sind nicht eine von uns, nicht war? Sie sind nicht von der Bank.«

»Was bringt sie darauf?«

»Sie sind jemandes Freundin, nicht?« Er grinste in der gequälten Parodie eines Flirts. »Viele Chefs an Bord dieses Schiffes. Die Spitzenleute stehen auf diese heißen eurasischen Mädchen.«

»Ja, wir werden heiraten«, sagte Laura, »also können Sie in der Hinsicht alles vergessen.«

Er grub in seinem Jackett. »Möchten Sie eine Zigarette?«

»Vielleicht sollten Sie sie lieber sparen«, sagte Laura, nahm aber eine.

»Nein, nein. Kein Problem. Ich kann alles besorgen! Zigaretten, Blutkomponenten, Megavitamine, Embryonen… Mein Name ist Desmond, Miss. Desmond Yaobang.«

»Hallo«, sagte Laura. Sie ließ sich Feuer geben. Sofort füllte sich ihr Mund mit erstickendem giftigem Ruß. Sie konnte nicht verstehen, warum sie das tat.

Vielleicht, weil es besser war als nichts zu tun. Vielleicht, weil sie ihn bemitleidete, und vielleicht, weil Desmond Yaobangs Nähe alle anderen auf Distanz hielt.

»Was, meinen Sie, wird man in Abadan mit uns machen?« Yaobangs Kopf reichte ihr gerade über die Schulter. Es war nichts offensichtlich Abstoßendes an ihm, aber die chemisch erzeugte Furcht hatte sich dem Ausdruck seiner Augen und seines Gesichts mitgeteilt, hatte ihn mit einem unheimlichen Fluidum durchtränkt. Sie verspürte einen starken, unvernünftigen Drang, ihn zu treten. Wie eine Krähe, die einen verletzten Artgenossen zu Tode pickt.

»Ich weiß nicht«, sagte Laura. Sie starrte auf ihre Sandalen und mied seinen Blick. »Vielleicht gibt man mir ein Paar anständige Schuhe… Für mich wird alles in Ordnung kommen, wenn ich nur ein paar Anrufe machen kann.«

»Anrufe«, sagte Yaobang nervös. »Großartige Idee. Ja, geben Sie Desmond ein Telefon, und er kann Ihnen alles besorgen. Schuhe. Bestimmt. Möchten Sie es versuchen?«

»Mmm, noch nicht. Zuviel Gedränge.«

»Dann heute abend. Gut, Miss. Wunderbar. Ich werde sowieso nicht schlafen.«

Sie wandte sich von ihm ab und lehnte sich gegen die Reling. Die Sonne ging zwischen zwei der wirbelnden Windsäulen unter. Ungeheure, von unten beleuchtete Wolkenbänke aus weichem Renaissancegold. Yaobang wandte sich gleichfalls um und schaute in den Sonnenuntergang, biß sich auf die Lippe und blieb glücklicherweise still. Zusammen mit dem ungesunden, aber angenehmen Rauschgefühl der Zigarette verschaffte es Laura ein überschwengliches Empfinden von Erhabenheit. Es war schön, würde aber nicht lange währen - in den Tropen sank die Sonne schnell.

Yaobang richtete sich auf, streckte die Hand aus. »Was ist das?«

Laura spähte. Seine von Paranoia geschärften Sinne hatten etwas ausgemacht - ein fernes Glänzen in der Luft.

Yaobang kniff die Augen zusammen. »Vielleicht ein kleiner Hubschrauber?«

»Es ist zu klein!« sagte Laura. »Es muß eine Drohne sein!« Das Licht hatte nur kurz von den Rotorblättern geblinkt, und nun hatte sie das Objekt vor dem dunkelgrauen Hintergrund der Wolken wieder aus den Augen verloren.

»Eine Drohne?« sagte er, alarmiert von ihrem Tonfall. »Ist es Wodu? Kann es uns schaden?«

Laura stieß sich von der Reling ab. »Ich werde zum Ausguck hinaufsteigen - ich möchte besser sehen.« Mit klatschenden Sandalen eilte sie übers Deck. Der Fockmast des Schiffes hatte ein Radargerät und Video für den Steuerungscomputer. Aber es gab für Reparaturzwecke und menschliche Unterstützung einen Zugang: ein Krähennest, drei Stockwerke über dem Deck. Laura umfaßte mit beiden Händen entschlossen die kühlen Eisenrungen der Leiter, dann hielt sie frustriert inne. Der verdammte Sari - er würde sich ihr um die Füße wickeln. Sie wandte sich und winkte Yaobang.

Von oben kam ein Ruf. »He!«

Ein Mann in einem roten Regenmantel beugte sich über das Geländer des Krähennestes. »Was machen Sie da?«

»Sind Sie von der Besatzung?« rief Laura hinauf.

»Nein, und Sie?«

Sie schüttelte den Kopf, streckte den Arm aus. »Ich dachte, ich hätte da drüben etwas gesehen!«

»Was haben Sie gesehen?«

»Ich glaube, es war ein Canadair CL 227!«

Die Schuhe des Mannes klapperten auf den Rungen, als er eilig herabkletterte. »Was ist Canadare?« wollte Yaobang wissen. Er stieg von einem Fuß auf den anderen, dann bemerkte er, daß der andere ein Zeiss-Fernglas um den Hals gehängt hatte. »Wo haben Sie das her?«

»Offiziersmesse«, sagte er.

»Ich kenne Sie, glaube ich. Henderson? Ich bin Desmond Yaobang. Abteilung Warengeschäfte.«

»Hennessey«, sagte er.

»Hennessey, ja…«

»Darf ich mal?« sagte Laura. Ohne eine Antwort abzuwarten, griff sie nach dem Fernglas. Unter dem dünnen Plastikregenmantel war Hennesseys Brust gepolstert und breit. Er trug etwas. Eine kugelsichere Weste?

Eine Schwimmweste.

Laura nahm die Sonnenbrille ab, fühlte nach einer Tasche - es gab keine, in einem Sari - und schob sie auf den Kopf zurück. Sie setzte das Fernglas an die Augen und stellte es ein. Sie fand das Ding beinahe sofort. Dort draußen schwebte es unheilvoll im Zwielicht über dem Horizont. Es war ihr so oft in Alpträumen erschienen, daß sie nicht glauben konnte, es wirklich zu sehen.

Es war die Drohne, die auf ihr Ferienheim gefeuert hatte. Nicht dieselbe, weil diese einen militärisch grünen Anstrich trug, aber das gleiche Modell - Sanduhrform, doppelte Rotoren.

»Lassen Sie mich sehen!« forderte Yaobang. Er war außer sich vor Erregung. Um ihn zum Schweigen zu bringen, gab Laura ihm das Fernglas.

»He«, protestierte Hennessey, nicht unfreundlich. »Das ist meins.« Er war ein Anglo Mitte der Dreißig, mit vorstehenden Backenknochen und einem kleinen, sauber getrimmten Schnurrbart. Er hatte keinen deutbaren Akzent. Unter dem weiten Regenumhang verbarg sich eine geschmeidige und athletische Gestalt.

Er lächelte ihr zu, knapp, sah ihr in die Augen. »Amerikanerin? USA?«

Laura tastete nach der Sonnenbrille. Sie hatte den Sari zurückgeschoben und ihr blondes Haar gezeigt.

»Ich sehe es!« platzte Yaobang aufgeregt heraus. »Eine fliegende Erdnuß!«

Hennesseys Augen weiteten sich. Er hatte sie erkannt. Er überlegte schnell. Sie bemerkte, wie er sein Gewicht auf die Fußballen verlagerte.

»Vielleicht ist es von Grenada!« sagte Yaobang. »Wir sollten alle warnen! Ich werde das Ding beobachten - Sie, Miss, laufen zu den anderen!«

»Nein, tun Sie das nicht«, sagte Hennessey. Er griff unter seinen Regenumhang und zog einen Gegenstand hervor. Er war klein und skeletthaft und glich einer Kreuzung zwischen einem Schraubstock und einer Fettpresse. Er trat auf Yaobang zu und hielt den Gegenstand mit beiden Händen.

»O Gott«, sagte Yaobang. Eine neue Welle pathologischer Furcht überschwemmte ihn - er zitterte so stark, daß er das Fernglas kaum halten konnte. »Ich fürchte mich«, schnupfte er mit gebrochener Jungenstimme. »Ich kann es kommen sehen… ich fürchte mich!«

Hennessey zielte mit dem Gerät auf Yaobangs Brustkorb und zog zweimal den Abzug. Es gab zwei diskrete kleine Puster, kaum hörbar, aber das Ding bockte bösartig in Hennesseys Händen. Yaobank krümmte sich unter dem Aufschlag, seine Arme flogen hoch, sein Brustkorb knickte wie unter einem Axthieb ein. Er fiel über seine eigenen Füße und schlug schwer aufs Deck. Das Fernglas klapperte auf die Planken.

Laura starrte ihn betäubt vor Entsetzen an. Hennessey hatte vor ihren Augen zwei große, rauchende Löcher in Yaobangs Jackett gestanzt. Yaobang lag regungslos, das Gesicht totenbleich. »Sie haben ihn umgebracht!«

»Nein. Kein Problem. Ein spezieller narkotischer Farbstoff.«

Sie sah noch einmal hin. Nur einen Augenblick. Yaobangs Mund war voll Blut. Sie starrte Hennessey an und begann sich von ihm zurückzuziehen.

Mit einer schnellen, reflexhaften Bewegung richtete Hennessey die Waffe auf ihre Brust. Sie sah die weite dunkle Mündung und erkannte, daß sie dem Tod ins Auge sah. »Laura Webster!« sagte Hennessey. »Laufen Sie nicht, zwingen Sie mich nicht, zu schießen!«

Laura erstarrte.

»Polizeioffizier«, sagte Hennessey mit einem nervösen Blick nach backbord. »Wiener Konvention, Einsatzgruppe für Sonderaufgaben. Gehorchen Sie meinen Befehlen, und nichts wird Ihnen geschehen.«

»Das ist eine Lüge!« rief Laura. »So etwas gibt es nicht!«

Er sah sie nicht an. Er blickte immer wieder auf die See hinaus. Sie folgte seinem Blick.

Etwas kam auf das Schiff zu. Es jagte mit erstaunlicher, magischer Geschwindigkeit über die Wellen hin. Ein langer weißer Stock, oder Pfahl, mit kurzen, eckigen Flügeln. Dahinter eine dünne gerade Spur aus Gas oder kondensierendem Wasserdampf.

Das Ding raste auf die Brücke am Heck zu, eine Nadel an einem Faden von Dampf. Hinein.

Greller Feuerschein erblühte, höher als eine Häuserfront; eine Wand von Hitze und Geräusch raste über das Deck und warf sie zu Boden. Sie prallte schmerzhaft auf und lag geblendet von der Explosion. Der Schiffsbug unter ihr bockte wie ein riesenhaftes stählernes Tier.

Berstendes Inferno. Fetzen aus Plastik und Stahlblech wirbelten durch die Luft und schlugen aufs Deck. Die Schiffsaufbauten am Heck hatten sich im Nu in eine ausgedehnte, häßliche Flammenhölle verwandelt. Es war, als hätte jemand einen Vulkan eingebaut - Thermithitze und weißglühende, verbogene Stahlträger und Lavaklumpen aus Keramik und geschmolzenem Kunststoff.

Das Schiff bekam Schlagseite.

Hennessey sprang taumelnd auf und lief zur Reling. Einen Augenblick dachte sie, er werde über Bord springen. Dann kam er mit einem Rettungsring zurück - einem großen, rotweiß gestrichenen Ding mit einem Halteseil außen herum und einer Aufschrift in Parsi. Er kam zurück zu ihr. Von seiner Waffe war jetzt nichts zu sehen; er mußte sie wieder zusammengeklappt und eingesteckt haben.

»Nehmen Sie den!« schrie er ihr ins Gesicht.

Laura griff mechanisch zu. »Das Rettungsboot!« rief sie zurück.

Er schüttelte den Kopf. »Nein! Taugt nichts! Minenfalle!«

»Sie elender Lump!«

Er ignorierte sie. »Wenn das Schiff untergeht, müssen Sie angestrengt schwimmen, verstehen Sie? Weg vom Strudel!«

»Nein!« Sie sprang auf, entging seinem Versuch, sie zu Boden zu werfen. Das Schiffsheck sprudelte jetzt Rauch, gewaltige, schwarze Massen. Menschen krabbelten und stolperten über das schrägliegende Deck.

Sie wandte sich zurück zu Hennessey. Er lag gekrümmt am Boden, die Hände im Nacken verschränkt, die angezogenen Beine an den Knöcheln gekreuzt. Sie gaffte ihn an, blickte dann wieder zur See hinaus.

Eine weitere Rakete. Sie flog dicht über den Wellen, der Glutstrahl ihres Triebwerks erhellte das unruhige Wasser wie ein intermittierendes Blitzlicht. Sie schlug ein.

Eine katastrophale Explosion unter Deck. Ladeluken flogen auf, die Deckel rissen aus den Scharnieren und segelten taumelnd himmelwärts. Feurige Fontänen schossen aus dem Schiffsrumpf, der wie ein waidwund geschossener Elefant torkelte.

Das Deck neigte sich, langsam, unerbittlich, und die Schwerkraft zog an ihnen wie das Ende der Welt. Dampf mit dem Gestank erhitzten Seewassers stieg aus dem aufgerissenen Rumpf. Laura fiel auf die Knie und glitt übers Deck.

Hennessey war zur Bugreling gekrochen, hatte einen Ellbogen darüber gehakt und sprach in etwas - ein militärisches Funksprechgerät. Er hielt inne und zog die lange Antenne heraus und fing wieder an zu rufen. Freudig. Er sah ihren Blick und winkte und gestikulierte ihr. Spring! Schwimm!

Sie taumelte wieder hoch, erfüllt von dem blinden Verlangen, ihn umzubringen. Ihn zu erwürgen, ihm die Augen auszukratzen. Das Deck sackte unter ihr weg wie ein defekter Aufzug, seine Schlagseite wurde noch stärker, und sie fiel abermals und prellte sich die Knie. Fast hätte sie den Rettungsring verloren.

Sie wandte den Kopf. Die Steuerbordreling schnitt bereits unter Wasser, und graue, häßliche Wellen mit verkohltem Treibgut schwappten das schrägliegende Deck herauf. Das Schiff war ausgeweidet, dem Untergang preisgegeben.

Angst überwältigte sie. Mit der Panik kam der Überlebenswille. Sie riß und zerrte sich den Sari vom Leib. Ihre Sandalen waren längst fort. Sie zog den Rettungsring über Kopf und Schultern, dann krabbelte sie zur Bugreling, benutzte sie als Sprungbrett und ließ sich ins Wasser fallen.

Es überspülte sie warm und salzig. Das letzte Licht verlor sich aus dem Himmel, aber das brennende Schiff erhellte die Meerenge wie ein Schlachtfeld.

Weitere kleinere Explosionen, und ein Aufblitzen beim einzigen Rettungsboot des Schiffes. Er hatte sie umgebracht. Großer Gott, sie würden sie alle umbringen! Wie viele Menschen - hundert, hundertfünfzig? Man hatte sie in einen Viehwaggon getrieben, auf die See hinausgefahren und abgeschlachtet! Verbrannt und ertränkt, wie Ungeziefer!

Eine Drohne brummte zornig in niedriger Höhe über sie hinweg. Sie fühlte den Wind davon in ihrem durchnäßten Haar.

Sie klemmte sich den Ring unter die Achseln und begann angestrengt zu schwimmen.

Die See war kabbelig, mit kurzen, harten Wellen, die ihr Gischt ins Gesicht spritzten. Sie dachte an Haie. Auf einmal waren die undurchsichtigen Tiefen unter ihren nackten Beinen voll von lauernden Gefahren. Sie schwamm, so schnell sie konnte, bis die Panik in fröstelnde Erschöpfung überging. Schließlich wandte sie sich um und blickte zurück.

Das Schiff ging unter. Das Heck zuletzt, steil aufragend, flammend und qualmend wie ein mit Kerzen besetzter Grabstein. Sie beobachtete es lange Sekunden, während der Herzschlag ihr in den Ohren dröhnte, bis es gurgelnd und in zischenden Dampfwolken unterging, in Schwärze versank.

Die Nacht war bedeckt, und Dunkelheit legte sich wie ein Bahrtuch über den Schauplatz des Schiffsuntergangs. Die sich ausbreitende Welle des über der Untergangsstelle zusammenschlagenden Wassers traf sie und ließ sie wie eine Boje tanzen.

Wieder ein Brummen über ihr. Dann in der Ferne, in der Dunkelheit, das Schnattern von Maschinengewehrfeuer.

Sie töteten die Überlebenden im Wasser. Erschossen sie mit Infrarot-Zielgeräten aus Drohnen in der Dunkelheit. Laura begann wieder zu schwimmen, verzweifelt bemüht, aus dem Gefahrenbereich zu entkommen.

Sie wollte, sie durfte nicht hier draußen sterben. Nein, nicht in Fetzen geschossen werden, getötet wie eine Ratte… David… das Kind…

Ein Schlauchboot brauste vorbei, dunkle Gestalten und das ruhige Gemurmel eines Außenbordmotors. Etwas klatschte ins Wasser - jemand hatte ihr eine Rettungsleine zugeworfen. Sie hörte Hennesseys Stimme: »Greifen Sie zu, schnell!«

Sie tat es. Entweder zugreifen, oder hier sterben. Sie holten die Leine ein und zogen sie über den Rand des Schlauchboots. Hennessey grinste sie in seinen triefenden Kleidern an. Er hatte Gefährten: vier Matrosen in weißen, runden Mützen und sauberen dunklen Uniformen, an denen goldene Litzen glänzten.

Sie lag ausgestreckt am Boden des Schlauchboots, der schwarz und glitschig war und sich mit dem Wellenschlag unter ihr bewegte. Sie hatte nur noch ihre Unterwäsche und die Saribluse an. Einer der Seeleute warf den Rettungsring über Bord. Sie nahmen Geschwindigkeit auf. In der Dunkelheit konnte Laura nicht erkennen, wohin es ging.

Der nächste Seemann beugte sich zu ihr nieder, ein Anglo von ungefähr vierzig Jahren. Sein Gesicht sah in der Dunkelheit so weiß wie ein aufgeschnittener Apfel aus. »Zigarette, Madam?«

Sie starrte ihn an. Er richtete sich wieder auf, zuckte die Achseln.

Sie hustete Seewasser, dann zog sie die Beine an, zitternd, elend. Zeit verging. Allmählich begann ihr Verstand wieder zu arbeiten.

Das Schiff hatte keine Chance gehabt. Nicht einmal Gelegenheit, einen SOS-Ruf zu funken. Die erste Rakete hatte mit den Aufbauten die Brücke zerstört - Radio, Radar und alles. Die Mörder hatten ihrem Opfer zuerst die Kehle durchgeschnitten.

Aber hundert Menschen mitten in der Malakkastraße umzubringen! Solch eine Greueltat zu begehen - sicherlich mußten andere Schiffe die Explosion und den Rauch gesichtet haben. So etwas zu planen und durchzuführen, so skrupellos und bösartig…

Ihre Stimme, als sie endlich etwas herausbrachte, war matt und brüchig. »Hennessey...?«

»Henderson«, sagte er. Er zog sich den naßglänzenden roten Regenumhang über den Kopf. Darunter kam eine leuchtend orangefarbene Schwimmweste zum Vorschein. Darunter eine Arbeitsweste mit allerlei Verdickungen, Reißverschlüssen, Ösen und Klappen. »Hier, ziehen Sie diesen Umhang über.«

Er hielt ihn ihr hin. Sie griff mechanisch zu, machte aber keine Anstalten, hineinzuschlüpfen.

Henderson schmunzelte. »Ziehen Sie das Ding über! Oder wollen Sie hundert heißblütigen Seemännern in nasser Unterwäsche gegenübertreten?«

Die Worte drangen nicht gleich durch, aber sie folgte trotzdem der Aufforderung. Sie sausten jetzt durch die Dunkelheit, das Boot schlug auf die Wellenkämme, und der Fahrtwind fegte feine Gischtspritzer über das Boot und zerrte am Regenumhang. Sie mühte sich eine scheinbar endlose Zeit damit herum. Er haftete wie magnetisch an ihrer bloßen nassen Haut.

»Sieht so aus, als brauchten Sie Hilfe«, sagte Henderson. Er kroch näher und half ihr hinein. »So. Das ist besser.«

»Sie haben sie alle umgebracht«, krächzte Laura.

Henderson warf den Seeleuten einen erheiterten Blick zu. »Nichts davon, jetzt«, sagte er mit erhobener Stimme. »Außerdem hatte ich etwas Hilfe vom Angriffsschiff!« Er lachte.

Der Seemann am Außenbordmotor verringerte die Fahrt, schaltete dann den Motor aus. Sie glitten in Dunkelheit weiter. »Boot«, sagte er. »Ein U-Boot ist ein Boot, Sir.«

Laura hörte in der Finsternis Wasser rauschen und das Gurgeln von Brandung. Dann zeichnete sich ein unbestimmter schwarzer Umriß ab. Ehe sie Genaueres ausmachen konnte, konnte sie es riechen und fühlen, beinahe auf der Haut spüren.

Es war riesig. Es war nahe. Ein gewaltiges schwarzes Rechteck aus lackiertem Stahl. Ein Kommandoturm.

Ein riesenhaftes U-Boot.