3. Kapitel

 

Laura sah zu, als sie den Toten fortschafften. Den toten Mr. Stubbs. Den lächelnden, munteren Winston Stubbs, ganz augenzwinkernde piratenhafte Durchtriebenheit, jetzt ein kleiner kahlköpfiger Leichnam mit aufgerissenem Leib. Laura lehnte am nassen Verandageländer, als der Wagen mit dem Metallsarg davonfuhr. Verdrießliche Stadtpolizisten in naß glänzenden gelben Regenmänteln standen in Gruppen auf der Zufahrt. Am Morgen hatte Regen eingesetzt, eine trübe Septemberfront vor dem Festland.

Laura machte kehrt und stieß die Glastür zum Foyer auf. Das Ferienheim machte einen Eindruck von Leere, wie ein verwüstetes Gebiet. Alle Gäste waren fort. Die Europäer hatten bei ihrer panischen Flucht Gepäck zurückgelassen. Auch die Delegation aus Singapur hatte während der allgemeinen Verwirrung rasch und verstohlen das Weite gesucht.

Laura ging hinauf zum Hauptbüro. Es war kurz nach neun. Debra Emerson nahm Anrufe beim Zentralausschuß auf Band; mit ruhig murmelnder Stimme nahm sie zum vierten Mal die Einzelheiten der Ermordung durch. Die Telefaxmaschine spuckte winselnd Text aus.

Laura schenkte sich Kaffee ein und verschüttete etwas davon auf den Tisch. Sie setzte sich und nahm die Presseerklärung der Terroristen auf. Sie war nur zehn Minuten nach der Mordtat über Fernschreiber eingegangen. Sie hatte den Text bereits dreimal gelesen, jedesmal mit ungläubiger Benommenheit. Jetzt las sie die Erklärung ein weiteres Mal. Sie mußte verstehen. Sie mußte sich damit auseinandersetzen.

 

FAKT DIREKTE AKTION - SONDERBULLETIN

Kommandos der Freien Armee Kontra Terrorismus vollstreckten am 12. September Zweitausenddreiundzwanzig um 7:21 Uhr mitteleuropäischer Zeit das Todesurteil an Winston Gamaliel Stubbs, einem sogenannten Handlungsbevollmächtigten der piratenhaften und subversiven Zentrale des organisierten Verbrechens, die als United Bank of Grenada firmiert. Die unterdrückte Bevölkerung von Grenada wird frohlocken über diesen seit langem fälligen Akt der Gerechtigkeit gegen die in illegalen Drogenhandel und Datenpiraterie verstrickte, kryptomarxistische Junta, welche die politischen Wünsche der gesetzestreuen Bevölkerung des Inselstaates für ihre verbrecherischen Ziele mißbraucht, seit sie die Macht usurpiert hat.

Die Vollstreckung des Todesurteils fand im Rizome-Ferienheim Galveston, Texas, USA (Telex GALVEZRIG, Telefon 7134.549.898) statt, wo die Rizome Industries Group, ein in Amerika ansässiges multinationales Unternehmen, an einer kriminellen Verschwörung mit den grenadinischen Übeltätern beteiligt war.

Wir beschuldigen die vorerwähnte Gesellschaft, Rizome Industries Group, des Versuches, in einem unmoralischen und illegalen Schutzarrangement, das die schärfste Verurteilung durch die nationalen und internationalen Gerichtshöfe verdient, zu einer feigen Übereinkunft mit diesen verbrecherischen Gruppen zu gelangen. Mit diesem Akt kurzsichtiger Gier hat Rizome Industries Group in zynischer Weise die Anstrengungen gesetzlicher Institutionen zur Bekämpfung des kriminell unterstützten Staatsterrorismus verraten.

Es ist seit langem die erklärte Politik der Freien Armee Kontra Terrorismus, gegen verbrecherische Organisationen vorzugehen, die Staatswesen unterwandern und das Prinzip nationaler Souveränität pervertieren. Hinter der Maske ihrer Scheinlegalität hat die United Bank of Grenada terroristische Organisationen in aller Welt mit Geldmitteln, Informationen und subversivem Material unterstützt. Insbesondere hat der hingerichtete Übeltäter Winston Stubbs enge persönliche Verbindungen zu so berüchtigten terroristischen Gruppen wie den Rittern von Jah in Tansania, der Inadin-Kulturrevolution und den anarchistischen Zellen auf Kuba unterhalten.

Indem sie diese Bedrohung der internationalen Ordnung eliminierte, hat FAKT Recht und Gesetzlichkeit einen wertvollen Dienst erwiesen. Wir werden unseren Kurs direkter militärischer Aktion gegen die wirtschaftlichen, politischen und personellen Hilfsquellen der sogenannten United Bank of Grenada fortsetzen, bis diese unmenschliche und unterdrückerische Institution vollständig und dauernd liquidiert ist.

Ein geheimdienstliches Dossier über die Verbrechen des hingerichteten Winston Stubbs kann in den Archiven der United Bank selbst abgerufen werden: Direktwahl: (033) 75.664.543, Konto ID: FR 2774. Zugang: 23555AK. Kennwort: FREIHEIT.

Laura legte den Ausdruck beiseite. Der Text las sich wie kommunistische Parteiprosa der Stalinära. Weder Anmut noch Feuer, nur dampfbetriebenes, roboterhaftes Gehämmer. Jeder PR-Profi hätte es besser gemacht - sie hätte es besser gemacht… dennoch spürte sie ein jähes Aufbranden hilfloser Wut, so übermächtig, daß ihr die Tränen kamen. Sie unterdrückte die Aufwallung, zog den perforierten Streifen vom Ausdruck und rollte ihn zwischen den Fingern, starrte ins Leere.

»Laura?« David kam die Treppe herauf, das Baby auf dem Arm. Der Bürgermeister von Galveston folgte ihm.

Laura wandte sich mit ruckhaften Bewegungen um und trat auf ihn zu. »Herr Bürgermeister! Guten Morgen.«

Alfred A. Magruder nickte. »Mrs. Webster.« Er war ein kräftiger Mann in den Sechzigern, dessen Trommelbauch in einen grellbunten tropischen Dashiki gehüllt war. Er trug dazu Sandalen und Jeans und hatte einen langen Nikolausbart. Magruders Gesicht war gerötet, seine blauen Augen in ihren kleinen Taschen sonnengebräunten Fettes hatten den starren Ausdruck gezügelter Wut. Er watete in den Raum und warf seine Aktentasche auf den Tisch.

»Herr Bürgermeister«, sagte Laura schnell, »dies ist unsere Sicherheitsbeauftragte, Debra Emerson. Mrs. Emerson, dies ist Alfred Magruder, Galvestons Bürgermeister.«

Emerson erhob sich von der Konsole. Sie und Magruder musterten einander von oben bis unten. Das Ergebnis war auf beiden Seiten eine von instinktiver Abneigung diktierte, leichte Verhärtung der Gesichtszüge. Sie machten keine Anstalten, einander die Hand zu geben. Schlechte Schwingungen, dachte Laura mit Bangigkeit; Echos eines längst begrabenen Bürgerkriegs. Schon war die Situation außer Kontrolle.

»Hier wird es bald dicke Luft geben«, verkündete Magruder, den Blick auf Laura gerichtet. »Ihr Mann erzählt mir, daß Ihre Piratenfreunde auf meiner Insel frei herumlaufen.«

»Es war ganz unmöglich, sie daran zu hindern«, sagte Emerson. Ihre Stimme hatte die in Wut versetzende Ruhe einer Schullehrerin.

Laura schaltete sich ein. »Das Ferienheim wurde mit einem Maschinengewehr beschossen, Mr. Magruder. Es weckte das gesamte Personal, wir gerieten in Panik. Und die… die Gäste waren auf und davon, bevor wir einen klaren Gedanken fassen konnten. Wir riefen die Polizei…«

»Und Ihre Konzernzentrale«, sagte Magruder. »Ich will Aufzeichnungen aller ein- und ausgehenden Anrufe.«

Laura und Emerson sprachen gleichzeitig:

»Nun, natürlich rief ich Atlanta an…«

»Dazu wird eine richterliche Anordnung erforderlich sein…«

Magruder schnitt ihnen mit einer Handbewegung das Wort ab. »Die Beauftragten der Wiener Konvention werden ihre Aufzeichnungen ohnehin beschlagnahmen. Kommen Sie mir nicht mit technischen Einzelheiten, ja? Wir sind hier alle locker und leichtlebig, das ist der Sinn eines Vergnügungsortes. Aber diesmal sind Sie alle weit aus der Reihe getanzt. Und jemand wird Feuer unter dem Hintern kriegen, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Er blickte zu David. David nickte kurz. Sein Gesicht war in einem falschen Ausdruck beflissener Aufmerksamkeit erstarrt.

»Nun, wessen Hintern wird es sein?« fuhr Magruder fort. »Soll ich dafür büßen?« Er zeigte mit dem Daumen auf sein weites Hemd und stieß in eine klecksige gelbe Azalee. »Oder Sie? Oder diese ausländischen Galgenvögel?« Er holte tief Luft. »Das ist eine terroristische Aktion, comprende? Diese Art Scheiß hat hier nichts mehr zu suchen.«

Debra Emerson war ganz angestrengte Höflichkeit. »Terroristische Aktionen kommen noch immer vor, Herr Bürgermeister.«

»Vielleicht in Afrika«, grunzte Magruder. »Nicht hier!«

»Es kommt darauf an, die Rückkopplungsbeziehung zwischen Terrorismus und den globalen Medien zu unterbrechen«, sagte Emerson. »Also brauchen Sie sich nicht um schlechte Publizität zu sorgen. Die Wiener Konvention bestimmt…«

»Hören Sie«, sagte Magruder und richtete die volle Kraft seines zornigen Blicks auf Emerson. »Sie haben es hier nicht mit irgendeinem bescheuerten Hippie zu tun, klar? Wenn dieser Sturm abzieht, können Sie zu Ihrem Kaninchenbau nach Atlanta zurückschleichen, aber ich werde immer noch hier unten sitzen und versuchen, eine Stadt in Schwung zu bringen, die in den Seilen hängt! Es ist nicht die Presse, die mir Angst macht - es ist die Polizei! Die internationale Polizei, nicht die hiesige, mit der kann ich fertig werden. Ich habe keine Lust, zusammen mit den Datenmafiosi auf ihre schwarze Liste zu kommen. Muß ich also meine Insel für Ihre sonderbaren Unterweltveranstaltungen zur Verfügung stellen? Nein, Madame, das habe ich nicht nötig.«

Laura lief die Galle über. »Was soll das heißen? Haben wir den Mann erschossen? Wir wurden beschossen, nicht wahr? Gehen Sie hinaus und sehen Sie sich mein Haus an.«

Die anderen starrten sie an, verwundert über ihren Ausbruch. »Sie hätten uns töten, hätten das ganze Ferienheim in die Luft sprengen können!« Sie nahm den Ausdruck vom Tisch und hielt ihn Magruder hin. »Das werden Sie auch bekommen haben. Diese Leute haben uns aufs Korn genommen! Die FAKT - wer immer dahintersteckt - sind die Mörder, was ist mit ihnen?«

Loretta verzog das Gesicht und begann zu wimmern. David wiegte sie in den Armen, wandte sich halb zur Seite. Laura mäßigte sich. »Herr Bürgermeister, ich sehe, worauf Sie hinauswollen. Und es tut mir leid, daß es dazu gekommen ist, wenn es das ist, was Sie von mir hören wollen. Aber wir müssen uns den Tatsachen stellen. Diese Datenpiraten sind Profis. Sie sind längst über alle Berge. Ausgenommen vielleicht der andere Grenadiner, Sticky Thompson. Ich glaube, ich weiß, wo Thompson ist. Er ist hier in Galveston untergetaucht, bei den Kirchenmädchen. Ich meine Ihre Freundinnen hier in der Kirche von Ischtar, Herr Bürgermeister.«

Sie schoß David einen schnellen Blick zu. Seine Miene war aufgetaut, er war auf ihrer Seite, blickte ermutigend zu ihr her. »Und wir wollen nicht, daß die internationale Polizei sich diese Kirche genauer ansieht, nicht wahr? Diese Randgruppen hängen ja alle zusammen, wie Sie wissen. Zieht man an einem. Faden, so geht das ganze Gebilde auseinander.«

»Und wir stehen mit nacktem Hintern da«, warf David ein. »Wir alle.«

Der Bürgermeister machte ein Gesicht, zuckte dann die Achseln. »Aber das ist genau, was ich sage.«

»Schadensbegrenzung«, sagte Emerson.

»Richtig, das ist es.«

Emerson lächelte. »Nun, jetzt kommen wir weiter.«

Lauras Uhrtelefon piepte. Sie blickte zur Videofonanzeige. Es war ein dringlicher Anruf. »Ich nehme ihn unten an und lasse Sie reden«, sagte sie.

David folgte ihr die Treppe hinunter, Loretta in der Armbeuge. »Diese zwei alten Schreihälse«, murmelte er.

»Ja.« Sie ließ ihn an ihre Seite kommen, als sie in den Speiseraum traten.

»Du warst großartig«, sagte er.

»Danke.«

»Alles in Ordnung mit dir?«

»Ja, alles in Ordnung. Jetzt.« Das Personal saß mit rotgeränderten, übermüdeten Augen um den großen Tisch und diskutierte auf spanisch. Alle waren zerzaust und nervös. Das Maschinengewehrfeuer hatte sie um zwei Uhr früh aus den Betten gerissen. David blieb bei ihnen.

Laura nahm den Anruf in dem kleinen Nebenbüro im Erdgeschoß an. Es war Emily Donato, die aus Atlanta anrief. »Ich hörte es gerade«, sagte sie. Sie war blaß. »Bist du unverletzt?«

»Sie schossen eine wohlgezielte Garbe, die ihn tötete«, sagte Laura. »Den alten Rastafarier. Ich stand unmittelbar neben ihm.« Sie machte eine Pause. »Ich fürchtete mich vor der Maschine. Er kam heraus, mich zu beruhigen. Meinte, es sei ein Spionagegerät. Aber sie hatten auf ihn gewartet und schossen ihn neben mir zusammen.«

»Aber du wurdest nicht verletzt?«

»Nein, die Geschosse schlugen in die Wand hinter ihm, und der Sandbeton rettete mich. Die Kugeln gingen glatt hinein. Keine Querschläger.« Laura fuhr sich durchs Haar. »Ich kann kaum glauben, daß ich dies sage.«

»Ich wollte dir bloß sagen… Also, in dieser Sache stehe ich ganz hinter euch. Dir und David.« Sie hielt zwei Finger in die Höhe und drückte sie zusammen. »Solidarität, klar?«

Laura lächelte zum ersten Mal seit Stunden. »Danke, Em.« Sie sah ihrer Freundin dankbar ins Gesicht. Emilys Video Make-up sah fehlerhaft aus; zuviel Wangenrouge, die Linien um die Augen wacklig. Laura berührte ihre Wange. »Ich vergaß mein Video-Make-up«, sagte sie erschrocken. Die Erkenntnis war von einem unvernünftigen Gefühl von Panik begleitet. Ausgerechnet an einem Tag, an dem sie die ganze Zeit am Netz hängen würde.

Im Foyer entstanden Geräusche. Laura blickte zur offenen Tür hinaus und am Empfangsschalter vorbei. Eine Frau in Uniform war hereingekommen. Eine Schwarze, kurzes Haar, Militärbluse, lederner Revolvergurt, Cowboyhut in der Hand. Eine Texasrangerin.

»Ach du lieber Gott, die Ranger sind hier«, sagte Laura.

Emily nickte. »Machen wir Schluß. Ich weiß, daß du alle Hände voll zu tun hast.«

»Gut, Wiedersehen.« Laura legte auf. Sie eilte hinaus ins Foyer. Ein blonder Mann in Zivil folgte der Rangerin in die Eingangshalle. Er trug einen anthrazitfarbenen Maßanzug, einen bunten, mit Computergraphik bedruckten Schlips… Er hatte eine Sonnenbrille auf und einen Koffer in der Hand, der einen Datenanschluß enthielt. Ein Ermittlungsbeamter der Wiener Konvention.

»Ich bin Laura Webster«, sagte Laura der Rangerin.

»Die Leiterin des Ferienheims.« Sie bot ihr die Hand. Die Schwarze ignorierte die Geste mit einem Blick unverhüllter Feindseligkeit.

Das Wiener Gespenst stellte seinen tragbaren Datenanschluß ab, nahm Lauras Hand und lächelte freundlich. Er war sehr hübsch, von beinahe femininem Aussehen - hohe slawische Backenknochen, eine lange glatte Mähne aschblonden Haares über einem Ohr, ein Filmstar-Leberfleck auf dem rechten Backenknochen. Er ließ ihre Hand zögernd los, als sei er versucht, sie zu küssen. »Ich bedaure, Sie unter solchen Umständen begrüßen zu müssen, Mrs. Webster. Ich bin Woroschilow. Dies ist meine lokale Verbindungsoffizierin, Hauptmann Baster.«

»Baxter«, sagte die Rangerin.

»Sie waren Zeugin des Angriffs, soviel ich weiß«, sagte Woroschilow.

»Ja.«

»Ausgezeichnet. Ich muß Sie befragen.« Er berührte einen kleinen vorstehenden Knopf am Rand seiner Sonnenbrille. Ein langes Fiberoptik-Kabel führte vom Ohrstück abwärts in die Weste seines Anzugs. Laura sah jetzt, daß die Sonnenbrille eine stereoskopische Videokamera war, die neue Art mit einer Million winziger Pixellinsen für bitgesteuerte Aufzeichnungen. Er filmte sie. »Die Vertragsbedingungen der Wiener Konvention verlangen, daß ich Sie über Ihre rechtliche Lage aufkläre. Erstens, Ihre Antworten werden aufgenommen, und Sie werden gefilmt. Ihre Erklärungen werden von den Signatarstaaten der Wiener Konvention archiviert. Es ist nicht erforderlich, daß ich die einzelnen Behörden aufzähle, noch die Menge oder Aufbewahrungsart der Daten dieser Ermittlung angebe. Ermittlungen nach den Bedingungen der Wiener Konvention unterliegen nicht der Informationsfreiheit und den Datenschutzgesetzen. Sie haben kein Recht auf einen Anwalt. Ermittlungen, die unter der Konvention durchgeführt werden, genießen Vorrang vor den Gesetzen Ihres Staates und Ihrer Nation.«

Laura nickte, ohne der Belehrung zu folgen. Sie kannte dies alles vom Fernsehen. Die ›Wiener Hitze‹, wie diese Ermittlungen genannt wurden, spielte eine große Rolle in den Fernsehkrimis. Da wedelten die Fernsehhelden mit holographischen Dienstausweisen, setzten sich über die Programme von Taxis hinweg und sausten bei der Verfolgung von Übeltätern mit Handsteuerung herum. Auch vergaßen sie nie ihr VideoMake-up. »Ich verstehe, Genosse Woroschilow.«

Woroschilow hob den Kopf. »Was für ein interessanter Duft. Ich bewundere die regionalen Küchen.«

Laura erschrak. »Kann ich Ihnen etwas anbieten?«

»Etwas Pfefferminztee wäre fein. Oder schwarzer Tee, wenn Sie keinen Pfefferminztee haben.«

»Etwas für Sie, Hauptmann Baxter?«

Baxter funkelte zurück. »Wo wurde er getötet?«

»Mein Mann kann Ihnen dabei helfen…« Sie berührte ihr Uhrtelefon. »David?«

David erschien im Durchgang zum Speiseraum. Er sah die Polizei, wandte den Kopf und schoß dem Personal in dringendem Ton ein paar schnelle Bemerkungen in Grenzlandspanisch zu. Laura verstand nur los Rinches, die Ranger, aber schon scharrten Stühle, und Mrs. Delrosario erschien.

Laura machte sie bekannt. Woroschilow richtete die einschüchternde Videobrille auf jeden der Anwesenden. Es war ein unheimlich aussehendes Ding - aus einem bestimmten Winkel konnte Laura in den undurchsichtigen Linsen ein feingeätztes goldenes Spinnwebmuster erkennen. Keine beweglichen Teile. David ging mit der Rangerin hinaus.

Wenige Minuten später saß Laura mit dem Wiener Gespenst im Nebenbüro und nippte an ihrem Pfefferminztee. »Bemerkenswerte Ausstattung«, sagte Woroschilow und ließ sich in den Autositz sinken. Mit einer schnellen Bewegung aus dem Ellbogen stieß er einen Zoll elfenbeinfarbener Manschetten aus den anthrazitgrauen Ärmeln.

»Danke, Genosse.«

Woroschilow schob die Videobrille mit geübter Geste auf die Stirn und bedachte sie mit einem langen Blick aus samtigblauen Popstaraugen. »Sie sind Marxistin?«

»Wirtschaftsdemokratin«, sagte Laura. Woroschilow rollte die Augen in einer kurzen, wahrscheinlich ungewollten Anwandlung von Spott, und setzte sich die Brille wieder auf die Nase. »Hatten Sie vor dem heutigen Tag schon einmal von der FAKT gehört?«

»Niemals«, sagte Laura. »Nie gehört.«

»In der Erklärung werden die Gruppen aus Europa und Singapur nicht erwähnt.«

»Vielleicht wußten sie nicht, daß die anderen auch hier waren«, sagte Laura. »Wir - ich meine, Rizome - waren sehr sorgfältig auf Geheimhaltung bedacht. Mrs. Emerson, unsere Sicherheitsbeauftragte, kann Ihnen mehr darüber sagen.«

Woroschilow lächelte. »Die amerikanische Vorstellung von ›sorgfältiger Geheimhaltung‹. Ich bin gerührt.« Nach einer Pause fragte er: »Warum sind Sie in diese Angelegenheit verstrickt? Es ist nicht Ihr Geschäft.«

»Jetzt schon«, sagte Laura. »Wer ist diese FAKT? Können Sie uns gegen sie helfen?«

»Sie existiert nicht«, sagte Woroschilow. »Vor Jahren war das anders. Kein Wunder, bei den ungezählten Millionen, die Ihre amerikanische Regierung für kleine Gruppen hier und kleine Gruppen dort ausgab. Häßliche kleine Irrläufer aus den alten Tagen des Kalten Krieges. Aber FAKT ist jetzt nur eine Fassade, eine Märchengeschichte. FAKT ist eine Maske, hinter der sich die Datenpiraten verstecken, um aufeinander zu schießen.« Er imitierte mit ausgestrecktem Zeigefinger eine Pistole. »Wie die alten Roten Brigaden pop-pop-pop gegen die Nato. Die angolanische Unita pop-pop-pop gegen die Kubaner.« Er lächelte. »Und so sitzen wir hier in diesen hübschen Autositzen und trinken diesen feinen Pfefferminztee wie zivilisierte Leute. Weil Sie in den Abfall getreten sind, der übrigblieb, als Ihr Großvater meinen nicht leiden konnte.«

»Was haben Sie vor?«

»Ich sollte Sie schelten«, sagte Woroschilow. »Aber ich werde Ihre ehemalige CIA-Agentenführerin schelten. Und meine Rangerfreundin wird desgleichen tun, denn sie hat nichts übrig für das schlimme Durcheinander, das Sie angerichtet haben. Es schadet dem guten Ruf von Texas.« Er klappte den Bildschirmteil seines Datenanschlusses hoch und tastete Kommandos. »Sie sahen die unbemannte Drohne, die auf Ihren Gast feuerte?«

»Ja.«

»Sagen Sie mir, ob Sie sie hier sehen.«

Darstellungen erschienen auf dem Bildschirm, vier Sekunden-Wiedergaben von schön schattierten Computergraphiken. Flugzeuge mit Stummelflügeln ohne Führersitz und Kanzel, weil funkgesteuert. Manche waren in Tarnfarben gespritzt. Verschiedene zeigten Identifikationsnummern in kyrillischer und hebräischer Schablonenschrift. »Nein, nicht so«, sagte Laura.

Woroschilow bediente die Tastatur. Seltsamer aussehende Flugobjekte erschienen: zwei kleine Tropfen. Dann ein skeletthaftes Ding wie eine Kollision zwischen einem Hubschrauber und einem Kinderdreirad. Dann eine Art Golfball mit doppelten Rotoren. Dann eine orangefarbene Sanduhr. »Halt«, sagte Laura.

Woroschilow hielt die Darstellung fest. »Das ist es«, sagte Laura. Sie starrte das Bild an. Die schmale Taille der Sanduhr, darunter und darüber zwei breite, gegenläufig rotierende Rotorblätter. »Wenn die Rotoren in Bewegung sind, schimmern sie im Licht, und es sieht wie eine Untertasse aus«, sagte sie. »Eine fliegende Untertasse mit Verdickungen oben und unten.«

Woroschilow betrachtete den Bildschirm. »Sie sahen einen Canadair CL 227 Fernlenkhubschrauber RPH. Ein ferngesteuerter Kleinhubschrauber zu Aufklärungszwecken. Hat eine Reichweite von ungefähr fünfzig Kilometern, kann zweieinhalb Stunden in der Luft bleiben…« Er gab seiner kyrillischen Tastatur Informationen ein. »Wahrscheinlich wurde er von den Attentätern irgendwo auf dieser Insel gestartet… oder vielleicht von einem Schiff aus. Leicht zu machen, bei diesem Ding. Es braucht keine Rollbahn.«

»Was ich sah, war von anderer Farbe. Nacktes Metall, glaube ich.«

»Und mit einer Maschinenwaffe ausgerüstet«, sagte Woroschilow. »Keine Standardausführung. Aber ein altes Modell wie dieses gibt es seit vielen, vielen Jahren auf dem Waffenschwarzmarkt. Billig zu haben, wenn man die Kontakte hat.«

»Dann können Sie die Eigentümer nicht ermitteln?«

Er sah sie mitleidig an.

Woroschilows Uhrtelefon piepte. Es war die Rangerin. »Ich bin hier draußen auf der Veranda«, sagte sie. »Ich habe eines der Geschosse.«

»Lassen Sie mich raten«, sagte Woroschilow. »Standard NATO 35 Millimeter.«

»Richtig, ja.«

»Denken Sie an diese Millionen und Abermillionen nicht verschossener NATO-Kugeln«, sagte Woroschilow. »Zuviel sogar für den afrikanischen Markt, nicht? Eine unabgefeuerte Kugel hat eine Art bösen Druck, finden Sie nicht? Etwas darin will abgefeuert werden…« Er hielt inne, die undurchsichtigen Linsen auf Laura gerichtet. »Sie folgen mir nicht.«

»Verzeihung, ich dachte, Sie sprächen zu ihr«, sagte Laura. »Können Sie nichts tun?«

»Die Situation scheint klar zu sein«, sagte er. »Hinter dem Anschlag stecken Eingeweihte. Eine der Piratengruppen hatte Helfer auf dieser Insel. Wahrscheinlich die Islamische Bank Singapur, bekannt für Verrat. Sie hatten die Gelegenheit, Stubbs zu töten, und nahmen sie wahr.« Er schaltete den Bildschirm aus. »Während meines Fluges nach Galveston ließ ich mir die Akte über Stubbs in Grenada überspielen, die in dem FAKT-Bulletin erwähnt ist. Sehr interessant zu lesen. Die Mörder nutzten die Art der Datenspeicherung, wie sie von den Piraten gehandhabt wird - daß die verschlüsselten Akten völlig sicher vor unbefugtem Zugriff sind, sogar seitens der Piraten selbst. Die Freigabe erfolgt erst bei elektronisch registriertem Zahlungseingang.«

»Sie müssen aber imstande sein, uns zu helfen.«

»Die einheimische Polizei kann gewisse Maßnahmen ergreifen. Die hiesigen Schiffe und ihre Fahrten überprüfen, zum Beispiel. Feststellen, ob welche zur fraglichen Zeit im in Frage kommenden Seegebiet waren, und wer sie gemietet hatte. Aber ich bin froh, sagen zu können, daß es kein Akt von politisch motiviertem Terrorismus war. Ich würde dies als eine Mordtat unter Gangstern einstufen. Das FAKT-Bulletin ist nur ein Versuch, die Spuren zu verwischen. Ein Fall, der die Bestimmungen der Wiener Konvention berührt, unterliegt bestimmten Publizitätsbeschränkungen, die sie nützlich finden.«

»Aber hier wurde ein Mann getötet!«

»Es war ein Mord, ja. Aber keine Bedrohung der politischen Ordnung der an der Wiener Konvention beteiligten Signatarmächte.«

Laura war schockiert. »Wozu sind Sie dann gut?«

Woroschilow sah verletzt aus. »Wir sind sehr gut in der Beilegung internationaler Spannungen, aber wir sind keine Weltpolizei.« Er leerte seine Tasse und schob sie beiseite. »Moskau hat seit vielen Jahren auf eine wirkliche weltweit einsatzfähige Polizeistreitmacht gedrängt. Aber Washington steht im Wege. Immer besorgt um Bürgerrechte, Datenschutz, immer in Angst vor dem Großen Bruder. Es ist eine alte Geschichte.«

»Sie können uns überhaupt nicht helfen.«

Woroschilow stand auf. »Mrs. Webster, Sie haben diese Gangster in Ihr Heim eingeladen, nicht ich. Hätten Sie uns vorher verständigt, so würden wir Ihnen mit aller Entschiedenheit abgeraten haben, so etwas zu tun.« Er klappte seinen Datenanschluß zusammen. »Als nächstes muß ich Ihren Mann vernehmen. Danke für den Tee.«

Laura verließ ihn und ging hinauf ins Hauptbüro. Emerson und der Bürgermeister saßen auf dem Rattansofa und hatten den zufriedenen Ausdruck von Leuten, die sich nach langer Debatte geeinigt haben. Magruder aß sich durch ein verspätetes Tex-Mex-Frühstück aus Brotgrieben, Migas genannt, und aufgewärmten Bohnen.

Laura setzte sich in einen Korbsessel gegenüber an den Tisch und fixierte Emerson mit zornigem Blick. »Nun, Sie haben es sich gemütlich gemacht, wie ich sehe.«

»Sie haben mit dem Wiener Beauftragten gesprochen?« fragte Emerson.

»Er nützt uns überhaupt nichts.«

Emerson rümpfte die Nase. »KGB.«

»Er sagt, es sei kein politischer Mord und falle nicht unter ihre Jurisdiktion.«

Emerson blickte überrascht auf. »Hmm. Das sind neue Töne.«

Laura starrte sie an. »Also, was unternehmen wir?«

Magruder nippte an einem Glas Milch und stellte es weg. »Wir schließen das Heim, Mrs. Webster.«

»Vorläufig«, sagte Emerson.

Laura machte ein langes Gesicht. »Mein Ferienheim schließen? Warum? Warum?«

»Es ist alles ausgehandelt«, sagte Magruder. »Sehen Sie, wenn die Medien erfahren, daß die Sache einen kriminellen Hintergrund hat, überfallen sie uns wie ein Hornissenschwarm. Sie würden es groß herausstellen, und das würde für den Fremdenverkehr schlechter sein als eine Haifischpanik. Aber wenn wir Ihr Heim schließen, dann sieht es nach politischem Terrorismus aus, wie in dem FAKT-Bulletin behauptet wurde. Eine Sache der Wiener Behörde. Geheim.« Er zuckte die Achseln. »Irgendwann werden sie vielleicht darauf kommen, aber bis dahin ist es ein alter Hut. Und der Schaden ist begrenzt.« Er stand auf. »Ich muß mit dieser Rangerin sprechen. Ihr versichern, daß die Stadt Galveston in jeder möglichen Weise kooperieren wird.« Er nahm seine Aktentasche und stapfte die Treppe hinunter.

Laura sah Emerson mit gerunzelter Stirn an. »Das wäre es also? Sie unterdrücken den Skandal, und David und ich zahlen den Preis?«

Emerson lächelte freundlich. »Seien Sie nicht ungeduldig, meine Liebe. Unser Projekt ist wegen dieses einen Angriffs nicht abgeblasen. Vergessen Sie nicht, daß die Piraten gerade wegen derartiger Angriffe bereit gewesen sind, zu Verhandlungen zusammenzukommen.«

Laura war überrascht. Inmitten ihrer Verwirrung erschien Hoffnung. »Also wird diese Sache weiterverfolgt? Trotz allem, was vorgefallen ist?«

»Selbstverständlich, Laura. Das Problem hat sich dadurch nicht verflüchtigt. Im Gegenteil, es ist jetzt drängender als zuvor. Wir können von Glück sagen, daß wir Sie nicht verloren haben - Sie, eine sehr wertvolle Mitarbeiterin.«

Laura blickte überrascht auf. Debra Emersons Gesicht war ganz gelassen - das Gesicht einer Frau, die einfach die Wahrheit wiedergibt. Nicht Schmeichelei - eine Tatsache. Laura setzte sich gerade. »Nun, es war ein Angriff auf Rizome, nicht? Ein direkter Angriff auf unsere Gesellschaft.«

»Ja. Sie fanden unsere schwache Stelle - die FAKT, oder die Leute hinter diesem Namen.« Ein bedenklicher Ausdruck kam in ihre Züge. »Es muß ein Sicherheitsleck gegeben haben. Diese ferngesteuerte Flugmaschine - ich vermute, sie hat seit Tagen auf die Gelegenheit zum Angriff gewartet. Jemand wußte von der Konferenz und beobachtete dieses Haus.«

»Ein Sicherheitsleck innerhalb der Gesellschaft?«

»Wir sollten keine übereilten Schlußfolgerungen ziehen, aber wir werden die Wahrheit in Erfahrung bringen müssen. Das ist wichtiger als dieses Ferienheim, Laura. Sehr viel wichtiger.« Sie machte eine Pause, fuhr dann fort: »Wir können mit den Wiener Ermittlern zu einer Verständigung kommen, ebenso mit der Stadt Galveston. Aber das ist nicht der schwierigste Teil. Wir versprachen den Teilnehmern dieser Konferenz Sicherheit, und wir versagten. Nun brauchen wir jemand, der die erhitzten Gemüter beruhigt. In Grenada.«

 

Das Ferienheim Chattahoochee lag in den Vorbergen der Smoky Mountains, ungefähr hundert Kilometer nordöstlich von Atlanta. Achthundert Morgen in einem Tal zwischen bewaldeten Hügeln, durchflossen von einem Gebirgsbach, dessen weißes Gestein um diese Jahreszeit trocken lag.

Chattahoochee wurde vom Zentralausschuß bevorzugt; es war der Stadt nahe genug, um bequem erreichbar zu sein, und entlegen genug, daß Rizomes Feriengäste nicht zu sehr von Ausflüglern gestört wurden.

Neulinge wurden oft hierher gebracht, um mit dem Kollektiv des Zentralausschusses bekannt zu werden, und hier hatte Emily sie mit David Webster bekannt gemacht. Wieder in dem alten gemauerten Farmhaus, konnte Laura nicht zu den Hügeln hinausblicken, ohne sich jenes Abends zu erinnern: David, ein Fremder, lang und dünn in elegantem Mitternachtsblau, mit einem Cocktailglas in der Hand, das dunkle Haar bis auf die Schultern fallend.

Alle Neulinge, die an dem Empfang teilgenommen hatten, waren bestrebt gewesen, sich möglichst elegant zu kleiden, um ein bißchen wider den Stachel zu lecken, zu zeigen, daß sie sich nicht so leicht vergesellschaften ließen, besten Dank. Aber nun waren sie wieder hier in den Wäldern Georgias, Jahre später, wieder als Gäste des Zentralausschusses, aber keine Neulinge mehr, sondern vollwertige Gesellschafter, die ihre Lebensstellung gefunden hatten.

Natürlich waren die Ausschußmitglieder inzwischen andere, aber gewisse Traditionen setzten sich fort.

Man konnte die Bedeutung dieses Treffens an der bemühten Zwanglosigkeit ihrer Kleidung erkennen. Normale Probleme hätten sie in Atlanta behandelt, aber diese GrenadaSituation war eine echte Krise. Darum hatten sich alle Ausschußmitglieder wie schulterklopfende Hinterwäldler zurechtgemacht: Ausgefranste Jeans, karierte Flanellhemden mit aufgerollten Ärmeln… Garcia-Meza, ein stämmiger mexikanischer Industrieller, der aussah, als könne er Nägel durchbeißen, trug einen großen, strohgeflochtenen Picknickkorb.

Es war komisch, sich Charlie Cullen als Vorsitzenden zu denken. Laura hatte Cullen seit seiner Ernennung nicht gesehen, kannte ihn aber aus der Zeit, als sie das Ferienheim gebaut hatten. Cullen war Biochemiker, der sich auf die Verwendung von Kunststoffen im Bauwesen spezialisiert hatte, ein netter, umgänglicher Mensch. Er war ein großartiger Vorsitzender für den Zentralausschuß von Rizome, weil man ihm instinktiv vertraute, aber seine kämpferischen Qualitäten waren nicht überzeugend. Seit seiner Ernennung hatte er die Gewohnheit angenommen, einen grauen Filzhut zu tragen, den er in den Nacken schob, so daß er weniger wie ein Hut und mehr wie ein Heiligenschein aussah. Es war sonderbar, wie Autorität Menschen beeinflußte.

Cullens ganzes Gesicht hatte sich verändert. Mit seinem breiten Kinn, der ausgeprägten Nase und dem etwas dünner und strenger gewordenen Mund entwickelte er eine gewisse Ähnlichkeit mit George Washington. Die anderen waren Sharon McIntyre, Emily Donatos Mentorin im Ausschuß, Emily selbst, die ihre Ringellocken unter einem Kopftuch zusammengefaßt hatte, so daß sie einer Bäuerin glich, die gerade den Kachelofen ausgeräumt hat; sodann Kaufmann, der Rizomes Interessen in Europa vertrat und es fertigbrachte, sogar in Jeans und mit Rucksack gebildet und gepflegt auszusehen; De Valera, der selbsternannte Unruhestifter des Ausschusses, der zu großen Auftritten neigte, aber stets intelligente Ideen beisteuerte; der professorenhafte Gauss, und der gemütlich-versöhnliche Raduga; und schließlich der alte Saito. Saito trug eine Pelzmütze und eine Bifokalbrille, und beim Gehen stützte er sich auf einen langen Knotenstock, wie ein bastardisierter taoistischer Eremit.

Dann waren sie selbst, David und Debra Emerson dabei. Nicht als Ausschußmitglieder, aber als Zeugen.

Cullen machte auf einer laubbestreuten herbstlichen Lichtung halt. Aus Sicherheitsgründen fand die Besprechung fern von allen elektrischen Kabeln statt. Sie hatten sogar ihre Uhrtelefone in einem der Farmhäuser zurückgelassen.

McIntyre und Raduga breiteten ein großes kariertes Tuch aus. Alle formierten sich zu einem Kreis und ließen sich nieder. Sie faßten einander bei den Händen und sangen die Rizome-Hymne. Dann aßen sie.

Es war faszinierend zu sehen, wie die Ausschußmitglieder sich um das Gemeinschaftsgefühl bemühten. Sie hatten es sich zu diesem Zweck sogar zur Gewohnheit gemacht, wochenlang zusammenzuleben. Gemeinsam wuschen sie die Wäsche, kümmerten sich um die Kinder. Es war Politik. Sie waren gewählt, doch einmal an der Macht, hatten sie beträchtliche Autorität und taten ihr Möglichstes, daß es dabei blieb. Der Zentralausschuß von Rizome konnte mithin als eine mehr oder weniger offene Verschwörung angesehen werden.

Die Mode intensiver Gemeinschaftspflege unterlag im Laufe der Zeit natürlich Schwankungen. Vor Jahren, während Saitos Amtszeit als Vorsitzender, hatte der Gemeinschaftsgeist einen legendären Höhepunkt erreicht, als er den ganzen Ausschuß nach Hokkaido eingeladen hatte. Als sie vor Tagesanbruch aufgestanden waren, um nackt in eiskalten Wasserfällen zu baden. Und braunen Reis gegessen und, wenn das Gerücht zutraf, einen Hirsch erlegt, geschlachtet und verzehrt hatten, während sie drei Tage lang in einer Höhle lebten. Niemand hatte später viel über das Erlebnis gesprochen, doch ließ sich nicht leugnen, daß sie eine fest zusammengeschweißte Gruppe geworden waren.

Freilich ähnelte die Geschichte den meist mehr oder weniger erfundenen, halb legendären Begebenheiten, die im Umkreis eines jeden Machtzentrums kolportiert wurden, aber der Ausschuß nährte die Mythenbildung. Und das hatte sein Gutes: In Krisenzeiten setzte sich sofort eine instinktive, gefühlsmäßige Solidarität durch.

Es war bei weitem nicht vollkommen. Das konnte man an der Art und Weise sehen, wie sie sich verhielten - der Art und Weise, zum Beispiel, wie De Valera und Kaufmann ein unnötiges Aufhebens davon machten, wer das Brot schneiden und austeilen solle. Aber man konnte feststellen, daß es funktionierte. Die genossenschaftliche Struktur von Rizome brachte es mit sich, daß die Gesellschafter - und ihre Zahl war weitaus höher als die Zahl der Mitglieder im Zentralausschuß - ihr Unternehmen nicht nur als einen Arbeitsplatz sahen. Es war ein Gefühl der Stammeszugehörigkeit entstanden. Man konnte dafür leben und sterben.

Es war eine einfache Mahlzeit: Äpfel, Brot, Käse, ein ›Schinkenaufstrich‹, der offensichtlich Scop mit künstlichem Geschmack war. Und Mineralwasser. Dann kamen sie zur Sache, doch nicht so, daß jemand zur Ordnung rief, sondern allmählich, beinahe von selbst.

Sie begannen mit der FAKT. Sie fürchteten sie mehr als Grenada. Die Grenadiner waren Diebe und Datenpiraten, aber wenigstens hielten sie sich im Hintergrund, während die FAKT, wer auch dahinter steckte, die Gesellschaft in ernste Verlegenheit gebracht hatte. Die Folge davon war, daß sie sich jetzt um Wien sorgen mußten, obwohl Wiens Haltung schwankte.

Rizome war entschlossen, die FAKT und ihre Hintermänner aufzudecken. Man konnte nicht erwarten, daß es einfach sein würde, aber Rizome war ein bedeutendes multinationales Unternehmen mit Tausenden von Gesellschaftern, fünfzigtausend Mitarbeitern und Außenposten in fünf Kontinenten. Sie hatten Kontakte überall im Kommunikationsnetz und betrachteten Geduld als eine Tugend. Früher oder später würden sie an die Wahrheit herankommen, gleichgültig, wer sie verbarg.

Der unmittelbare Verdacht richtete sich gegen Singapur, entweder die Islamische Bank oder die Regierung von Singapur, obwohl oder weil die Verbindungen zwischen beiden unklar waren. Niemand zweifelte daran, daß Singapur imstande gewesen sei, den Anschlag in Galveston auszuführen. Singapur war der Wiener Konvention nicht beigetreten und brüstete sich offen mit der Reichweite und Schlagkraft seiner militärischen und nachrichtendienstlichen Organisationen.

Es war jedoch schwierig zu verstehen, warum sie sich mit Grenada anlegen sollten, nachdem sie in Verhandlungen eingewilligt hatten. Noch dazu durch eine waghalsige Provokation wie Stubbs' Ermordung, die Grenada in Erbitterung versetzen mußte, ohne wirklichen strategischen Schaden anzurichten. Singapur war arrogant und technisch skrupellos, aber niemand konnte behaupten, daß dort Dummköpfe den Kurs bestimmten.

So kam der Ausschuß überein, das Urteil auszusetzen und weitere Hinweise abzuwarten. Gegenwärtig gab es zu viele Möglichkeiten, und der Versuch, jeden denkbaren Sachverhalt abzudecken, würde nur lähmend wirken. Einstweilen würden sie ihre Vermittlungstätigkeit fortsetzen und das Bulletin der Terroristen unbeachtet lassen.

FAKT war offensichtlich eine Bedrohung, wenn man davon ausging, daß FAKT eine separate Existenz von den Leuten hatte, mit denen sie bereits in Verbindung standen. Tröstlich war, daß FAKT die klare Möglichkeit, eine Gesellschafterin von Rizome - Laura - zu töten, nicht genutzt hatte.

Die Diskussion wandte sich der Situation in Grenada zu.

»Ich sehe nicht, was wir dort erreichen können, das wir nicht auch über das Netz bewerkstelligen könnten«, sagte Raduga.

»Es ist an der Zeit, daß wir aufhören, diese falsche Unterscheidung zu machen«, meinte De Valera. »Mit unseren neuesten Übertragungsgeräten - der gleichen Technik, die Wien benutzt - sind wir das Netz. Ich meine, ein Rizome-Gesellschafter mit Videobrille kann ein Spähtrupp für das ganze Unternehmen sein…«

»Wir sind nicht Wien«, sagte Kaufmann. »Der Besitz dieser neuen Technik bedeutet nicht, daß sie sich für uns auszahlen wird.«

»Wir sind gegenüber Grenada in einer mißlichen Lage«, sagte Cullen. »Diese Lage erlaubt uns nicht, eine Medieninvasion durchzuführen.«

»Ja, Charlie«, erwiderte De Valera, »aber genau das ist der Grund, warum es klappen könnte. Wir gehen hin und entschuldigen uns, kommen aber mit neuen Erkenntnissen zurück.«

Cullen runzelte die Stirn. »Wir sind verantwortlich für den Tod eines ihrer Spitzenleute. Dieses Winston Stubbs. Es ist, als wäre einer der unsrigen umgebracht worden. Als hätten wir Mr. Saito verloren.«

Einfache Worte, aber Laura sah, wie sie wirkten. Cullen hatte die Gabe, Sachverhalte auf einen menschlichen Maßstab zu bringen. Sie waren beeindruckt.

»Deshalb sollte ich nach Grenada gehen«, sagte Saito. Er sagte nie viel. Das hatte er nicht nötig.

»Es gefällt mir nicht«, sagte Garcia-Meza. »Warum müssen wir eine Auge-um-Auge-Situation daraus machen? Es ist nicht unsere Schuld, daß die Piraten Feinde haben. Wir haben den Mann nicht erschossen. Und wir sind ihnen nicht in irgendeiner Weise verpflichtet, weil einer von ihren Banditen von anderen Banditen umgebracht wurde.« Garcia-Meza vertrat in ihrer Gruppe die harte Linie. »Ich bin der Meinung, daß diese diplomatische Zugangsweise ein Fehler war. Man bringt Diebe nicht von ihrem Gewerbe ab, indem man sie umarmt. Aber ich stimme zu, daß wir jetzt nicht zurückweichen können. Unsere Glaubwürdigkeit steht auf dem Spiel.«

»Wir dürfen nicht zulassen, daß dieses Projekt zu einem Machtkampf unter Gangstern degeneriert«, sagte Gauss. »Wir müssen das Vertrauen, das wir mit soviel Mühe herstellten, wiedergewinnen. Also kommt es darauf an, Grenada von dreierlei zu überzeugen: daß es nicht unser Werk war, daß wir nach wie vor vertrauenswürdig sind, und daß sie bei einer Zusammenarbeit mit uns nur gewinnen können. Nicht aber durch Konfrontation.«

Diese Art zusammenfassender Darstellung war typisch für Gauss. Damit hatte er das Gespräch abgewürgt. »Ich glaube, Heinrich hat den Nagel auf den Kopf getroffen«, sagte Cullen schließlich, »aber diese Art Überzeugungsarbeit können wir nicht durch Fernsteuerung leisten. Wir müssen Leute hinschicken, die auf die Grenadiner zugehen können, ihnen die Hand reichen. Die ihnen zeigen, was wir sind und wie wir arbeiten.«

»Richtig«, sagte David. Laura war überrascht. Sie hatte das Anwachsen des Druckes gespürt, aber angenommen, daß er sie den Augenblick wählen lassen würde. »Es liegt auf der Hand, daß Laura und ich diejenigen sind, die Sie brauchen. Grenada kennt uns bereits, sie haben dort dicke Dossiers über uns. Und wir waren dabei, als Stubbs getötet wurde. Wenn nicht uns - die Augenzeugen -, werden sie sich fragen müssen, wen sonst?«

Die Ausschußmitglieder blieben eine kleine Weile still. Entweder wunderten sie sich über sein brüskes Eingreifen in die Diskussion, oder sie wußten das Opfer zu schätzen. »David und ich fühlen uns verantwortlich«, fügte Laura hinzu. »Bisher haben wir Pech gehabt, aber wir sind bereit, das Projekt weiter zu verfolgen. Und wir haben keine anderen Verpflichtungen, seit Galveston unser Ferienheim zugemacht hat.«

Cullen schaute unglücklich drein, aber nicht über sie, sondern über die Situation. »David, Laura, ich würdige diese korrekte Haltung. Sie ist sehr mutig. Ich weiß, daß Sie sich der Gefahr bewußt sind: Besser als wir, da Sie den Anschlag selbst miterlebt haben.«

David zuckte die Achseln. Auf Lob wußte er nie gut zu reagieren. »Offen gesagt, ich fürchte die Grenadiner weniger als die Leute, die auf sie geschossen haben.«

»Sehr richtig. Es ist auch zu bemerken, daß die Terroristen den Anschlag in den Vereinigten Staaten verübt haben«, sagte Gauss. »Nicht in Grenada, wo die Sicherheitsmaßnahmen viel schärfer sind.«

»Ich sollte gehen«, sagte Saito. »Nicht, weil ich besser darin wäre.« Eine höfliche Lüge. »Aber ich bin ein alter Mann und habe wenig zu verlieren.«

»Und ich werde mit ihm gehen«, sagte Debra Emerson, die sich das erste Mal zu Wort meldete. »Wenn es in diesem Sicherheitsdebakel eine Schuld gibt, dann ist es ganz gewiß nicht die Schuld der Websters, sondern meine. Ich war auch im Ferienheim. Ich kann so gut wie Laura und David aussagen.«

»Wir können nicht mit der Erwartung in diese Sache hineingehen, daß unsere Leute erschossen werden!« sagte De Valera leidenschaftlich. »Wir müssen die Vorkehrungen so treffen, daß die Grenadiner nicht einmal auf den Gedanken kommen, wir könnten Beute sein. Entweder das, oder überhaupt nicht hingehen. Denn wenn diese Zuversicht versagt, wird es Krieg bedeuten, und wir würden nicht wirtschaftliche Demokraten bleiben können, sondern Untergrundkämpfer werden müssen, geeignet für den Bandenkrieg.«

Cullen nickte zustimmend. »Keine Waffen. Aber wir haben wenigstens eine Panzerung. Wir können unseren Abgesandten die Panzerung des Netzes geben. Wer immer geht, wird vierundzwanzig Stunden am Tag an der Leitung sein. Wir werden genau wissen, wo unsere Leute sind, was sie tun. Alles, was sie sehen und hören, wird aufgezeichnet und verbreitet. Das ganze Unternehmen wird hinter ihnen stehen, ein überlebensgroßes Mediengespenst. Grenada wird das respektieren. Sie haben diesen Bedingungen bereits zugestimmt.«

»Ich finde, Charlie hat recht«, sagte Garcia-Meza unerwartet. »Sie werden unsere Abgesandten nicht massakrieren. Warum sollten sie? Wenn sie Rizome schaden wollen, werden sie nicht mit den Websters anfangen, bloß weil sie zur Hand sind. So naiv sind sie nicht. Wenn sie auf uns schießen, werden sie auf den Kopf zielen. Sie werden uns aufs Korn nehmen, die Ausschußmitglieder.«

»Mein Gott«, sagte De Valera.

»Nichtsdestoweniger schmausen wir hier mit Tigern«, fuhr Garcia-Meza fort. »Es ist eine wichtige Operation, und wir werden jeden Schritt beobachten müssen. Ich bin froh, daß wir diese Wiener Brillen haben. Wir werden sie brauchen.«

»Lassen Sie mich gehen«, bat Mrs. Emerson. »Sie sind jung und haben einen Säugling.«

»Tatsächlich«, sagte De Valera, »dürfte das ein besonderer Vorzug der Websters als Kandidaten sein. Ich meine, die Websters sollten gehen, und sie sollten ihr Baby mitnehmen.« Er lächelte in die Runde, vergnügt über die Unruhe, die seine Worte erzeugt hatten. »Denken wir nüchtern darüber nach. Ein friedfertiges junges Ehepaar mit einem Baby. Es ist ein vollkommenes diplomatisches Abbild unserer Gesellschaft, weil es wahr ist. Es mag kaltblütig klingen, aber ich sehe darin eine vollkommene psychologische Verteidigung.«

»Also«, sagte Garcia-Meza, »ich stimme nicht oft mit De Valera überein, aber das ist klug. Diese Piraten sind Machos. Sie würden sich schämen, eine junge Mutter und ihr Baby zur Zielscheibe ihrer Aggressivität zu machen.«

»Ich wollte es nicht erwähnen«, sagte Kaufmann bedächtig, »aber Debra Emersons Vergangenheit beim amerikanischen Geheimdienst… das gehört einfach nicht zu den Dingen, die ein Drittweltland wie Grenada hinnehmen kann. Und ich möchte kein Ausschußmitglied entsenden, weil ein solches Ziel, offen gesagt, zu verlockend wäre.« Er wandte sich zu David und Laura. »Ich hoffe, Sie verstehen, daß ich Ihren Wert als Gesellschafter damit in keiner Weise herabsetzen möchte.«

»Es gefällt mir einfach nicht«, sagte Cullen. »Vielleicht gibt es keine andere Wahl, aber ich riskiere nicht gern unsere Leute.«

»Ganz gleich, welche Wahl wir treffen«, sagte Garcia-Meza, »wir sind jetzt alle in Gefahr.«

»Ich glaube an diese Initiative!« erklärte De Valera. »Ich drängte von Anfang an darauf. Ich kenne die Konsequenzen. Ich glaube wirklich, daß die Grenadiner darauf eingehen werden - sie sind keine Barbaren und wissen, was in ihrem eigenen Interesse liegt. Sollten unsere Abgesandten in Erfüllung ihrer Pflicht Schaden erleiden, werde ich die Verantwortung übernehmen und meinen Posten zur Verfügung stellen.«

Dieses Haschen nach dem Rampenlicht mißfiel Emily. »Das ist nicht die Art von Rizome, De Valera! Und das würde den beiden nicht viel helfen.«

De Valera zuckte bloß die Achseln. »David, Laura, ich hoffe, Sie verstehen mein Angebot in der Bedeutung, die ich beabsichtigte. Wir sind Gesellschafter, nicht Herren und Knechte. Sollten Sie zu Schaden kommen, werde ich mich nicht vor der Verantwortung drücken. Solidarität.«

»Keiner von uns wird sich drücken«, sagte Cullen. »Diesen Luxus haben wir nicht. Laura, David, Sie verstehen, was auf dem Spiel steht. Gelingt es uns nicht, die Sache mit Grenada auszubügeln, könnte es uns großes Unheil bringen. Wir ersuchen Sie, sich selbst zu riskieren, aber wir geben Ihnen die Macht, uns alle zu riskieren. Und diese Art von Macht ist in unserer Gesellschaft sehr selten.«

Laura fühlte das Gewicht der Verantwortung. Sie wollten eine Antwort. Sie blickten auf David und sie. Sie waren die einzige erfolgversprechende Wahl.

Sie und David hatten die Möglichkeit bereits unter vier Augen besprochen. Sie wußten, daß sie diesen Auftrag ablehnen konnten, ohne daß man es ihnen zum Vorwurf machen würde. Aber sie hatten ihr Heim verloren, und es würde all ihre Pläne in Gefahr bringen. So schien es besser, das Risiko einzugehen, im Strom der Entwicklung zu bleiben und sich auf ihre eigenen Fähigkeiten, damit fertig zu werden, zu verlassen. Besser das, als sich wie Opfer irgendwo zu verkriechen und den Terroristen freie Bahn zu geben. Sie hatten ihre Entscheidung getroffen.

»Wir können es machen«, sagte Laura, »wenn Sie uns unterstützen.«

»Dann ist es also geregelt.« Die Entscheidung war gefallen. Sie standen alle auf und packten die Picknicksachen ein. Und gingen zurück zu den ausgebauten Farmhäusern von Chattahoochee.

Laura und David begannen sofort mit den Videobrillen zu üben. Es waren die ersten, die das Unternehmen gekauft hatte, und sie waren unglaublich kostspielig. Jede Brille kostete so viel wie ein kleines Haus.

Sie sahen auch danach aus - aus der Nähe hatten sie das eigentümliche Fluidum wissenschaftlicher Instrumente. Sehr spezialisiert, hochentwickelt. Auch schwer - eine Schale aus zähem schwarzem Kunststoff, aber vollgepackt mit teuren, supraleitenden Schaltkreisen. Sie hatten keine eigentlichen Linsen, sondern Tausende von Bit-kartierten Lichtdetektoren. Der Roheffekt war eine prismatische Verschwommenheit; visuelle Software bewerkstelligte Bildaufzeichnung, Tiefenschärfe und so weiter. Kleine unsichtbare Strahlen maßen Blickrichtung und Position der Augen des Benutzers. Der Aufnahmeleiter, zu Hause an seinem Bildschirm, war jedoch nicht von der Blickrichtung des Benutzers abhängig. Durch Eingabe der geeigneten Signale konnte er im gesamten Gesichtsfeld nach Belieben Details betrachten.

Man konnte gut durch die Brillen sehen, obwohl sie von außen undurchsichtig zu sein schienen. Sie ließen sich sogar für Kurz- und Weitsichtigkeit einstellen.

Für beide wurden Ohrhörer nach Maß gefertigt. Hier gab es kein Problem; es war alte Technik.

In Chattahoochee gab es eine Nachrichtenzentrale, die das Kommunikationsgerät in Lauras Ferienhaus um zwanzig Jahre veraltet erscheinen ließ. Sie unterzogen sich einem Schnellkurs in der Aufzeichnungstechnik mit Videobrillen. Abwechselnd wanderten sie draußen durch das Gelände, beobachteten irgendwelche Merkmale und verfeinerten ihre Technik durch ständige Überwachung und Korrektur durch den jeweils anderen. Es gab eine Menge zu sehen: Gewächshäuser, Teiche, Pfirsichgärten, eine Windmühle. Sogar eine GanztagsKinderkrippe, wo Loretta versorgt wurde. Rizome hatte die Kinderkrippen vor Jahren allgemein einführen wollen, doch hatte das Projekt keinen großen Anklang gefunden - zu sozialistisch, zuviel Gängelung.

Das Ferienheim war einmal eine größere Farm gewesen, bevor die gentechnische Erzeugung von Einzellerprotein in industriellem Umfang eingeführt worden war und der herkömmlichen Rinder- und Schweinemast die Zukunftsaussichten genommen hatte. Der noch bewirtschaftete Teil ähnelte vielen anderen modernen Farmbetrieben. Teichwirtschaft, Spezialitätenanbau, Gewächshäuser. Ein großer Teil des Gemüseanbaus in Gewächshäusern wurde heutzutage wieder wie in alten Zeiten im Vorortbereich der Städte betrieben, wo die Märkte waren.

Nach den Probeaufnahmen gingen sie hinein, sahen ihre Bänder an und bekamen Schwindelgefühl. Und dann versuchten sie es wieder, aber mit Büchern, die sie auf dem Kopf balancierten. Während einer am Monitor saß, ging der andere umher und ließ sich Anweisungen geben und jammerte gutgelaunt, wie schwierig es sei. Es war gut, an etwas zu arbeiten. Es verschaffte ihnen das Gefühl, Herr ihres Geschickes zu sein, nicht bloß Marionetten.

Schließlich entschied Laura, daß es funktionieren müsse. Sie würden den Grenadinern eine Propagandanummer bringen und sich ihrerseits von den Grenadinern eine Propagandanummer aufführen lassen, und damit würde es sein Bewenden haben. Ein Risiko, ja, aber auch die größte Publizität, die sie bisher innerhalb des Unternehmens gehabt hatten, und das bedeutete viel. Der Ausschuß war nicht so kraß gewesen, direkt über eine Belohnung zu sprechen, aber das war nicht nötig; so wurden die Dinge bei Rizome nicht gehandhabt. Es verstand sich alles von selbst.

Gefährlich, ja. Aber die Halunken hatten auf ihr Haus geschossen. Sie hatte die Illusion aufgeben müssen, daß es irgendwo noch einen wirklich sicheren Ort geben würde. Sie wußte, daß damit erst wieder gerechnet werden konnte, wenn alles ausgestanden wäre.

In Havanna hatten sie zwei Stunden Aufenthalt. Laura fütterte das Baby. David streckte sich in seinem blauen Plastiksessel aus und legte die Füße mit ihren Sandalen übereinander. Deckenlautsprecher übertrugen klimpernde russische Popmusik. Hier gab es keine cybernetischen Gepäckkarren, sondern Gepäckträger mit Handkarren. Auch alte Ausfeger, die Besen vor sich her schoben, als hätten sie es seit frühester Kindheit getan.

In der nächsten Reihe der Plastiksitze ließ ein gelangweiltes kubanisches Kind eine leere Getränkepackung auf den Boden fallen und stampfte darauf herum. »Trinken wir uns einen an«, sagte David plötzlich.

»Was?«

David steckte seine Videobrille sorgsam in die Brusttasche des Anzugs, um die Linsen nicht zu beschmutzen. »Ich sehe es so: In Grenada werden wir die ganze Zeit auf Sendung sein. Keine Zeit zur Entspannung, keine Zeit für uns. Aber wir haben acht Stunden Flug vor uns. Acht Stunden in einem verdammten Flugzeug. In der Zeit können wir uns vollkotzen, wenn wir wollen. Die Stewardessen werden sich um uns kümmern. Laß uns einen heben.«

Laura musterte ihren Mann. Sein Gesicht sah angespannt aus, spröde. Sie fühlte sich ähnlich. Die letzten Tage waren höllisch gewesen. »Gut«, sagte sie. David lächelte.

Er nahm die Tragtasche mit dem Baby bei den Gurten, und sie gingen zum nächsten zollfreien Laden, einem kleinen Raum voll von billigen Strohhüten und schwachsinnig aussehenden Köpfen, die aus Kokosnüssen geschnitzt waren. David kaufte eine Literflasche braunen kubanischen Rum. Er zahlte bar. Der Ausschuß hatte sie davor gewarnt, Kreditkarten zu verwenden. Es war zu einfach, ihnen nachzuspüren. Die Datenpiraten hatten ihre Fühler überall im elektronischen Geschäft.

Die kubanische Verkäuferin verwahrte das Papiergeld in einer verschlossenen Schublade. David gab ihr eine Hundert-Euro-Note. Die Frau trug ein rotes Kleid, kaute etwas und hörte Sambamusik über Kopfhörer. Dazu machte sie kleine rhythmische Hüftbewegungen. David machte eine witzige Bemerkung auf spanisch, und sie lächelte ihm zu, als sie das Wechselgeld herausgab.

Der Boden wollte unter Lauras Schuhen nicht zur Ruhe kommen. Der Boden in Flughäfen war nicht Teil der Welt. Er hatte seine eigene Logik - Flughafenkultur. Austauschbare Inseln in einem Netz von Luftverkehrsrouten. Eine Atmosphäre von Heimatlosigkeit und Schweiß und Jetlag und dem Geruch von Gepäck.

Als der Flug aufgerufen wurde, gingen sie zum Flugsteig Diez-y-seis, Aero Cubana. Die billigste Fluglinie in der Karibik, weil die kubanische Regierung Flüge subventionierte. Die Kubaner waren noch immer empfindlich wegen der aufgezwungenen Isolation in den Jahrzehnten des Kalten Krieges.

David bestellte Cola, wann immer die Stewardess vorbeikam, und füllte die Gläser mit gefährlichen Portionen beißenden Rums auf. Ein langer Flug nach Grenada. Die Entfernungen hier draußen waren riesig. Die Karibik war gesprenkelt mit Wolken, tief unten lag der grünliche Ozean. Es wurde ein synchronisierter russischer Film gezeigt, der eine Menge Tanzeinlagen zu heißer Popmusik aus St. Petersburg hatte, jede Menge Frisuren und Lichteffekte. David hatte Kopfhörer übergestülpt, summte mit und wippte Loretta auf dem Knie. Loretta war verblüfft von den Ereignissen der Reise - wenn sie nicht schlief, glotzte sie umher, und ihr süßes kleines Gesicht war leer wie das einer Puppe.

Der Rum traf Laura wie warmer, narkotischer Teer. Die Welt wurde exotisch. Geschäftsleute weiter vorn hatten ihre Laptops in Betrieb genommen. Die Stecker waren oben neben den Öffnungen der Klimaanlage angeschlossen. Zwölftausend Meter über dem karibischen Nichts, aber angeschlossen an das Netz. Glasfaserkabel baumelten über den Sitzen, als ob die Reisenden am Tropf hingen.

Laura lehnte sich zurück und stellte das Gebläse so ein, daß der Luftstrom ihr Gesicht traf. Irgendwo unter der alkoholischen Betäubung lauerte Luftkrankheit. Sie sank in einen benommenen Dämmerschlaf. Sie träumte… Sie trug die Uniform der Aero Cubana-Stewardessen, ein schmuckes blaues Kostüm, irgendwie paramilitärisch im Stil der Zeit um 1940, mit eckigen Schultern und einem Plisseerock. So schob sie ihren Buffetwagen durch den Gang. Jedem Reisenden mußte sie einen kleinen Plastikbecher mit etwas geben. Milch war es. Sie streckten alle die Hände nach dieser Milch aus und blickten sie mit einem Ausdruck ausgedörrter Verzweiflung und mitleiderregender Dankbarkeit an. Sie waren so froh, daß sie da war und wünschten wirklich ihre Hilfe - sie wußten, daß sie ihr Los erleichtern konnte… Sie sahen alle ängstlich aus, rieben sich die schwitzende Herzgegend, als ob sie dort Schmerzen hätten…

Ein plötzliches Schwanken weckte sie. Es war Nacht geworden. David saß im Lichtschein der Leselampe und starrte auf den Bildschirm seines Datenanschlusses. Laura war momentan völlig desorientiert. Ihre Beine waren verkrampft, der Rücken schmerzte, ein ekliger Geschmack war in ihrem Mund, und an ihrer Wange klebte Speichel… Jemand, wahrscheinlich David, hatte eine Decke über sie gelegt. »Meine Optima Persona«, murmelte sie. Die Maschine bockte wieder, dreioder viermal.

»Aufgewacht?« sagte David und zog seinen Ohrenstöpsel heraus. »Wir kommen in schlechtes Wetter.«

»Ja?«

»September in der Karibik.« Die Zeit der Wirbelstürme, dachte sie - er brauchte es nicht zu sagen. Er sah auf sein neues Multifunktions-Uhrtelefon. »Noch eine Stunde.« Auf dem Bildschirm war ein Rizome-Gesellschafter mit einem Cowboyhut zu sehen, der vor der Kamera gestikulierte; im Hintergrund ragte ein Gebirgszug auf. David hielt das Bild mit einem Tastendruck fest.

»Du beantwortest Post?«

»Nein, zu betrunken«, sagte David. »Seh's mir nur an. Dieser Anderson in Wyoming - so ein Nachtwächter.« David schaltete das Gerät aus. »In Atlanta sammelt sich jede Menge Mist für uns an - oh, entschuldige, demokratische Eingaben. Dachte bloß, ich könnte es auf Diskette nehmen, bevor wir von Bord gehen.«

Laura richtete sich ächzend auf. »Ich bin froh, daß du bei mir bist, David.«

Er sah erheitert und gerührt aus. »Wo sollte ich sonst sein?« Er drückte ihr die Hand.

Das Baby schlief auf dem Sitz zwischen ihnen in einem zusammenklappbaren Korb aus verchromtem Draht und gepolstertem gelbem Synthetik. Laura berührte Lorettas Wange. »Alles in Ordnung mit ihr?«

»Klar. Ich gab ihr etwas Rum; nun wird sie die nächsten Stunden schlafen.«

Laura unterbrach ihr Gähnen. »Du gabst ihr…?« Er scherzte. »Soweit mußte es also kommen«, sagte sie. »Unser unschuldiges Kind zu betäuben.« Sein Scherz hatte sie aus der Benommenheit gerissen. »Kennt deine Verworfenheit keine Grenzen?«

»Alle Arten von Grenzen - solange ich an der Leitung bin«, sagte David. »Wie wir es von nun an für Gott weiß wie viele Tage sein werden. Wird unseren Stil verkrampfen, Schatz.«

»Mmm.« Laura berührte ihr Gesicht. Kein Video-Make-up. Sie zog ihre Kosmetika aus den Tiefen ihrer Reisetasche und stand auf. »Wir müssen unser Videozeug auflegen, bevor wir landen.«

»Wollen wir im Duschraum eine schnelle Nummer versuchen, im Stehen?«

»Wahrscheinlich verwanzt, dort drinnen«, sagte Laura und stolperte an ihm vorbei in den Gang.

Er hielt sie beim Handgelenk zurück und flüsterte zu ihr auf: »In Grenada gibt es Tauchsport, vielleicht können wir es unter Wasser machen. Wo niemand uns aufzeichnen kann.«

Sie starrte auf seinen ungekämmten Kopf. »Hast du die ganze Flasche Rum leergetrunken?«

»Sollte ich ihn verkommen lassen?«

»Wohl bekomm's«, sagte sie. Sie ging zur Toilette, stellte sich vor den unbarmherzigen Stahlspiegel im Vorraum und legte Make-up auf. Als sie zu ihrem Sitz zurückkehrte, setzte die Maschine zur Landung an.