2. Kapitel

 

Nach dem Frühstück half Laura ihrer Mutter packen. Sie war verblüfft von der Masse des unnötigen Krimskrams, den ihre Mutter mit sich herumschleppte: Hutschachteln, Flaschen mit Haarspray und Vitaminen und Kontaktlinsenflüssigkeit, eine Videokamera, ein Dampfbügeleisen, Lockenwickler, eine Schlafmaske, sechs Paar Schuhe mit hölzernen Spannern, um zu verhindern, daß sie im Gepäck zusammengedrückt wurden. Sie hatte sogar eine besondere Dose mit Einlegearbeit nur für Ohrringe.

Laura hielt ein in rotes Leder gebundenes Reisetagebuch in die Höhe. »Mutter, wozu brauchst du das? Wenn du was wissen willst, brauchst du es doch bloß vom Netz abzurufen.«

»Ich weiß nicht, Kind. Ich bin soviel unterwegs - all diese Dinge sind für mich wie ein Heim.« Sie legte Kleider zusammen. »Außerdem mag ich das Netz nicht. Schon dem Kabelfernsehen konnte ich nie etwas abgewinnen.« Sie zögerte. »Dein Vater und ich stritten oft darüber. Wenn er noch lebte, würde er ein richtiger Netzkopf sein.«

Die Idee kam Laura albern vor. »Komm schon, Mutter.«

»Er haßte Unordnung, dein Vater. Schöne Dinge waren ihm gleichgültig - Lampen, Teppiche, Porzellangeschirr. Er war ein Träumer, schätzte Abstraktionen. Mir warf er vor, materialistisch zu sein.« Sie zuckte die Achseln. »Deswegen hat meine Generation immer eine schlechte Presse gehabt.«

Laura machte eine ausgreifende Armbewegung. »Aber Mutter, sieh dir bloß all diese Dinge an.«

»Laura, ich mag meine Besitztümer, und ich habe für alle bezahlt. Vielleicht schätzen die Leute Besitztümer heutzutage nicht mehr so, wie wir es vor der Jahrtausendwende taten. Wie könnten sie auch? Die Gebühren, die sie für den Gebrauch des Kommunikationsnetzes zahlen müssen, fressen ihr ganzes Geld auf. Computerspiele, Fernsehen, Videofon, Telefax - nicht zu reden von den geschäftlichen Verwendungen. Hauptsache, sie haben einen Bildschirm vor sich.« Sie zog den Reißverschluß ihrer Reisetasche zu. »Vielleicht sind die jungen Leute heutzutage nicht hinter einem Mercedes oder einem Jacuzzi her, dafür prahlen sie, wie viele Megabytes ihr Datenanschluß speichern oder verarbeiten kann.«

Laura wurde ungeduldig. »Das ist albern, Mutter. Es ist nichts daran auszusetzen, wenn einer stolz darauf ist, was er weiß. Ein Mercedes ist bloß eine Maschine. Er beweist nichts über dich als Person.«

»Die Leute, von denen ich spreche«, erwiderte ihre Mutter, »sind nicht stolz auf ihr Wissen, sondern auf die Vollkommenheit ihrer Datentechnik. Ich sage dir, es ist genau das gleiche Besitzdenken.«

Lauras Uhrtelefon piepte und enthob sie der Notwendigkeit, zu antworten; das Elektromobil war vorgefahren.

Sie half ihrer Mutter das Gepäck hinuntertragen. Sie mußten dreimal gehen. Laura wußte, daß sie auf dem Flugplatz würde warten müssen, also nahm sie Loretta in einer Sitzschlinge zum Umhängen mit.

»Laß mich diese Fahrt bezahlen«, sagte ihre Mutter und steckte ihre Kreditkarte in den Zahlschlitz des Elektromobils. Die Tür entriegelte sich, sie verluden das Gepäck und stiegen ein.

»Guten Tag«, sagte die mechanische Stimme des Fahrzeugs. »Bitte sprechen Sie Ihr Fahrtziel klar ins Mikrofon. Anunce usted su destinacion claramente en el microfono, por favor.«

»Flugplatz«, sagte Laura.

»Danke sehr! Die geschätzte Fahrzeit beträgt zwölf Minuten. Ich danke Ihnen für die Benutzung des städtischen Verkehrssystems. Alfred A. Magruder, Bürgermeister.« Das Elektromobil beschleunigte träge, sein bescheidener Elektromotor winselte. Laura zog die Brauen hoch. Es war nicht der Spruch, mit dem die Elektromobile sonst aufwarteten. »Alfred A. Magruder, Bürgermeister?« murmelte sie.

»Galveston ist ein Vergnügungsort!« antwortete das Elektromobil. Laura und ihre Mutter tauschten Blicke. Laura hob die Schultern.

Fernstraße 3005 war die Hauptarterie durch die Insel. Die Glanzzeiten der Straße waren längst vergangen; sie war verwunschen von den Erinnerungen an billiges Benzin und Privatwagen, die hundert Stundenkilometer fuhren. Lange Abschnitte der Straßendecke waren durch Schlaglöcher ruiniert und nur notdürftig mit Kunststoffgeflecht ausgebessert. Es knisterte und knackte unter den Reifen.

Zur Linken, im Westen, säumten nackte, rissige Betonplatten die Straße wie gefallene Dominosteine. Gebäudefundamente hatten keinen Schrottwert. Sie blieben immer bis zuletzt. Allenthalben gedieh Gestrüpp: Salzgräser, ausgedehnte Matten von sprödem Glaskraut, dichte Schilfbestände. Zur Rechten, dem Küstenverlauf folgend, waren die Pfähle verschwundener Strandhäuser zu sehen. Manche waren halb umgesunken, wie die Beine watender Flamingos.

Ihre Mutter berührte Lorettas dünne Löckchen, und der Säugling gurgelte. »Stört es dich nie, hier zu leben, Laura? Dieser allgemeine Verfall...«

»David ist gern hier«, sagte Laura.

Ihre Mutter sprach mit der Anstrengung innerer Überwindung. »Behandelt er dich gut, Kind? Du scheinst glücklich mit ihm zu sein. Ich hoffe, das stimmt.«

»David ist in Ordnung, Mutter.« Laura hatte dieses Gespräch gefürchtet. »Du hast jetzt gesehen, wie wir leben. Wir haben nichts zu verbergen.«

»Als wir uns das letzte Mal sahen, Laura, arbeitetest du in Atlanta. In der Konzernzentrale von Rizome. Jetzt betreibst du ein Ferienheim, ein… ein Wirtshaus.« Sie zögerte. »Nicht, daß es schlecht wäre, aber…«

»Du meinst, es sei ein Rückschlag für meine Karriere.« Laura schüttelte den Kopf. »Mutter, Rizome ist eine Demokratie. Wenn du aufsteigen und Macht haben willst, mußt du gewählt werden. Das bedeutet, daß du Leute kennen mußt. Persönlicher Kontakt bedeutet bei uns alles. Und wenn man ein Wirtshaus betreibt, wie du es ausdrückst, kommt man mit allen möglichen Leuten aus dem Firmenbereich zusammen. Die besten Leute unseres Konzerns benutzen die Ferienheime als Gäste. Und da sehen wir sie, und sie sehen uns.«

»Das ist nicht so, wie ich mich daran erinnere«, sagte ihre Mutter. »Macht ist, wo die Entscheidungen getroffen werden, wo Aktion ist.«

»Mutter, die Aktion ist heutzutage überall. Dafür haben wir das Netz.« Laura bemühte sich um Höflichkeit. »Das ist nicht so etwas wie ein Strohhalm, nach dem David und ich gegriffen haben. Es ist eine Schauvitrine für uns. Wir wußten, daß wir eine feste Wohnung brauchen würden, solange das Kind klein ist, also fertigten wir die Pläne an, zeigten sie in der Firma herum, gewannen Unterstützung, zeigten Initiative, Flexibilität… Es war unser erstes großes Projekt als Gespann. Jetzt sind wir bekannt.«

»Ihr habt das alles sehr hübsch ausgearbeitet«, sagte ihre Mutter. »Du hast Ehrgeiz und das Kind. Karriere und Familie. Einen Mann und einen Job. Es ist alles zu passend, Laura. Ich kann nicht glauben, daß es so einfach ist.«

Laura war eisig. »Natürlich. Das mußte heraus, nicht?«

Bedrückende Stille breitete sich aus. Ihre Mutter zupfte am Rocksaum. Endlich raffte sie sich auf und sagte: »Laura, ich weiß, daß mein Besuch nicht leicht für dich gewesen ist. Es ist lange her, seit wir unsere getrennten Wege gingen, du und ich. Ich hoffe, wir können das jetzt ändern.«

Laura sagte nichts. Ihre Mutter fuhr hartnäckig fort: »Seit dem Tod deiner Großmutter hat sich manches geändert. Es ist jetzt zwei Jahre her, und sie ist nicht mehr für uns da. Laura, ich möchte dir helfen, wenn ich kann. Wenn es irgend etwas gibt, das du brauchst. Ganz gleich, was es ist. Wenn du reisen mußt, würde es schön sein, wenn du Loretta bei mir lassen könntest. Oder wenn du bloß jemanden brauchst, um dich auszusprechen.«

Sie zögerte, streckte die Hand in einer Gebärde offener Sehnsucht nach dem Kind aus. Zum ersten Mal sah Laura mit bewußter Aufmerksamkeit ihrer Mutter Hände. Die runzligen, fleckigen Hände einer alten Frau. »Ich weiß, du vermißt deine Großmutter. Du gabst der Kleinen ihren Namen, Loretta.« Sie streichelte dem Baby die Wange. »Ich kann ihren Platz nicht ausfüllen. Aber ich möchte etwas tun, Laura. Um meines Enkelkindes willen.«

Es war eine anständige, herkömmliche Geste familiären Zusammengehörigkeitsgefühls, dachte Laura. Aber sie empfand es als eine unwillkommene Gefälligkeit. Sie wußte, daß sie für die Hilfe ihrer Mutter würde bezahlen müssen - mit Verpflichtungen und Intimität. Das hatte sie nicht verlangt und wollte es auch nicht. Und sie brauchte es auch nicht - sie und David hatten die Firma hinter sich, die gute, unverbrüchliche Rizome-Gemeinschaft. »Es ist sehr nett von dir, Mutter«, sagte sie. »Danke für das Angebot. David und ich wissen es zu würdigen.« Sie wandte das Gesicht weg, zum Fenster.

Der Straßenzustand besserte sich, als das Elektromobil einen Abschnitt erreichte, der zur Wiederbebauung vorgesehen war. Sie fuhren an einem Yachthafen vorbei, wo Mietsegelboote mit Autopilot Bordwand an Bordwand lagen. Dann kam eine festungsartige Einkaufsstraße, wie das Ferienheim aus Sandbeton gebaut. Elektromobile drängten sich auf dem Parkplatz. Die Einkaufszone blinkte und leuchtete in bunter, kommerzieller Aufdringlichkeit: T-SHIRTS BIER WEIN VIDEO Eintritt frei, alle Räume mit AC!

»Für einen Wochentag geht das Geschäft gut«, sagte Laura. Die Menschenmenge bestand größtenteils aus Tagesbesuchern, die aus Houston herübergekommen waren, vorübergehend befreit aus ihren Hochhaussilos. Dutzende von ihnen wanderten ziellos den Strand entlang, starrten zur See hinaus, froh über einen unverstellten Horizont.

Ihre Mutter drängte weiter. »Laura, ich sorge mich um dich. Ich will mich nicht in dein Leben einmischen, falls du das denkst. Du hast deine Sache sehr gut gemacht, und ich freue mich darüber, wirklich. Aber es kann immer etwas geschehen, ohne eigenen Fehler.« Sie zögerte. »Ich möchte, daß du aus unserer Erfahrung lernst - meiner, meiner Mutter Erfahrung. Keine von uns beiden hatte Glück, nicht mit unseren Männern, auch nicht mit unseren Kindern. Und es lag nicht daran, daß wir uns nicht bemüht hätten.«

Lauras Geduld bröckelte. Die Erfahrungen ihrer Mutter - das war etwas, was Laura jeden Tag ihres Lebens verfolgt hatte. Daß ihre Mutter jetzt davon sprach, als ob es etwas wäre, das ihrer Tochter aus dem Gedächtnis geraten sein könnte, empfand Laura als grobe Gedankenlosigkeit. »Es genügt nicht, sich zu bemühen, Mutter. Man muß vorausplanen. Das war etwas, worin deine Generation nie gut war.« Sie zeigte aus dem Fenster. »Siehst du das dort drüben?«

Das Elektromobil hatte das südliche Ende des Hafendamms von Galveston erreicht. Sie durchfuhren einen Vorort, der früher einmal eine Pendlersiedlung mit grünen Rasenflächen und einem Golfplatz gewesen war. Jetzt war es ein Barrio: Die breit hingelagerten Häuser waren unterteilt in Wohnungen, umgebaut zu Bars und mexikanischen Krämerläden.

»Die Leute, die diese Vorortsiedlung bauten, wußten, daß uns das Öl ausgehen würde«, sagte Laura. »Aber sie planten nicht danach. Sie bauten alles um ihre kostbaren Autos herum, obwohl ihnen klar war, daß sie die Innenstädte in Ghettos verwandelten. Jetzt sind die Autos verschwunden, und jeder, der es sich leisten kann, ist in die Stadt zurückgezogen. Und die Armen werden hierher abgeschoben. Aber sie können sich die Wasserrechnungen nicht leisten, also verdorren die Rasenflächen, werden zu nackter, festgetrampelter Erde oder verwildern mit Gestrüpp. Und sie können sich keine Klimaanlagen leisten, also vergehen sie vor Hitze. Niemand war auch nur so vernünftig, überdachte Veranden an die Häuser zu bauen. Obwohl jedes in Texas gebaute Haus seit zweihundert Jahren eine überdachte Veranda hatte, aus gutem Grund.«

Ihre Mutter blickte gehorsam aus dem Fenster. Es war Mittag, und die Fenster standen weit offen. In den unterteilten Häusern schwitzten die Arbeitslosen vor ihren subventionierten Fernsehern. Die Armen lebten heutzutage billig. Scop der einfachsten Sorte, getrocknet wie Maismehl, kostete nur wenige Cents das Pfund. In den Ghettovororten aßen alle Scop, Einzellerprotein. Das Nationalgericht der Dritten Welt.

»Aber das ist es ja, was ich dir zu erklären versuche, Kind«, sagte ihre Mutter. »Die Dinge verändern sich. Du kannst das nicht steuern. Und man kann Pech haben.«

»Mutter, diese beschissenen Bungalows und Doppelhäuser wurden von Leuten gebaut, sie sind nicht hier gewachsen«, sagte Laura mit gepreßter Stimme. »Sie wurden errichtet, weil jemand schnell Profit machen wollte, ohne einen Gedanken auf die langfristige Entwicklung zu verschwenden. Ich kenne diese Siedlungen, habe David geholfen, sie abzureißen. Schau sie dir an!«

Ihre Mutter machte ein gequältes Gesicht. »Ich verstehe nicht. Es sind billige Häuser, wo arme Leute wohnen. Wenigstens haben sie ein Dach über dem Kopf.«

»Mutter, das sind Energiesiebe! Alles Lattenwerk und Porenbeton und billiger Flitterkram!«

Ihre Mutter schüttelte den Kopf. »Ich bin keine Architektenfrau, Kind. Ich kann sehen, daß diese Siedlung dich aufregt, aber du redest, als ob es meine Schuld wäre.«

Das Elektromobil bog nach Westen ab und durch die 83. Straße zum Flugplatz. Das Baby schlief an ihrer Brust; Laura drückte sie fester an sich. Sie war deprimiert und zornig. Sie wußte nicht, wie sie es ihrer Mutter klarer machen konnte, ohne unhöflich zu sein. Wenn sie sagen könnte: Mutter, deine Ehe war wie eines dieser billigen Häuser; du brauchtest es auf und zogst weiter… Du warfst meinen Vater aus deinem Leben wie den Wagen vom vorletzten Jahr, und du gabst mich zu Großmutter, die mich aufziehen sollte, wie eine Hauspflanze, die nicht mehr zu deinen Tapeten paßte… Aber das konnte sie nicht sagen. Sie brachte es nicht über sich.

Ein Schatten glitt über sie hinweg. Eine Boeing, am Seitenleitwerk die roten und blauen Farben der Aero Cubana. Sie erinnerte Laura an einen Albatros, mit ausladenden, scharfkantigen schmalen Flügeln an einem langen Rumpf. Die im Landeanflug gedrosselten Triebwerke brummten.

Der Anblick von Flugzeugen verschaffte Laura unweigerlich ein Gefühl nostalgischer Erhebung. Als Kind hatte sie viel Zeit in den Abfertigungshallen von Flughäfen verbracht, in den glücklichen Jahren, bevor ihr Leben als Diplomatenkind in Trümmer gefallen war. Die Maschine sank mit computergesteuerter Präzision tiefer, die Landeklappen angestellt. Moderne Gestaltung, dachte Laura stolz. Die dünnen Keramikflügel der Boeing sahen zerbrechlich aus, aber sie hätten ein lausiges Doppelhaus durchschnitten wie ein Rasiermesser ein Stück Weichkäse.

Durch ein Tor im Kettengliederzaun aus rotem Kunststoffgeflecht erreichten sie das Flugplatzgelände. Vor dem Abfertigungsgebäude standen Elektromobile aufgereiht. Laura half ihrer Mutter beim Umladen ihrer Sachen auf einen wartenden Gepäckkarren. Das Abfertigungsgebäude war im Frühstil des Organischen Barock erbaut, mit isolierten, festungsartigen Mauern und doppelten, automatischen Schiebetüren. Drinnen war es angenehm kühl und roch kräftig nach einem Bodenreiniger. Anzeigetafeln mit den Ankunfts- und Abflugzeiten hingen von der Decke. Ihr Gepäckkarren folgte ihnen im Schrittempo.

Nicht viele Reisende bevölkerten das Gebäude. Scholes Field war ein kleiner Provinzflugplatz, mochte die Stadt auch nicht müde werden, seine Bedeutung hervorzuheben. Nach dem letzten Wirbelsturm hatte der Stadtrat ihn erweitert, in einem letzten, verzweifelten Versuch, die öffentliche Moral zu heben. Viele Steuerzahler hatten ihn schnell benutzt, um Galveston endgültig den Rücken zu kehren.

Sie gaben das Gepäck ihrer Mutter auf. Laura sah ihre Mutter mit dem Angestellten im Flugkartenschalter plaudern. Wieder war sie die Frau, an die sich Laura erinnerte: gepflegt und kühl und makellos, in sich abgeschlossen und unangreifbar in der Teflonschale des Diplomaten. Margaret Day: mit zweiundsechzig noch immer eine attraktive Frau. Manche Leute schafften es, bis ins Alter frisch und springlebendig zu wirken. Mit etwas Glück konnte ihre Mutter noch zwei bis drei Jahrzehnte leben.

Sie gingen zusammen zum Warteraum. »Gib sie mir noch einmal«, sagte ihre Mutter. Laura gab ihr das Baby. Ihre Mutter trug Loretta wie einen Sack voll Smaragde. »Sollte ich etwas gesagt haben, was dich aufregt, wirst du es mir vergeben, ja? Ich bin nicht mehr so jung, wie ich einmal war, und es gibt Dinge, die ich nicht verstehe.«

Ihre Stimme war ruhig, aber in ihr Gesicht kam etwas wie eine zitternde Bewegung, ein seltsam wehrlos bittender Ausdruck. Zum ersten Mal begriff Laura, wieviel es ihre Mutter gekostet haben mußte, dies durchzumachen - wie rücksichtslos sie sich gedemütigt hatte. Und Laura verspürte eine jähe Aufwallung von Mitgefühl - als wäre sie vor ihrer Haustür auf eine verletzte Fremde gestoßen. »Nein, nein«, murmelte sie im Gehen. »Alles war schön.«

»Ihr seid moderne Menschen, du und David«, sagte ihre Mutter. »In einer Weise kommt ihr uns alten Dekadenzlern sehr unschuldig vor.« Sie lächelte etwas kläglich. »So frei von Zweifeln.«

Laura dachte darüber nach, als sie in den Warteraum gingen. Zum ersten Mal verstand sie in einer undeutlich intuitiven Art und Weise den Standpunkt ihrer Mutter. Sie suchten sich Sitzplätze außer Hörweite der wenigen anderen Passagiere, die auf ihren Flug nach Dallas warteten. »Wir wirken dogmatisch. Selbstgerecht. Ist es das?«

»O nein«, sagte ihre Mutter hastig. »Das wollte ich damit nicht sagen.«

Laura holte tief Luft. »Wir leben nicht unter einem Schrecken, Mutter. Das ist der eigentliche Unterschied. Niemand zielt mit Raketen auf meine Generation. Darum denken wir an die langfristige Zukunft. Weil wir wissen, daß wir eine haben werden. Und wir haben diesen Luxus nicht verdient. Den Luxus, selbstgerecht auszusehen.« Laura entspannte sich ein wenig; sie fühlte sich tugendhaft.

»Nun ja…« Ihre Mutter suchte nach Worten. »Es hat sicherlich damit zu tun, aber… Die Welt, in der du aufgewachsen bist - mit jedem Jahr ist sie glatter und beherrschbarer geworden. Als ob ihr ein Netz über die Menschenschicksale geworfen hättet. Aber das habt ihr nicht, Laura, nicht wirklich. Und ich mache mir Sorgen um dich.«

Laura war überrascht. Sie hatte nie gewußt, daß ihre Mutter solch einem morbiden Fatalismus huldigte. Es schien ihr eine unheimliche, altmodische Einstellung zu sein. Und es war ihr ernst damit - als ob sie jederzeit bereit wäre, Hufeisen über die Tür zu nageln oder den Rosenkranz zu beten. Und tatsächlich war in letzter Zeit manches ziemlich seltsam verlaufen… Laura fühlte sich gegen ihren Willen von einem leisen Schauer abergläubischer Furcht überlaufen.

Sie schüttelte den Kopf. »In Ordnung, Mutter. David und ich - wir wissen, daß wir auf dich zählen können.«

»Mehr habe ich nicht verlangt.« Ihre Mutter lächelte. »David war wundervoll - sag ihm, wie gut es mir gefallen hat.«

Die anderen Passagiere standen auf, griffen zu Aktenkoffern und Reisetaschen. Ihre Mutter küßte das Baby, stand auf und gab es zurück. Lorettas kleines Gesicht umwölkte sich, und sie begann in Vorbereitung eines Gewinsels zu schnaufen.

»Ah-oh«, machte Laura. Sie ließ sich eine schnelle, unbeholfene Umarmung von ihrer Mutter gefallen. »Wiedersehen.«

»Ruf mich an.«

»In Ordnung.« Laura wiegte die Kleine in den Armen, um sie zu besänftigen, und sah ihrer Mutter nach, bis sie in der Menschentraube beim Ausgang verschwand. Eine Fremde unter anderen. Es war eine Ironie, dachte Laura. Seit sieben Tagen hatte sie auf diesen Augenblick gewartet, und nun, da er gekommen war, schmerzte es irgendwie doch.

Sie blickte auf ihr Uhrtelefon. Bis zur Ankunft der Grenadiner hatte sie eine Stunde totzuschlagen. Sie ging ins Cafe. Leute starrten sie und das Baby an. In einer Welt, die mit alten Leuten vollgestopft war, hatten Säuglinge Seltenheitswert. Selbst völlig fremde Leute wurden weich, machten Gesichter und winkten Loretta mit den Fingern.

Laura setzte sich an einen Tisch, trank den schlechten Kaffee und spürte, wie die Spannung sich löste. Sie war froh, daß ihre Mutter fort war. Stücke ihrer unterdrückten Persönlichkeit stiegen langsam wieder auf und nahmen ihren Platz ein. Wie kontinentale Platten, die sich nach einer Eiszeit, befreit von ihrer Last, wieder emporheben.

Eine junge Frau zwei Tische weiter interessierte sich für Loretta. Ihre Augen leuchteten, und sie lächelte der Kleinen immer wieder breit zu. Laura betrachtete sie verwirrt. Etwas an dem breiten, sommersprossigen Gesicht kam Laura typisch texanisch vor. Ein derbes, kräftiges Gesicht, dachte Laura - genetisches Vermächtnis nüchterner, abgehärteter Frauen in langen Kattunkleidern, die mit der Flinte im Arm auf dem Kutschbock durch Komanchenland gefahren waren und ohne Arzt und Hebamme sechs Kinder geboren hatten. Es zeigte sich sogar durch die grelle Aufmachung der Frau - blutroter, wächserner Lippenstift, dramatisch umrandete Augen, das Haar zu einer Mähne frisiert… Erschrocken begriff Laura, daß die Frau eine Prostituierte sein mußte, wahrscheinlich eine Anhängerin der Kirche von Ischtar.

Der Grenadiner Flug wurde angesagt, eine Verbindung von Miami. Die Tempelprostituierte sprang sofort auf, erregte Röte in den Wangen. Laura ging ihr nach. Sie eilte sofort zur Ankunftshalle.

Laura stand unweit von ihr, als die Fluggäste hereinkamen. Sie katalogisierte die Passagiere mit einem Blick, während sie auf ihre Gäste wartete. Eine Familie vietnamesischer Garnelenfischer. Ein Dutzend schäbiger, aber optimistischer Kubaner mit Einkaufstaschen. Eine Gruppe ernster schwarzer Studenten, mit dem Namen ihrer Verbindung auf den Pullovern. Drei Ölarbeiter von einer Bohrinsel, runzlige alte Männer mit Cowboyhüten und Gummistiefeln.

Plötzlich schob sich die Ischtarfrau an sie heran und sagte: »Sie sind bei Rizome, nicht wahr?«

Laura nickte.

»Dann warten Sie also auf Sticky und den alten Mann?« Ihre Augen funkelten. Es verlieh ihrem gemalten Gesicht eine seltsam puppenhafte Munterkeit. »Hat Reverend Morgan mit Ihnen gesprochen?«

»Sie war bei mir«, sagte Laura. Sie kannte niemanden namens Sticky.

Die Frau lächelte. »Ein niedliches Baby… Oh, da sind sie schon!« Sie hob den Arm über den Kopf und winkte aufgeregt.

Ihre ausgeschnittene Bluse zeigte Ränder eines roten Büstenhalters. »Juhu! Sticky!«

Ein altmodischer Rastafarier, dessen Haare zu hundert Rattenschwänzen zusammengedreht war, bahnte sich den Weg aus dem Menschenstrom. Der alte Mann trug ein langärmeliges Dashiki aus billigem Synthetik über Pluderhosen, dazu Sandalen.

Sein junger Gefährte trug eine Windjacke aus Nylon, Sonnenbrille und Jeans. Die Frau stürzte auf ihn zu und umarmte ihn. »Sticky!« Der jüngere Mann hob die Kirchenfrau mit unerwarteter drahtiger Kraft in die Höhe und wirbelte sie halb im Kreis herum. Sein dunkles, gleichmäßiges Gesicht blieb ausdruckslos, soweit die Sonnenbrille es zeigte.

»Laura?« Eine Frau war lautlos neben Laura erschienen. Es war Debra Emerson, die bei Rizome Sicherheitsfragen koordinierte. Emerson war eine traurig aussehende Sechzigerin mit feingeschnittenen Zügen und dünnem Haar. Laura hatte oft über das Netz mit ihr gesprochen und war ihr einmal in Atlanta begegnet.

Sie tauschten eine kurze förmliche Begrüßung mit Umarmung und Wangenküssen aus, wie es bei Rizome der Brauch war. »Wo sind die Bankiers?« fragte Laura.

Emerson deutete mit einem Nicken zu dem Rastafarier und seinem Gefährten. Laura verließ der Mut. »Das sind sie?«

»Diese karibischen Kleinstaatenbankiers richten sich nicht nach unseren Standards«, sagte Emerson.

»Wissen Sie, wer diese Frau ist? Bei welcher Gruppe sie ist?«

»Kirche von Ischtar«, sagte Emerson. Sie schien nicht glücklich darüber zu sein. Nun blickte sie in Lauras Gesicht auf. »Wir haben Ihnen aus Gründen der Geheimhaltung noch nicht alles gesagt, was Sie wissen sollten. Aber ich weiß, daß Sie nicht naiv sind. Sie haben gute Netzverbindungen, Laura. Sie müssen wissen, wie die Dinge in Grenada stehen.«

»Ich weiß, daß Grenada ein Steuerparadies und Zufluchtsort für Datenpiraten ist«, sagte Laura. Sie war nicht sicher, wie weit sie gehen durfte.

Debra Emerson war einmal eine ziemlich große Nummer bei der CIA gewesen, als es noch eine CIA gegeben hatte und ihre Leute noch in Mode gewesen waren. Heutzutage hatte Geheimdienstarbeit ihren Glanz verloren. Emerson zeigte den Ausdruck einer Frau, die still gelitten hat, eine Art Durchsichtigkeit um die Augen. Sie bevorzugte graue Cordhosen und langärmelige Blusen in unauffälligen Beige- und Brauntönen.

Der alte Rastafarier kam lächelnd herangewatschelt. »Winston Stubbs«, sagte er. Er hatte den Tonfall der Karibik, weiche Vokale, gebrochen durch spröde britische Konsonanten. Er schüttelte Laura die Hand. »Und Sticky Thompson, das heißt, Michael Thompson.« Er wandte sich um. »Sticky!«

Sticky kam herüber, einen Arm um die Mitte des Kirchenmädchens gelegt. »Ich bin Laura Webster«, sagte Laura.

»Wissen wir«, sagte Sticky. »Dies ist Carlotta.«

»Ich bin ihre Verbindungsperson«, sagte Carlotta munter. Sie stieß mit beiden Händen ihre Mähne zurück, und Laura sah ein tätowiertes Ankh-Symbol an ihrem Handgelenk. »Habt ihr viel Gepäck mitgebracht? Ich habe ein Elektromobil draußen stehen.«

»Ich - und ich - haben Geschäfte auf der Insel«, erklärte Stubbs. »Wir werden später am Abend in Ihr Ferienheim kommen, vielleicht rufen Sie doch vorher an, gut?«

»Wenn Sie es so wünschen, Mr. Stubbs«, sagte Emerson, bevor Laura antworten konnte.

Stubbs nickte. »Später.« Die drei nahmen einen Gepäckkarren und gingen.

Laura sah ihnen verblüfft nach. »Sollen wir sie frei herumlaufen lassen?«

Emerson seufzte. »Es ist eine heikle Situation. Ich bedaure, daß Sie umsonst hierher gekommen sind, aber das ist eine ihrer kleinen Gesten.« Sie rückte am Tragegurt ihrer schweren Schultertasche. »Rufen wir ein E-Mobil.«

 

Nach ihrer Ankunft verschwand Emerson im Konferenzraum des Ferienheims. Gewöhnlich aßen Laura und David im Speiseraum, wo sie mit den Gästen zusammensein konnten. An diesem Abend aßen sie jedoch mit Emerson in ihrer Wohnung im zweiten Turmgeschoß; sie taten es mit einem unbehaglichen Gefühl von Verschwörertum.

David deckte den Tisch. Laura nahm die zugedeckten Schüsseln mit Chili Rellenos und Spanischem Reis vom Tablett. David hatte Gesundheitskost.

»Ich möchte so offen und geradeheraus mit Ihnen sein, wie ich nur kann«, murmelte Emerson. »Inzwischen müssen Sie sich über die Natur ihrer neuen Gäste klargeworden sein.«

»Ja«, sagte David. Er war alles andere als glücklich darüber.

»Dann können Sie die Notwendigkeit geeigneter Sicherheitsmaßnahmen verstehen. Selbstverständlich vertrauen wir auf Ihre und Ihres Personals Verschwiegenheit.«

David lächelte ein wenig. »Das ist schön.«

Emerson machte ein besorgtes Gesicht. »Der Zentralausschuß hat diese Konferenz seit einiger Zeit geplant. Die Europäer, die bei Ihnen wohnen, sind keine gewöhnlichen Bankleute. Sie sind von der EFT-Commerzbank, Luxemburg. Und morgen abend wird eine dritte Gruppe eintreffen. Die Yung Soo Chim Islamische Bank von Singapur.«

David hielt inne, die volle Gabel auf halbem Weg zum Mund. »Und die sind auch…?«

»Datenpiraten, ja.«

»Ich verstehe«, sagte Laura. Eine fröstelnde Erregung bemächtigte sich ihrer. »Das ist eine große Sache.«

»Sehr groß«, sagte Emerson. Sie ließ das eine Weile einwirken. »Wir offerierten ihnen sechs mögliche Versammlungsorte. Es hätten ebensogut die Valenzuelas in Puerto Vallarta sein können. Oder die Warburtons in Arkansas.«

»Wie lange wird diese Konferenz nach Ihrer Schätzung dauern?« fragte David.

»Fünf Tage. Höchstens eine Woche.« Sie nippte an ihrem geeisten Tee. »Es liegt an uns, für Sicherheit zu sorgen, sobald die Konferenz begonnen hat. Verstehen Sie? Abgeschlossene Türen, zugezogene Vorhänge. Kein Herein- und Hinausgerenne.«

David runzelte die Stirn. »Wir brauchen Vorräte. Ich werde Mrs. Delrosario Bescheid geben.«

»Ich kann mich um die Vorräte kümmern.«

»Mrs. Delrosario ist sehr eigen, wenn es darum geht, wo sie die Sachen einkauft«, sagte David.

»Ach du lieber Gott«, sagte Mrs. Emerson. »Nun, Vorräte sind nicht das Hauptproblem.« Sie kostete vorsichtig von ihren pfeffergefüllten Rellenos. »Einige der Teilnehmer bringen möglicherweise ihre eigenen Vorräte mit.«

David war verblüfft. »Sie haben Angst, unsere Speisen zu essen? Sie denken, wir würden sie vergiften.«

»Hören Sie, es ist ein Zeichen ihres besonderen Vertrauens in Rizome, daß die drei Banken sich bereit erklärt haben, überhaupt hier eine Konferenz abzuhalten. Nicht uns mißtrauen sie, sondern einander.«

David war alarmiert. »Worauf lassen wir uns da ein? Wir haben hier ein Kleinkind! Von unserem Personal ganz zu schweigen.«

Emerson sah verletzt aus. »Würde Ihnen wohler sein, wenn das Ferienheim voll von bewaffneten Werkschutzleuten wäre? Oder wenn Rizome überhaupt bewaffnete Werkschutzleute hätte? Wir können diese Leute nicht mit Gewalt konfrontieren, und wir sollten es auch nicht versuchen. Darin liegt unsere Stärke.«

»Mit anderen Worten, weil wir harmlos sind, wird man uns nichts tun«, sagte Laura.

»Wir wollen Spannung abbauen. Wir haben nicht die Absicht, diese Piraten festzunehmen, abzuurteilen, auszuschalten. Wir haben uns für den Weg der Verhandlungen entschieden. Das ist eine moderne Lösung. Sie hat sich beim Abbau des Wettrüstens bewährt. Sie hat sich in der Dritten Welt bewährt.«

»Mit Ausnahme Afrikas«, sagte David.

Emerson zuckte die Achseln. »Es ist ein langfristiges Bemühen. Der alte Ost-Westkonflikt, der Gegensatz zwischen Norden und Süden… das waren beides alte Streitfragen, die wir von unseren Vorläufern übernehmen mußten. Aber jetzt sehen wir uns einer wahrhaft neuzeitlichen Herausforderung gegenüber. Diese Konferenz ist ein Teil davon.«

David sah sie überrascht an. »Kommen Sie, es sind keine Verhandlungen über Atomwaffen. Ich habe von diesen Datenräubern gelesen. Das sind Schlafsackpiraten, schundige Profithaie, die in der Welt kein Gewicht haben. Mögen sie sich Bankiers nennen und dreiteilige Anzüge tragen, mögen sie Privatjets fliegen und in den Wäldern der Toskana auf Wildschweinjagd gehen, sie bleiben miese und charakterlose Profitmacher.«

»Das ist eine durchaus richtige Einstellung«, sagte Emerson. »Aber unterschätzen Sie nicht die Möglichkeiten, die die Steueroasen ihnen bieten. Bisher sind sie bloß Parasiten. Sie stehlen Software, sie schmuggeln Raubkopien von Videos und CDs auf den Markt, sie sammeln Daten, wo sie sie bekommen können, ohne sich um Datenschutzgesetze zu kümmern. Das sind lästige Verdrießlichkeiten, aber das System kann sie verkraften. Wie sieht es jedoch mit dem Potential aus? Es gibt potentielle Schwarze Märkte für Gentechnik, Organverpflanzung, neurochemische Erzeugnisse - für eine Fülle von modernen High-Tech-Produkten. Hacker, die im Netz ihr Unwesen treiben, sind schlimm genug, aber was geschieht, wenn die Möglichkeiten der Gentechnik von skrupellosen Geschäftemachern ausgebeutet werden?«

David schauderte. »Also, das darf nicht zugelassen werden.«

»Aber diese Steueroasen sind souveräne Nationalstaaten«, sagte Emerson. »Eine kleine Drittweltnation wie Grenada kann durch den lockeren Umgang mit neuen Techniken eine Menge Geld verdienen. So ein Staatswesen mag die Hoffnung hegen, ein Zentrum der Innovation zu werden, geradeso wie die Cayman-Inseln und Panama durch entsprechend weitherzige Gesetzgebung zu finanziellen Zentren geworden sind. Effektive Gesetze und Verordnungen werden oft als eine Last empfunden, und multinationale Unternehmen sind immer versucht, sich derartigen Einschränkungen zu entziehen. Was wird aus Rizome, wenn unsere Konkurrenten ihre Firmensitze in solche Länder verlegen, um den einschränkenden Bestimmungen und Überwachungsmechanismen im Inland zu entgehen?«

Sie ließ die beiden eine Weile darüber nachdenken. »Und es gibt tiefergehende Fragen, welche die ganze Struktur der modernen Welt beeinflussen. Was geschieht, wenn die Zukunftsindustrien mit ihren Vorreiterfunktionen in die Hände von Kriminellen fallen? Wir leben auf einer eng gewordenen Welt, und wir brauchen Kontrollen und Steuerungsinstrumente, und sie müssen wirksam sein. Andernfalls sickert Korruption ein.«

»Das sind schwierige Fragen«, sagte David nach längerer Überlegung. »Von der Warte aus betrachtet, erscheint die Situation hoffnungslos.«

»Die Abrüstungsfrage sah auch einmal hoffnungslos aus«, sagte Emerson. »Aber inzwischen sind die Arsenale verschwunden.« Sie lächelte. Immer dasselbe alte Argument, dachte Laura. Die Generation aus den 50er und 60er Jahren ging seit Ewigkeiten damit hausieren. Vielleicht sahen sie darin eine Rechtfertigung der Tatsache, daß sie noch immer an den Schalthebeln der Macht waren. »Aber die Geschichte bleibt niemals stehen. Die moderne Gesellschaft sieht sich einer neuen zentralen Krise gegenüber. Wollen wir den Weg der Entwicklung zu vernünftigen menschlichen Zielen lenken? Oder soll alles in eine Laissez-faire-Anarchie münden?«

Emerson verputzte ihren letzten Chili Rellenos. »Das sind wichtige Fragen. Wenn wir in einer Welt leben wollen, die wir wiedererkennen können, werden wir darum kämpfen müssen. Wir von Rizome müssen unseren Teil dazu beitragen. Und das tun wir. Hier und jetzt.«

»Das hört sich recht gut an«, sagte David, »aber ich kann mir denken, daß die Piraten es anders sehen.«

Sie lächelte. »Gewiß werden wir ihre Version früh genug zu hören bekommen. Aber vielleicht werden wir den Herrschaften mit ein paar Überraschungen aufwarten können. Die Steueroasen werden auch von multinationalen Unternehmen alten Stils benutzt. Aber eine wirtschaftliche Demokratie ist von anderer Art. Das müssen wir ihnen vor Augen führen. Selbst wenn es für uns ein gewisses Risiko bedeutet.«

David runzelte die Stirn. »Rechnen Sie ernstlich damit, daß sie etwas versuchen werden?«

»Nein. Sollten sie sich schlecht benehmen, werden wir einfach die örtliche Polizei rufen. Es wäre skandalös für uns - schließlich handelt es sich um eine sehr vertrauliche Zusammenkunft -, aber ein schlimmerer Skandal für sie.« Sie legte Messer und Gabel säuberlich nebeneinander auf den Teller. »Wir wissen, daß es ein kleines Risiko gibt. Aber Rizome hat keine Privatarmee. Keine Sicherheitsleute mit Sonnenbrillen und Aktenkoffern, in denen Pistolen und Handgranaten sind. Das ist nicht mehr der Stil.« Sie richtete ihren Blick auf Laura. »Wir müssen für diesen Luxus der Unschuld allerdings bezahlen. Weil wir niemanden haben, der uns unsere Risiken abnimmt. Wir müssen die Gefahr auf die Rizome-Gesellschafter verteilen. Jetzt sind Sie an der Reihe. Das verstehen Sie, nicht wahr?«

Laura dachte darüber nach. »Das Los fiel auf uns«, sagte sie schließlich.

»Genau.«

»Wie das Leben so spielt«, sagte David. Und so war es.

 

Die Unterhändler hätten alle zur gleichen Zeit und zu gleichen Bedingungen im Ferienheim eintreffen sollen, aber soviel Vernunft hatten sie nicht. Statt dessen versuchten sie einander auszustechen.

Die Europäer waren vorzeitig gekommen - es war ihr Versuch, den anderen zu zeigen, daß sie den Rizome-Schiedsrichtern nahestanden und aus einer Position der Stärke verhandelten. Aber sie begannen sich bald zu langweilen und waren mürrisch und voller Argwohn.

Emerson war noch damit beschäftigt, sie zu besänftigen, als die Delegation aus Singapur eintraf. Auch sie bestand aus drei Unterhändlern: einem betagten Chinesen namens Mr. Shaw und zwei malaiischen Landsleuten. Mr. Shaw war ein kahlköpfiger, wortkarger Mann in einem zu großen Anzug. Die beiden Malaien trugen schwarze, vorn und hinten zugespitzte Songkakhüte mit dem aufgenähten Firmenzeichen der Islamischen Bank Yung Soo Chim. Die Malaien waren Männer mittleren Alters, sehr nüchtern, sehr würdevoll, aber nicht wie Bankiers, sondern wie Soldaten. Sie hielten sich sehr gerade, und ihre Augen waren in ständiger Bewegung - Sie brachten Berge von Gepäck mit, darunter eigene gesicherte Satellitentelefone und einen Tiefkühlbehälter voll folienversiegelter Fertiggerichte.

Emerson machte die Vorstellungen. Karageorgiu funkelte aggressiv, Shaw gab sich hölzern und hochmütig. Die Begleiter schienen bereit, sich im Ringkampf miteinander zu messen. Emerson geleitete die Delegation aus Singapur hinauf zum Konferenzraum, wo sie telefonieren und zu Hause melden konnten, daß sie heil und ganz angekommen waren.

Niemand hatte die Grenadiner seit ihrer Ankunft am Tag zuvor gesehen. Trotz ihrer vagen Ankündigung hatten sie sich nicht im Ferienheim gemeldet. Zeit verging. Die anderen erblickten darin eine vorsätzliche Beleidigung und ärgerten sich bei ihren Getränken. Endlich trennten sie sich zum Abendessen. Die Singapurer aßen ihre mitgebrachte Nahrung in ihrem Zimmer. Die Europäer beschwerten sich energisch über die barbarische Tex-Mex-Küche. Mrs. Delrosario, die sich selbst übertroffen hatte, war den Tränen nahe.

Endlich, nach Einbruch der Dunkelheit, tauchten die Grenadiner auf. Laura und Mrs. Emerson hatten sich bereits ernstlich Sorgen gemacht. Als Gastgeberin begrüßte Laura die beiden im Foyer. »Es freut mich, Sie zu sehen. Gab es irgendwelche Schwierigkeiten?«

»Nein«, sagte Winston Stubbs und zeigte sein künstliches Gebiß in einem sonnigen Lächeln. »Ich - und ich - waren in der Stadt, wissen Sie. Und am anderen Ende der Insel.« In einem Andenkenladen hatte der alte Rastafarier einen Cowboyhut erstanden und auf seine graue, schulterlange Rattenschwanzfrisur gesetzt. Er trug Sandalen und ein exklusives Hawaiihemd.

Sein Gefährte, Sticky Thompson, hatte einen neuen Haarschnitt. Seine Kleidung bestand aus einer langen Hose, langärmeligem Hemd und Sakko, und so sah er beinahe wie ein Rizome-Gesellschafter aus. Aber er konnte seine Natur nicht gänzlich verleugnen; sein Aussehen war beinahe aggressiv konventionell. Carlotta, das Kirchenmädchen, trug ein ärmelloses scharlachrotes Leibchen, einen kurzen Rock und schweres Make-up. Auf ihre bloße, sommersprossige Schulter war ein überlaufender Kelch tätowiert.

Laura stellte den Grenadinern ihren Ehemann und das Heimpersonal vor. David schenkte dem alten Piraten sein bestes Gastgeberlächeln: freundlich und tolerant, hier bei Rizome sind wir alle bloß gewöhnliche Leute. Vielleicht übertrieb er es ein wenig, weil Winston Stubbs geradezu den Inbegriff des Piraten verkörperte. Liederlich. »Ich begrüße Sie herzlich in unserem Haus«, sagte David. »Und ich hoffe, Sie werden den Aufenthalt bei uns erfreulich finden.«

Der alte Mann schaute skeptisch drein. David gab seine Förmlichkeit auf. »Frisch vor dem Wind«, sagte er versuchsweise.

»Frisch vor dem Wind«, sagte Winston Stubbs sinnend. »Hab das seit vierzig Jahren nicht gehört. Sie mögen diese alten Reggae-Alben, Mr. Webster?«

David lächelte. »Meine Eltern spielten sie, als ich ein Kind war«.

»Ah, verstehe. Das sind Doktor Martin Webster und Grace Webster aus Galveston.«

»Richtig«, sagte David. Sein Lächeln verblich.

»Sie entwarfen dieses Ferienheim«, sagte Stubbs. »Sandbeton, erbaut mit Material vom Strand, nicht?« Er musterte David von oben bis unten. »Das Geheimnis ist die richtige Mischtechnik. Wir könnten sie auf den Inseln gebrauchen, Mann.«

»Danke«, sagte David. »Das ist sehr schmeichelhaft.«

»Wir könnten auch jemand für Public Relations gebrauchen«, sagte Stubbs und grinste schief zu Laura hin. Das Weiße in seinen Augen war rotgeädert, wie rissige Murmeln. »Unser Ruf könnte eine Politur vertragen. Ich - und ich - stehen unter Druck von babylonischen Ludditen.«

»Versammeln wir uns alle im Konferenzraum«, sagte Emerson. »Es ist noch früh, noch Zeit genug für ein Gespräch.«

 

Die Delegationen stritten zwei volle Tage lang. Laura nahm als Debra Emersons Sekundantin an den Konferenzzusammenkünften teil, und bald wurde ihr klar, daß Rizome ein gerade noch geduldeter Mittler war. Die Datenpiraten zeigten nicht das geringste Interesse daran, neue Karrieren als rechtlich denkende Mitglieder der postindustriellen Weltwirtschaft zu beginnen.

 

Sie waren zusammengekommen, um sich mit einer Bedrohung auseinanderzusetzen.

Alle drei Piratengruppen wurden erpreßt.

Die Erpresser, wer sie auch sein mochten, zeigten gute Kenntnis und Beherrschung des Datengeschäfts und seiner Dynamik. Sie hatten die Spaltungen und Rivalitäten zwischen den verschiedenen Steueroasen geschickt ausgenutzt, eine Bank bedroht, dann das erpreßte Geld bei einer anderen angelegt. Die Steueroasen, denen an Publizität zuallerletzt gelegen war, hatten die Angriffe vertuscht. Über die Natur der räuberischen Übergriffe äußerten sie sich nur unbestimmt. Sie fürchteten, daß ihre Schwächen publik werden könnten. Außerdem war nicht zu übersehen, daß sie einander verdächtigten.

Laura hatte den wahren Umfang und die Art und Weise der Operationen, die von den Steueroasen aus abgewickelt wurden, bis dahin nicht gekannt, aber sie saß still dabei, lauschte und beobachtete und lernte rasch dazu.

Die Piraten kopierten und synchronisierten kommerzielle Videobänder zu Hunderttausenden und verkauften sie auf den schlecht überwachten Märkten der Dritten Welt. Und ihre Mannschaften von Programmierern und Softwarespezialisten fanden einen aufnahmefähigen Markt für Computerprogramme aller Art, die, ihres Urheberrechtsschutzes beraubt, günstig angeboten werden konnten. Diese Art von Piraterie war nichts Neues; sie ließ sich bis in die Frühzeit der Informationsindustrie zurückverfolgen.

Aber Laura hatte nie begriffen, welche Gewinne mit der Umgehung der Urheberrechte und der Datenschutzgesetze in den entwickelten Ländern gemacht werden konnten. Zehntausende von Unternehmen bewahrten in ihren Datenspeichern umfangreiche Personalakten, Buchhaltungsunterlagen und Kreditverträge. In der vernetzten Wirtschaft konnte kein größeres Unternehmen ohne den dadurch gegebenen raschen Zugriff auf alle innerbetrieblichen Informationen bestehen. Im allgemeinen wurde dieses Datenmaterial von den Unternehmen nach den Vorschriften der Datenschutzgesetze nach Ablauf einer bestimmten Frist gelöscht.

Aber ehe dies geschah, gelangten große Mengen des Materials in den Besitz von Datenhaien, sei es durch Bestechung von Angestellten, durch illegales Anzapfen von Datenverbundsystemen oder durch regelrechte kommerzielle Spionage. Rechtschaffene Unternehmen arbeiteten mit spezialisierten Sektoren von Fachwissen, aber die Datenhaie machten es sich zur Aufgabe, Material jeglicher Art zu sammeln und in ihre Speicher zu laden. Der Zugriff auf die nach Sachgebieten geordneten Daten war einfach, und ihre Datenspeicher waren riesig und wuchsen weiter.

Auch fehlte es ihnen nicht an Kunden. So waren zum Beispiel Kreditinstitute darauf angewiesen, schlechte Risiken zu vermeiden und säumige Schuldner zu verfolgen. Versicherer hatten ähnliche Probleme. Marktforscher hungerten nach genauen Daten über Einzelpersonen. Gleiches galt für Spendensammler. Spezialisierte Anschriftenverzeichnisse fanden einen expandierenden Markt. Zeitungsverlage und Journalisten zahlten für Subskriptionslisten und gezielte Hintergrundinformationen: Ein heimlicher Anruf bei einer illegalen Datenbank konnte Gerüchte erhärten und Fakten liefern, die von Regierungen, Parteien und Organisationen unterdrückt wurden.

Private Sicherheitsagenturen waren in der Dritten Halbwelt zu Hause. Seit dem Zusammenbruch der Geheimdienstapparate des Kalten Krieges gab es Legionen von alternden, demobilisierten Agenten, die sich mühsam im privatwirtschaftlichen Sektor durchschlugen. Eine abgeschirmte Fernsprechleitung zu den illegalen Datenbanken war ein Segen für einen Privatdetektiv. Datenhaie kauften oder stahlen Informationen, sammelten und stellten sie nach Bedarf zusammen, um sie wieder zu verkaufen - als ein neues und unheimliches Ganzes. So arbeiteten sie sich allmählich zum Status eines Orwellschen Großen Bruders empor.

Sie machten ein Geschäft aus dem Sammeln, Sichten, Ordnen und Katalogisieren von Daten - wie jede andere moderne kommerzielle Datenbank. Mit dem Unterschied, daß die Piraten räuberisch waren. Wenn sie konnten, verschafften sie sich nach Art der Hacker Zugang zu anderen Datenbanken und schluckten alles, was sie stehlen konnten, ohne sich um Urheberrechte zu kümmern.

Anders als altmodische Schmuggler brauchten die Datenpiraten ihre Beute niemals selbst in die Hände zu nehmen. Datenmaterial hatte keine Substanz. Die EFT-Commerzbank zum Beispiel war eine eingetragene und legitime Gesellschaft in Luxemburg. Ihr illegales Nervenzentrum war sicher verstaut im türkischen Nordteil Zyperns. Das gleiche galt für die Singapurer; sie hatten die ehrenwerte Tarnung einer seriösen Geschäftsadresse in der Bencoolen Street, während die Maschinerie fröhlich auf Nauru summte, einem souveränen pazifischen Inselstaat mit einer Bevölkerung von 12.000 Menschen. Die Grenadiner ihrerseits verzichteten auf derartige Tarnungen; sie setzten sich in ihrer Heimat unverfroren durch.

Alle drei Gruppen waren zugleich Finanzinstitute, die am normalen Bankgeschäft teilnahmen. Das kam ihnen bei der Geldwäsche und zur Bereitstellung notwendiger Bestechungsgelder zustatten. Seit der Erfindung elektronischer Geldüberweisungen war das Geld selbst zu einer Form von Datenmaterial geworden. Ihre jeweiligen Wirtsregierungen waren nicht geneigt, ihre Aktivitäten genauer zu untersuchen.

Also, dachte Laura, waren die grundlegenden Arbeitsprinzipien klar genug. Aber sie erzeugten nicht Solidarität, sondern bittere Rivalität.

Während der hitzigeren Phasen der Diskussion kam es zu einem nahezu ungehemmten Austausch von Namen, denn die Abstammungslinien der illegalen Datenbanken beschwerten sie mit einem lästigen und bisweilen peinlichen Erbe. In diesen gelegentlichen Ausbrüchen von Offenheit kamen solch schwerwiegende und peinliche Tatsachen gleich gruppenweise wie Wale an die Oberfläche und bliesen Dampf ab, während Laura staunend dabeisaß.

Die EFT-Commerzbank, so erfuhr sie, hatte ihre Wurzeln hauptsächlich in den alten Heroin-Vertriebsnetzen Südfrankreichs und der korsischen Schwarzen Hand. Später waren diese primitiv organisierten Unterweltoperationen von ehemaligen französischen Agenten, die der ›La Piscine‹ entstammten, der legendären korsischen Schule für paramilitärische Saboteure, modernisiert worden. Diese einstigen Spezialkommandos, traditionell zuständig für handgreifliche Spionageaufgaben, fanden dank ihrer Ausbildung ganz natürlich den Weg in die Unterwelt, nachdem die französische Regierung sie von der Gehaltsliste gestrichen hatte.

Zusätzliche Muskeln kamen von der ultralinken französischen Terroristenszene, die ihre Bombenanschläge auf Eisenbahnzüge, Wirtschaftskapitäne und Politiker aufgegeben hatte, um am Datenspiel teilzunehmen, aber auch von rechten Aktionsgruppen, die des Niederbrennens von Synagogen überdrüssig waren. Weitere Verbündete kamen aus den kriminellen Sippen der türkischen Minderheit in Europa, gerissenen Heroinschmugglern, die als Stofflieferanten auch unheilige Verbindungen zur Mafia unterhielten.

Dies alles war in Luxemburg eingeströmt und hatte sich dort seit zwanzig Jahren wie eine Art gräßliches Aspik niedergelassen. Inzwischen hatte sich eine Fassade von Respektabilität gebildet, und die EFT-Commerzbank bemühte sich, ihre Vergangenheit zu verleugnen.

Die anderen waren nicht geneigt, es den Luxemburgern leicht zu machen. Aufgereizt von Winston Stubbs, der sich des Vorfalls erinnerte, mußte Karageorgiu zugeben, daß ein Mitglied der türkischen ›Grauen Wölfe‹ einst einen Papst angeschossen hatte.

Karageorgiu verteidigte sich damit, daß er erklärte, er und seine Freunde hätten damit nichts zu schaffen gehabt; es habe sich nach seinen Erkenntnissen um eine geschäftliche Angelegenheit gehandelt, nämlich einen Racheakt für allzu unchristliches Gebaren des korrupten vatikanischen Geldinstituts Banco Ambrosiano. Die Banco Ambrosiano, so erzählte er, sei eine von Europas ersten echten ›Untergrundbanken‹ gewesen, bevor das gegenwärtige System eingeführt worden sei. Damals in der Glanzzeit der terroristischen Roten Brigaden hätten in Italien eben andere Bedingungen geherrscht.

Überdies, fügte der wohlinformierte Karageorgiu hinzu, habe der türkische Attentäter Papst Johannes Paul II. nur verwundet, und dieser habe dem Reuigen sogar verziehen.

Obwohl er als Grieche keine Ursache habe, sich ausgerechnet für die Türken einzusetzen, müsse er sagen, daß deren Verhalten sich damals sehr vorteilhaft von dem der Mafia unterschieden habe, die über die Missetaten der Banco Ambrosiano so verärgert gewesen sei, daß sie Papst Johannes Paul I. mausetot vergiftet habe.

Laura glaubte nur wenig davon - sie bemerkte, daß Mrs. Emerson still in sich hineinlächelte, aber es war deutlich, daß die anderen Piraten weniger Zweifel daran hatten. Die Geschichte paßte genau in den volkstümlichen Mythos ihrer eigenen Unternehmen. Sie schüttelten den Kopf in trauriger Nostalgie. Sogar Mr. Shaw sah beeindruckt aus.

Die Vorläufer der Islamischen Bank waren ähnlichen Kalibers. Die Syndikate der Triaden waren ein beherrschender Faktor. Die Triaden waren nicht nur kriminelle Bruderschaften, sondern hatten immer auch eine politische Seite, und das bereits seit ihren Ursprüngen als Rebellen gegen die Mandschudynastie im China des 17. Jahrhunderts.

Die Triaden hatten sich die Jahrhunderte mit Prostitution, Glücksspiel und Opiumhandel vertrieben, mit gelegentlichen Unterbrechungen zu Revolutionszwecken, wie etwa bei der Gründung der Chinesischen Republik im Jahre 1912. Aber nachdem die Volksrepublik Hongkong und Taiwan absorbiert hatte, waren ihre Reihen mächtig angeschwollen. Viele unverbesserliche Kapitalisten waren nach Malaysia, Saudi Arabien und dem Iran geflohen, wo der Ölreichtum noch immer üppig sprudelte. Dort verkauften sie Sturmgewehre und von der Schulter abzuschießende Luftabwehrraketen an kurdische Separatisten und afghanische Mudjaheddin, deren blutgetränkte Äcker von Schlafmohn und Cannabis strotzten. Und die Triaden warteten mit furchtbarer Geduld auf den Zusammenbruch der neuen Roten Dynastie.

Nach Karageorgiu hatten die Geheimgesellschaften der Triaden niemals den Opiumkrieg von 1840 vergessen, durch den die Briten der chinesischen Bevölkerung vorsätzlich und zynisch das schwarze Opium aufgedrängt hatten. Die Triaden, so behauptete er, hätten planmäßig den Heroingebrauch im Westen gefördert, um dort die Moral auszuhöhlen.

Mr. Shaw räumte ein, daß solch eine Handlungsweise nur ein Akt der Gerechtigkeit sein könnte, aber er wies die Unterstellung zurück. Außerdem, so erklärte er, sei Heroin im Westen nicht mehr gefragt. Der Drogen konsumierende Bevölkerungsteil sei mit dem Überalterungsprozeß der Gesamtbevölkerung geschrumpft, und neuzeitliche Drogenkonsumenten seien mehr verfeinert. Sie zögen nicht nachweisbare neurochemische Drogen den pflanzlichen Extrakten vor. Diese neuro-chemischen Drogen würden heutzutage in den HighTech-Labors der Karibik gebraut.

Diese Anschuldigung verletzte Winston Stubbs. Der Rastafarier-Untergrund habe niemals harte Drogen begünstigt. Die Substanzen, die sie herstellten, seien heilig wie Kommunionwein und dienten als Hilfsmittel in der ›I-tal Meditation‹.

Karageorgiu lachte geringschätzig. Er kannte die wahren Ursprünge des Grenada-Syndikats und zählte sie genußvoll auf. Kokainbesessene Kolumbianer, die in gepanzerten, mit Kalaschnikows vollgestopften Lastwagen durch die Straßen von Miami kreuzten. Heruntergekommene kubanische Bootsdiebe, gesprenkelt mit Gefängnistätowierungen, die für eine Zigarette morden würden. Skrupellose amerikanische Schwindler wie Robert Vesco, die Kapitalanleger mit Briefkastenfirmen und betrügerischen Versprechungen um ihr Geld gebracht hatten.

Winston Stubbs hörte friedlich zu, bis der Mann geendet hatte, versuchte Lauras Entsetzen jedoch mit skeptischem Stirnrunzeln und mitleidigem Kopfschütteln zu entschärfen. Dann aber widersprach er energisch der letzten Behauptung. Mr. Robert Vesco, so erklärte er indigniert, habe einmal die Regierung von Costa Rica in der Tasche gehabt. Und in dem legendären IOS-Schwindel habe Vesco sechzig Millionen Dollar illegal investierter CIA-Pensionsfonds freigemacht. Diese Handlungsweise zeige, daß Vesco im Grunde seines Herzens rechtschaffen gewesen sei. Es sei keine Schande, ihn zu seinen Vorvätern zu zählen. Der Mann sei eine Eroberernatur gewesen.

Nachdem die Verhandlungen auch am zweiten Tag ergebnislos abgebrochen worden waren, trafen sich Laura und Debra Emerson draußen auf der Seeveranda zu einer privaten Beratung. »Nun«, meinte Emerson in munterem Ton, »die heutigen Diskussionen haben sicherlich die Atmosphäre gereinigt.«

»Wie wenn man den Deckel von einer Senkgrube hebt«, sagte Laura. Eine salzige Brise blies vom Golf herein, und sie erschauerte. »Wir kommen mit diesen Verhandlungen nicht weiter. Es ist offensichtlich, daß diese Leute nicht daran denken, sich zu bessern, geschweige denn ihre Aktivitäten einzustellen. Sie dulden uns kaum. Sie halten uns für Tölpel.«

»Oh, ich finde, wir kommen gut voran«, sagte Emerson. Seit die Gespräche begonnen hatten, war sie in einen etwas glasig wirkenden Zustand professioneller Gelöstheit übergegangen. Sie und Laura hatten beide versucht, über ihre förmliche Mittlerrolle hinaus eine Art Vertrauensbasis herzustellen, wie sie Rizome als postindustrielle Gesellschaft zusammenhielt. Laura war erfreut, daß Emerson die Prinzipien der Gesellschaft ernst nahm.

Es war auch gut, daß der Zentralausschuß Lauras Informationsbedürfnis anerkannt hatte. Eine Weile hatte sie befürchtet, daß der Ausschuß versuchen würde, Sicherheitsmaßnahmen einzuführen, und daß sie gezwungen sein würde, energische Vorstellungen zu machen. Statt dessen hatte man sie in die Verhandlungen mit einbezogen. Insgesamt keine schlechte Sache und förderlich für die Karriere, zumal sie offiziell noch immer Kinderurlaub hatte. Ihr früherer Verdacht machte sie jetzt schuldbewußt. Sie wünschte sogar, daß Emily Donato ihr nichts gesagt hätte.

Emerson knabberte an einem Praline und blickte über das Wasser hinaus. »Bisher waren es nur Scharmützel, reines Imponiergehabe. Aber bald werden sie zur Sache kommen. Der kritische Punkt sind ihre Erpresser. Mit unserer Hilfe und ein wenig Anleitung werden sie sich zur Selbstverteidigung zusammenschließen.«

Eine Möwe sah, daß Emerson aß. Sie segelte heran und hielt sich hoffnungsvoll flatternd über ihr und etwas außerhalb des Geländers in der Luft. Ihre Augen blitzten. »Zusammenschließen?« fragte Laura.

»Es ist nicht so schlimm, wie es sich anhört, Laura. Was die Datenpiraten gefährlich macht, ist die Kleinheit ihrer Organisationsstruktur und die Schnelligkeit ihrer Reflexe. Eine große, zentralisierte Gruppe wird bürokratisch.«

»Meinen Sie?«

»Sie haben Schwächen, die wir nicht haben«, sagte Emerson. Sie brach ein Stück von ihrem Praline und beobachtete den segelnden Vogel. »Die Hauptschwäche krimineller Gruppen ist der ihnen innewohnende Mangel an Vertrauen. Deshalb verlassen sich so viele von ihnen auf die Blutsbande von Familien. Besonders Familien aus gering geachteten ethnischen Minderheiten - ein doppelter Grund, gegen die Außenwelt zusammenzuhalten. Aber eine Organisation, die sich nicht auf die freiwillige Loyalität ihrer Mitglieder verlassen kann, ist gezwungen, sich auf Organisationsstrukturen zu verlassen. Auf industrielle Methoden.«

Sie lächelte. »Und das bedeutet Regeln, Bestimmungen, strenge Hierarchien. Gewalt ist nicht Rizomes Stärke, Laura, aber wir verstehen etwas von Organisationsstrukturen. Zentralisierte Bürokratien beschützen immer den Status quo. Sie sind für Neuerungen nicht zu haben. Sie empfinden Neuerungen als Bedrohung. Es ist nicht so schlimm, daß sie uns durch Diebstahl Schaden zufügen; das eigentliche Problem entsteht, wenn sie schneller und wendiger denken und handeln, als wir es können.«

»Je größer, desto schwerfälliger, ist das die Strategie?« sagte Laura. »Was ist aus dem guten alten Prinzip ›teile und herrsche‹ geworden?«

»Es geht hier nicht um Politik, sondern um Technik. Nicht ihre Macht bedroht uns, sondern ihr Einfallsreichtum. Kreativität kommt von kleinen Gruppen. Kleine Gruppen bescherten uns das elektrische Licht, das Automobil, den Personalcomputer. Bürokratien gaben uns Atomkraftwerke, Verkehrsstaus und Kabelfernsehen. Die ersten drei veränderten alles. Die drei letzteren sind heute nur noch Erinnerung.«

Drei weitere Möwen tauchten über ihnen auf. Sie kreisten anmutig in engen Schleifen, ohne einander zu berühren, und kreischten mißtönend. Laura sagte: »Meinen Sie nicht, daß wir zu energischeren Maßnahmen greifen sollten? Wie zum Beispiel ihrer Verhaftung?«

»Ich kann Ihnen nicht verdenken, daß Sie mit dieser Überlegung kommen«, sagte Emerson. »Aber Sie wissen nicht, was diese Leute überlebt haben. Sie gedeihen durch Verfolgung, es eint sie. Es erzeugt eine Kluft zwischen ihnen und der Gesellschaft, es bewirkt nur, daß sie ohne die geringsten Gewissensbisse ihrer räuberischen Tätigkeit nachgehen. Nein, Laura, wir müssen sie wachsen lassen, wir müssen erreichen, daß sie am Status quo interessiert sind. Es ist ein langfristiges Ringen. Es kann Jahrzehnte dauern. Ein Leben lang. Genau wie der Abrüstungsprozeß.«

»Mmm«, machte Laura. Die Überlegung gefiel ihr nicht besonders. Die ältere Generation verbreitete sich ständig über die Abrüstung. Als ob die Abschaffung von Bomben und Raketen, die geeignet waren, die Welt zu zerstören, übermenschliche Genialität erfordert hätte. »Nicht jeder teilt diese Philosophie, denke ich. Oder diese Datenhaie würden jetzt nicht hier sein und sich in den Haaren liegen.« Sie dämpfte ihre Stimme. »Wer, meinen Sie, erpreßt sie? Einer von ihnen, vielleicht? Diese Singapurer… sie sind so hochmütig und geringschätzig. Sie sehen ziemlich verdächtig aus.«

»Könnte sein«, sagte Emerson gleichmütig. »Wer die Erpresser auch sind, es handelt sich um Profis.« Sie warf den Möwen den Rest ihres Pralines zu und rieb sich fröstelnd die Oberarme. »Es wird kühl.«

Sie gingen hinein. Im Ferienheim hatte sich eine Art Routine herausgebildet. Die Singapurer zogen sich nach den Verhandlungen stets in ihre Räume zurück. Die Europäer unterhielten sich im Konferenzraum und trieben die Telekommunikationsrechnungen des Ferienheims in die Höhe.

Die Grenadiner wiederum schienen am Ferienheim selbst interessiert zu sein. Sie hatten es vom Turm bis zum Kellergeschoß untersucht und schmeichelhafte Fragen über Computerentwürfe und Sandbeton gestellt. Durch dieses Interesse schienen sie Gefallen an David gefunden zu haben. Jeden Abend verbrachten sie mit ihm in der Bar.

Laura half beim Abspülen und Aufräumen in der Küche. Das Personal hielt sich gut, trotz der Sicherheitserfordernisse. Sie fanden es aufregend, echte, lebendige Verbrecher im Haus zu haben. Mrs. Rodriguez hatte den Gästen bereits passende Spitznamen angehängt: Los Opios, Los Morfinos und, natürlich, Los Marijuanos. Winston Stubbs, El Jefe de los Marijuanos, war ein Favorit des Personals. Er sah nicht nur am ehesten wie ein echter Pirat aus, sondern hatte ihnen mehrmals Trinkgeld gegeben. Die Morfino-Europäer hingegen waren allgemein in Verschiß.

Debra Emerson war der Namensgebung nicht entgangen: niemand nannte sie anders als ›La Espia‹, und alle stimmten darin überein, daß sie unheimlich sei. Poca loca. Aber sie gehörte zu Rizome, also war es in Ordnung.

Laura war seit drei Tagen nicht joggen gewesen. Ihr Knöchel hatte sich gebessert, aber die erzwungene Einschränkung der Bewegungsfreiheit machte sie nervös und unruhig. Sie brauchte einen Beruhigungstrunk. Sie gesellte sich zu David und den Grenadinern in der Bar.

David stellte seine Musiksammlung zur Schau. Er sammelte alte texanische Popmusik - Western Swing, Blues, Polkas, Conjunto-Grenzballaden. Ein sechzig Jahre altes Conjunto-Band ertönte aus der Lautsprecheranlage der Bar, schnelle Akkordeon-Riffs, untermalt von schrillem Gewinsel. Laura, die mit Synthesizern und russischer Popmusik aufgewachsen war, fand das Zeug noch immer höllisch unheimlich.

Sie schenkte sich ein Glas roten Landwein ein und setzte sich zu den anderen an einen niedrigen Tisch. Der alte Mann saß zusammengesunken in einem Sessel und sah schläfrig aus. Sticky Thompson und die Kirchenfrau saßen zusammen auf einer Couch. Während der Debatten war Sticky sehr lebhaft gewesen, manchmal geradezu überdreht. In seinem Gepäck hatte er eine Thermosflasche mitgebracht, die, wie er behauptete, Acidophilus-Milch enthielt. Von dieser trank er jetzt. Laura fragte sich, was darin sein mochte. Sticky konnte nicht älter als zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig sein, dachte sie. Ein wenig zu jung, um Magengeschwüre zu haben.

Carlotta trank ein Glas Orangensaft. Sie hatte klargemacht, daß sie niemals Kaffee oder Alkohol anrührte. Sie saß in intimer Nähe an Stickys Seite, drückte ihren schwarzbestrumpften Schenkel gegen sein Bein und zupfte an den Locken in seinem Nacken. Carlotta hatte an den Diskussionen nicht teilgenommen, bewohnte aber Stickys Zimmer. Allem Anschein nach war sie von ihm hingerissen.

Der Anblick von Carlotta und Sticky - junge Liebe, abgespielt mit 78 Umdrehungen pro Minute - verursachte Laura Unbehagen. Es war etwas schrecklich Falsches, Schwindelhaftes daran, als ob sie eine einstudierte Romanze aufführten. Sie zog einen Sessel heran und setzte sich zu David.

»Nun, was halten Sie davon?« fragte David.

»Es ist zumindest besser als diese jodelnden Cowboys«, sagte Sticky. Seine bernsteinfarbenen Augen schienen im Widerschein der Lampen zu leuchten. »Aber Sie können nicht sagen, daß es Ihre Wurzeln seien. Das ist Dritteweltmusik.«

»Was Sie nicht sagen«, sagte David. »Es ist texanische Musik, und ich bin Texaner.«

»Was die da singen, ist Spanisch, Mann.«

»Na und? Ich spreche spanisch«, sagte David. »Vielleicht ist Ihnen nicht aufgefallen, daß unser Personal aus Latinos besteht.«

»Oh, das habe ich bemerkt«, sagte Sticky. »Ich habe auch bemerkt, daß Sie oben im zweiten Stock schlafen«, fügte er hinzu und zeigte nach oben, »während Ihr Personal im Untergeschoß neben der Küche wohnt.«

»Und Sie finden das nicht in Ordnung?« erwiderte David aufgebracht. »Würden Sie es besser finden, wenn die alten Leute Treppen steigen müßten? Während wir das Baby hier unten hätten, um unsere Gäste durch nächtliches Geschrei zu stören?«

»Ich sehe, was ich sehe«, erwiderte Sticky. »Sie sagen, keine Lohnsklaven mehr, gleiche Rechte unter dem Dach der großen Mutter Rizome. Alle stimmen ab. Keine Chefs mehr - Koordinatoren. Keinen Vorstand, sondern einen Zentralausschuß. Aber Ihre Frau gibt trotzdem die Befehle, und das Personal kocht und putzt.«

»Gewiß«, warf Laura ein. »Aber nicht für uns, Mr. Thompson. Für Sie.«

»Das ist ein Witz«, sagte Sticky und richtete seinen heißen Blick auf Laura. »Sie plappern nach, was Sie in diesem Public Relations-Kursen an der Universität gehört haben. Diplomatisch, wie Ihre Mutter.«

Darauf wurde es still. »Reg dich ab, Sticky«, murmelte der alte Mann. »Du erhitzt dich, Junge.«

»Ja«, sagte David, noch immer gereizt. »Vielleicht sollten Sie sich mit dieser Milch lieber ein wenig zurückhalten.«

»In dieser Milch ist nichts«, sagte Sticky. Er schob Laura, die ihm am nächsten saß, die Thermosflasche hin. »Probieren Sie.«

»In Ordnung«, sagte Laura impulsiv. Sie nippte von der Milch. Sie war klebrig-süß. Nach einem Schluck gab sie die Thermosflasche zurück. »Das erinnert mich an was. David, hast du Loretta gefüttert?«

David grinste; er bewunderte ihren Mut. »Ja.«

Sie kam zu dem Schluß, daß wirklich nichts in der Milch war außer Zucker. Sie trank von ihrem Wein, um den Geschmack wegzuspülen.

Plötzlich lachte Carlotta auf und löste die Spannung. »Du bist eine Nummer für sich, Sticky.« Sie rieb ihm die Schultern. »Es hat keinen Sinn, auf Herrn und Frau Eheleben herumzuhacken. Sie sind Spießer, das ist alles. Nicht wie wir.«

»Du siehst es noch nicht, Mädchen. Du hast nicht gehört, wie sie oben geredet haben.« Sticky war mehr und mehr in Fahrt geraten und hatte darüber seinen karibischen Akzent verloren. Er klang beinahe wie ein Nachrichtensprecher, dachte Laura. Dieses klare, akzentfreie Fernsehenglisch. Die Sprache des internationalen Kommunikationsnetzes. Sticky nahm Carlottas Hand von der Schulter und hielt sie zwischen seinen Händen. »Die Spießer sind nicht mehr, was sie mal waren. Sie wollen jetzt alles - die ganze Welt. Eine Welt soll es sein. Ihre Welt.« Er stand auf und zog sie mit sich hoch. »Komm mit, Mädchen! Das Bett muß ausgeklopft werden.«

»Buenas noches«, rief David ihnen nach. »Suenos dulces, cuidado con las chinches!« Sticky ignorierte ihn.

Laura schenkte sich Wein nach und leerte das Glas mit einem Zug zur Hälfte. Der alte Mann öffnete die Augen. »Er ist noch jung«, sagte er.

»Ich war unhöflich«, sagte David zerknirscht. »Aber ich weiß nicht, diese alte Platte vom imperialistischen Amerika - sie geht mir auf den Geist. Tut mir leid.«

»Nicht Amerika, nein«, sagte der alte Mann. »Ihr Yankees seid nicht Babylon. Ihr seid heutzutage nur ein Teil davon. Babylon ist multinational.« Er seufzte. »Babylon kommt über uns, wo wir wohnen. Ich weiß, Ihnen gefällt es hier. Ich frage die alten Frauen, sie sagen, auch ihnen gefalle es. Sie sagen, Sie seien nett, Ihr Baby niedlich. Aber wo wächst es auf, dieses Baby? In Ihrer hübschen heilen Welt mit ihren hübschen Einheitsregeln? Sie wird vor alledem nicht weglaufen können. Denken Sie darüber nach. Bevor Sie über uns herfallen.« Er stand auf und gähnte. »Bis morgen, ja? Morgen.« Er ging.

Es wurde still. »Laß uns zu Bett gehen«, sagte Laura endlich. Sie gingen hinauf.

Das Baby schlief friedlich. Laura hatte den Monitor der Kinderwiege mit dem Uhrtelefon verbunden. Sie zogen sich aus und schlüpften ins Bett. »Ein seltsamer alter Kauz, dieser Stubbs«, sagte David. »Voller Geschichten. Er sagte, er sei 1983 in Grenada gewesen, als die US-Marineinfanterie über das Land herfiel. Der Himmel sei voll von Kampfhubschraubern gewesen, die auf alles gefeuert hätten, was zwei Beine hatte. Sie nahmen den Radiosender und spielten Yankee-Popmusik. Die Beach Boys, sagte er. Zuerst dachte ich, er meinte die Marineinfanterie. Beach Boys.«

Laura runzelte die Stirn. »Du läßt dich von ihm beeindrucken, David. Dieser nette alte Sonderling und seine arme kleine Insel. Seine arme kleine Insel beißt ein großes Stück von uns ab. Diese schnoddrige Bemerkung über Mutter - sie müssen Dossiers über uns beide haben, Akten von der Stärke eines Telefonbuches. Und was hältst du von diesem Kirchenmädchen? Dieser Punkt gefällt mir ganz und gar nicht.«

»Wir haben mit Grenada manches gemein«, sagte David. »Galveston war auch einmal ein Piratennest. Der gute alte Jean Lafitte, erinnerst du dich? 1817. Kaperte Schiffe, jo-ho-ho, eine Buddel voll Rum… und so weiter.« David grinste. »Vielleicht könnten wir zwei ein Piratennest gründen? Ein gemütliches kleines, das wir vom Konferenzraum aus betreiben könnten. Wir würden in Erfahrung bringen, wie viele Zähne Stickys Großmutter hat.«

»Du solltest nicht einmal daran denken«, sagte Laura. »Dieses Mädchen, Carlotta. Findest du sie attraktiv?«

Er ließ den Kopf ins Kissen sinken. »Ein wenig«, sagte er. »Klar.«

»Du hast immer zu ihr hingesehen.«

»Ich glaube, sie war high von diesen Kirchenpillen«, sagte er. »Romance. Das Zeug wirkt irgendwie auf eine Frau, gibt ihr dieses Blühende. Selbst wenn es unecht ist.«

»Ich könnte eine von diesen Kapseln nehmen«, sagte Laura. »Ich bin früher schon einmal verrückt nach dir gewesen. Es hat keinen bleibenden Schaden hinterlassen.«

David lachte. »Was ist in dich gefahren? Ich konnte nicht glauben, daß du von dieser Milch trinken würdest. Kannst von Glück sagen, daß du keine kleinen blauen Hunde aus der Wand hüpfen siehst.« Er setzte sich im Bett aufrecht und wedelte mit der Hand. »Wie viele Finger?«

»Vierzig«, sagte sie lächelnd.

»Laura, du bist betrunken.« Er beugte sich über sie und küßte sie. Es war ein angenehmes Gefühl, sein Gewicht zu spüren. Einen warmen, festen, behaglichen Druck. »Gut«, sagte sie. »Gib mir noch zehn.« Sein Gesicht war über ihr, und sie roch den Wein in ihrem eigenen Atem.

Er küßte sie zweimal, dann begann er sie zu liebkosen. Sie legte die Arme um ihn und schloß die Augen. Eine gute, starke, warme Hand. Sie entspannte sich, überließ sich der Stimmung.

Ein hübsches Stück Biochemie, wie die Liebkosungen Lust erzeugten. Die mißtrauische Wachsamkeit, die sie durch den Tag begleitet hatte, verlor sich in dem neuen Gefühl. Sie begann ihn ernsthaft zu küssen, wie er es mochte. Es war gut so, und sie wußte, daß es ihm gefiel.

Jetzt, dachte sie. Ein angenehm festes Hineingleiten. Sicherlich gab es nichts Besseres. Sie lächelte in Davids Gesicht auf.

Dieser Ausdruck in seinen Augen hatte ihr anfangs bisweilen Angst gemacht und sie zugleich erregt. In diesem Ausdruck war der gutmütige, liebe David verschwunden und etwas anderes an seine Stelle getreten. Ein anderer Teil von ihm, ein tierhafter Teil. Etwas, das sie nicht beherrschen und das ihre eigene Beherrschung wegnehmen konnte. So war es in der Frühzeit ihres Verhältnisses gewesen, wild und stark und romantisch, und nicht ganz angenehm. Zu nahe der Ohnmacht, zu nahe dem Schmerz. Zu fremdartig…

Aber nicht heute abend. Sie kamen mühelos in einen guten Rhythmus, der sich wie das Legen von Ziegeln zum Orgasmus aufbaute. Engel legten solche Ziegel in die Wände des Himmels. Ebene eins, Ebene zwei, Ebene drei, beinahe fertig jetzt, und da war es, mit dem Höhepunkt ging die Entspannung durch ihren Körper, und sie stöhnte vor Lust. Er war noch dabei, und sie ließ ihn gewähren, bis auch er kam.

Er wälzte sich auf seine Seite des Bettes, und sie fühlte, wie sein Schweiß auf ihrer Haut abkühlte. Ein gutes Gefühl, intim wie ein Kuß. »Lieber Himmel«, sagte er, ohne etwas Bestimmtes ausdrücken zu wollen, nur als Ausdruck der Erleichterung. Er zog sich die Decke zum Kinn. Er war glücklich, sie waren Liebende, alles war in Ordnung. Bald würden sie schlafen.

»David?«

»Ja, Licht meines Lebens?«

Sie lächelte. »Findest du, daß wir Spießer sind?«

Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf auf dem Kissen und sah sie von der Seite an. »Bist du der Missionarsstellung überdrüssig?«

»Sehr hilfreich. Nein, im Ernst.«

Er hob die Schultern. »Ich weiß es nicht. Wir sind Leute, das ist alles. Wir haben ein Kind und einen Platz auf der Welt… ich weiß nicht, was das bedeutet.« Er gähnte, wälzte sich auf die Seite und legte ein Bein über das ihre. Sie löschte das Licht. Sie sagten nichts mehr, und in ein paar Minuten war er eingeschlafen.

 

Das Baby weckte sie mit Gewimmer. Diesmal gelang es Laura, sich zum Aufstehen zu zwingen. David lag ausgestreckt, halb auf ihrer Hälfte.

Sie tappte hinüber, hob Loretta aus der Wiege, wechselte die Windel. Das mußte ein Zeichen von Spießertum sein, dachte sie mißmutig. Sicherlich hatte die rebellische Avantgarde - Feinde des Systems - es nicht nötig, nachts Windeln zu wechseln.

Sie wärmte Lorettas Babynahrung und versuchte sie mit der Flasche zu beruhigen, aber die Kleine ließ sich nicht trösten. Sie stieß mit den Beinen, drückte den Rücken durch und verzog das kleine Gesicht… Sie war ein sehr gutmütiger Säugling, wenigstens bei Tag, aber wenn sie nachts aufwachte, wurde sie ein Nervenbündel.

Was sie von sich gab, war nicht ihr Hungergeschrei, noch ihr Einsamkeitsgeschrei, sondern ein zittriges, schrilles Geräusch, das irgendwie verriet, daß sie nicht wußte, was sie mit sich anfangen sollte. Laura beschloß, sie auf die Veranda hinauszutragen. Das beruhigte sie gewöhnlich. Und es schien eine angenehme Nacht zu sein. Sie zog ihren Bademantel über.

Ein Dreiviertelmond stand am Himmel. Laura ging barfuß über die taufeuchten Planken. Mondschein auf der Brandung. Es war ein durchsichtiges Leuchten, so schön, daß es beinahe kitschig schien.

Sie ging hin und her, machte begütigende Geräusche, während Lorettas Geschrei allmählich in leises Gewimmer überging. Laura dachte an ihre Mutter. Mütter und Töchter. Diesmal würde es anders sein.

Ein jähes, prickelndes Gefühl kam über sie, verwandelte sich plötzlich in Angst. Sie blickte erschrocken auf und sah etwas Unglaubliches.

Es schwebte summend in der Luft, beschienen vom Mond. Eine Sanduhr, quer durchschnitten von zwei schimmernden Scheiben. Laura schrie laut auf. Die Erscheinung hing einen Augenblick lang dort, wie um sie zu zwingen, an ihre Gegenwart zu glauben. Dann neigte sie sich ein wenig auf die Seite und zog in einem Bogen hinaus zur See. Wenige Minuten später hatte sie das Ding aus den Augen verloren.

Das Baby war zu verschreckt, um zu schreien. Laura hatte es in ihrer Panik unbewußt an sich gedrückt und dadurch und durch ihren Schrei eine Art Urreflex im Baby ausgelöst. Einen Reflex aus der Steinzeit, als vor der bergenden Höhle und außerhalb des schützenden Feuerscheins knurrende Raubtiere schlichen, angelockt von der Witterung von Milch und jungem Fleisch. Ein Zittern schüttelte Laura von Kopf bis Fuß.

Eine der Türen zu den Gästezimmern wurde geöffnet. Das Mondlicht schimmerte auf Winston Stubbs' grauem Haar. Den Rattenschwanzzöpfen eines Schamanen. Er trat heraus auf die Veranda, nur mit Jeans bekleidet. Seine Brust hatte das eingesunkene Aussehen des Alters, aber er war kräftig. Und er war ein anderer.

»Ich hörte einen Schrei«, sagte er. »Was ist los, Kind?«

»Ich sah etwas«, antwortete Laura mit bebender Stimme. »Es erschreckte mich. Verzeihen Sie.«

»Ich war wach«, sagte er. »Hörte das Baby weinen. Wir alten Leute schlafen nicht viel. Ein Vagabund, vielleicht?« Er überblickte den Strand. »Ich brauche meine Brille.«

Der Schock verlor sich. »Ich sah etwas in der Luft«, sagte sie mit etwas festerer Stimme. »Eine Art Maschine, glaube ich.«

»Eine Maschine?« sagte Stubbs. »Kein Gespenst?«

»Nein.«

»Sie sehen aus, als sei ein Gespenst gekommen, Ihnen das Kind wegzunehmen«, sagte Stubbs. »Aber eine Maschine... das gefällt mir nicht. Es gibt Maschinen und Maschinen, wissen Sie… könnte ein Spion sein.«

»Ein Spion?« sagte Laura. Es war eine Erklärung, und sie setzte ihr Gehirn wieder in Tätigkeit. »Ich weiß nicht. Ich habe unbemannte Flugzeuge gesehen, sogenannte Drohnen. Sie werden gelegentlich zum Versprühen von Insektiziden auf Felder verwendet. Aber sie haben Flügel. Sie sind nicht wie fliegende Untertassen.«

»Sie sahen eine fliegende Untertasse?« sagte Stubbs, sichtlich beeindruckt. »Das ist kritisch! Wohin ist sie geflogen?«

»Gehen wir hinein«, sagte Laura fröstelnd. »Seien Sie froh, daß Sie das Ding nicht gesehen haben, Mr. Stubbs.«

»Aber ich sehe etwas«, sagte Stubbs. Er zeigte seewärts, und Laura wandte sich um.

Das Ding kam in einem Bogen rasch auf sie zu. Es schnurrte. Mit hoher Geschwindigkeit fegte es über den Strand, und als es nahe herangekommen war, eröffnete es das Feuer. Ein schnatternder Feuerstoß schlug in Stubbs' Brust und Bauch, warf ihn gegen die Wand. Das fliegende Ding zog seitwärts über das Dach davon, sein Brummen verlor sich in der Dunkelheit. Stubbs rutschte an der Wand herunter und sackte auf die Planken. Seine Rattenschwanzfrisur hing schief. Sie war eine Perücke. Darunter zeigte sich sein kahler Schädel.

Laura hob benommen eine Hand an die Wange. Etwas hatte sie dort gestochen. Sandkörner, dachte sie unbestimmt. Sandkörner, die aus den Einschlaglöchern der Kugeln, die den alten Mann durchschlagen hatten, gespritzt waren. Die Löcher sahen im Mondlicht schwarz aus. Sie waren voll von seinem Blut.