4. Kapitel

 

Eine Stewardess begrüßte sie am Eingang zum. Flughafen Point Salines. Sie marschierten über den schäbigen Teppich zur Gepäckabfertigung. »Wer ist am Draht?« murmelte Laura.

(»Emily«,) sagte die Stimme in ihrem Ohrhörer. (»Ich bin bei euch.«) David hörte auf, an Lorettas Tragtasche herumzufummeln, und hob die Hand zum Ohrhörer, die Lautstärke zu regeln. Seine Augen waren, wie die ihrigen, hinter den golden schimmernden Videobrillen verborgen. Laura fühlte nervös nach ihrer Ausweiskarte und fragte sich, wie die Zollabfertigung sein würde. An den Wänden hingen staubige Plakate von weißen Stränden, einschmeichelnd grinsenden Einheimischen in zehn Jahre alten Modefarben, knalligen Aufschriften in Kyrillisch und japanischer Katakana.

Ein junger, dunkelhäutiger Soldat trat ihnen in den Weg. »Ehepaar Webster?«

»Ja?« Laura fixierte ihn mit der Videobrille, musterte ihn von oben bis unten. Er trug ein Khakihemd und Hosen, einen Gurt mit Pistolentasche, eine Baskenmütze mit Stern und eine Sonnenbrille. Unter den aufgekrempelten Ärmeln glänzte der ebenholzschwarze Bizeps. Er marschierte in seinen schwarzen Schnürstiefeln vor ihnen her. »Hier entlang!« Sie durchschritten rasch die Zollabfertigung, die Köpfe gesenkt, ignoriert von den wenigen, von Übermüdung gezeichneten Reisenden. Bei der Zollkontrolle zeigten sie ihre Ausweiskarten und wurden ohne Aufenthalt durchgewinkt.

»Ihr Gepäck wird später gebracht«, sagte der Begleiter. »Ein Wagen wartet.« Sie verließen das Abfertigungsgebäude durch einen Notausgang und eine rostende Metalltreppe. Dann standen sie im Freien aufrichtiger Erde und atmeten frische Luft. Es war feucht und dunkel, hatte geregnet. Der Wagen war eine weiße Hyundai-Luxuslimousine mit spiegelnden Einwegscheiben. Die Türen sprangen bei ihrer Annäherung auf.

Ihr Begleiter setzte sich ans Lenkrad; Laura und David stiegen mit dem Baby in den Fond. Die Türen schlossen sich wie die stählernen Luken eines Panzers, und der Wagen fuhr an. Die weiche Federung trug sie mit öliger Glätte über den zernarbten und überwachsenen Asphalt. Laura blickte zurück zum Flughafen - Lichtinseln über einem Dutzend Fahrradrikschas und rostzerfressenen manuell gesteuerten Taxis.

Die Klimaanlage hüllte sie in antiseptische Kühle. »Emily, kannst du uns hier drinnen hören?« sagte Laura.

(»Ein wenig Bildstörung, aber Audio ist gut«,) flüsterte Emily. (»Hübscher Wagen, nicht?«)

»Ja«, sagte David. Sie verließen die Flughafenzufahrt und bogen in eine palmengesäumte Fernstraße ein. David beugte sich nach vorn zu ihrem uniformierten Führer. »Wohin fahren wir, amigo?«

»Zu einem sicheren Haus«, sagte der Mann. Er wandte den Kopf und legte einen Ellbogen auf die Rücklehne. »Ungefähr fünfzehn Kilometer. Machen Sie sich's bequem, drehen Sie Ihre großen Yankeedaumen, versuchen Sie harmlos auszusehen.« Er nahm seine dunkle Brille ab.

»He!« sagte David überrascht. »Es ist Sticky!«

Sticky grinste. »Für Sie ›Hauptmann Thompson‹, Bwana.«

Stickys Haut war jetzt viel dunkler, als sie es in Galveston gewesen war. Eine Art Kunstfarbe, dachte Laura. Vielleicht zur Tarnung. Es schien am besten, nichts darüber zu sagen. »Es freut mich, zu sehen, daß Sie in Sicherheit sind«, sagte sie.

Sticky grunzte.

»Wir hatten keine Gelegenheit Ihnen zu sagen«, fuhr Laura fort, »wie sehr wir bedauern, was Mr. Stubbs geschehen ist.«

»Ich hatte zu tun«, sagte Sticky. »Diesen Burschen aus Singapur auf die Spur zu kommen.« Er starrte in Lauras Brille, erkennbar um Haltung bemüht, weil er wußte, daß er durch sie zu den in Atlanta sich abspulenden Videobändern sprach. »Dies wohlgemerkt, während unsere Rizome-Sicherheitsbeauftragte noch wie ein Huhn ohne Kopf herumlief. Die Singapur-Bande lief nach dem Mord als erste davon. Also verfolgte ich sie in der Dunkelheit. Sie rannten vielleicht achthundert Meter die Küste entlang, dann wateten sie hinaus zu einer schönen Yacht, die in sehr bequemer Reichweite wartete. Eine ansehnliche Ketsch; zwei weitere Männer an Bord. Ich habe die Registrierungsnummer.« Er schnaubte. »Gemietet von Mr. Lao Binh Huynh, einem sogenannten ›prominenten vietnamesisch-amerikanischen Geschäftsmann^ der in Houston lebt. Ein reicher Mann, dieser Huynh - besitzt ein halbes Dutzend Lebensmittelgeschäfte, ein Hotel, eine Speditionsfirma.«

(»Sag ihm, wir werden der Sache sofort nachgehen«,) wisperte Emily.

»Wir werden der Sache gleich nachgehen«, sagte David.

»Da kommen Sie ein bißchen spät, Bwana David. Mr. Huynh verschwand vor ein paar Tagen. Jemand holte ihn aus seinem Wagen.«

»Großer Gott«, sagte David.

Sticky starrte mißmutig zum Fenster hinaus. Weitläufige, weißgetünchte Häuser tauchten im Scheinwerferlicht des

Hyundai aus der Dunkelheit auf; die Wände glänzten wie Schellack. Ein einsamer Trunkenbold trollte sich von der Fahrbahn, als der Wagen einmal scharf hupte. Ein verlassener Marktplatz, Blechdächer, nackter Fahnenmast, eine Statue aus der Kolonialzeit, Stücke von zerbrochenen Strohkörben. Vier angebundene Ziegen - ihre Augen leuchteten im Scheinwerferlicht rot wie etwas aus einem Alptraum. »Nichts davon beweist etwas gegen die Bank in Singapur«, sagte Laura.

Sticky war verärgert. »Wer redet von Beweisen? Glauben Sie, wir hätten vor, sie zu verklagen? Wir sprechen von Krieg!« Er hielt inne. »Zu komisch, daß Yankees heutzutage von Beweisen sprechen! Jemand sprengte ihr Schlachtschiff Maine in die Luft, nicht wahr - zwei Monate später überfiel der böse Onkel Sam Kuba. Beweise gab es keine.«

»Nun, das zeigt Ihnen, daß wir unsere Lektion gelernt haben«, sagte David. »Die Invasion Kubas war ein wirklich schlimmer Mißerfolg. Schweinebucht. Eine große Erniedrigung für das imperialistische Yankeetum.«

Sticky sah ihn mit staunender Geringschätzung an. »Ich spreche von achtzehnachtundneunzig, Mann!«

David sah verdutzt aus. »Achtzehnachtundneunzig? Aber das war die Steinzeit.«

»Wir vergessen nicht.« Sticky blickte zum Fenster hinaus. »Sie sind jetzt in der Hauptstadt, Saint George.«

Vielstöckige Mietshäuser, wieder mit diesem seltsamen, plastikähnlich glänzendem Anstrich. Undeutliche, schwärzlich-grünliche Laubmassen drängten sich zwischen die hellen Gebäude am ansteigenden Hang, zottige Palmbüschel wie Rastafarierköpfe. Satellitenantennen und die Skelette von Fernsehantennen überzogen die Dächer. Die Schüsseln toter alter Antennen standen auf den zertrampelten Rasenflächen – Vogelbäder? überlegte Laura. »Das sind regierungseigene Gebäude«, sagte Sticky. »Sozialer Wohnungsbau.« Er zeigte den Hang hinauf. »Das ist Fort George, auf dem Hügel - der Premierminister wohnt da oben.«

Hinter dem Fort blinkten Flugzeug-Warnlichter synchron von drei hohen Sendemasten: Rote Lichter huschten in rasender Schnelligkeit vom Boden aufwärts, als wollten sie sich in die Dunkelheit des interstellaren Raums hinausschleudern. Laura beugte sich hinüber und spähte durch Davids Fenster. Die undeutliche Masse der Festungswälle unter den huschenden Lichtern verursachte ihr Unbehagen.

Laura war über Grenadas Premierminister unterrichtet worden. Er hieß Eric Louison, und seine ›Bewegung des Neuen Jahrtausends‹ regierte Grenada mit einem Einparteiensystem. Louison war über achtzig und zeigte sich kaum noch außerhalb seines Geheimkabinetts von Datenpiraten. Vor Jahren, nach seiner Machtergreifung, hatte Louison in Wien eine leidenschaftliche Rede gehalten und eine Erforschung des ›Phänomens der Optima Persona‹ gefordert. Das hatte ihm eine Menge unbehaglichen Spott eingetragen.

Louison stand in der unseligen afro-karibischen Tradition der Herrscher-Patriarchen, die große Wodu{1}-Anhänger waren.

Männer wie Papa Doc und Steppin' Razor und Whippin' Stick. Als sie hinaufblickte, hatte Laura plötzlich ein klares Vorstellungsbild vom alten Louison. Mager und faltig, ein wackliger Greis mit gelben Fingernägeln, der schlaflos durch die vom Fackelschein erhellten Kasematten des Forts tappte. In einer goldbetreßten Jacke, heißes Ziegenblut schlürfend, die nackten Füße in ein paar Kleenex-Schachteln.

 

Der Hyundai fuhr unter bernsteinfarbenen Bogenlampen durch die Stadt. Sie passierten ein paar brasilianische Dreiradfahrzeuge, kleine wespenartige Wagen in Gelb und Schwarz, deren Motoren mit Alkohol liefen. Saint George machte den schläfrigen Eindruck einer Stadt, wo wochentags jeden Abend der Straßenbelag eingerollt wird. Im Stadtzentrum ragten fünf oder sechs Hochhäuser im alten, häßlichen Internationalen Stil. Ihre monotonen Wände waren gesprenkelt mit beleuchteten Fenstern. Eine schöne alte Kolonialkirche mit einem hohen, eckigen Uhrturm. Baukräne überragten das halbfertige Skelett eines neuen Stadions. »Wo ist die Bank?« fragte David.

Sticky hob die Schultern. »Überall, wo Kabel sind.«

»Gutaussehende Stadt«, sagte David. »Keine Elendsviertel, niemand schläft in den Unterführungen. Sie könnten Mexiko City etwas lehren.« Keine Antwort. »Auch Kingston.«

»Wir werden Atlanta was lehren«, versetzte Sticky. »Unsere Bank - Sie meinen, wir seien Diebe. Im Gegenteil, Mann. Ihre Banken sind es, die diesen Leuten seit vierhundert Jahren das Blut aussaugen. Jetzt ist der Schuh am anderen Fuß.«

Die Lichter der Hauptstadt blieben zurück. Loretta regte sich in ihrer Tragetasche, fuchtelte mit den Armen und füllte geräuschvoll ihre Windel. »Ah-oh«, sagte David. Er öffnete das Fenster. Der Geruch warmen tropischen Regens drang in einem Schwall in den Wagen. Ein anderer Geruch mischte sich hinein, würzig, durchdringend, mit Erinnerungen befrachtet. Ein Küchengeruch. Muskatnuß, erkannte Laura. Die Hälfte des Weltverbrauchs an Muskatnuß kam aus Grenada. Echte natürliche Muskatnuß, von Bäumen. Sie umfuhren eine Bucht – Lichter glitzerten von einer vorgelagerten Station, blinkten im ruhigen Wasser. Industrieller Widerschein auf den tiefhängenden grauen Wolken.

Sticky rümpfte die Nase und blickte über die Schulter zu Loretta, als ob sie ein gefüllter Müllsack wäre. »Warum bringen Sie das Baby mit? Es ist gefährlich hier.«

Laura runzelte die Stirn und suchte in der Reisetasche nach den frischen Windeln. David sagte: »Wir sind keine Soldaten. Wir sehen uns nicht als Zielscheiben.«

»Das ist eine komische Denkweise«, sagte Sticky.

»Vielleicht glauben Sie, sie wäre bei uns zu Hause sicherer«, sagte Laura. »Aber wie Sie wissen, wurden wir mit einer Maschinenwaffe beschossen.«

»Ja, gut«, meinte Sticky. »Vielleicht können wir ihm ein kugelsicheres Lätzchen schneidern lassen.«

(»Oh, er ist witzig. Sie vergeuden seine Talente; er sollte in einer Komödie auftreten.«)

Sticky bemerkte ihr Stillschweigen. »Keine Bange, Atlanta«, sagte er mit erhobener Stimme. »Wir geben auf diese Gäste besser acht, als Sie auf unsere achtgegeben haben.«

(»Auweh«,) flüsterte Emily.

Schweigend legten sie weitere Kilometer zurück. (»Ihr solltet diese Zeit nicht vergeuden«,) sagte Emily, (»also werde ich euch ein paar ausgewählte Glanzlichter der Wahlreden unserer Ausschußmitglieder überspielen…«) Laura lauschte aufmerksam; David spielte mit dem Baby und blickte zum Fenster hinaus.

Dann verließ der Hyundai die Fernstraße, bog in eine kiesbestreute Zufahrt. Emily unterbrach eine Ansprache über Rizomes Anteile am Holzgeschäft und bei Mikrochips. Der Wagen fuhr durch dichte Kasuarinenbestände aufwärts. Er hielt in Dunkelheit.

Der Wagen hupte einmal, und auf zwei gußeisernen Pfosten am Eingangstor einer herrschaftlichen Pflanzung flammten Lichter auf. Das Grundstück war mit hohen Mauern umgeben, auf denen einzementierte Glasscherben glitzerten.

Verspätet eilte ein Wächter herbei, ein zerknittert aussehender jugendlicher Milizionär mit einem umgehängten Fesselgewehr, das mit seiner trichterförmigen Mündung einer altertümlichen Donnerbüchse ähnelte. Sticky stieg aus. Der Wächter sah verschlafen und schuldbewußt aus. Als er das Tor öffnete, kehrte Sticky seinen Rang heraus und stauchte den Jungen zusammen. »He, laß diesen militaristischen Scheiß«, murmelte David für das Protokoll.

Der Wagen rollte in einen kiesbestreuten Hof mit einem inaktiven marmornen Springbrunnen und Massen von unkrautüberwucherten Rosensträuchern. Die Lampen von den Torpfosten beleuchteten eine breite weiße Freitreppe, die zu einer langen, geschlossenen Veranda hinaufführte. Über der Veranda glommen Fenster in zwei wuchtigen, quadratischen Ecktürmen. Was ein viktorianischer Kolonialist unter stilvoll und herrschaftlich verstanden hatte, dachte Laura.

»Ein klassizistischer Landsitz!« sagte David.

Der Wagen hielt vor der Freitreppe, und die Türen schwangen auf. Sie stiegen aus, hoben das Baby und ihre Reisetaschen aus dem Wagen. Sie atmeten duftende, feuchtwarme Tropenluft. Sticky kam herbei und zog eine Schlüsselkarte hervor.

»Wessen Landsitz ist dies?« fragte David.

»Ihrer, einstweilen.« Sticky bedeutete ihnen, ihm die Treppe hinaufzufolgen, und zog auf einer Seite der Veranda die Rolläden auf. Sie sahen einen flachen, staubigen Tisch. Ein Pingpongball wurde von Davids Fuß getroffen und tickte in die Dunkelheit zwischen skeletthaft schimmernden Aluminiumgartenstühlen davon. Sticky steckte seine Schlüsselkarte in eine Doppeltür aus messingbeschlagenem Rosenholz.

Die Türflügel öffneten sich; in der Eingangshalle gingen Lichter an. David war überrascht. »Jemand hat ein Haussystem in diese alte Villa installieren lassen.«

»Gewiß«, sagte Sticky. »Sie gehörte mal einem Bankdirektor – dem alten Mr. Gelli. Er ließ es machen.« Die Echos von fremden Stimmen hallten durch die Eingangshalle. Sie betraten einen Salon: Samttapeten, eine mit geblümtem Stoff bezogene Sitzgarnitur, nierenförmiger Kaffeetisch, hellbrauner Teppichboden.

Zwei Männer und eine Frau in weißer Dienerkleidung knieten neben einem umgekippten Teewagen. Sie standen hastig auf und machten verlegene Gesichter. »Will nicht, das Teufelsding«, sagte der größere der beiden Männer. »Hat uns den ganzen Tag herumgejagt.«

»Das ist Ihr Personal«, sagte Sticky. »Jimmy, Rajiv und Rita. Es ist alles ein bißchen staubig und ungelüftet, aber sie werden es Ihnen bequem machen.«

Laura nahm die drei in Augenschein. Jimmy und Rajiv sahen wie Taschendiebe aus, und Rita hatte Augen wie heiße schwarze Kohlen - sie sah die kleine Loretta an, als ob sie überlegte, wie sie mit Karotten und Zwiebeln in einer Fleischbrühe gedünstet werden könnte. »Werden wir Gäste empfangen?« fragte Laura.

Sticky sah sie verdutzt an. »Nein.«

»Ich bin überzeugt, daß Jimmy, Rajiv und Rita sehr tüchtig sind«, sagte Laura vorsichtig, »aber wenn keine dringende Notwendigkeit besteht, Personal zu beschäftigen, würden wir es allein gemütlicher haben.«

»Sie hatten in Galveston Bedienstete«, sagte Sticky.

Laura biß die Zähne zusammen. »Unsere Mitarbeiter im Ferienheim sind Rizome-Gesellschafter; sie haben Genossenschaftsanteile.«

»Die Bank hat diese Leute für Sie ausgewählt«, sagte Sticky. »Sie hatte gute Gründe dafür.« Er geleitete Laura und David zu einer anderen Tür. »Hier ist das Schlafzimmer.«

Sie folgten Sticky in einen Raum mit einem massiven Wasserbett unter einem Baldachin und Schrankwänden. Das Bett war frisch bezogen. Räucherwerk mit süßlichem Gardenienduft schwelte auf einem alten Mahagonischreibtisch. Sticky schloß die Tür hinter ihnen.

»Ihre Bediensteten beschützen Sie vor Spionen«, sagte Sticky mit einem Ausdruck strapazierter Geduld. »Vor Menschen und Dingen, Dingen mit Flügeln und Kameras, verstehen Sie? Wir wollen nicht, daß jemand sich Gedanken macht, wer Sie sind und warum Sie hier sind.« Er ließ ihnen Zeit, das zu verdauen. »Also haben wir uns einen Plan ausgedacht: Wir geben Sie als verrückte Wissenschaftler aus.«

»Als was?« fragte David.

»Technokraten, Bwana. Gemietete Berater. High-Tech-Spezialisten, die Oberschicht Grenadas. Verstehen Sie nicht? Wie, meinen Sie, halten wir diesen Inselstaat in Schwung und sorgen für Modernisierung? Wir haben überall in Grenada verrückte Wissenschaftler. Yankees, Europäer, Russen… Sie kommen her, angelockt durch Beraterverträge, sehen sich um, sind begeistert. Große Häuser, mit Dienstpersonal!« Er zwinkerte. »Und andere schmackhafte Dinge.«

»Das ist großartig«, sagte David. »Bekommen wir auch Plantagenarbeiter?«

Sticky grinste. »Sie sind ein feines Paar, wirklich.«

»Warum geben Sie uns statt dessen nicht als Touristen aus?« fragte Laura. »Sie müssen doch Fremdenverkehr haben, nicht wahr?«

»Meine Dame, dies ist die Karibik«, sagte Sticky.

»Amerikas Hinterhof, nicht wahr? Wir sind es gewohnt, Yankees mit und ohne Hosen herumlaufen zu sehen. Es schockiert uns nicht mehr.« Er hielt inne und überlegte, oder tat so, als überlege er. »Allerdings fordert dieses AIDS-Virus - wir nennen es schon lange Yankeetripper - Opfer unter unseren arbeitenden Mädchen.«

Laura zügelte ihr Temperament. »Diese Aufpasser verlocken uns nicht, Hauptmann.«

»Ah, Verzeihung«, sagte Sticky. »Ich vergaß, daß Sie mit Atlanta verbunden sind. Da müssen Sie natürlich auf gute Manieren achten, dürfen nicht ungesittete Reden führen… solange die mithören können.«

(»Wenn ihr Heuchler seid«,) flüsterte Emily, (»hat er das Recht, ekelhaft zu sein.«)

»Sie möchten beweisen, daß wir Heuchler sind«, sagte

David, »weil es Ihnen das Recht gibt, uns zu beleidigen.« Sticky zögerte, um eine Antwort verlegen. »Sehen Sie«, sagte David besänftigend, »wir sind Ihre Gäste. Wenn Sie uns mit diesen sogenannten Bediensteten umgeben wollen, ist das Ihre Sache.«

Laura sprang ihm bei. »Vielleicht trauen Sie uns nicht.« Sie gab vor, den Gedanken zu verfolgen. »Vielleicht ist es eine gute Idee, uns vom Hauspersonal beobachten zu lassen, für den Fall, daß wir versuchen sollten, nach Galveston zurückzuschwimmen.«

»Wir werden darüber nachdenken«, sagte Sticky widerwillig. Die Türglocke läutete, und sie eilten hinaus, aber die Bediensteten waren ihnen zuvorgekommen. Das Gepäck war eingetroffen. Rajiv und Jimmy luden bereits Reisetaschen aus.

»Ich kann das Kind nehmen, Madam«, erbot sich Rita. Laura tat, als hätte sie nicht gehört, spähte über die Veranda hinaus. Zwei neue Wächter standen unter den Lampen am Tor.

Sticky gab ihnen zwei identische Schlüsselkarten. »Ich muß gehen - habe noch anderswo zu tun. Machen Sie es sich gemütlich. Nehmen Sie, was Sie wollen, gebrauchen Sie, was Sie wollen, das Haus gehört Ihnen. Der alte Mr. Gelli wird sich nicht beklagen.«

»Wann kommen wir mit der Bank zusammen?« fragte Laura.

»Bald«, sagte Sticky vage. Er lief die Stufen hinunter; der Hyundai öffnete die Türen, und er sprang hinein, ohne seinen Schritt zu verlangsamen. Der Wagen fuhr davon.

Im Salon trafen sie wieder auf die Bediensteten und standen unbehaglich beisammen, gehemmt durch ungelöste Spannungen. »Eine kleine Mahlzeit, Sir, Madam?« schlug Rajiv vor.

»Nein danke, Rajiv.« Sie wußte nicht, wie sie Rajivs ethnischen Hintergrund richtig deuten sollte. Indo-karibisch? Hindu-grenadinisch?

»Wünschen Madame ein Bad?«

Laura schüttelte den Kopf. »Sie können uns Mr. und Mrs. Webster nennen«, schlug sie vor. »Oder meinetwegen David und Laura.« Die drei Grenadiner blickten mit steinernen Mienen zurück.

Loretta wählte geschickt diesen Augenblick, um in Geschrei auszubrechen. »Wir sind alle ein bißchen müde von der Reise«, sagte David vernehmlich. »Ich denke, wir werden uns ins Schlafzimmer zurückziehen. Also werden wir Sie heute nacht nicht mehr brauchen, danke.« Es kam zu einem kurzen Handgemenge um die Reisetaschen, aus dem Rajiv und Jimmy siegreich hervorgingen. Triumphierend trugen sie das Gepäck ins Schlafzimmer. »Wir packen für Sie aus«, verkündete Rajiv.

»Danke sehr, nein!« David breitete die Arme aus und trieb sie durch die Schlafzimmertür, die er hinter ihnen absperrte.

»Wir sind oben, wenn Sie uns brauchen, Sir, Madame«, rief Jimmy durch die Tür. »Die Sprechanlage ist außer Betrieb, also rufen Sie ganz laut!«

David hob Loretta aus ihrer Tragtasche und machte sich daran, ihre Mahlzeit zu bereiten. Laura ließ sich rücklings aufs Bett fallen, überwältigt von Stressmüdigkeit. »Endlich allein!«

»Wenn du Tausende von Rizome-Gesellschaftern nicht zählst«, sagte David aus dem anstoßenden Bad. Er kam heraus und legte das Baby aufs Bett. Laura wälzte sich herum, stützte sich auf einen Ellbogen und hielt Lorettas Flasche.

David überprüfte die Wandschränke. »Es scheint hier einigermaßen sicher zu sein. Keine anderen Zugänge - ausgezeichnete alte Tischlerarbeit.« Er zog mit einer Grimasse den Ohrhörer heraus und legte ihn mit der Videobrille so auf den Nachttisch, daß sie zur Tür gerichtet war.

(»Kümmert euch nicht um mich«,) sagte Emily in Lauras Ohr. (»Wenn David nackt schlafen will, kann ich es herausschneiden.«)

Laura setzte sich aufrecht und lachte. »Ihr zwei und eure Intimscherze«, sagte David.

Laura wechselte die Windeln und steckte das Baby in seinen Papierpyjama. Loretta war satt, schläfrig und zufrieden. Die Augen fielen ihr zu, die kleinen Finger krümmten und streckten sich, als versuchte sie am Wachen festzuhalten. Es war komisch, wie sehr sie David ähnelte, wenn sie schlief.

Sie entkleideten sich, und er hängte seine Sachen in den Schrank. »Da haben sie noch die Garderobe des alten Herrn. Erstklassiger Schneider«, sagte er. Er zeigte ihr ein Gewirr von Lederriemen.

»Was, zum Teufel ist das? Zum Fesseln?«

»Achselhalfter«, sagte David. »Um unter den feinen Anzügen eine Pistole zu tragen. Peng-peng-Zeug für den Macho.«

»Phantastisch«, sagte Laura. Schon wieder Waffen. So müde sie war, fürchtete sie den Schlaf; sie witterte einen weiteren Alptraum. Sie zog den Datenanschluß aus der größten Reisetasche und verband ihn mit der Videobrille. »Wie ist der Empfang?«

(»Es sollte genügen.«) Emilys Stimme kam laut und klar herein. (»Ich verabschiede mich jetzt, aber die nächste Schicht wird über euch wachen.«)

»Gute Nacht.« Laura kroch unter die Decke. Sie betteten das Baby zwischen sich. Morgen wollten sie nach einem geeigneten Korb Ausschau halten. »Licht aus!«

 

Laura löste sich träge aus dem Schlaf. David trug bereits Jeans, ein offenes tropisches Hemd und seine Videobrille. »Die Türglocke«, erläuterte er. Sie ertönte wieder, ein Dreiklang, der an den Beginn einer alten Melodie erinnerte.

»Oh.« Sie blinzelte mit halb verklebten Augen zum Wecker. Acht Uhr. »Wer ist an der Leitung?«

(»Ich bin es, Laura«,) kam die Stimme aus dem Lautsprecher des Datenanschlusses. (»Alma Rodriguez.«)

»Ach, Mrs. Rodriguez«, sagte Laura. »Hm, wie geht es Ihnen?«

(»Wie soll es gehen? Den Alten plagt heute wieder sein Rheuma.«)

»Tut mir leid, das zu hören«, murmelte Laura. Sie versuchte sich aufzurichten, und das Wasserbett unter ihr schwappte unangenehm.

(»Hier im Ferienheim ist es hübsch leer ohne Sie und die Gäste.«) sagte Mrs. Rodriguez. (»Mrs. Delrosario sagt, ihre zwei Mädchen liefen wie wilde Tiere in der Stadt herum.«)

»Warum sagen Sie ihr nicht, daß… ah…« Laura brach ab, plötzlich überwältigt vom Schock der Desorientierung. »Ich weiß nicht, wo ich bin!«

(»Fühlen Sie sich nicht gut, Laura?«)

»Doch, es geht schon…« Sie blickte wild in dem fremden Schlafzimmer umher, sah die Tür zum Bad. Das würde helfen.

Als sie zurückkam, kleidete sie sich rasch an und setzte die Brille auf. (»Ay, es ist seltsam, wenn das Bild sich so bewegt«,) sagte Mrs. Rodriguez aus Lauras Ohrhörer. (»Macht mich seekrank!«)

»Mich auch«, sagte Laura. »Mit wem spricht David da draußen? Mit den sogenannten Dienern?«

(»Es wird Ihnen nicht gefallen«,) sagte Mrs. Rodriguez. (»Es ist das Hexenmädchen, Carlotta.«)

»Gott, auch das noch!« sagte Laura. Sie hob das zappelnde, hellwache Baby auf und trug es ins Wohnzimmer. Carlotta saß auf der geblümten Couch; sie hatte einen Korb Eßwaren gebracht. »Futter«, verkündete sie mit einer Kopfbewegung zum Korb.

»Gut«, sagte Laura. »Wie geht's, Carlotta?«

»Einfach prächtig«, sagte Carlotta mit sonnigem Lächeln. »Willkommen in Grenada! Ein richtig schönes Haus haben Sie hier, sagte ich gerade zu ihrem Mann.«

»Carlotta ist heute unsere Verbindungsperson«, sagte David.

»Es macht mir nichts aus, und Sticky hat eine Menge zu tun«, sagte Carlotta. »Außerdem kenne ich die Insel und kann Ihnen alles zeigen. Möchten Sie Papayasaft, Laura?«

»Ja, danke«, sagte Laura. Sie nahm den anderen Sessel, obwohl sie sich unruhig fühlte und am liebsten am Strand gelaufen wäre. Aber damit war es nichts, nicht hier. Sie balancierte Loretta auf dem Knie. »Also hat man bei der Bank so großes Vertrauen zu Ihnen, daß man Sie zu unserer Fremdenführerin macht?«

»Ich bin in ständiger Funkverbindung«, sagte Carlotta beim Einschenken des Saftes. Leichte Kopfhörer mit Ohrknöpfen hingen ihr um den Hals und waren durch einen dünnen Draht mit einem Funksprechgerät an ihrem metallbesetzten Gürtel verbunden. Sie trug eine kurzärmelige Baumwollbluse zu einem Minirock aus rotem Leder. Zwischen beiden waren zehn Zentimeter bloße Haut. »Sie müssen mit dem Essen hier achtgeben«, sagte Carlotta. »Auf dieser Insel gibt es Houngans, die einen richtig fertigmachen können.«

»Houngans?« sagte David. »Sie meinen die Wodupriester?«

»Ja, die. Sie haben hier Wodugifte, die mit dem Zentralnervensystem machen können, was ich nicht mal einem Stabschef des Pentagon antun würde! Sie holen diese verrückten Wissenschaftler her, große Biotechniker, und kreuzen sie irgendwie mit diesen alten Hexenmeistern des Kugelfischgiftes, den Herren der lebenden Toten, und was herauskommt, ist bösartiger als ein tollwütiger Hund! Wenn ich jetzt in Singapur wäre, würde ich Räucherstäbchen abbrennen!«

Laura sah unglücklich in ihr Glas. »Oh, bei mir sind Sie gut aufgehoben«, sagte Carlotta. »Dies alles habe ich selbst auf dem Markt gekauft.«

»Danke, das ist sehr aufmerksam«, sagte David.

»Nun, wir Texaner müssen zusammenhalten, nicht?« Carlotta griff zum Korb. »Sie können unbesorgt von diesen kleinen Tamaledingern essen, Pasteten werden sie hier genannt. Sie sind indischen, nicht indianischen Ursprungs, werden mit Curry zubereitet. Die einheimischen Indianer wurden schon vor langer Zeit ausgerottet.«

(»Nicht essen!«) protestierte Mrs. Rodriguez. Laura beachtete sie nicht.

»Sie sind gut«, sagte sie kauend.

»Ja, sie trieben die Indianer von Sauteurs Point, das heißt Springerkap«, sagte Carlotta zu David. »Die Kariben-Indianer. Sie wußten, daß die Siedler von Grenada sie massakrieren würden, und so sprangen sie alle von einem Kliff in die See und starben. Dahin fahren wir heute - Sauteurs Point. Ich habe einen Wagen draußen.«

Nach dem Frühstück nahmen sie Carlottas Wagen. Es war eine verlängerte Version der brasilianischen Dreiräder zur Lastenbeförderung, mit einem Motorradlenker vorn. »Ich fahre gern selbst«, bekannte Carlotta, als sie einstiegen. »Schnell fahren, das ist ein großer Spaß, den sie vor der Jahrtausendwende hatten.« Sie drückte mit dem Daumen auf einen Knopf am Lenker, und das Dreirad machte fröhlich quäkende Hupgeräusche, als sie an den Wächtern am Tor vorbeirollten. Die Wächter winkten; sie schienen sie zu kennen. Carlotta gab mit dem Drehgriff Gas, daß der Kies von der gewundenen Zufahrtsstraße aufspritzte, bis sie zur Fernstraße kamen.

»Meinst du, daß es sicher ist, unsere Sachen den Haussklaven zu überlassen?« fragte Laura.

David zuckte die Achseln. »Ich weckte sie auf und gab ihnen Arbeit. Rita jätet zwischen den Rosensträuchern, Jimmy reinigt das Schwimmbecken, und Rajiv soll die Pumpe für den Springbrunnen zerlegen, damit wir sie instandsetzen können.«

Laura lachte.

David rieb sich die Hände, daß seine Knöchel knackten; Vorfreude war in seinen Augen. »Wenn wir zurückkommen, können wir selbst mit anpacken.«

»Du willst an dem Haus arbeiten?«

David blickte überrascht. »Ein großartiges altes Herrenhaus wie dieses? Natürlich! Man kann es nicht einfach verfallen lassen!«

Bei Tageslicht war die Fernstraße ziemlich belebt, viele rostende alte Toyotas und Datsuns waren unterwegs. Die Wagen krochen im Schrittempo an einer Straßenbaustelle vorbei, wo ein Bautrupp mit Schaufeln und Spitzhacken im Schatten einer Straßenwalze saß und die Zeit totschlug. Grinsend sahen die Männer zu Carlotta her, als sie das Dreirad vorbeilenkte. »He, Liebling!« krähte einer von ihnen und winkte.

Auf einmal kam von Norden her ein Militärlastwagen mit Segeltuchverdeck. Der Bautrupp griff zu Schaufeln und Spitzhacken und machte sich energisch an die Arbeit. Der Militärlastwagen rumpelte auf dem Straßenbankett vorbei - er war voll von gelangweilt aussehenden Milizionären.

Zwei Kilometer weiter kamen sie durch eine Ortschaft namens Grand Roy. »Ich bleibe hier in der Kirche«, sagte Carlotta und nahm die Hand vom Gasdrehgriff, um die Fahrtrichtung anzuzeigen. Der Motor spuckte und knatterte. »Es ist ein hübscher kleiner Tempel, einheimische Mädchen, sie haben komische Vorstellungen von der Göttin, aber wir bringen sie schon auf den rechten Weg.«

Zuckerrohrfelder, Pflanzungen mit Muskatnußbäumen, blaue Gebirgszüge im Westen, deren vulkanische Gipfel von Wolken umkränzt waren. Sie kamen durch zwei weitere Ortschaften, größere: Gouyave und Victoria. Überfüllte Bürgersteige mit schwarzen Frauen in grellbunt bedruckten tropischen Kleidern, ein paar Frauen in indischen Saris; die ethnischen Gruppen schienen sich kaum zu vermischen. Nicht viele Kinder, aber viel Miliz in Khakiuniformen. In Victoria kamen sie an einem Basar vorbei, wo unheimlich würgende Musik aus brusthohen Lautsprechern auf dem Gehsteig sprudelte. Die Besitzer saßen hinter Tischen aus Glasfaser, auf denen Tonbänder und Videokassetten gestapelt waren. Passanten umdrängten Kokosnußverkäufer, und alte Männer schoben Verkaufskarren mit gerösteten Maiskolben vorbei. Hoch an den Mauern, außer Reichweite von Sprayern, warnten alte AIDS-Plakate in der steif-präzisen Prosa von Ministerialbeamten vor abweichenden Sexpraktiken.

Hinter Victoria bogen sie nach Westen ab und folgten dem Küstenverlauf zur Nordspitze der Insel. Das Gelände begann anzusteigen.

Rote Verladekräne durchstießen den Horizont über Point Sauteurs wie skeletthaftes Filigran. Laura dachte wieder an die roten Sendemasten mit ihren unheimlich springenden Warnlichtern... sie ergriff Davids Hand. Er drückte sie und lächelte ihr unter der Brille zu; aber sie konnte seine Augen nicht sehen.

Dann überwanden sie eine Anhöhe und hatten plötzlich freien Ausblick. Der Küste vorgelagert, breitete sich ein enormer maritimer Komplex aus, wie die Phantasievorstellung eines Stahlmagnaten von einem neuen Venedig, alles scharfe metallische Winkel und aufsteigendes Gitterwerk und grünliches Wasser, durchzogen von schwimmenden Kabeln… Lange schützende Hafendämme, aufgeschüttet aus tonnenschweren weißen Blöcken, zogen sich kilometerweit nach Norden. Da und dort sprang Brandungsgischt auf die Dammkrone. Das innere Wasser war zusätzlich beruhigt durch Felder orangefarbener Wellenbrecherbojen…

»Mrs. Rodriguez«, sagte David, »wir brauchen einen Fachmann für Meerestechnik. Sagen sie es Atlanta.«

(»In Ordnung, David, wird sofort gemacht.«)

Laura zählte dreißig größere Anlagen vor der Küste. Sie wimmelten von Menschen. Die meisten waren alte Ölbohrinseln, deren Beine zwanzig Stockwerke hoch im Wasser standen und deren fünfstöckige Aufbauten weithin sichtbar die Meeresoberfläche überragten. Außerirdische Riesen, die Knie umgeben von schwimmenden Anlegebrücken und kleinen verankerten Lastkähnen. Grenadas tropische Sonne schien gleißend auf die Aluminiumfassaden der Wohnquartiere, deren Größe mehrstöckigen Häusern glich, die auf den Plattformen der Bohrinseln jedoch wie Spielzeug wirkten.

Zwei kreisrunde schwimmende Anlagen zur Energieerzeugung sogen kaltes Tiefenwasser und warmes Oberflächenwasser ein, um den Temperaturunterschied von mehr als zwanzig Grad Celsius in einem geschlossenen VerdunstungsKondensationskreislauf zum Antrieb von Turbinen und Generatoren nutzbar zu machen. Schwimmende Kabel leiteten den Strom zu den anderen Installationen.

Carlotta lenkte das Dreirad auf einen Parkplatz neben der Straße und zeigte mit ausgestrecktem Arm. »Dort sind sie gesprungen!« Die Kliffs von Point Sauteur waren nur fünfzehn Meter hoch, aber die Felsblöcke zu ihren Füßen sahen ziemlich garstig aus. Mit romantisch tobenden Brechern hätten sie sich besser ausgenommen, aber die Wellenbrecherdämme und Bojen hatten dieses Seegebiet in eine schlammfarbene siedende Suppe verwandelt. »An klaren Tagen kann man von dem Kliff Carriacou sehen«, sagte Carlotta. »Draußen auf dieser kleinen Insel gibt es viel Interessantes zu sehen - sie gehört auch zu Grenada.«

Sie fuhren hinunter zur Küste, und Carlotta parkte das Dreirad auf einem weißen Kiesstreifen neben einem Trockendock. Im Innern des Trockendocks spuckten Schweißbrenner bläulich weiße Flammen. Sie stiegen aus.

Eine matte Brise wehte von der See her und trug ihnen den Gestank von Ammoniak und Karbamid zu. Carlotta reckte die Arme und inhalierte mächtig. »Düngemittelfabriken«, sagte sie. »Wie zu Hause an der Golfküste, nicht?«

»Mein Großvater arbeitete in einem Düngemittelwerk«, sagte David. »Erinnern Sie sich noch an die alten Raffineriekomplexe, Carlotta?«

»Ob ich mich erinnere?« Sie lachte. »Das da sind sie, soviel ich weiß. Sie haben all diese tote Technik spottbillig bekommen - zum Schrottwert gekauft.« Sie steckte die Ohrhörer ein und lauschte. »Andrej wartet… er kann Ihnen alles erklären. Kommen Sie mit!«

Sie gingen unter dem Schatten ragender Kräne auf den Hafenkai hinaus. Ein tiefgebräunter blonder Mann saß mit ein paar grenadinischen Hafenarbeitern auf einer niedrigen Mauerbrüstung und trank Kaffee. Alle drei trugen weite Baumwollhemden, blaue Arbeitshosen mit vielen Taschen, Schutzhelme und Arbeitsstiefel mit Stahlkappen.

»Ah, da sind sie endlich«, sagte der blonde Mann und erhob sich. »Hallo, Carlotta. Hallo, Mr. und Mrs. Webster. Und das muß Ihre kleine Tochter sein. Was für ein süßes kleines Küken.« Er berührte die Stupsnase des Babys mit einem fettigen Zeigefinger. Das Baby gurgelte und schenkte ihm ein zahnloses Lächeln.

»Mein Name ist Andrej Tarkowskij«, sagte der Mann. »Ich stamme aus Polen.« Er schaute entschuldigend auf seine schmutzigen Hände. »Ich kann Ihnen nicht die Hand geben.«

»Macht nichts«, sagte David.

»Ich soll Ihnen einiges von dem zeigen, was wir hier tun.« Er winkte zum Ende der Pier. »Ich habe ein Boot.«

Das Boot war ein vier Meter langes, flachgehendes Fahrzeug mit stumpfem Bug und einem Wasserstrahl-Außenborder. Andrej gab ihnen Schwimmwesten und eine Art Steckkissen für das Baby. Sie schnallten sich an. Loretta nahm das Geschehen erstaunlicherweise ohne Geschrei hin. Über eine kurze Leiter stiegen sie hinab ins Boot.

David setzte sich ins Heck, Laura mit dem Kind auf eine gepolsterte Bank im Bug, wo sie nach rückwärts blickte. Carlotta machte es sich auf dem Boden bequem. Andrej warf die Leine los und startete den Motor. Sie glitten über das schleimige Wasser nordwärts.

David wandte sich zu Andrej und sagte etwas über katalytische Spaltverfahren. In diesem Augenblick meldete sich eine neue Stimme am Draht. (»Hallo, Rizome-Grenada, hier ist Eric King in San Diego… Könnten Sie mir noch einmal diese Destillationsanlage zeigen… Nein, Sie, Laura, sehen Sie zu dem großen gelben Ding…«)

»Ich übernehme«, rief Laura zu David. »Eric, wohin soll ich sehen?«

(»Nach links - ja - Gott, so was habe ich seit zwanzig Jahren nicht gesehen… Könnten Sie mir einfach einen langsamen Überblick von rechts nach links geben?… Ja, so ist es gut.«) Er verstummte, als Laura den Blick langsam über den Horizont gleiten ließ.

Andrej und David stritten bereits. »Ja, aber Sie bezahlen für alles«, sagte Andrej leidenschaftlich. »Hier erzeugen wir Energie aus Ozeanwasser…« - er deutete auf die großen runden Schwimmkörper der Energieerzeugungsanlage -, »die kostenlos ist. Ähnlich verhält es sich mit der Düngemittelerzeugung. Ammoniak ist NH. Stickstoff aus der Luft ist kostenlos. Wasserstoff aus dem Meerwasser, das kostenlos ist. Der einzige Kostenaufwand ist die Kapitalinvestition.«

(»Ja, und Wartung und Instandsetzung«,) sagte Eric King in verdrießlichem Ton. »Ja, und Wartung und Instandsetzung«, sagte Laura laut.

»Ist kein Problem, mit den modernen Polymeren«, erwiderte Andrej. »Kunstharze… wir streichen sie auf, und sie reduzieren die Korrosion beinahe auf Null. Sie müssen damit vertraut sein.«

»Kostspielig«, sagte David.

»Nicht für uns«, sagte Andrej. »Wir stellen sie her.«

Er kurvte um die Beine einer Bohrinsel. Als sie die scharfe Begrenzung ihres Schattens durchfuhren, schaltete Andrej den Motor aus. Sie trieben weiter; die flache, zwei Morgen große Plattform der Bohrinsel, durchzogen von barock anmutenden Rohrleitungen und Ventilen, erhob sich acht Meter über dem schattigen Wasser. Auf einer schwimmenden Anlegebrücke saß ein Hafenarbeiter mit Rattenschwanzzöpfen, das Gesicht eingerahmt von Kopfhörern, und musterte sie.

Andrej lenkte das Boot zu einem der vier Beine der Bohrinsel. Laura sah den dick aufgetragenen Glanz der Polymere an den tragenden Rohren und Verstrebungen. Unter der Wasserlinie war kein Muschelbesatz. Kein Seegras, kein Schleim. Nichts wuchs an dieser Konstruktion. Sie war glatt wie Eis.

David wandte sich zu Andrej und gestikulierte lebhaft mit beiden Händen. Carlotta lag am Boden und ließ ihre Füße über die Bordwand hängen, lächelte hinauf zur Unterseite der Plattform.

(»Ich wollte noch erwähnen, daß mein Bruder, Michael King, letztes Jahr in Ihrem Ferienheim war«,) sagte King. (»Er lobte es in den höchsten Tönen.«)

»Danke, das ist gut zu wissen«, sagte Laura in die Luft. David redete auf Andrej ein, etwas über Kupfervergiftung und eingebettete Biozide. Er ignorierte King und verringerte die Lautstärke seines Ohrhörers.

(»Ich habe diese Grenada-Angelegenheit verfolgt. Zieht man die fatalen Umstände in Betracht, haben Sie vernünftig gehandelt.«)

»Wir anerkennen diese Unterstützung und Solidarität, Eric.«

(»Meine Frau stimmt mit mir darin überein - obwohl sie meint, daß der Ausschuß die Sache besser hätte machen können… Sie unterstützen den Indonesier, richtig? Suvendra?«)

Laura überlegte. Sie hatte seit Tagen nicht mehr an die Ausschußwahlen gedacht. Emily unterstützte Suvendra. »Ja, das stimmt.«

(»Was halten Sie von Pereira?«)

»Ich mag ihn, bin aber nicht sicher, daß er das Zeug dazu hat«, sagte Laura. Carlotta grinste, als sie sah, wie Laura in die Luft hineinredete. Wie eine Idiotin, schizoid. Laura runzelte die Stirn. Zuviel Input auf einmal. Augen und Ohren waren mit getrennten Realitäten beschäftigt, ihr Gehirn fühlte sich entlang unsichtbarer Säume geteilt, alles war ein wenig wächsern und unwirklich. Anzeichen von Netzüberlastung. (»Gut, ja, ich weiß, daß Pereira in Brasilien Pech hatte, aber er ist ehrlich. Wie steht Suvendra zu der Sache mit dieser Islamischen Bank? Bekümmert Sie das nicht?«)

David, noch immer vertieft in sein technisches Gespräch mit dem emigrierten Polen, hielt plötzlich inne und führte die Hand zum Ohr. »Die Sache mit der Islamischen Bank«, sagte Laura hinhaltend, und tatsächlich kamen ihr Bedenken. Natürlich. Niemand von Rizome verhandelte mit den Datenpiraten aus Singapur. Und natürlich würde Suvendra die geeignete Frau sein. Es paßte gut zusammen: Mrs. Emerson und Suvendra und Emily Donato. Die Seilschaft der alten Mädchen in Aktion.

»Ah… Eric«, sagte David, ehe Laura sich äußern konnte, »dies ist keine private Leitung.«

(»Oh«,) sagte King in kleinlautem Ton.

»Wir würden uns freuen, Ihre Eingabe zu haben, Sie brauchen sie bloß aufzuschreiben und einzuschicken. Atlanta kann sie für Sie verschlüsseln.«

(»Ja, gewiß«,) sagte King. (»Dumm von mir… Verzeihung.«) Laura bedauerte ihn, war aber froh, daß David ihn ihr vom Hals geschafft hatte. Dennoch war es ihr peinlich. Der Mann war offen und freimütig, wie es bei Rizome geschätzt wurde, und ausgerechnet sie mußten ihm sagen, er solle sich um seine Angelegenheiten kümmern, weil sie im Dienst seien. Wie würde es aussehen?

David blickte zu ihr her und breitete die Hände aus. Auch er schien frustriert.

Andrej ließ den Motor wieder an. Sie glitten mit rascher Beschleunigung auf die See hinaus. Der Fahrtwind fuhr Laura in die Haare und peitschte sie ihr um den Kopf, wenn sie ihn zur Seite wandte.

Das Wasser der Karibik, eine lächelnde Tropensonne, die kühle, schimmernde Gischt zu beiden Seiten des Bugs. Aus dem verseuchten Flachwasser ragten komplizierte Gebilde schwerindustrieller Anlagen, riesig, eigentümlich, ehrgeizig… voll auftrumpfender Präsenz. Laura schloß die Augen. Grenada! Was, zum Teufel, suchte sie hier? Sie fühlte sich benommen, wie unter einem Kulturschock. Ein verstümmeltes Redegeknatter von Eric King. Plötzlich schien sich das entfernte Netz in ihren Kopf hineinzubohren. Sie widerstand einer jähen Regung, die Videobrille herunterzureißen und ins Meer zu werfen.

Loretta wand sich in ihren Armen und zerrte mit fester kleiner Faust an ihrer Bluse. Laura zwang ihre Augen auf. Loretta war Wirklichkeit, dachte sie und wiegte das Baby. Ihre unfehlbare kleine Wegweiserin. Das wirkliche Leben war, wo das Kind war.

Carlotta richtete sich auf und machte eine umfassende Armbewegung in die Runde. »Wissen Sie, wozu das alles ist, Laura?«

Laura schüttelte den Kopf.

»Auf jeder dieser Bohrplattformen hätte die ganze Bank von Grenada Platz!« Carlotta zeigte zu einem bizarren Gebilde auf Steuerbord - einer abgeflachten geodätischen Kuppel, umgeben von Pontons. Es sah wie ein halbierter Fußball auf orangegelb gestrichenen Spinnenbeinen aus. »Vielleicht sind die Computer der Bank da drin«, sagte Carlotta. »Manche dieser Bohrplattformen sind Halbtaucher, die sich unter eigenem Antrieb fortbewegen können. Selbst wenn der Mann nach Grenada herunterkommt, kann die Bank ausweichen! All diese Meerestechnik - sie können hinaus in internationale Gewässer, wo der Mann ihnen nichts anhaben kann.«

»Der ›Mann‹?« sagte Laura.

»Der Mann, die Verschwörung, Sie wissen schon. Das Patriarchat. Das Gesetz, die Hitze, die Spießer. Das Netz. Sie.«

»Ach so«, sagte Laura. »Sie meinen uns.«

Carlotta lachte.

(»Wer ist diese seltsame Frau?«) fragte Eric King. (»Können Sie mir noch einmal diese geodätische Station zeigen? Danke… ah, David… wild! Wissen Sie, woran mich das erinnert? An Ihr Ferienheim!«)

»Das dachte ich auch gerade!« sagte David, den Blick auf die Station gerichtet. Er beugte sich halb über die Bordwand. »Können wir dort vorbeifahren, Andrej?«

Andrej schüttelte den Kopf.

Die Bohrinseln blieben zurück; ihre eckigen Aufbauten, Türme und Kräne standen wie ein Wald vor dem tropischen Grün der Küste. Die See wurde kabbeliger. Der flache Bug klatschte auf die Wellen und bespritzte Laura mit Gischt.

Andrej rief etwas und zeigte nach Backbord voraus. Laura wandte den Kopf in die angezeigte Richtung. Dort erstreckte sich ein langer, grauschwarzer Damm. Wo er endete, stand ein vierstöckiges Bürogebäude. Die Anlage war gigantisch - der schwarze Molendamm war wenigstens achtzehn Meter hoch und vielleicht vierhundert Meter lang. Andrej hielt darauf zu, und als sie näher kamen, sah Laura kleine weiße Masten über dem Damm, wie hohe Lichtmasten. Radfahrer fuhren dort wie Mücken auf Rädern. Und das Bürogebäude sah immer eigentümlicher aus, je näher sie kamen - jedes Stockwerk schien kleiner als das darunter, und alle waren durch stählerne Außentreppen miteinander verbunden. Und auf dem Dach gab es eine Menge technisches Zeug - Satellitenantennen, einen Radarmast…

Das oberste Geschoß war rund und weiß gestrichen. Wie ein Schornstein. Es war ein Schornstein.

(»Das ist ein Supertanker«,) sagte Eric King. (»Eines der größten Schiffe, die je gebaut wurden. Befuhren die Route zum Persischen Golf, in den alten Tagen.«) King lachte. (»Grenada hat Supertanker! Ich habe mich manches Mal gefragt, wo sie geblieben sind.«)

»Sie meinen, es schwimmt?« sagte Laura. »Dieser Damm ist ein Schiff? Das ganze Ding bewegt sich?«

»Es kann eine halbe Million Tonnen laden«, sagte Carlotta, die Lauras Überraschung sichtlich genoß. »Wie ein Wolkenkratzer voll Rohöl. Es ist größer als das Empire State Building. Viel größer.« Sie lachte. »Natürlich haben sie jetzt kein Rohöl darin. Es ist eine regelrechte Stadt, heutzutage. Eine große Fabrik.«

Sie fuhren mit voller Geschwindigkeit darauf zu. Laura sah, wie der Wellengang gegen die Bordwände brandete wie gegen ein Steilufer. Der Supertanker reagierte nicht mit der leisesten Bewegung; dafür war er viel zu groß. Sie hatte nie gedacht, daß es solch ein Schiff geben könnte. Es war, als hätte jemand ein Stück von Houston herausgeschnitten und an den Horizont geschweißt.

Und auf dem riesigen Deck konnte sie - was sehen? Mangobäume, Leinen mit flatternder Wäsche, Leute, die in Gruppen an der ewig langen Reling standen… es mußten Hunderte sein. Weitaus mehr, als für eine Besatzung benötigt werden konnten. Sie wandte sich zu Carlotta. »Die Leute leben dort, nicht?«

Carlotta nickte. »In diesen Schiffen geht allerhand vor.«

»Sie meinen, es gibt mehr als eines?«

Carlotta zuckte die Achseln. »Vielleicht.« Sie berührte ihr Augenlid mit der Fingerspitze, um auf Carlottas Videobrille hinzuweisen. »Sagen wir, daß Grenada zu den Ländern gehört, unter deren Flaggen die internationalen Reedereien gern ihre Schiffe fahren lassen.«

Laura starrte den Supertanker an, ließ den Blick Atlanta zuliebe langsam und sorgfältig über die ganze Länge des Riesen gehen. »Selbst wenn die Bank ihn als Schrott kaufte, muß er Millionen gekostet haben. Das ist eine Menge Stahl.«

Carlotta kicherte. »Über den Schwarzen Markt sind sie nicht allzu gut im Bilde, wie? Das Problem ist immer Bargeld. Ich meine, was man damit anfangen soll. Grenada ist reich, Laura. Und wird immer reicher.«

»Aber warum Schiffe kaufen?«

»Jetzt fangen Sie mit Ideologie an«, sagte Carlotta. »Da müssen Sie den alten Andrej fragen.«

Nun, aus der Nähe konnte Laura erkennen, wie alt das Ungetüm war. Seine Flanken waren fleckig von riesigen zusammengebackenen Massen Rost, versiegelt unter Schichten moderner High-Tech-Kunstharze. Der schellackähnliche Überzug haftete, aber nicht sehr gut; an manchen Stellen hatte er das runzlige Aussehen sich ablösender Kunststoffolien. Die verschweißten Stahlplatten des Rumpfes arbeiteten unter den Einwirkungen von Hitze und Kälte und Belastung, und selbst die enorme Stärke moderner gebundener Kunststoffe konnte sie nicht halten. Laura sah Dehnungsnarben und die aufgebrochenen Blasen von ›Schiffspocken‹, und Flächen wie Krokodilsleder, wo das Material sich plattenförmig ablöste. Dies alles war überdeckt mit neuen Flicken und großen erstarrten Tropfen schlechtverarbeiteter Ausbesserungsmasse. Hundert Schattierungen von Schwarz und Grau und Rost. Da und dort hatten Arbeitstrupps den Rumpf des Supertankers mit farbigen Graffiti besprüht: KRANKER TANKER, MUNGO-MANNSCHAFT - WIR OPTIMAL, BATAILLON CHARLIE NOGUES.

Sie machten an einer Fallreepplattform fest. Von dort schwebte ein offener Aufzug wie ein Vogelkäfig an einem Kabel zwanzig Meter hinauf zu einem schwenkbaren Kran auf Decksebene. Sie folgten Andrej in den Käfig, und der stieg ruckweise empor. David, der Tiefblicke genoß, starrte begierig durch die Gitterstäbe, als die See unter ihnen zurückblieb. Hinter seiner dunklen Brille grinste er wie ein Zehnjähriger. Er hatte wirklich seinen Spaß daran, sah Laura. Sie umklammerte die Tragtasche mit dem Baby mit einer Hand, während die andere sich mit weißen Knöcheln um eine Käfigstange klammerte. Nach einer Weile zog sie es vor, die Augen zu schließen.

Der Ausleger schwenkte sie über das Deck. Laura sah im Vorbeischwenken den Kranführer - eine alte Negerin mit grauem Kraushaar, das ihr wie in einer Explosion um den

Kopf stand. Sie bediente gummikauend die Schalthebel. Unter ihnen erstreckte sich das Deck wie eine Flughafenrollbahn, unterbrochen von seltsam aussehenden funktionellen Anordnungen: verriegelten Luken, gebogenen Be- und Entlüftungsöffnungen, Ventilen, Schaumtanks, hydraulischen Leitungen, die sich wie kopfstehende Us über die Radwege bogen. Auch lange Zelte waren zu sehen, und Gemüsegärten, beschattet von Bäumen in großen Kübeln. Eine Zitrusplantage im Windschutz aufgespannter Kunststoffbahnen. Und säuberlich gestapelte Hügel gefüllter Jutesäcke.

Sie gingen über einem aufgemalten X auf das Deck nieder und setzten mit einem Stoß auf. »Alles aussteigen«, sagte Andrej. Sie verließen den Käfig, der sofort wieder abhob. Laura schnüffelte die Luft. Eine vertraute Duftspur unter den Gerüchen von Rost und Salzwasser und Farbe. Ein feuchter, gärender Geruch, wie Tofu.

»Scop!« sagte David erfreut. »Einzellerprotein!«

Andrej nickte. »Die Charles Nogues ist ein Nahrungsschiff.«

»Wer ist dieser Nogues?« fragte David.

»Ein lokaler Held«, sagte Andrej mit ernster Miene.

Carlotta nickte David zu. »Charles Nogues warf sich von einem Kliff.«

»Was?« sagte David. »War das einer von diesen Kariben- Indianern?«

»Nein, er war ein Freier Farbiger. Das war später, im Kampf gegen die Sklaverei. Aber die britische Armee schlug den Aufstand nieder, und sie gingen kämpfend zugrunde.« Carlotta seufzte. »Ein furchtbares Durcheinander, die Geschichte Grenadas. Ich habe das alles von Sticky.«

»Die Besatzung dieses Schiffes ist die Vorhut der Bewegung des Neuen Jahrtausends«, erklärte Andrej. Sie folgten seiner Führung zu dem entfernten, hochragenden Schiffsaufbau. Es war schwierig, ihn nicht als eine Art Bürokomplex zu sehen, weil das Schiff selbst so massiv und fest wie eine städtische Straße unter ihnen war. Auf den Radwegen überholte sie der Verkehr, Männer, die beladene Fahrradrikschas in Bewegung hielten. »Vertrauenswürdige Parteikader«, sagte der blonde, polnische Andrej. »Unsere Nomenklatura.«

Laura, die das Baby in seiner Tragtasche über die Schulter gehängt hatte, blieb einen Schritt zurück, während David und Andrej nebeneinander vor ihr gingen. »Es beginnt einen gewissen Sinn zu ergeben«, sagte David. »Wenn sie diesmal wie Nogues und die Kariben von ihrer Insel gejagt werden, haben die Leute einen Ort, wohin sie sich retten können, nicht wahr?« Er deutete mit einer Handbewegung zum Schiff ringsum.

Andrej nickte nüchtern. »Grenada erinnert sich vieler Invasionen. Die Bevölkerung ist sehr tapfer, sie hat auch Visionen, aber es ist ein kleines Land. Immerhin, die Ideen, die heutzutage hier verwirklicht werden, sind groß, Mr. Webster. Größer als Grenzen.«

David musterte ihn von der Seite. »Was hat eigentlich jemand aus Danzig hier verloren?«

»Das Leben in Polen ist einförmig«, antwortete Andrej obenhin. »Stockkatholischer Konsumentensozialismus, keine geistigen Werte, keine Perspektive. Ich möchte dort sein, wo die Aktion ist. Und die Aktion ist heutzutage im Süden. Der Norden, unsere entwickelte Welt, ist langweilig. Berechenbar. Dies ist die Klinge, die schneidet.«

»Sie sind also nicht einer von diesen ›Verrückten Wissenschaftlern ‹?«

»Solche Leute sind nur als Werkzeuge nützlich«, sagte Andrej mit deutlicher Geringschätzung. »Wir tauschen sie, aber in der Bewegung des Neuen Jahrtausends spielen sie keine wirkliche Rolle. Sie verstehen die Wünsche des Volkes nicht.« Laura konnte aus seiner Betonung die Großbuchstaben heraushören. Diese Sache nahm eine Richtung, die ihr nicht gefiel.

»Klingt sehr hübsch«, erwiderte sie. »Wie vereinbaren Sie das mit Rauschgiftfabriken und Datenpiraterie?«

»Alle Information sollte frei sein«, sagte Andrej, seinen Schritt verlangsamend. »Was Drogen betrifft…« Er griff in eine Seitentasche seiner Arbeitshose, brachte eine abgeflachte Rolle glänzenden Papiers zum Vorschein und gab sie ihr.

Laura betrachtete das Ding. Es sah aus wie eine Rolle mit unbedruckten kleinen Selbstklebeetiketten. »Und?«

»Man klebt sie auf«, sagte Andrej. »Der Klebstoff dient als Trägersubstanz für die Droge und ermöglicht ihr das Eindringen durch die Haut. Die Droge wurde in einem Speziallabor entwickelt und ist synthetisches THC, der wirksame Bestandteil von Haschisch und Marihuana. Diese kleine Rolle Papier ist das gleiche wie viele Kilogramm Haschisch. Der Wert beträgt ungefähr zwanzig Euro. Sehr wenig Geld, nicht wahr?« Er sah sie erwartungsvoll an. »Nicht so aufregend, so romantisch, wie?«

»Mein Gott«, sagte Laura. Sie versuchte die Rolle zurückzugeben.

»Bitte behalten Sie sie, es bedeutet sehr wenig.«

»Sie kann das nicht behalten, Andrej«, sagte Carlotta. »Komm schon, sie sind in der Leitung, und die Chefs sehen zu.« Sie steckte die Rolle in ihre Handtasche und grinste Laura zu. »Wissen Sie, Laura, wenn Sie mit ihrer Brille nach Steuerbord hinüberschauen würden, könnte ich Ihnen so einen kleinen Aufkleber in den Nacken drücken, und niemand in Atlanta würde es je erfahren. Auf diesem Zeug können Sie fliegen wie eine Wolke. Kristallisiertes THC, Laura! Die Göttin war auf Vergnügungsfahrt, als sie das erfand.«

»Das sind bewußtseinsverändernde Drogen«, protestierte Laura. Sie selbst fand, daß sie sich tugendhaft und langweilig anhörte. Andrej lächelte nachsichtig, und Carlotta lachte laut auf. »Sie sind gefährlich«, sagte Laura.

»Vielleicht glauben Sie, das Zeug werde vom Papier springen und Sie beißen«, sagte Andrej. Er winkte höflich einem vorübergehenden Rasta-Mann zu.

»Sie wissen, was ich meine«, sagte Laura.

»O ja…« Andrej gähnte. »Sie gebrauchen selbst niemals Drogen, aber was ist mit der Wirkung auf Leute, die dümmer und schwächer sind als Sie? Sie bevormunden andere Menschen. Engen ihre Freiheiten ein.«

Sie gingen an einer mächtigen elektrischen Ankerwinsch vorbei, dann an einer gigantischen Anordnung von Pumpen, mit zweistöckigen Tanks in einem Dschungel von Rohrleitungen. Rastas mit Schutzhelmen und Klemmtafeln wanderten die Laufstege über den Rohrleitungen entlang.

»Sie sind nicht fair«, sagte David. »Drogen können Menschen zugrunde richten.«

»Vielleicht«, sagte Andrej. »Wenn sie in ihrem Leben nichts Besseres haben. Aber sehen Sie sich die Leute hier an Bord an. Wirken sie wie Drogenwracks auf Sie? Wenn Amerika unter dem Drogenproblem leidet, sollten Sie sich vielleicht mal die Frage stellen, was Amerika fehlt.«

(»Was für ein Arschloch«,) bemerkte Eric King. Sie antworteten nicht.

Andrej führte sie drei perforierte Eisentreppen an den Aufbauten der Charles Nogues hinauf. Reihen von Bullaugen markierten die Decks. Die Treppe war belebt von Einheimischen, die hinauf- und herabstiegen und auf den Treppenabsätzen in plaudernden Gruppen beisammenstanden. Alle trugen die gleichen Arbeitshosen und Baumwollhemden. Wenige Auserwählte hatten Hemdentaschenschoner mit Bleistiften und Kugelschreibern. Zwei Stifte, oder drei, oder sogar vier. Einer, ein bierbäuchiger Rasta mit einer finsteren Stirnfalte und einer kahlen Stelle auf dem Schädel, hatte ein halbes Dutzend vergoldete Klemmkappen. Er wurde gefolgt von einem Schwarm von Lakaien. »Juchhe, der reale Sozialismus«, murmelte Laura, zu Carlotta gewandt.

Diese ignorierte die Bemerkung. »Ich kann das Baby tragen, wenn Sie wollen«, sagte sie. »Sie müssen müde sein.«

Laura zögerte, willigte ein. Carlotta lächelte, als sie ihr die Tragtasche gab, und hängte sich den Gurt über die Schulter. »Hallo, Loretta«, gurrte sie und stieß mit dem Zeigefinger nach dem Baby. Loretta blickte zweifelnd zu ihr auf und nahm es hin.

Sie stiegen durch eine lukenartige Tür mit hoher Schwelle, gerundeten Ecken und einer Gummidichtung in die fluoreszierenden Lichter eines Gangs. Überall viel zerkratztes altes Teakholz, abgetretenes Linoleum. Die Wände waren mit allerlei Zeug behangen, ›Volkskunst‹ vermutete Laura, viel bunte Farben wie aus einem Kindermalkasten, kräuselhaarige Männer und Frauen, die Arme emporgestreckt zu einem mit Losungen übersäten blauen Himmel…

»Dies ist die Brücke«, verkündete Andrej. Sie sah wie ein Fernsehstudio aus, Dutzende von Monitorbildschirmen, breite Konsolen mit Reihen geheimnisvoller Knöpfe und Schalter, ein Navigationstisch mit Lampen und Telefonen. Durch eine halb verglaste Wand über den Monitoren konnte man den Tanker in seiner Länge überblicken; das Deck erstreckte sich wie eine Autobahn mit vierundzwanzig Fahrspuren. Jenseits davon waren auch kleine Abschnitte vom Ozean zu sehen, zu entfernt, um viel auszumachen. Beim Blick durch die Fenster sah Laura, daß an der Backbordseite des Supertankers ein paar große Lastkähne festgemacht hatten. Vorher waren sie von der Masse des Schiffsrumpfes vollständig verdeckt gewesen. Die Barken pumpten ihre Ladungen durch massive, gerippte Rohrleitungen an Bord. Der Anblick war von einer beklemmenden Widerwärtigkeit, in einer unbestimmten Weise obszön, wie die parasitische Sexualität gewisser Tiefseefische.

»Wollen Sie nicht hinausschauen?« fragte Carlotta; sie schwang das Baby an ihrer Hüfte vor und zurück. Andrej und David waren in ein Gespräch vertieft, untersuchten Meßgeräte und redeten in einem fort. Noch dazu über so fesselnde Themen wie Proteinfraktionierung und Schraubenstrahlturbulenzen. Ein Schiffsoffizier half mit Erklärungen aus, einer der wichtigen Männer mit vielen Schreibgeräten in der Brusttasche. Er sah unheimlich aus: schwärzliche Haut und glattes, flachsblondes Haar. »Das ist eher was für David«, sagte Laura.

»Nun, könnten Sie dann für eine kleine Weile aus der Leitung gehen?«

»Wie?« Laura stutzte. »Wenn Sie mir etwas erzählen wollen, sollten Sie es auch Atlanta erzählen können.«

»Sie müssen scherzen«, sagte Carlotta und verdrehte die Augen. »Was ist dabei, Laura? Im Ferienheim redeten wir die ganze Zeit unter vier Augen, und niemand kümmerte sich darum.«

Laura überlegte. »Was meinen Sie, Kontakt?«

(»Nun, natürlich, ich vertraue Ihnen«,) sagte King. (»Nur zu! Ich sehe nicht, daß Sie in irgendeiner Gefahr wären.«)

»Also gut… solange David da ist und über mich wacht«, sagte Laura. Sie trat zum Navigationstisch, nahm Videobrille und Ohrhörer ab und legte sie auf den Tisch. Dann kam sie zurück zu Carlotta, war aber sorgsam darauf bedacht, im Blickfeld der Brillengläser zu bleiben. »Gut so?«

»Sie haben wirklich seltsame Augen, Laura«, murmelte Carlotta. »Beinahe gelbgrün… Ich hatte vergessen, wie sie aussehen. Es ist leichter, mit Ihnen zu reden, wenn Sie nicht dieses Gestell auf der Nase haben - irgendwie sehen Sie mit dem Ding wie ein Insekt aus.«

»Vielen Dank«, sagte Laura. »Vielleicht sollten Sie mit den Halluzinogenen ein bißchen kürzer treten.«

»Was soll dieses Von-oben-herab-Getue?« entgegnete Carlotta. »Ihre Großmutter, Loretta Day, von der Sie soviel halten, wurde einmal wegen Drogenbesitz eingesperrt. Oder vielleicht nicht?«

Laura war überrumpelt. »Was hat meine Großmutter damit zu tun?«

»Nur soviel, daß sie Sie aufzog und für Sie sorgte, was Ihre richtige Mutter nicht tat. Und ich weiß, daß Sie große Stücke auf Ihre alte Großmama hielten.« Carlotta warf das Haar mit einem Schwung über die Schulter und weidete sich an Lauras Bestürzung. »Wir wissen alles über Sie… und sie… und David… Je weiter wir zurückgehen, desto einfacher ist es, an die Unterlagen heranzukommen. Denn niemand bewacht alle diese Daten. Es gibt einfach zuviel davon, um sie zu bewachen, und niemandem liegt wirklich daran! Aber die Bank denkt anders darüber, und so haben wir das ganze Zeug.«

Carlotta musterte Laura aus schmalen Augen. »Heiratsurkunde, Scheidungspapiere, Kontoauszüge, Namen, Anschriften, Telefonnummern… Zeitungen, von Computern über zwanzig, dreißig Jahre hinweg nach jeder einzelnen Erwähnung ihres Namens durchforscht… Ich habe Ihr Dossier gesehen, Laura Webster. Alle Arten von Fotos, Aufzeichnungen, Hunderttausende von Worten. Es ist wirklich unheimlich… Ich kenne Sie so gut, daß ich in gewisser Weise das Gefühl habe, in Ihrem Kopf zu sein. Manchmal weiß ich, was Sie sagen werden, noch bevor Sie es tun, und das bringt mich zum Lachen.«

Laura merkte, daß sie errötete. »Ich kann Sie nicht daran hindern, in meine Privatsphäre einzudringen. Vielleicht gibt Ihnen das einen unfairen Vorteil mir gegenüber. Aber ich treffe keine endgültigen Entscheidungen - ich vertrete nur mein Unternehmen.« Ein paar Offiziere, die einen der Monitorbildschirme beobachtet hatten, verließen die Brücke mit Mienen ernster Pflichterfüllung. »Warum erzählen Sie mir das eigentlich, Carlotta?«

»Ich bin selbst nicht ganz sicher«, sagte Carlotta. Sie sah ehrlich erstaunt aus, sogar ein wenig verletzt. »Ich glaube, es liegt daran, daß ich nicht sehen möchte, wie Sie blindlings in etwas hineinlaufen, das Sie nicht sehen können. Sie glauben sicher zu sein, weil Sie für den Mann arbeiten, aber die Tage des Mannes sind gezählt. Die wahre Zukunft ist hier, an diesem Ort.« Carlotta dämpfte ihre Stimme und trat näher; ihr Gesichtsausdruck war ernst. »Sie stehen auf der falschen Seite, Laura. Der Verliererseite, langfristig gesehen. Diese Leute haben Dinge im Griff, die der Mann nicht herausrücken will. Aber er kann tatsächlich nichts dagegen tun. Weil sie über ihn Bescheid wissen. Und Sie können hier Sachen machen, an die normale Menschen nicht einmal denken mögen.«

Laura rieb sich das linke Ohr, das vom Knopf des Ohrhörers ein wenig wund war. »Sie sind wirklich beeindruckt von dieser Schwarzmarkttechnik, Carlotta?«

»Gewiß, so ist das«, sagte Carlotta und schüttelte ihren Wuschelkopf. »Aber sie haben Louison, den Premierminister. Er kann seine Optimas erwecken. Er kann sie herausrufen, Laura seine Personae, verstehen Sie? Sie gehen im hellen Tageslicht umher, während er dieses alte Fort nie verläßt. Ich habe sie gesehen, wie sie durch die Straßen der Hauptstadt gingen… kleine alte Männer.« Carlotta schauderte.

Laura starrte sie mit einer Mischung von Beunruhigung und Mitleid an. »Was soll das bedeuten?«

»Wissen Sie nicht, was eine Optima Persona ist? Sie hat keine Substanz; Zeit und Entfernung bedeuten ihr nichts. Sie kann sehen und hören, kann Sie belauschen… oder kann glatt durch Ihren Körper hindurchgehen! Und zwei Tage später fallen Sie tot um, ohne daß irgendein Merkmal an Ihnen zu sehen wäre.«

Laura seufzte; für einen Augenblick hatte Carlotta sie erschreckt. Illegale Technik konnte sie verstehen, aber für mystischen Unsinn hatte sie nie viel übrig gehabt. David und der polnische Emigrant gingen einen Computerausdruck durch, ganz verständnisinniges Lächeln. »Glaubt Andrej dies alles?«

Carlotta hob die Schultern, ihr Gesichtsausdruck wurde verschlossen, wieder distanziert. »Andrej ist ein Politischer. Wir haben hier in Grenada alle Arten… Aber am Ende läuft es alles auf eines hinaus.«

»Vielleicht… wenn Sie Angst vor Hokuspokus haben.«

Carlotta schenkte ihr einen Blick frommen Bedauerns.

 

Zum Mittagessen waren sie Tischgäste des Kapitäns. Er war der dickbäuchige Typ mit den sechs vergoldeten Kugelschreibern. Sein Name war Blaize. Neunzehn weitere Offiziere oder Kommissare versammelten sich mit ihm in dem höhlenartigen Speisesaal des Supertankers, der mit Kronleuchtern und Eichenvertäfelung prunkte. Sie speisten von altem, goldumrandetem Porzellan mit dem Firmenzeichen der P & O- Schiffahrtslinie und wurden von jugendlichen Kellnern in Uniform bedient, die große Stahlterrinen schleppten. Sie aßen Scop in verschiedenen phantasievollen Erscheinungsformen. Als Suppe, als falsche Hühnerbrust mit Muskatnuß, kleine Frikasseerollen mit Zahnstochern darin.

Eric King wartete das Ende der Mahlzeit nicht ab. Er verabschiedete sich und überließ die Leitung wieder Mrs. Rodriguez.

»Wir haben unsere Kapazitätsgrenze keineswegs erreicht«, verkündete Kapitän Blaize in karibischem Englisch mit vielen verschluckten Silben, »aber mit jedem Monat kommen wir nach und nach den Produktionsquoten näher. Dadurch verringern wir die Belastung des produktiven Ackerbodens, verhüten seine Erosion und entschärfen die Ernährungsprobleme, die sich aus der Zunahme der Bevölkerung ergeben. Sie verstehen, Mr. Webster…« Blaizes Stimme ging in einen singenden Tonfall über, der seltsame Wellen lebloser Langeweile durch Lauras Gehirn sandte. »Stellen Sie sich vor, Mr. Webster, was eine Flotte von Schiffen wie dieses für den schlimmen Zustand tun könnte, in dem sich Mutter Afrika befindet.«

»Ja, natürlich, die Implikationen liegen auf der Hand«, sagte David. Er verzehrte sein Scop mit sichtlichem Appetit.

Während des Essens wurde leichte Hintergrundmusik gespielt. Laura lauschte mit halbem Ohr. Irgendein schmalzig glatter Sänger aus Großväterzeiten mit sentimental bedeckter Stimme, begleitet von sirupsüßen Streichern und jazzigen Saxophoneinlagen… (›something, something for you, dear… buh buh buuuh…‹) Sie konnte den Sänger beinahe identifizieren… aus alten Filmen. Crosby, der war es, ja: Bing Crosby.

Aber nun drangen digitalisierende Effekte in die alte Melodie ein, und Schreckliches geschah. Crosbys Kehle schien plötzlich von einer Stimmbänderdehnung befallen. Sein weicher Ton kratzte wie Kandiszucker - arruuuh, Werwolfgeräusche. Dann ging er in einen gräßlichen Rückwärtsgesang über - hub hub hub, wie eine schmatzende Brustwunde. Die schwachsinnigen Geräusche rieselten auf die Tischgäste herab, aber niemand schenkte ihnen Beachtung.

Laura wandte sich zu dem jungen Drei-Stifte-Kader zu ihrer Linken. Der Mann wedelte mit den Fingern über Lorettas Tragtasche und blickte schuldbewußt auf, als sie ihn anredete. »Die Musik? Wir nennen es Didge-Ital… dig-ital… Das hauen wir hier an Bord zusammen.« Ja. Sie hatten den armen alten Bing in ein brüllendes, stöhnendes Ungeheuer verwandelt. Er hörte sich an, als ob sein Kopf aus Blech gemacht wäre.

Inzwischen wurde David von Blaize und Andrej über Geldfragen belehrt. Den grenadinischen Rubel. Grenada hatte eine geschlossene, bargeldfreie Wirtschaft; jeder Bewohner der Insel hatte eine persönliche Kreditkarte, ausgestellt auf die Bank. Diese Politik hielt die ›üble globale Währung‹, den Euro, aus dem lokalen Umlauf heraus. Und damit waren die ›kriechenden Fangarme des finanziellen und kulturellen Imperialismus‹, wie das Netz ihn verkörperte, ›abrasiert‹.

Laura lauschte dieser PR-Anstrengung mit säuerlicher Erheiterung. Sie würden diese Rhetorik nicht bemühen, wenn sie nicht versuchten, eine wirkliche Schwäche zu verbergen, dachte sie. Es lag auf der Hand, daß die Bank alle Kredittransaktionen der gesamten Bevölkerung archivierte, so daß sie durch einen Blick auf den Computerbildschirm jedem Bürger über die Schulter gucken konnte. Aber das erinnerte zu sehr an Orwell. War den bösen alten Stalin und Mao die Abschaffung des Geldes nur nicht gelungen, weil sie noch keine leistungsfähigen Computer gehabt hatten? David hob unschuldig die Brauen und fragte, wie es mit dem Devisenschwarzhandel stehe, einer alten Krankheit in den Zeiten des monolithischen Ostblocks. Andrej machte ein steifes und tugendhaftes Gesicht, und Laura versteckte ihr Lächeln hinter einer Gabelvoll falscher Karotten. Sie war bereit, jede Wette einzugehen, daß ein Bündel Papiereuro ausreichen würde, um den durchschnittlichen Grenadiner mit Leib und Seele zu kaufen. Ja, es war genau wie mit diesen Devisenschwarzhändlern der alten Zeiten, die in Moskau fremde Touristen zum Umtausch von Dollars gedrängt hatten. Große Flöhe hatten kleine Flöhe, große Schwarzmärkte hatten kleine Schwarzmärkte.

Laura war erfreut, überzeugt, daß sie auf etwas gestoßen sei. Noch am selben Abend wollte sie Debra Emerson in Atlanta auf einer chiffrierten Leitung sagen, daß hier ein Ansatzpunkt für eine Brechstange sei. Debra würde schon wissen, wie weiter zu hantieren war: Es war genau wie die schlimme alte CIA-Arbeit vor der Abrüstung… Wie hatten sie es damals genannt? Destabilisierung.

»Es ist nicht wie der alte Warschauer Pakt, vor der Öffnung«, fuhr Andrej fort und schüttelte seinen hübschen blonden Kopf. »Unsere Insel ist mehr wie ein kleines OPEC-Land, wie Kuwait oder Abu Dhabi… Zuviel leichtverdientes Geld frißt die gesellschaftlichen Werte auf, macht das Leben zu einer Art Disneyland, lauter dicke Cadillacs und die Trickfilmgestalten - leer, bedeutungslos.«

Blaize lächelte ein wenig, die Augen halb geschlossen, wie ein Buddha. »Ohne die Disziplin unserer Bewegung«, rumpelte er, »würde unser Geld zurückfließen, wie Wasser bergab fließt: von der Peripherie der Dritten Welt hinab zu den Zentren des Netzes. Ihr freier Markt‹ betrügt uns; in Wahrheit ist er ein babylonischer Sklavenmarkt! Babylon würde auch unsere besten Leute an sich ziehen… sie würden dorthin gehen, wo die Telefone bereits funktionieren, wo die Straßen schon gepflastert sind. Sie wünschen die Infrastruktur, wo das Netz am dichtesten geflochten ist, wo es am einfachsten ist, zu Wohlstand zu gelangen. Es ist ein bösartiger Teufelskreis, der für die Leiden der Dritten Welt verantwortlich ist.«

»Aber heute ist das Abenteuer hier!« warf Andrej ein. »In Ihrem Amerika sind keine Grenzen mehr, David, mein Freund! Heute gibt es nur noch Anwälte und Bürokraten und Untersuchungen der sozialen Folgen...« Er schlug mit seiner Gabel auf die Tischplatte. »Gefängnismauern aus Papierkrieg, die modernen Pionieren das Leben und die Hoffnung aussaugen! Geradeso häßlich, geradeso ein Verbrechen wie die alte Berliner Mauer, David. Nur schlauer. Mit besserer Public Relations.« Er warf Laura einen Seitenblick zu. »Wissenschaftler und Ingenieure, und auch Architekten, ja - wir sind Brüder, David, die wir die wahre Arbeit der Welt tun - aber wo ist unsere Freiheit? Wo, eh?«

Andrej hielt inne, warf den Kopf zurück, um eine blonde Strähne aus der Stirn zu befördern. Plötzlich hatte er das dramatische Aussehen eines Redners, der Inspiration aus tiefen Brunnen der Aufrichtigkeit zieht. »Wir haben keine Freiheit! Wir können unseren Träumen, unseren Visionen nicht folgen. Regierungen und Konzerne zwingen uns unter ihr Joch! Für sie machen wir nur farbige Zahnpasta, weicheres Toilettenpapier, größere Fernsehgeräte, um die Massen zu verdummen und zu betäuben!« Er hieb mit den Händen durch die Luft. »Die heutige Welt ist eine Welt alter Männer, mit den Werten alter Männer! Mit weichen, angenehmen Polsterungen aller scharfer Ecken und Kanten, mit ständig bereitstehenden Krankenwagen. Das Leben ist mehr als das, David. Das Leben muß mehr als das sein!«

Die Schiffsoffiziere hatten aufgehört, ihm zuzuhören, und als Andrej eine Pause machte, nickten sie einander zu. Laura sah, wie sie feste Blicke männlicher Kameradschaft tauschten. Die Luft war beinahe dick von dieser ihrer demonstrierten Gemeinschaft, verstärkt durch die Parteilinie. Laura kam dies alles vertraut vor, wie das gute Gemeinschaftsgefühl bei einer Rizome-Versammlung, aber stärker hier, weniger nüchtern. Militant und beängstigend, weil es sich so gut anfühlte. Es verlockte sie.

Sie saß still, versuchte sich zu entspannen, durch ihre Augen zu sehen und zu verstehen. Andrej war nun, da er in Fahrt gekommen war, nicht mehr aufzuhalten, und predigte über die wahren Bedürfnisse des Volkes; die gesellschaftliche Rolle des engagierten Technikers. Es war ein Mischmasch: Nahrung und Freiheit und sinnvolle Arbeit. Und der Neue Mann und die Neue Frau, mit ihrem weiten Herzen für das Volk, den Blick aber zu den Sternen gerichtet… Laura beobachtete die anderen. Was mußten sie empfinden? Die meisten von ihnen waren jung, die engagierte Elite der Bewegung, aus den schläfrigen kleinen Ortschaften der Insel hierher verpflanzt: Sie stellte sich vor, wie sie die Eisentreppen ihrer seltsamen Stahlwelt hinauf- und hinunterliefen, schwitzend und eifrig wie gedopte Laborratten. Abgeschlossen gegen die Welt und weit entfernt von den Gesetzen und Regeln und Standards des Netzes.

Ja. So viele Veränderungen, so viele Schocks und Neuheiten; sie überwältigten die Leute. Geblendet vom Potential, sehnten sie sich danach, die Grenzen hinauszuschieben, sich über alle Regeln, Kontrollen und Gleichgewichte hinwegzusetzen, die nun alle diskreditiert waren, alles Lügen der alten Ordnung. Gewiß, dachte Laura. Das war der Grund, warum Grenadas Kader Gene wie Konfetti stanzen konnten, Daten für ihre Dossiers stehlen konnten, ohne Gewissensbisse zu bekommen. Wenn alle in eine Richtung marschieren, sind unangenehme Fragen nur störend.

Revolutionen. Neue Ordnungen. Für Laura hatten diese Begriffe den staubigen Geschmack des zwanzigsten Jahrhunderts und seines Denkens. Es war ein Jahrhundert visionärer Massenbewegungen gewesen, und wann immer sie zum Durchbruch gekommen waren, hatte das Ringen mit den alten Mächten Ströme von Blut fließen lassen. Was Rußland um 1920, Deutschland um 1940 und der Iran um 1980 durchgemacht hatten, mochte - in bescheidenerem Maßstab - Grenadas Schicksal sein.

Aber selbst ein kleiner Krieg konnte in einem kleinen Inselstaat wie Grenada das Klima vergiften, die Hysterie anheizen und jeden Abweichler zum Verräter stempeln. Ein kleiner Krieg, dachte sie, wie der, welcher bereits zu sieden beginnt…

Andrej war mit seiner Rede fertig. David lächelte unbehaglich. »Ich stelle fest, daß Sie diese Rede heute nicht zum ersten Mal gehalten haben.«

»Sie beurteilen Reden mit Skepsis«, sagte Andrej und warf seine Serviette auf den Tisch. »Das ist nur vernünftig. Aber wir können Ihnen die Tatsachen und die Praxis zeigen.« Er hielt inne. »Es sei denn, Sie möchten die Nachspeise abwarten.«

David blickte zu Laura und Carlotta. »Gehen wir«, sagte Laura. Gesüßtes Scop war nichts, was sie zum Verweilen einladen konnte.

Sie nickten der Tischrunde zu, bedankten sich höflich beim Kapitän, verließen die Tafel. Andrej führte sie durch einen anderen Gang und blieb vor einem Doppelaufzug stehen. Er drückte einen Knopf, und sie stiegen ein; die Türen schlossen sich hinter ihnen.

Störgeräusche zischten in Lauras Kopf. »Gott im Himmel!« sagte David, eine Hand am Ohrhörer. »Wir sind aus der Leitung!«

Andrej blickte mit knapper Kopfbewegung über die Schulter. »Keine Aufregung, ja? Es ist nur ein Augenblick. Wir können nicht alles verdrahten.«

»Oh«, sagte David. Er sah zu Laura. Sie hielt die Tragtasche mit dem Kind, während der Aufzug in die Tiefe sank. Ja, sie hatten den Schutz der Fernsehübertragung eingebüßt und standen hilflos; Andrej und Carlotta konnten sie jetzt überfallen, mit Injektionen außer Gefecht setzen… und dann würden sie irgendwo auf Tische geschnallt erwachen, wo von Drogen zerrüttete Wodu-Doktoren ihnen kleine vergiftete Zeitbomben in die Gehirne implantierten…

Andrej und Carlotta standen plattfüßig da, mit dem geduldigen, rindviehhaften Ausdruck von Menschen in Aufzügen. Nichts geschah.

Die Türen gingen auf. Laura und David eilten hinaus in den Korridor, die Hände an ihren Videobrillen und Ohrhörern. Lange Sekunden knisternder Störgeräusche. Dann ein schnelles, winselndes Stakkato von Datenimpulsen, und schließlich schrille ängstliche Rufe auf spanisch.

»Alles ist in Ordnung, nur eine kleine Unterbrechung«, sagte Laura zu Mrs. Rodriguez. David beruhigte sie mit einer längeren Erklärung auf spanisch. Laura verstand die Worte nicht, aber Mrs. Rodriguez' Tonfall genügte ihr: Kopflose Angst einer kleinen alten Frau, zittrig und schwach. Natürlich machte die gute alte Mrs. Rodriguez sich nur Sorgen um sie; dennoch war Laura ärgerlich. Sie rückte an ihrer Brille und zog verlegen die Brauen zusammen.

Andrej wartete auf sie und hielt ihnen - hysterische Dummköpfe - eine Seitentür auf. Jenseits davon war ein Waschraum mit Duschkabinen und Waschbecken aus Edelstahl unter grellem, bläulichem Licht, und Luft, die nach Seife und Ozon roch. Andrej zog die mit Gummidichtungen versiegelte Tür eines Kleiderspinds auf. Auf Regalen waren Stapel frischgebügelter Schutzkleidung in chirurgischem Grün: Kittel, Hosen mit Zugschnüren, Haarnetze und Atemmasken, sogar kleine Überschuhe zum Zubinden.

»Mrs. Rodriguez«, sagte David mit merklicher Erregung. »Anscheinend brauchen wir einen Rizome-Gentechniker an der Leitung.«

Andrej beugte sich über ein Waschbecken und ließ aus einem Spender ein paar Tropfen rosa Desinfektionsmittel in seine Handfläche fallen. Er rieb sich energisch damit ein. Neben ihm hielt Carlotta einen sterilen Pappbecher unter einen Wasserhahn. Laura sah sie eine rote Pille aus der Handtasche nehmen und mit der Leichtigkeit langer Übung hinunterschlucken und nachspülen.

Loretta verzog das kleine Gesicht. Die Beleuchtung im Waschraum gefiel ihr nicht, oder vielleicht war es der Geruch. Sie wimmerte rhythmisch, dann begann sie zu schreien. Ihr klägliches Plärren hallte von den nackten Wänden wider und schreckte sie zu neuen krampfhaften Anstrengungen. »Aber Loretta«, schalt Laura sie. »Und du warst in letzter Zeit so brav!« Sie schaukelte Loretta mit der Tragtasche, aber die Kleine wurde nur tomatenrot und fuchtelte wild mit den dicken kurzen Ärmchen. Laura überprüfte die Windel und seufzte. »Kann ich hier drinnen die Windeln wechseln, Andrej?«

Andrej rieb sich den Nacken ein; mit dem Ellbogen wies er zu einem Müllschlucker. Laura grub im Seitenfach der Tragtasche und zog die Ersatzwindel von der Rolle. »Das ist praktisch«, sagte Carlotta und spähte ihr über die Schulter. »Wie ein Fensterrollo.«

»Ja«, sagte Laura. »Man drückt diesen Knopf an der Seite, und die Blasenzellenpolsterung füllt sich mit Luft. Das saugfähige Material bekommt Volumen.« Sie legte die Windel auf eine glatte Oberfläche, hob Loretta aus der Tragtasche und legte sie daneben. Das Baby schrie, als ginge es ihm ans Leben.

Ihr zappelndes kleines Hinterteil war braun verklebt. Laura hatte längst gelernt, hinzuschauen, ohne es wirklich zu sehen. Sie säuberte es mit einem geölten Papiertaschentuch, ohne etwas zu sagen. Carlotta hatte es vorgezogen, unterdessen die Säuglingstragetasche zu untersuchen. »He, dieses Ding ist wirklich raffiniert! Wenn man diese Plastikklappen hochzieht, kann man ein Babybad daraus machen…«

»Reichen Sie mir den Puder, Carlotta.« Laura puderte das Baby ein und verschloß die neue Windel. Loretta heulte wie eine verdammte Seele.

David kam zu ihnen. »Geh du dich einreiben, ich nehme sie.« Loretta tat einen Blick auf die Chirurgenmaske ihres Vaters und schrie in Seelenangst. »Um Himmels willen«, sagte David.

(»Sie sollten Ihren Säugling nicht in eine Gefahrenzone bringen«,) sagte eine neue Stimme am Draht.

»Meinen Sie nicht?« rief David durch das Babygeschrei. »Die Maske wird sie nicht gern tragen, das ist sicher.«

Carlotta blickte auf. »Ich könnte sie nehmen.«

(»Vertrauen Sie ihr nicht«,) sagte die Stimme am Draht sofort.

»Wir können das Kind nicht aus den Augen lassen, verstehen Sie«, sagte David zu Carlotta.

»Nun«, sagte Carlotta, die praktisch dachte, »ich könnte Lauras Videobrille und Ohrhörer tragen, und auf diese Weise könnte Atlanta alles sehen, was ich sehe. Und unterdessen würde Laura sicher bei Ihnen sein.«

Laura zögerte. »Die Ohrhörer sind nach Maß gemacht.«

»Sie sind flexibel, ich könnte sie eine Weile tragen. Kommen Sie, ich kann das machen, es würde mir Freude bereiten.«

»Was meinen Sie, am Draht?« sagte David.

(»Ich bin es, Millie Syers aus Raleigh«,) sagte die Stimme. (»Sie werden sich erinnern, John und ich und unsere Jungen waren letzten Mai in Ihrem Ferienheim.«)

»Oh, hallo, Professor Syers«, sagte Laura. »Wie geht es Ihnen?«

(»Nun, meinen Sonnenbrand habe ich überlebt.«) Millie Syers lachte. (»Und nennen Sie mich bitte nicht Professor, das paßt nicht zu Rizome. Und wenn Sie meinen Rat wünschen, ich würde mein Kind nicht bei einer Datenpiratin lassen, die wie ein Strichmädchen angezogen ist.«)

»Sie ist eins«, sagte David.

(»Na also! Ich nehme an, das erklärt es. In ihrem Arbeitsbereich wird sie nicht viel mit Babies zusammenkommen… Hmm, wenn sie Lauras Videobrille und Ohrhörer tragen würde, könnte ich wohl beobachten, was sie tut, und könnte schreien, falls sie etwas versuchen sollte. Aber was sollte sie daran hindern, die Videobrille wegzuwerfen und mit dem Baby davonzulaufen?«)

»Wir sind im Bauch eines Supertankers, Mrs. Syers«, sagte David. »Wir haben ungefähr dreitausend Grenadiner um uns.«

Andrej blickte vom Zuschnüren seiner Überschuhe auf. »Fünftausend, David«, sagte er durch die spitzen Schreie des Babys. »Haben Sie nicht das Gefühl, daß Sie beide ein bißchen übertreiben? All diese Kleinlichkeiten um Sicherheit?«

»Ich verspreche Ihnen, daß es der Kleinen an nichts fehlen wird«, sagte Carlotta. Sie hob die rechte Hand und bog den Mittelfinger zurück zur Handfläche. »Ich schwöre es bei der Göttin.«

(»Großer Gott, sie ist eine von diesen…«) sagte Millie Syers, aber Laura hörte den Rest nicht mehr, da sie den Ohrhörer herauszog und die Videobrille abnahm. Es war ein angenehmes Gefühl von Befreiung. Wirklich fühlte sie sich zum ersten Mal wieder frei und sauber, ein unheimliches Gefühl, verbunden mit dem seltsamen Drang, in eine Duschkabine zu springen und sich einzuseifen.

Sie blickte Carlotta ins Auge. »Einverstanden, Carlotta. Ich vertraue Ihnen an, was mir in der Welt am wichtigsten ist. Sie verstehen das, nicht wahr? Mehr muß ich nicht sagen?«

Carlotta nickte nüchtern, dann schüttelte sie den Kopf.

Laura desinfizierte sich und zog rasch die Schutzkleidung an. Lorettas Geschrei trieb sie aus dem Raum.

Andrej führte sie zu einem weiteren Aufzug auf der anderen Seite des Waschraums. Von der Tür blickte Laura ein letztes Mal zurück und sah Carlotta mit dem Baby hin und her gehen und singen.

Andrej trat nach ihnen in den Aufzug, kehrte ihnen den Rücken zu und drückte den Knopf. »Wir verlieren wieder das Signal«, warnte David. Die Stahltüren glitten zu.

Sie sanken abwärts. Laura war schockiert, als sie plötzlich fühlte, daß David ihr das Hinterteil tätschelte. Sie fuhr zusammen und starrte ihn an.

»He, Schatz«, raunte er ihr ins Ohr. »Wir sind von der Leitung. Große Sache.«

Er sehnte sich nach Zurückgezogenheit.

Und hier hatten sie beinahe dreißig Sekunden davon. Solange Andrej sich nicht umwandte.

Sie sah David irritiert an, wollte ihm sagen… ja, was? Ihm versichern, daß es nicht so schlimm sei? Und daß sie auch unter dem Verlust der Privatsphäre leide? Und daß sie es zusammen durchstehen konnten, aber er solle sich gefälligst benehmen? Oder daß es ja recht komisch sei, und es tue ihr leid, daß sie nervös sei?

Aber nichts davon brachte sie heraus. Mit der Chirurgenmaske und der goldgenetzten Brille hatte Davids Gesicht einen völlig fremden Ausdruck angenommen. Kein menschlicher Kontakt schien möglich.

Die Türen glitten zurück; es erfolgte ein plötzliches Einströmen von Luft, daß es in ihren Ohren knackte. Sie bogen nach links ab in einen weiteren Gang. »Es ist schon gut, Mrs. Syers«, sagte David zerstreut. »Wir sind wohlauf, lassen Sie Carlotta in Ruhe…« Er murmelte hinter seiner Chirurgenmaske weiter, schüttelte den Kopf und redete in die Luft. Wie ein Verrückter. Es war komisch, wie eigentümlich es aussah, wenn man es nicht selbst tat. Auch dieser Durchgang sah eigentümlich aus: seltsam behelfsmäßig und unsolide, die Decke durchhängend, die Wände ausgebeult. Es war Pappe, das war es - braune Pappe und dünnes Drahtgeflecht, aber alles überzogen mit einer dicken, stahlharten Schicht durchsichtigen Kunststoffes. Die Deckenbeleuchtung war mit billigen Verlängerungskabeln verlegt, mit Klammern an die Decke geheftet und mit dick aufgetragenem Kunststoff versiegelt. Alles war zusammengeheftet, nirgendwo ein Nagel zu sehen. Laura berührte die Wand. Es war Qualitätskunststoff, glatt und hart wie Porzellan, und sie wußte vom bloßen Anfühlen, daß nicht einmal ein starker Mann mit einer Axt dieses Material einkerben konnte.

Erstaunlich aber war der großzügige Umgang mit dem Zeug, das in der Herstellung sehr kostspielig war. Aber vielleicht nicht so kostspielig, wenn man keine Lohnnebenkosten abführte, keine Sicherheitsinspektionen durchführte, keine Brandschutzsicherungen vorsah und nicht jedes Konstruktionsdetail in dreifacher Ausfertigung archivierte.

Aber die Sicherheitsvorschriften für biotechnische Anlagen waren noch um einiges strenger als jene für Anlagen der Atomindustrie. Plutonium war sicherlich gefährlich, aber wenigstens konnte es nicht aus einem Bottich springen und von selbst weiterwachsen.

»Dieser Gang ist aus Pappe!« sagte David.

»Nein, es ist Kunstharz über Pappe«, sagte Andrej. »Sehen Sie diesen Rohrstutzen? Heißdampf. Wir können diesen Gang jederzeit auskochen. Nicht, daß es notwendig wäre, versteht sich.«

Am Ende des Gangs blieben sie vor einer großen, versiegelten Luke stehen. Sie trug das internationale Gefahrenzeichen für biotechnische Anlagen: den schwarzgelben Kreis mit drei Hörnern. Guter graphischer Entwurf, dachte Laura, während Andrej das Rad zum Öffnen der Luke drehte; in seiner eleganten Ausführung ebenso beängstigend wie ein Totenschädel mit gekreuzten Knochen.

Sie traten durch und sahen sich auf einer Art Treppenabsatz aus lackiertem Bambus. Er befand sich ungefähr zwölf Meter über dem Boden und gewährte freien Ausblick in eine Halle von den Ausmaßen eines Flugzeughangars. Offenbar hatten sie einen Laderaum des Supertankers erreicht; der Boden voll von Maschinen, Rohrleitungen, Bottichen und Kesseln. Treppen und Laufgänge waren ebenso wie ihr Standort an ein haushohes Schott in ihrem Rücken geschweißt. Das nächste Schott erhob sich jenseits der Halle, eine mächtige graue Wand aus Stahl, versteift durch Stahlträger und Gitterwerk. Sie trug eine riesige mehrfarbige Wandmalerei: Männer und Frauen in Baskenmützen und Arbeitshemden, die unter Bannern marschierten, die gemalten Augen waren groß wie Fußbälle, die braunen Arme gerundet und monolithisch, schimmernd wie Wachs im seltsamen Unterwasserlicht.

Die unheimliche Beleuchtung der Halle entströmte flüssigen Leuchtern. Sie bestanden aus Stahlröhren mit Glasböden, die mit kühler, flüssiger Strahlung gefüllt waren. Dickem, weißem, leuchtendem Sirup. Das Licht warf unheimliche Schatten auf die Beulen und Unebenheiten der beschichteten Pappdecke.

Es war laut hier: Stampfen von Maschinen, Sausen und Gurgeln, Knattern von Kompressoren, Singen von Elektromotoren und Zischen von Dampf. Die feuchtwarme Luft roch angenehm, wie gekochter Reis. Unterwandert von seltsamen Gerüchen - dem beißenden Geruch von Säure, dem Kreidestaubgeruch von Kalk. Der Drogentraum eines Installateurs: große Türme aus geripptem Edelstahl, drei Stockwerke hoch, eingehüllt in Röhrensysteme. Rote und grüne Anzeigeleuchten wie glänzender billiger Modeschmuck, Dutzende von Bedienungsmannschaften in weißen Papieroveralls, die Meßgeräte überprüften, sich über lange, glasbedeckte Tröge mit dampfendem, brodelndem Haferbrei beugten…

Sie folgten Andrej die Treppe hinunter. David nahm alles sorgsam auf und murmelte in seine Chirurgenmaske. »Warum tragen die Leute keine Schutzkleidung?« fragte Laura.

»Wir tragen Schutzkleidung«, erklärte Andrej. »Wir haben wilde Bakterien auf der Haut.« Er lachte. »Fassen Sie aber trotzdem nichts an.«

Drei Treppen abwärts, noch über dem Hallenboden, zweigten sie auf einen Laufgang ab. Er führte zu den Glasfronten von Büros, die den gesamten Produktionsbereich überblickten.

Andrej führte sie hinein. In den Büros war es still und kühl, mit gefilterter Luft und elektrischer Beleuchtung. Es gab Schreibtische, Telefone, Terminkalender, und neben aufgestapelten Kartons mit Pepsi-Cola stand ein Kühlschrank. Wie ein Büro zu Hause in den Staaten, dachte Laura, umherblickend. Vielleicht zwanzig Jahre hinter der Gegenwart zurück…

Plötzlich ging eine Tür mit der Aufschrift PRIVAT auf, und ein hellhäutiger Mann kam rückwärts heraus. Er bediente eine Sprühdose mit Handpumpe. Als er sie bemerkte, wandte er sich um. »Oh! Hallo, Andrej…«

»Hallo«, sagte Laura. »Ich bin Laura Webster, das ist David, mein Mann…«

»Ach, Sie sind es! Wo haben Sie Ihr Baby?« Im Gegensatz zu allen anderen, die sie bisher gesehen hatte, trug der Fremde einen Anzug mit Krawatte. Es war ein alter Anzug in dem Schnitt, der vor zehn Jahren Mode gewesen war. »Sie wollten den kleinen Kerl nicht herunterbringen, wie? Also, es ist vollkommen sicher hier, Sie hätten sich nicht zu sorgen brauchen.« Er spähte ihnen in die Gesichter; das Licht glänzte auf seinen Brillengläsern. »Sie können die Atemmasken abnehmen, hier drin ist alles in Ordnung… Oder haben Sie vielleicht Grippe oder dergleichen?«

Laura zog ihre Maske unters Kinn. »Nein.«

»Ich muß Sie nur bitten, die… ah… die Toiletten nicht zu benutzen. Hier unten ist alles miteinander verbunden, verstehen Sie - alles versiegelt und in geschlossenen Kreisläufen zur Wiederverwendung vorgesehen. Wasser, Sauerstoff, was nicht alles! Wie in einer Raumstation.« Er lächelte.

»Dies ist Dr. Prentis«, sagte Andrej.

»Ja, natürlich!« sagte Prentis. »Ich bin hier unten sozusagen der große Zampano, wie Sie erraten haben werden… Sie sind Amerikaner, ja? Dann nennen Sie mich Brian.«

»Ein Vergnügen, Brian.« David bot ihm die Hand.

Prentis machte ein Gesicht. »Tut mir leid, das geht auch nicht… Möchten Sie ein Pepsi?« Er stellte seine Zerstäuberdose auf den Tisch und öffnete den Kühlschrank. »Wir haben hier ein paar Dinge, für einen kleinen Imbiß, Würstchen…«

»Ah, wir haben gerade gegessen…« David lauschte seinem unsichtbaren Gesprächspartner. »Trotzdem vielen Dank.«

»Alles plastikverschweißt, alles vollkommen sicher! Direkt aus dem Karton! Sind Sie sicher, daß Sie nichts mögen? Laura?« Prentis öffnete eine Dose Pepsi. »Nun gut, desto mehr bleibt mir.«

»Meine Kontaktperson an der Leitung«, sagte David, »möchte wissen, ob Sie der Brian Prentis sind, der die Arbeit über… tut mir leid, das habe ich nicht ganz verstanden - über Polysaccharide geschrieben hat?«

Prentis nickte knapp. »Ja, der bin ich.«

»Der Empfang hier unten ist ein bißchen kratzig«, entschuldigte sich David.

»Das war an der Staatsuniversität Ohio. Es ist lange her«, sagte Prentis. »Wer ist diese Person? Jemand aus Ihrem Unternehmen, nicht wahr?«

»Professor Millie Syers, eine Rizome-Gesellschafterin an der Staatsuniversität North-Carolina…«

»Leider nie von ihr gehört«, sagte Prentis. »Nun, was gibt es Neues in den Staaten? Wie finden Sie die Fernsehschau ›L.A. Live‹? Ich lasse mir keine Folge entgehen.«

»Sie soll sehr lustig sein«, sagte Laura. Sie hatte die Schau noch nie gesehen.

»Diese Burschen, die als die ›Breadhead Brothers‹ auftreten, bringen mich noch um. Dann wird man wirklich sagen können, der Prentis hat sich totgelacht.« Er legte eine Pause ein. »Wir können hier unten alles empfangen, wissen Sie. Alles, was ins Netz geht - nicht bloß aus den Staaten! Diese Kabelgesellschaften in den Staaten zensieren eine Menge. Aber die brasilianischen Exotica…« Er zwinkerte plump. »Und erst diese japanischen Sachen - huh!«

»Pornos verkaufen sich nicht mehr wie früher«, sagte Laura.

»Ja, sie sind spießig, muffige Langweiler«, sagte Prentis und nickte. »Davon halte ich nichts. Ich glaube an völlige Offenheit… Aufrichtigkeit, wissen Sie? Die Menschen sollten nicht mit Augenbinden durchs Leben gehen.«

»Können Sie uns erzählen, was Sie hier tun?« fragte Laura.

»Oh, gewiß. Wir verwenden auxotrophe E. coli, das sind meistenteils homoserine auxotrophe, obwohl wir mit doppelter Auxotrophie arbeiten, wenn wir an kitzlige Projekte herangehen… Und die Gärbottiche, diese Türme dort, das sind Saccaromyceen… Eine standardisierte Züchtung, auf die Pruteen das Patent hat, nichts besonders Fortschrittliches, nur erprobte Scop-Technik. Bei achtzig Prozent Kapazitätsauslastung pumpen wir pro Tag ungefähr fünfzehn metrische Tonnen pro Anlage - Trockengewicht… natürlich lassen wir es nicht unverarbeitet. Wir machen hier eine ganze Menge von dem, was Kosmetik genannt wird - Zusätze zur Veränderung der Konsistenz und des Geschmacks.« Prentis ging zu den Fenstern. »Das wird in diesen kleineren Bottichen gemacht: Beschaffenheit, Aromatisierung, sekundäre Fermentation…« Er lächelte Laura mit glasigem Ausdruck zu. »Es sind annähernd die gleichen Verfahren, die jede Hausfrau in ihrer eigenen Küche umsetzen könnte! Mischgeräte, Mikrowellen, Eierquirl, nur ein bißchen vergrößert, das ist alles.«

Prentis blickte zu David und wieder weg; die undurchsichtige Brille störte ihn. Er wandte sich wieder zu Laura, betrachtete hingerissen den Umriß ihrer Brust. »Es ist wirklich nicht so neu. Wenn Sie Brot oder Käse gegessen oder Bier getrunken haben, essen und trinken Sie Schimmel- und Hefepilze. All dieses Zeug: Tofu, Sojasoße; Sie würden sich wundern, was alles geschehen muß, um Sojasoße zu machen. Und glauben Sie mir, oder lassen Sie es sein, aber es ist viel sicherer als die sogenannten natürlichen Lebensmittel. Frischgemüse!« Prentis stieß ein Lachen aus. »Das Zeug ist voll von natürlichen Giften! Es sind Fälle bekannt, wo Leute daran gestorben sind, weil sie jeden Tag literweise Karottensaft getrunken oder Kartoffeln gegessen haben! Dabei dachten sie, sie tun was für ihre Gesundheit.«

»He«, sagte David, »Sie predigen einem Konvertiten, Freund.«

Laura wandte sich von den Fenstern weg. »Dies ist nicht gerade Neuland für uns, Dr. Prentis. Rizome hat eine Konzerngesellschaft für synthetische Lebensmittel… Ich habe selbst einmal PR dafür gemacht.«

»Aber das ist gut, sehr gut!« sagte Prentis und nickte überrascht. »Dann wissen Sie, welche absurden Vorurteile die meisten Leute haben… sie wollen keine ›Keime essen‹.«

»Das mag noch vor Jahren so gewesen sein«, sagte Laura, »aber heutzutage ist es hauptsächlich eine Klassenfrage. Synthetische Nahrung gilt als Armeleuteessen. Viehfutter.«

Andrej verschränkte die Arme. »Ein bourgeoises Yankee-Vorurteil…«

»Nun, es ist ein Marketingproblem«, sagte Laura. »Aber ich stimme Ihnen zu. Rizome sieht nichts Verurteilenswertes daran, hungrige Menschen zu ernähren. Wir haben es auf dem Gebiet zu eigenem Sachverstand gebracht - und es ist die Art von Techniktransfer, die für eine sich entwickelnde Industrie sehr hilfreich sein könnte…« Sie hielt inne. »Ich hörte Ihre Ansprache, oben, Andrej, und es gibt zwischen uns mehr Gemeinsamkeiten als Sie vielleicht denken.«

David nickte. »In den Staaten gibt es jetzt ein Computerspiel, das ›Weltregierung‹ heißt. Ich spiele es gern, es ist sehr beliebt… Proteintechnik wie diese hier ist einer der wichtigsten Faktoren zur Sicherung der Weltstabilität. Ohne sie würden wir alle Tage Hungeraufstände haben, Städte würden brennen, Regierungen stürzen… Und nicht bloß in Afrika.«

»Dies ist Arbeit«, sagte Andrej. »Kein Spiel.«

»Wir machen diesen Unterschied nicht«, sagte David. »Bei Rizome haben wir nicht ›Arbeit‹ - nur etwas zu tun, und Leute, die sich darum kümmern.« Er lächelte gewinnend. »Für uns ist Spiel lernen… Sie spielen ›Weltregierung‹ und lernen dabei, daß Sie nicht auf Ihrem Hintern sitzen bleiben und zusehen können, wie alles aus den Fugen gerät. Man kann nicht einfach ein Gehalt einstecken, Gewinn machen und ein totes Gewicht im System sein. Bei Rizome wissen wir das - ja, das ist der Grund unseres Kommens.«

Er wandte sich zu Prentis. »Ich habe eine Kopie in meinem Gerät - wählen Sie meinen Datenanschluß, und ich übertrage das Spiel auf Ihren. Das gilt auch für Sie, Andrej.«

Prentis lachte. »Sehr freundlich, David, aber ich kann die Bank von hier anwählen… Dort haben sie ein paar hunderttausend Computerspiele gespeichert, alle Arten, alle Sprachen…«

»Raubkopien?« fragte Laura.

Prentis ignorierte sie. »Aber ich werde es mit ›Weltregierung‹ probieren, könnte interessant sein. Ich halte mich gern auf dem laufenden…«

David berührte seinen Ohrhörer. »Wie lange sind Sie schon in Grenada, Dr. Prentis?«

»Zehn Jahre und vier Monate«, sagte Prentis. »Und sehr lohnende Arbeit.« Er gestikulierte zu den arbeitenden Maschinerien außerhalb der Glasfenster. »Sie werfen einen Blick auf alles das und denken vielleicht: eine Anlage aus zweiter Hand, behelfsmäßig aufgebaut, Einsparungen hier, Einsparungen dort… Aber wir haben etwas, das Sie in den Staaten niemals erreichen werden. Wir haben den wahren unternehmerischen Geist…« Prentis trat hinter den Schreibtisch und bückte sich, um eine der unteren Schubladen aufzuziehen.

Er begann Gegenstände auf die narbige Tischplatte zu legen: Pfeifenreiniger, selbstschärfende Messer, ein Vergrößerungsglas, einen Stapel Kassetten, mit Gummiband zusammengehalten. »Hier nehmen wir etwas in Angriff, betrachten es von allen Seiten, diskutieren darüber… Die Geldleute hier sind nicht wie diese Bankiers in den Staaten, die nur daran interessiert sind, dich auszunehmen; wenn sie dir vertrauen, ist es wie ein Blankoscheck, nur besser. Man hat wahre intellektuelle Freiheit…« Mehr Krimskrams landete auf der Tischplatte: Gummistempel, Briefbeschwerer, molekulares Klempnerspielzeug. »Und sie verstehen zu feiern! Sie mögen es nicht glauben, wenn Sie diese Kader der Bewegung oben auf Deck gesehen haben, aber Sie haben noch nie ein Karnevalsfest in Grenada gefeiert… Da wird die Sau rausgelassen! Sie verstehen es wirklich, aus sich herauszugehen… Ah, da ist es.« Er zog eine unbedruckte Zahnpastatube heraus. »Nun, das ist es!«

»Was ist das?« fragte David.

»Was es ist? Bloß die großartigste Sonnencreme, die je gemacht wurde, das ist alles!« Er warf sie David zu. »Wir haben diesen Stoff hier in Grenada erfunden. Er besteht nicht nur aus Strahlenblockern und erweichenden Mitteln. Dieses alte Zeug liegt bloß in einer Schicht auf der Epidermis. Aber dies hier wird von den Zellen aufgenommen, verändert die Reaktionsstruktur…«

David schraubte die Kappe ab. Ein scharfer pfefferminzähnlicher Geruch drang ihm an die Nase. »Huh!« Er schraubte die Tube wieder zu.

»Nein, behalten Sie sie!«

David steckte die Tube in die Tasche. »Das habe ich noch nicht auf dem Markt gesehen…«

»Nun, natürlich nicht. Und wissen Sie, warum? Weil die Yankee-Gesundheitsbehörde es durchfallen ließ, deshalb. Ein ›mutagenes Risiko‹. ›Karzinogen‹. Piß dir auf den Bart, Bruder!« Prentis stieß die Schublade zu. »Nacktes Sonnenlicht, das ist ein echtes Krebsrisiko. Aber nein, damit befassen sie sich nicht. Weil es ›natürlich‹ ist.« Prentis lächelte höhnisch. »Freilich, wenn Sie diese Creme vierzig Jahre lang täglich benutzen, können Sie vielleicht ein kleines Problem bekommen. Oder vielleicht haben Sie schon Magengeschwüre vom Alkohol? Der wird Sie von oben bis unten ruinieren, aber wird der Alkohol verboten? - Gottverdammte Heuchler.«

»Ich verstehe Sie«, sagte Laura. »Aber sehen Sie, was mit dem Zigarettenkonsum gemacht wurde. Auch Alkohol ist eine Droge, und die Einstellung der Bevölkerung…«

Prentis versteifte sich. »Sie wollen doch nicht damit anfangen, hoffe ich? Drogen?« Er funkelte Andrej an.

»Die Charles Nogues dient der Lebensmittelherstellung«, sagte Andrej. »Das habe ich ihnen bereits gesagt.«

»Ich mache kein Rauschgift!« sagte Prentis. »Glauben Sie mir das?«

»Sicher«, sagte David, ein wenig verwundert über den Ausbruch.

»Wenn Besucher hierher kommen, versuchen sie mir eins auszuwischen«, klagte Prentis. »Sie sagen: ›He, Brian, ich wette, Sie haben tonnenweise synthetisches Kokain, können Sie nicht ein paar Teelöffel für uns erübrigen?‹« Er funkelte wütend in die Runde. »Nun, damit habe ich nichts zu schaffen. Nicht das mindeste.«

Laura war verdutzt. »Wir versuchten nicht, Ihnen zu unterstellen…«

Prentis zeigte zornig auf David. »Da, er lauscht. Was erzählen sie Ihnen über die Leitung, hm? Alles über mich, wette ich. Mein Gott!« Prentis stapfte hinter seinem Schreibtisch hervor.

»Sie vergessen niemals, nicht? Gewiß, ich bin berühmt! Ich entwickelte ihn, den Prentis-Polysaccharide-Prozeß. Mann, ich machte Millionen für Biogen. Und sie hatten mich auch auf heiße Proteine angesetzt…« Er hielt Daumen und Zeigefinger hoch. »So weit war ich vom Nobelpreis entfernt, vielleicht! Aber das waren lebende Bioaktive, Sicherheitsstufe drei. Also mußte ich in den Becher pinkeln.« Er fixierte Laura. »Sie wissen, was das heißt?«

»Drogentest«, sagte Laura. »Wie für Luftlinienpiloten…«

»Ich hatte eine Freundin«, sagte Prentis in verwundertem Ton. »Wie ein Hochspannungsdraht. Nicht eine von diesen Göttinnen-Typen, sondern so ein Partymädchen, wissen Sie… ›Brian‹, sagt sie, ›ein paar Monate hinter Gittern, das machst du leicht ab.‹ Und sie hatte recht!« Er riß sich die Brille von der Nase. »Gottverdammich, sie war die größte Freude, die ich je hatte.«

»Tut mir leid«, sagte Laura in die plötzliche peinliche Stille. »Verloren Sie Ihre Stellung?«

»Nicht gleich. Aber sie entzogen mir alle wichtigen Projekte, wollten auf Unzurechnungsfähigkeit plädieren und mich ihren verdammten Psychotherapeuten übergeben… Ein Forschungslabor ist wie ein Kloster. Denn was soll werden, wenn Sie durchdrehen, wissen Sie, wenn Sie mit einer Handvoll Gelee in der Tasche hinauslaufen… gefährlichem Gelee… patentiertem Gelee.«

»Ja, es ist hart«, sagte David. »Ich kann mir denken, daß einem nicht viel gesellschaftliches Leben bleibt.«

»Nun, um so größere Dummköpfe sind sie«, sagte Prentis, ein wenig ruhiger jetzt. »Leute mit Phantasie… Visionäre… wir brauchen Ellbogenraum. Raum, um uns zu entspannen. Ein Großunternehmen wie Biogen verknöchert natürlich, fällt unter die Bürokraten. Drohnen. Deshalb kommen sie nicht weiter.« Er setzte die Brille wieder auf. Dann setzte er sich auf den Schreibtisch und baumelte mit den Füßen. »Eine Verschwörung, das ist es. All diese Netz-Multis, jeder hat den anderen in der Tasche. Es ist ein abgeschotteter Markt, kein echter Wettbewerb. Darum sind sie fett und träge. Aber nicht hier.«

»Wenn es aber gefährlich ist…« fing Laura an.

»Gefährlich? Teufel noch mal, ich werde Ihnen zeigen, was gefährlich ist.« Prentis' Miene hellte sich auf. »Bleiben Sie da, ich komme gleich wieder, das müssen Sie sehen. Jeder sollte es sehen.«

Er glitt vom Schreibtisch und verschwand im Hinterzimmer.

Laura und David tauschten unbehagliche Blicke. Sie schauten zu Andrej. Der nickte. »Er hat recht, wissen Sie.«

Prentis kam wieder herein. Er schwang einen meterlangen Krummsäbel.

»Gott im Himmel!« murmelte David.

»Der ist aus Singapur«, sagte Prentis. »Sie machen die Dinger für die Märkte der Dritten Welt. Haben Sie so etwas schon einmal gesehen?« Er schwenkte den Krummsäbel, und David wich zurück. »Es ist ein Buschmesser, eine Machete«, sagte Prentis in ungeduldigem Ton. »Sie sind Texaner, richtig? Sie müssen schon mal eine Machete gesehen haben.«

»Ja«, sagte David. »Um Unterholz und Gestrüpp zu schlagen…«

Prentis holte über den Kopf aus und schlug mit der Machete zu. Sie biß mit einem Kreischen in den Schreibtisch. Die Schreibtischecke flog weg und fiel zu Boden.

Die Klinge der Machete hatte die hölzerne Schreibtischplatte glatt durchschlagen. Sie hatte ein zwanzig Zentimeter langes Dreieck der Schreibtischplatte abgeschnitten, dazu zwei Abschnitte der Schreibtischwand und die rückseitige Ecke einer Schublade.

Prentis hob das abgetrennte Stück auf und stellte es wie eine hölzerne Pyramide auf den Schreibtisch. »Nicht ein Splitter! Möchten Sie selbst probieren, David?«

»Nein danke.«

Prentis grinste. »Nur zu! Mit einem Kraftkleber kann ich es gleich wieder reparieren; ich tue das die ganze Zeit. Wollen Sie wirklich nicht?« Er hielt die Machete locker in der Hand, auf Armeslänge von sich gestreckt, und ließ sie fallen. Sie sank mehr als einen Zentimeter in die Tischplatte.

»Ein schlimmes Buschmesser«, sagte Prentis und wischte sich die Hände. »Vielleicht denken Sie, es sei gefährlich, aber Sie sehen noch nicht alles. Wissen Sie, was das ist? Das ist Bauerntechnik, Bruder. Es ist Raubbau, Rodungslandwirtschaft. Können Sie sich vorstellen, was das aus den letzten Resten der tropischen Regenwälder machen wird? Es wird aus jedem Strohhut-Brasilianer eine Waldvernichtungsmaschine machen. Die gefährlichste Biotechnik der Welt ist ein Kerl mit einer Ziege und einer Axt!«

»Axt, zum Teufel«, platzte David heraus. »Das Ding ist ein Monstrum! Es kann nicht legal sein!« Er beugte sich näher und führte seine Videobrille nahe heran. »Ich sehe, daß ich dies nie durchdacht habe… Ich weiß, wir verwenden Keramikklingen in Werkzeugmaschinen, aber das ist in Fabriken mit Sicherheitsvorrichtungen! Man kann diese Dinger nicht einfach an alle und jeden verkaufen? Das ist ja wie die Verteilung von Flammenwerfern!«

»Erzählen Sie das nicht uns, David«, sagte Andrej. »Erzählen Sie es Singapur. Das sind radikale technische Kapitalisten. Wälder sind denen gleichgültig - sie haben keine Wälder zu verlieren.«

Laura nickte. »Das ist nicht Landwirtschaft, das ist massenhafte Zerstörung. Das muß gestoppt werden.«

Prentis schüttelte den Kopf. »Wir haben eine theoretische Chance, es zu stoppen. Dazu müßten wir jeden verdammten Großgrundbesitzer und Kleinbauern und Siedler in der Dritten Welt von der Scholle vertreiben.« Er brach ab. »Ja, den ehrlichen einfachen Bauern, und die Frau und seine Millionen gottverdammter Kinder. Sie fressen die Erde kahl.«

Prentis griff zerstreut durch das Loch in den Schreibtisch und zog eine Tube Klebstoff heraus. »Das ist alles, worauf es ankommt. Gewiß, vielleicht haben wir in Grenada ein bißchen Rauschgift gekocht, ein paar Programme befreit, aber das war nur für das Startkapital. Wir machen Nahrung. Und wir schaffen Arbeitsplätze zur Herstellung von Nahrung. Sehen Sie all diese Leute, die da unten arbeiten? In einer vergleichbaren Anlage in den Staaten würden Sie sie nicht sehen. Wir machen es hier arbeitsintensiv - Leute, die andernfalls Bauern geworden wären, stellen hier ihre eigene Nahrung her, für sich und ihr Land. Sie laden nicht bloß Säcke mit Nahrungsmittelhilfe aus, die ein Transportflugzeug der reichen Nationen zu mildtätigen Zwecken gebracht hat.«

»Dagegen erheben wir auch keine Einwände«, sagte Laura.

»Natürlich tun Sie es«, sagte Prentis. »Sie wollen es nicht vereinfacht und billig. Sie wollen es kostspielig und kontrolliert und völlig sicher. Sie wollen nicht, daß Bauern und Jungen aus den Slums über diese Art technischer Macht verfügen. Sie fürchten sich davor.« Er zeigte auf die Machete. »Aber Sie können nicht beides haben. Alle Technik ist gefährlich - selbst ohne bewegliche Teile.«

Langes Stillschweigen. Laura wandte sich zu Andrej. »Danke, daß Sie uns hierher geführt haben. Sie haben uns mit einem echten Problem in Berührung gebracht.« Von ihm wandte sie sich zu Prentis. »Danke, Brian.«

»Schon gut«, sagte Prentis. Sein Blick riß sich von ihrem Busen los und fand den Weg zu ihren Augen. Sie versuchte ihn anzulächeln.

Prentis legte die Klebstofftube aus der Hand. »Sie wünschen einen Rundgang durch die Anlage?«

»Ich würde es gern tun«, sagte David.

Sie schoben ihre Masken wieder über Nase und Mund und verließen das Büro. Prentis führte sie die Treppe hinunter zur Arbeitsebene. Die Leute sahen nicht sehr wie Jungen aus den Slums‹ aus - sie waren größtenteils Kader mittleren Alters, und viele Frauen waren darunter. Sie trugen Haarnetze, und ihre Papieroveralls hatten das glänzende Aussehen von urtümlichen Bäckereitüten. Sie arbeiteten in drei Schichten rund um die Uhr - ein Drittel der Besatzung schlief zu jeder Zeit in schalldicht isolierten Kajüten an Bord.

Unterstützt von Millie Syers stellte David fachmännische Fragen zur Produktionstechnik. Probleme mit Leckagen? Nein. Säuerung? Nur die übliche Rückkehr zum wilden Zustand - geschneiderte Bakterien neigten nach Millionen von Generationen zu Rückschlägen. Und wilde Bakterien produzierten nicht - sie verzehrten nur und vermehrten sich unkontrolliert. Ließ man ihre Vermehrung auf Kosten der Verdienstvollen zu, würden diese Atavismen bald überhandnehmen, darum wurden sie erbarmungslos aus den Bottichen gebrannt.

Wie stand es mit dem Rest der Charles Nogues, jenseits der Schotts? Nun, das Schiff sei voll von Anlagen wie dieser, vom Bug bis zum Heck, alle sicherheitsversiegelt, so daß Verseuchungen sich nicht ausbreiten könnten. Zwischen den Produktionseinheiten würden Rückstände und Wasser hin und her gepumpt, selbstverständlich mit der gebotenen Vorsicht - sie verwendeten die alten Tankerpumpen, die noch immer in gutem Zustand seien. Die Sicherheitssysteme des Schiffes, eingerichtet, um Explosionen von Petroleumgas zu verhüten, seien ideal für biotechnische Anlagen.

Laura befragte einige der Frauen. Ob ihnen die Arbeit gefiele? Selbstverständlich - sie hätten alle Arten von Sondervergünstigungen und bekämen einen Bonus auf ihre Kreditkarten, wenn sie die vorgegebenen Normen überschritten. Fernsehverbindung mit ihren Familien, besondere Belohnungen für erfolgreiche neue Rezepte… Ob sie sich hier unten nicht eingesperrt fühlten? Großer Gott, nein, kein Vergleich mit den überfüllten Sozialsiedlungen auf der Insel. Und einen ganzen Monat Urlaub. Natürlich jucke es ein bißchen, wenn man wieder diese Hautbakterien bekäme…

Die Besichtigung dauerte länger als eine Stunde. Schließlich nahm David Dr. Prentis beiseite. »Sie sagten etwas über Toiletten?«

»Ja, tut mir leid. E. coli ist ein Darmbakterium… wenn es freigesetzt wird, haben wir eine Menge Schwierigkeiten.«

»Das Essen vorhin war gut, und ich aß eine Menge. Ah, mein Kompliment für den Küchenchef.«

»Danke.«

David berührte seine Videobrille. »Ich denke, ich habe so ziemlich alles gesehen… Sollte Atlanta noch Fragen haben, könnten wir in Verbindung treten?«

»Ahemm…« sagte Prentis. Andrej kam ihm zu Hilfe. »Das ist ein bißchen schwierig, David.« Näher äußerte er sich nicht dazu.

David vergaß die Sicherheitsvorschriften und wollte Prentis wieder die Hand schütteln. Als sie gingen, sahen sie durch die Bürofenster, wie Prentis wieder mit der Zerstäuberdose hin und her ging und sein Büro einnebelte.

Sie stiegen die Eisentreppe hinauf zum Durchgang durch das Schott. Andrej war erfreut. »Ich bin froh, daß Sie Dr. Prentis kennengelernt haben. Er setzt sich sehr ein. Aber bisweilen sehnt er sich nach seinen Landsleuten.«

»Ihm scheinen tatsächlich ein paar Annehmlichkeiten zu fehlen«, sagte David.

»Ja«, sagte Laura. »Eine Freundin, zum Beispiel.«

Andrej war überrascht. »Wieso, Dr. Prentis ist verheiratet. Mit einer Grenadinerin.«

»Oh«, sagte Laura mit einem Anflug von Verlegenheit. »Das freut mich für ihn… Wie ist es mit Ihnen, Andrej? Sind Sie verheiratet?«

»Nur mit der Bewegung«, sagte Andrej. Er scherzte nicht.

 

Die Sonne war im Begriff unterzugehen, als sie zu ihrem Haus zurückkehrten. Ein langer Tag lag hinter ihnen. »Sie müssen müde sein, Carlotta«, sagte Laura, als sie mit steifen Gliedern aus dem Dreirad kletterten. »Kommen Sie mit ins Haus und essen Sie mit uns.«

»Es ist nett, daß Sie mich einladen«, sagte Carlotta mit einem süßen Lächeln. Ihre Augen glänzten, und ein weiches rosiges Leuchten war auf ihren Wangen. »Aber ich kann es heute abend nicht schaffen. Ich habe Kommunion.«

»Wollen Sie wirklich nicht?« sagte Laura. »Heute abend würde es uns gut passen.«

»Ich kann später in der Woche vorbeikommen. Und vielleicht meinen Freund mitbringen.«

Laura runzelte die Stirn. »Bis dahin könnte ich schon vorgeladen sein, meine Erklärung abzugeben.«

»Nein, sicherlich nicht«, widersprach Carlotta. »Ich habe noch nicht mal ausgesagt.« Sie drehte sich auf dem Fahrersitz herum und tätschelte die Tragtasche des Babys. »Wiedersehen, Kleines. Wiedersehen miteinander. Ich werde anrufen oder was.« Sie gab Gas, ließ den Kupplungshebel los und fuhr an, daß der Kies spritzte. Einen Augenblick später war sie zum Tor hinaus.

»Typisch«, sagte Laura. Sie stiegen die Freitreppe hinauf. David zog seine Schlüsselkarte. »Nun ja, Kommunion, das hört sich ziemlich wichtig an…«

»Ich meine nicht Carlotta, sie ist bloß ein Dummchen, ohne Bedeutung. Ich meine die Bank. Es ist Methode, siehst du nicht? Sie lassen uns hier in diesem großen alten Haus herumsitzen, bis wir schimmlig werden, statt mich meine Sache vortragen zu lassen. Und sie rufen Carlotta vorher zur Aussage auf, nur um es uns hinzureiben.«

David wurde nachdenklich. »Meinst du?«

»Bestimmt. Deshalb diese Besichtigungen und alles.« Sie folgte ihm in die Eingangshalle. »Sie bearbeiten uns, David; das ist alles Teil eines Planes… Was riecht so gut?«

Rita hatte das Abendessen fertig. Es gab gefülltes Schweinefleisch mit Pfeffer und Petersilie, kreolisches Ratatouille, frisches warmes Brot und Rumsouffle als Nachspeise. In einem kerzenbeschienenen Speisezimmer mit frischem Damast und Blumen. Es war unmöglich, abzulehnen. Nicht ohne Rita zu beleidigen. Und schließlich mußten sie das Haus mit jemandem teilen… Wenigstens mußten sie ein paar Bissen versuchen, nur um der Höflichkeit willen… Und nach all diesem scheußlichen Scop… Es war so köstlich, daß man einfach nicht widerstehen konnte. Laura aß wie ein Vielfraß.

Und kein Geschirr abzuspülen. Die Bediensteten räumten alles ab und stapelten es auf kleine Servierwagen aus Rosenholz. Sie brachten Brandy und kubanische Zigarren. Und sie wollten auch das Baby hinaustragen. Laura ließ es nicht zu.

Im Obergeschoß gab es ein Arbeitszimmer. Es hatte nicht viel von einem herkömmlichen Studierzimmer, da die Bücher fehlten, dafür gab es Hunderte von Videokassetten und altmodischen Schallplatten, und sie zogen sich mit ihren Getränken dorthin zurück. Es schien irgendwie standesgemäß, in dieser Umgebung.

An den Wänden des Arbeitszimmers hingen zahlreiche gerahmte Fotografien. Laura betrachtete sie, während David die Videokassetten durchsah. Es wurde bald deutlich, wer Mr. Gelli war, der frühere Besitzer. Er war der aufgeschwemmte Mann mit dem feisten Gesicht, der irgendwelchen vage vertrauten, vage abstoßenden Las-Vegas-Schaugeschäfttypen kumpelhaft den Arm um die Schultern legte… hier schmeichelte er sich bei einem schlangenäugigen alten Chinesen in einem langen weißen Kleid ein - mit einem Schreck erkannte Laura, daß es der Papst war.

David steckte eine Kassette ins Videogerät, setzte sich auf die Couch - ein prall gestopftes Ungetüm in purpurnem Samt - und schaltete den Fernseher mit einer klobigen Fernbedienung ein. Laura setzte sich zu ihm. »Was gefunden?«

»Eigenproduktion, glaube ich. Er hat eine Menge davon - ich wählte den neuesten Film aus.«

Ein Fest im Herrenhaus. Im Speisezimmer ein großer, häßlicher Kuchen, ein kaltes Buffet, unter dem der Tisch zusammenzubrechen drohte. »Ich hätte nicht so viel essen sollen«, sagte Laura.

»Schau dir den Kerl mit dem Partydeckel an«, sagte David. »Das ist ein verrückter Wissenschaftler, bestimmt. Können Sie das sehen, Atlanta?«

Leises Quieken drang aus Lauras Ohrhörer; sie hatte ihn herausgenommen und ließ ihn neben dem Kinn baumeln. Das Ding war ihr nicht ganz geheuer, nachdem sie es mit Carlotta geteilt hatte; als hätte sie ihre Zahnbürste mit ihr geteilt, oder… nun, es war am besten, nicht darüber nachzudenken. »Warum nimmst du die Brille nicht ab, David?« Sie nahm ihre Brille von der Nase und legte sie so auf die Lehne der Couch, daß sie die Tür im Blickfeld hatte und sie vor Eindringlingen schützte. »Wir sind hier in Sicherheit, nicht wahr?«

»Hmm…« David hielt das Videoband an und stand auf. Er drückte den Knopf der Sprechanlage neben der Tür. »Hallo. Ah, Jimmy? Ja, ich möchte, daß Sie uns diesen elektrischen Wecker vom Nachttisch bringen. Ja, gleich. Danke.« Er kehrte zurück zur Couch.

»Das solltest du nicht tun«, sagte Laura.

»Du meinst, ich soll sie nicht wie Diener herumkommandieren? Ja, ich weiß, es entspricht nicht dem Brauch bei Rizome. Aber ich habe eine Idee - morgen will ich mit dem Personal darüber reden…« Ein diskretes Klopfen. David nahm die Uhr aus Jimmys Hand. »Nein, sonst nichts… meinetwegen, bringen Sie die Flasche!« Er stöpselte seinen Ohrhörer in den Wecker. »Wie ist der Empfang, Atlanta?«

(»Sie könnten eine Brille ruhig auf den Fernseher richten«,) sagte die Uhr. (»Diese Tür zu beobachten, ist ziemlich langweilig.«) Laura erkannte die Stimme nicht; irgendein Mann von der Nachtschicht. Sie hatte inzwischen aufgegeben, sich darum zu kümmern.

Die Videoaufzeichnung lief weiter; David hatte den Ton gedämpft. »Viele Anglos bei diesem Fest«, bemerkte er. »Ich vermisse die Rastas.«

Laura nippte an ihrem Brandy. Er füllte ihren Mund mit flüssigem Gold. »Ja«, sagte sie und inhalierte über dem Schwenker. »Auf dieser Insel gibt es viele verschiedene Fraktionen, und ich kann mir nicht denken, daß sie allzu gut miteinander auskommen. Da sind die Revolutionäre der Bewegung… und die Wodumystiker… und die High-Tech-Wissenschaftler… und die Techniker…«

»Und die Armen, die von der Hand in den Mund leben…« Klopf klopf klopf; der Brandy war gekommen. David brachte ihn zur Couch. »Ist dir klar, daß dieses Zeug uns vergiften könnte?« Er füllte ihre Schwenker auf.

»Ja, aber mir war schlimmer zumute, als ich das Kind bei Carlotta zurückließ; seither ist sie so brav, daß ich fürchte, Carlotta könnte ihr eine Art Frohsinnspille gegeben haben…« Sie stieß die Schuhe von den Füßen und zog die Beine unter sich auf die Couch. »David, diese Leute wissen, was sie tun. Wenn sie uns vergiften wollten, könnten sie es mit irgendeiner Winzigkeit tun, die wir nicht einmal wahrnehmen würden.«

»Ja, das sagte ich mir, als wir die Ratatouille aßen.« Ein angetrunkener Gast hatte sich den Kameramann vorgenommen und brüllte vergnügt in die Linse. »Sieh dir diesen Clown an! Ich vergaß die einheimische Fraktion des kriminellen Lumpengesindels zu erwähnen… Wahrscheinlich ergeben erst alle zusammen eine Steueroase.«

»Es reimt sich nicht zusammen«, sagte Laura, die sich in eine angenehme, brandybefeuerte Meditation sinken fühlte. »Es ist, wie wenn du nach einem Sturm den Strand entlangläufst. Alle Arten von Treibgut hat es an die goldenen grenadinischen Ufer geschwemmt… Wenn du diese Leute abklopfst und die richtige Stelle findest, gehen sie vielleicht in Stücke. Aber zuviel Druck, und alles wird zusammengeschweißt, und du hast es mit einem Ungetüm zu tun. Ich dachte heute an die Nazis, damals. Zum Umkreis ihrer Ideologie gehörte ein ganzer Wust von mystischen Vorstellungen… Aber ihre Züge fuhren pünktlich, und ihre Gestapo war effizient wie der Teufel.«

David nahm sie bei der Hand und blickte ihr neugierig ins Gesicht. »Du engagierst dich wirklich für diese Sache, wie?«

»Es ist wichtig, David. Die wichtigste Sache, die wir je angepackt haben. Du kannst dich darauf verlassen, daß ich engagiert bin. Hundertprozentig.«

Er nickte. »Ich merkte, daß du ein wenig nervös warst, als ich dich im Aufzug anfaßte.«

Sie lachte kurz auf. »Ja, ich war nervös… es ist gut, sich hier zu entspannen, ganz unter uns.« Jemand mit einer Fliege sang auf einer behelfsmäßigen Bühne, ein pomadisierter Unterhalter machte Späße und erging sich in Anzüglichkeiten für Eingeweihte… Die Kamera schwenkte weiter zu Männern im Publikum: große Unternehmer und Schieber, die mit falscher Jovialität über sich selbst lachten…

David legte den Arm um sie. Sie legte den Kopf an seine Schulter. Er nahm diese Geschichte nicht so ernst wie sie, dachte sie. Vielleicht, weil er nicht neben Winston Stubbs auf der Veranda gestanden hatte…

Sie schnitt den häßlichen Gedanken ab und trank noch etwas Brandy. »Du hättest eine frühere Kassette wählen sollen«, sagte sie. »Vielleicht könnten wir sehen, wie dieses Haus war, bevor der alte Gelli seine Dekorateure darauf losließ.«

»Ja, ich habe unserem Freund Gelli auch noch nicht in dieser Festgesellschaft entdeckt. Es muß die Party seines Neffen gewesen sein, oder was… Oh!«

Szenenwechsel. Es war jetzt später, draußen am Schwimmbecken. Eine nächtliche Badegesellschaft, viele Fackeln, Handtücher und üppige junge Frauen in Bikinihöschen. »Heiliger Strohsack«, sagte David mit Komödiantenstimme. »Nackte Weiber! Mann, dieser Bursche versteht zu leben!«

Ein ganzer Schwarm junger Frauen, beinahe nackt. Sie tranken geziert aus Cocktailgläsern, kämmten nasses Haar mit langen, sinnlichen Strichen und ausgestellten Ellbogen, lagen ausgestreckt, schläfrig oder im Drogenrausch, als erwarteten sie, vom Fackelschein gebräunt zu werden. Alle Hautfarben waren vertreten. »Gut zu sehen, daß endlich auch ein paar Schwarze aufgetaucht sind«, sagte Laura mit säuerlicher Miene.

»Diese Mädchen müssen uneingeladen zur Party gekommen sein«, sagte David. »Das Speisezimmer war schon ohne sie voll besetzt.«

»Sind es Nutten?«

»Muß wohl so sein.«

»Ich hoffe«, sagte Laura, »dies wird sich nicht zu einer Orgie entwickeln.«

»Nein«, sagte David gefühllos. »Du brauchst nur zu sehen, wie die Kamera ihren Titten folgt. Der Kameramann würde sich nicht so erregen, wenn noch etwas Heißes bevorstünde.« Er setzte den leeren Cognacschwenker ab. »Da, in dieser Einstellung sieht man einen Teil des alten Gartens…« Er hielt den Film an.

(»He«,) protestierte der Wecker.

»Verzeihung«, sagte David. Der Film lief weiter. Männern machte es Spaß, Frauen so zu sehen - wiegende Hüften, schaukelnde Brüste, die weiche, glatte Oberfläche weiblicher Haut. Laura, leicht benebelt vom Brandy, dachte darüber nach. Sie konnte nichts daran finden. Doch trotz Davids vorgeschützter Nonchalance merkte sie, daß auch er ein wenig reagierte. Und das war gleichsam stellvertretend ein gewisser Kitzel.

Ausnahmsweise waren sie unbeobachtet, dachte Laura. Vielleicht, wenn sie ganz still wären…

Ein schlankes braunes Mädchen mit Goldketten um die Knöchel bestieg das Sprungbrett. Es schlenderte zum Ende, bückte sich anmutig, umfaßte mit beiden Händen das Sprungbrett an den Seiten und machte einen Handstand. Sie hielt ihn fünf lange Sekunden, dann stieß sie sich ab und tauchte steil mit dem Kopf voran ins Wasser ein… »Großer Gott!« sagte David. Er hielt das Bild mitten im Eintauchen fest.

Laura zwinkerte. »Was ist denn daran so Besonderes?«

»Nicht das Mädchen, Schatz. Paß auf!« Er ließ den Film rückwärts laufen; das Mädchen tauchte aus dem Wasser, flog mit den Füßen voran in die Luft, packte mit beiden Händen das Sprungbrett. Dann knickte es in der Mitte ab, richtete sich auf, schlenderte rückwärts… erstarrte abermals. »Da«, sagte David. »Ganz rechts, am Wasser, das ist Gelli. Der Mann im Liegestuhl.«

Laura spähte in den Bildschirm. »Ja, das muß er sein… er sieht dünner aus.«

»Achte auf seine Bewegungen…« Das Mädchen ging wieder zum Ende des Sprungbretts… und Gellis Kopf wackelte. Eine spastische Bewegung, krampfhaft, wobei das Kinn eine Achterfigur andeutete und die Augen ins Leere starrten. Und dann hörte das Kopfwackeln auf, er brachte es irgendwie unter Kontrolle und fletschte die Zähne in der Anstrengung. Und seine Hand kam hoch, eine welke Hand wie ein Bündel dürrer Stecken, am Handgelenk abwärts geknickt.

Im Vordergrund balancierte das Mädchen anmutig am Ende des Sprungbretts, die schlanken Beine durchgedrückt, und hinter der Gestalt machte Gelli drei kleine tupfende Handbewegungen in sein Gesicht - schnell und ruckartig, ganz und gar ritualisiert. Dann tauchte das Mädchen ein, und die Kamera schwenkte weg. Und Gelli verschwand.

»Was ist los mit ihm?« flüsterte Laura.

David war blaß, die Lippen verkniffen. »Ich weiß nicht. Offensichtlich irgendeine nervöse Störung.«

»Schüttellähmung?«

»Vielleicht. Oder vielleicht etwas, wofür wir nicht einmal einen Namen haben.«

David schaltete den Fernseher aus. Er stand auf und zog den Stecker von der Weckeruhr. Sorgsam setzte er seine Brille auf. »Ich werde etwas Post beantworten, Laura.«

»Ich komme mit.« Sie konnte lange nicht einschlaf en. Und dann kamen die Alpträume.

 

Am nächsten Morgen untersuchten sie die Fundamente auf Setzrisse und Feuchtigkeit. Sie öffneten jedes Fenster und notierten, wo das Glas gesprungen war, wo die Rahmen sich verzogen hatten oder von Trockenfäule befallen waren. Sie untersuchten den Dachboden auf durchhängende Tragbalken und modernde Isolierungen, die Treppenstufen auf federnde Bretter, maßen die Unebenheiten der Böden und katalogisierten die Vielzahl von Wandrissen und Putzschäden.

Die Bediensteten beobachteten ihr Tun mit wachsender Beunruhigung. Zur Mittagszeit kam es zu einer kleinen Diskussion. Jimmy, so stellte sich heraus, betrachtete sich als ›Butler‹, während Rajiv ein ›Hausmeister‹ und Rita eine ›Köchin und Kinderfrau‹ war. Sie waren jedenfalls kein Bautrupp. David fand dies lächerlich altmodisch; Reparaturen waren notwendig, warum sie nicht anpacken? Wo lag das Problem?

Sie antworteten mit verletztem Stolz. Sie seien ausgebildetes und erfahrenes Hauspersonal, keine nichtsnutzigen, ungelernten Eckensteher und Tagediebe. Sie hätten einen bestimmten Platz auszufüllen und bestimmte Arbeit zu tun, die damit verbunden sei. Jedermann wisse dies. So sei es immer gewesen.

David lachte. Sie benähmen sich wie Bewohner einer Kolonie des neunzehnten Jahrhunderts, sagte er; wie vertrage sich das mit Grenadas antiimperialistischer Revolution und dem Streben nach technischem und gesellschaftlichem Fortschritt? Dieses Argument verfehlte überraschenderweise jede Wirkung. Gut, sagte David schließlich. Wenn sie nicht helfen wollten, sei das nicht sein Problem. Sie könnten die Füße hochlegen und pina coladas trinken.

Oder vielleicht könnten sie sich die Zeit vor dem Fernseher vertreiben, schlug Laura vor. Zufällig habe sie ein paar Rizome-Videokassetten dabei, die verdeutlichen könnten, welche Einstellung man bei Rizome zu verschiedenen Dingen habe…

Nach dem Mittagessen setzten Laura und David ihre Inspektion unermüdlich fort. Sie stiegen in die Ecktürme, wo die Bediensteten ihre Zimmer hatten. Die Böden waren schadhaft, die Dächer undicht, und die Sprechanlage war durch Kurzschluß ausgefallen. Bevor sie die Räume verließen, machten Laura und David demonstrativ alle Betten.

Am Nachmittag sonnte sich David am Boden des leeren Schwimmbeckens. Laura spielte mit dem Baby. Später untersuchte David die elektrische Installation, während sie die Post beantwortete: Das Abendessen war wieder phantastisch.

Sie waren müde und legten sich frühzeitig schlafen.

Die Bank ignorierte sie. Sie erwiderten die Gefälligkeit.

Am nächsten Tag packte David seinen Werkzeugkasten aus. Er machte unbewußt ein kleines Ritual daraus, wie ein Fürst, der seine Smaragde inspiziert. Der Werkzeugkasten wog fünfzehn Pfund und war von Rizome-Handwerkern in Kyoto liebevoll zusammengestellt worden. Schaute man hinein, wo es von Chromstahl und Keramik schimmerte, und wo jeder Teil seine sauber aufgeschäumte Bettung hatte, so konnte man ein Vorstellungsbild der Männer gewinnen, die ihn gemacht hatten - weißgewandete ZEN-Priester der Drehbank, Männer, die von braunem Reis und Maschinenöl lebten…

Brecheisen, Blechschere, ein sehr kleiner PropanSchweißbrenner, Rohrschlüssel, Gewindeschneider, teleskopischer Bohrer, Ohmmeter, Rohr-, Flach-, Spitzzangen, Spezialhandgriffe, die sich an verschiedenen Bohrern und Schraubenziehern befestigen ließen… Davids Werkzeugkasten war ihr bei weitem kostspieligstes Besitztum.

Den ganzen Vormittag arbeiteten sie an der Installation, beginnend mit dem Bad des Dienstpersonals. Harte, schmutzige Arbeit, bei der man auf den Knien oder auf dem Rücken herumkriechen mußte. Nach seiner nachmittäglichen Sonnenanbetung blieb David draußen. Er hatte in einem Schuppen Gärtnerwerkzeug gefunden und nahm den Vorgarten in Angriff, mit freiem Oberkörper und seiner Videobrille. Laura sah, daß er die beiden Torwächter überredet hatte, ihm zu helfen. Sie beschnitten den wildwuchernden Efeu, befreiten die Sträucher von abgestorbenen Zweigen und scherzten miteinander.

Sie hatte Atlanta nichts zu melden, also vertrieb sie sich die Zeit mit privaten Anrufen. Wie nicht anders zu erwarten, gab es viele gute Ratschläge aus allen Himmelsrichtungen. Mehrere Idioten zeigten sich enttäuscht, daß es ihnen noch nicht gelungen war, in ein geheimes grenadinisches Drogenlabor einzudringen. Ein Rizome-Graphikprogramm war als Raubkopie in Kuba zu haben - ob die Bank of Grenada dahinterstecke? Rizome hatte die polnische Regierung um Informationen gebeten - Warschau sagte, Andrej Tarkowskij sei ein Schwarzhändler, der wegen Paßfälschung gesucht werde.

Die Ausschußwahlen rückten näher. Es sah so aus, als sollte es ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Suvendra und Pereira geben. Der letztere, der nie versäumte, den netten Kerl herauszukehren, machte eine überraschend gute Figur.

David kam herein, um zu duschen. »Du wirst dir da draußen einen Sonnenbrand holen«, sagte sie.

»Nein, werde ich nicht. Riech mal!« Er stank nach Schweiß mit einem Unterton von Pfefferminz. Seine Haut sah wie gewachst aus.

»Mein Gott, nein!« sagte sie. »Hast du etwa dieses Zeug aus der Tube aufgetragen?«

»Klar«, sagte David in verwundertem Ton. »Prentis behauptete, es sei das beste Mittel, das es überhaupt gebe - du erwartest doch nicht, daß ich diese Behauptung ungeprüft akzeptiere?« Er betrachtete seine Unterarme. »Gestern habe ich das Zeug auch benutzt. Ich könnte schwören, daß ich schon dunkler geworden bin, und ohne Sonnenbrand.«

»David, du bist ein hoffnungsloser Fall…«

Er lächelte nur. »Ich glaube, heute abend werde ich eine Zigarre rauchen!«

Sie aßen zu Abend. Die Bediensteten hatten Lauras Videowerbung für Rizome gesehen und waren verwirrt.

Sie wollten wissen, wieviel davon wahr sei. Alles, sagte Laura unschuldig.

Als sie im Bett lagen, ließ sie sich von Atlanta ein Band in japanischer Sprache überspielen - Kriminalgeschichten von Edogawa Rampo. David schlief gleich ein, eingelullt von den unverständlichen vielsilbigen Worten. Laura lauschte, während auch sie allmählich dem Schlummer entgegentrieb, und ließ die fremde Grammatik in jene verborgenen Regionen eindringen, wo das Gehirn Sprache analysierte. Sie schätzte Rampos direktes journalistisches Japanisch, das frei war von den üblichen umschweifigen und ermüdend verhüllten Anspielungen…

Stunden später wurde sie in der Dunkelheit wachgerüttelt. Rauhes Stimmengewirr auf englisch. »Laura, wach auf, es gibt Neuigkeiten…«

(»Laura, ich bin es«,) sagte Emily Donato gleichzeitig aus der Dunkelheit.

Laura wälzte sich auf dem schaukelnden Wasserbett herum. Das Zimmer lag in tiefen schwarzgrauen Schatten. Sie machte Licht, blinzelte zur Uhr. Zwei Uhr früh. »Was gibt es, Emily?«

(»Wir haben die FAKT«,) verkündete der Wecker in Emilys vertrauter Stimme.

»Was für Fakt?«

(»Die FAKT, Laura. Wir wissen, wer dahintersteckt. Wer sie wirklich ist. Es ist Molly.«)

»Ach, die Terroristen«, murmelte Laura. Verspätet stellte sich ein kleiner Schreck ein und munterte sie auf. »Molly? Molly wer?«

(»Die Regierung von Molly«,) sagte Emily.

»Es ist ein Land in Nordafrika«, sagte David von seiner Seite des Bettes. »Die Republik Mali. Hauptstadt Bamako, wichtigster Exportartikel Baumwolle, Bevölkerungswachstum zwei Prozent.« David, der Computerspieler.

»Mali.« Der Name klang nur unbestimmt vertraut. »Was haben die mit allem zu tun?«

(»Daran arbeiten wir noch. Mali ist eines dieser Länder der südlichen Sahara, wo ständig Hungersnöte herrschen, und wo die Armee die Regierungsgewalt ausübt. Es sieht dort schlimm aus… Die FAKT ist eine Art Einsatzgruppe, ein Sonderkommando. Wir haben das aus drei verschiedenen Quellen.«)

»Von wem?« fragte Laura.

(»Kymera, I.G. Farben und dem algerischen Außenministerium.«)

»Klingt gut«, sagte Laura. Sie vertraute den Auskünften der Kymera AG - die Japaner warfen nicht leichtfertig mit Anschuldigungen um sich. »Was sagt Wien dazu?«

(»Einstweilen nichts. Ich vermute, sie haben etwas zu vertuschen. Außerdem hat Mali die Wiener Konvention nicht unterzeichnet… Der Zentralausschuß tritt morgen zusammen. Leute von Kymera und I.G. Farben werden eingeflogen. Wir alle glauben, daß etwas an der Sache stinkt.«)

»Was sollen wir tun?«

(»Sagt es der Bank, wenn ihr eure Erklärung abgebt. Es war nicht Singapur, das ihren Mann tötete. Auch nicht die Commerzbank in Luxemburg. Es war der Geheimdienst von Mali.«)

»Großer Gott«, sagte Laura. »Ja, gut…«

(»Ich reiche dir noch Datenmaterial auf einer verschlüsselten Frequenz nach… Gute Nacht, Laura. Ich bin auch lange aufgeblieben, wenn es dich trösten kann.«)

Emily beendete ihre Sendung.

»Huh…« Laura schüttelte den Kopf, vertrieb die letzten

Spuren von Schläfrigkeit. »Jetzt kommen die Dinge in Bewegung…« Sie wandte sich zu ihrem Mann - »liih!«

»Ja«, sagte David. Er streckte einen Arm aus und zeigte ihn ihr. »Ich bin… ah… schwarz.«

»David… wirklich, du bist schwarz!« Laura hatte ihm die Decke vom Körper gezogen und seinen bloßen Oberkörper freigelegt. Ein Schauer überlief sie. »Gott, David, sieh dich bloß an! Deine Haut ist schwarz! Überall!«

»Ja… Ich hatte das Sonnenbad am Schwimmbecken nackt genommen.« Er zuckte verlegen die Achseln. Seine Schultern sahen auf dem weißen Kissen absolut schwarz aus. »Erinnerst du dich an diesen Schiffsoffizier an Bord der Charles Nogues - diesen blonden, schwarzhäutigen Burschen? Als ich ihn sah, fragte ich mich…«

»Ja, der blonde schwarze Mann… Aber ich dachte, er hätte sich das Haar gefärbt…«

»Sein Haar war natürlich, das konnte man sehen, aber seine Hautfarbe war verändert. Es ist diese Sonnencreme, die Prentis mir gegeben hat. Sie wirkt auf die Hautpigmente, das Melanin, nehme ich an. Da unten ist es ein bißchen fleckig… als ob ich sehr dunkle Sommersprossen hätte, aber große, mehr wie Leberflecken… Ich hätte fragen sollen, wie es wirkt.«

»Es ist offensichtlich, wie es wirkt, David - es macht dich schwarz!« Laura begann zu lachen, eingezwängt zwischen dem Erschreckenden und dem Lächerlichen… »Fühlst du dich denn gut, David?«

»Wie sonst«, sagte er. »Aber wie stellst du dich dazu?«

»Laß dich ansehen…« Sie entblößte einen Augenblick seinen Unterleib und begann zu kichern. »Ich weiß… es ist nicht so komisch, aber.. David, du siehst aus wie ein schwarzbuntes Rindvieh.« Sie rieb mit dem Daumen energisch an seiner Schulter. »Es geht nicht weg, nicht? - Na, diesmal hast du es wirklich geschafft!«

»Das ist revolutionär«, sagte er nüchtern.

Ein Lachanfall schüttelte sie.

»Es ist mein Ernst, Laura. Du kannst schwarz sein, aus einer Tube. Siehst du nicht, was das bedeutet?«

Sie biß sich auf den Knöchel, bis sie die Selbstbeherrschung wiedergewann. »David, die Leute wollen nicht schwarz sein. Lieber riskieren sie Hautkrebs.«

»Warum nicht? Mir würde es nichts ausmachen. Wir leben unter einer harten texanischen Sonne. Alle Texaner sollten schwarz sein. In dem Klima ist es das Beste. Vernünftig.«

Sie biß sich auf die Unterlippe und starrte ihn an. »Das ist einfach zu unheimlich… Du bist kein richtiger Schwarzer, David. Du hast eine europäische Nase, einen europäischen Mund und Gesichtsschnitt. Oh, sieh mal, da ist eine Stelle an deinem Ohr, die du übersehen hast!« Sie kreischte vor Lachen.

»Hör auf, Laura, du machst mich verrückt.« Er setzte sich auf. »Gut, ich bin kein echter Schwarzer, aus der Nähe gesehen… Aber in einer Menschenmenge bin ich ein Schwarzer. Genauso in einem E-Mobil oder auf der Straße. Oder bei einer politischen Versammlung. Das könnte alles verändern.«

Sein Engagement überraschte sie. »Nicht alles, David, und vielleicht nicht in der Weise, wie du es dir vorstellst. Bei Rizome würde es keinem etwas ausmachen, aber anderswo würdest du es zu spüren bekommen.«

»Richtig, Laura, wir sollten nicht so tun, als sei der Rassismus tot und abgetan. Du brauchst nur herumzuhören, wie die Leute reden. Warum ist Afrika in der hoffnungslosen Lage, in der es steckt, und kommt nie heraus? Weil die Neger faul sind, keine Ideen haben und nichts von Organisation verstehen! Das ist die verbreitete Auffassung, heute wie vor hundertfünfzig Jahren. Das könnte sich nun ändern… Verdammt noch mal, diese Grenadiner haben wirklich eine Erfindung gemacht! Und es ist einfach! Ich frage mich, wieviel sie von dem Zeug gemacht haben? - Kilos? Tonnen?«

In Davids Augen leuchtete visionäres Feuer. »Jetzt kann ich in der Dritten Welt herumlaufen, und keiner ballt die Faust in der Tasche, wenn er mich sieht. Ich kann auf den erstbesten Typ zugehen und sagen: ›Hallo! Ich bin ein weißer amerikanischer Imperialist und Ausbeuter, aber ich bin schwarz wie Pik As, compadre.‹ Das ist die großartigste Sache, von der ich je gehört habe.«

Laura runzelte die Stirn. »Das vielleicht, aber zu Hause werden sie den Kopf über dich schütteln. Auch wenn es bloß Farbe ist. Auch wenn es dich selbst, deine Persönlichkeit nicht verändert. Oder die Art deines Benehmens.«

»Sag das nicht. Schon ein neuer Haarschnitt kann dein Auftreten verändern.« Er ließ sich ins Kissen zurückfallen und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Auch seine Achselhöhlen waren fleckig. »Ich muß mehr von diesem Zeug besorgen.«

Nun war er engagiert. Endlich. Es hatte eines höchst absonderlichen äußeren Auslösers bedurft, um ihn aufzurütteln, aber jetzt war er ganz bei der Sache. Er hatte wieder diesen Ausdruck in den Augen, wie damals, als sie jung verheiratet gewesen waren und gemeinsam das Ferienheim geplant hatten. Sie war froh, daß er, statt deprimiert zu sein oder vor Wut zu toben, seine Veränderung so leicht nahm, ihr sogar noch etwas abzugewinnen vermochte.

Sie legte den Arm über seine Brust und betrachtete den Gegensatz zwischen ihrer Haut und seinem schwarzen Brustkorb. »Du siehst gut aus, David… es steht dir irgendwie. Du erinnerst mich an die schwarz geschminkten Schauspieler, die den Othello spielen.« Sie küßte seine Schulter, dann lachte sie hell auf. »Hätte nie gedacht, daß ich es mal mit einem Schwarzen treiben würde!«

Plötzlich stieg David aus dem Bett. »Atlanta, wer ist an der Leitung?«

(»Ah, Nash, Thomas Nash, Sie kennen mich nicht…«)

»Tom, ich möchte, daß Sie sich dies ansehen.« David nahm seine Videobrille vom Nachttisch und nahm sich selbst von oben bis unten auf. »Was sagen Sie dazu?«

(»Es scheint Probleme mit den Helligkeitsabstufungen zu geben, Rizome-Grenada. Außerdem tragen Sie keine Kleider, nicht?«)

Laura dachte, daß David wieder ins Bett steigen würde. Statt dessen fing er an, Leute anzurufen. Sie schlief ein, während er noch immer eiferte.