Nikki nieste heftig und unterdrückte ein Fluchen. Obwohl sie sich bemühte, bei geschlossenen Fenstern im Haus zu bleiben, war ihre Allergie im Laufe der Woche schlimmer geworden. Was auch immer für allergieauslösende Partikel in der Luft herumschwirrten – sie waren in das Haus und in ihren Körper eingedrungen und resistent gegen Nasenduschen und Antihistamine. Es war peinlich, dass sie sich selbst nicht kurieren konnte.
Das Beste daran, in der Praxis eingesperrt zu sein, war, dass sie sich in den letzten Tagen nicht mit Porter hatte auseinandersetzen müssen.
Nikki runzelte die Stirn.
Und das Schlimmste daran, in ihrer Praxis eingesperrt zu sein, war, dass sie sich in den letzten Tagen nicht mit Porter hatte auseinandersetzen dürfen.
Sie rieb sich die tränenden Augen und putzte sich die Nase. Dann warf sie das zusammengeknüllte Taschentuch in den Mülleimer auf einen Haufen anderer benutzter Taschentücher. Weil ihr Hirn wie umnebelt war, kam sie mit dem Antrag nur langsam voran. Aber nun war sie fast fertig. Nachdem keine gekauften männlichen Patienten mehr im Wartezimmer saßen, bestand ihre Kundschaft zumeist aus den Frauen und ihren Leiden– sie behandelte also vor allem Insektenstiche und Migräne.
Und die allgegenwärtigen Allergien.
Sie nieste wieder und stöhnte beim Druck auf ihre wunden Nebenhöhlen auf. Das rumpelnde Geräusch von großen Lastwagen, die sich näherten, und laute Stimmen, die draußen ertönten, erregten ihre Neugier. Sie erhob sich und sah aus dem Fenster. Zwei riesige Tieflader, die offensichtlich eingeschweißte Gebäudeteile transportierten, fuhren langsam an der Pension vorbei. Nikki lächelte, und ihr Herz schlug schneller. Die Baumodule für ihre Ambulanz waren da.
Sie erstarrte, als sie sich bei dem Gedanken erwischte – es war nicht ihre Ambulanz. Es gab keinen Grund, aufgeregt zu sein wegen der Fortschritte an einem Gebäude in einer Stadt, die sie sowieso bald verlassen würde. Porter fuhr auf einem Geländefahrzeug vorweg und geleitete die Trucks an ihr Ziel. Unwillkürlich beschleunigte sich ihr Puls. Sie straffte die Schultern und trat vom Fenster zurück. Sie fühlte sich furchtbar. Sie musste endlich weg von hier!
Weg von diesem Mann!
Sie wischte sich über die Augen und putzte sich die Nase. Dann suchte sie in ihrer Schreibtischschublade nach dem Allergiemittel.
Ein Klopfen an der Tür bot eine willkommene Ablenkung. Es war ohne Zweifel Susan, die vermutlich damit fertig war, die Bestände, die Nikki für die Praxis zusammengestellt hatte, zu sortieren und auszuzeichnen. Leider wusste Nikki keine weiteren Aufgaben für die Frau.
„Kommen Sie herein“, rief Nikki.
Die Tür ging auf, und Nikki blinzelte überrascht. Doc Riley Bates stand mit einem selbstgefälligen Lächeln im bärtigen Gesicht vor ihr. Sein ausgeprägter Körpergeruch drang selbst in ihre zugeschwollenen Nebenhöhlen. „Hey, Doc.“
„Hallo“, sagte sie wachsam. „Wie kann ich Ihnen helfen, Mr Bates?“
„Ich bin gekommen, um Ihnen zu helfen“, erwiderte er und wies mit einer Kopfbewegung auf ihren Mülleimer, aus dem die zerknüllten Papiertaschentücher quollen. Er ging zu ihrem Schreibtisch, griff in die Tasche seiner Arbeitshose und holte einen Plastikbeutel mit einer dunklen Substanz heraus. Er wollte ihn ihr reichen. Als sie zögerte, schüttelte er die Tüte. „Nehmen Sie das! Es sind selbst gemachte Lakritzen.“
Verwirrt nahm sie die Tüte und betrachtete die schwarzen gummiartigen Streifen.
„Es ist unverfälschte Ware“, sagte er. „Aus echtem Süßholz hergestellt. Nicht wie diese abgepackte Massenware, die als Lakritze bezeichnet wird.“ Er grinste. „Es hilft bei Ihrer Allergie. Mir ist neulich aufgefallen, dass Sie darunter leiden.“
Sie verkrampfte sich. „Ich bin mir sicher, dass das vorübergeht.“
„Selbstverständlich klingen Allergien wieder ab. Doch sie verschlimmern sich zuerst noch, bevor sie besser werden. Und sie lassen frühestens nach dem ersten harten Frost nach, also im November.“
Sein Grinsen ärgerte sie. „Danke, MrBates, aber ich behandele meine Allergie mit bewährten Medikamenten.“
„Wenn sie sich bewährt haben sollen, warum funktionieren sie dann nicht?“
Sie biss sich auf die Zunge.
„Die Lakritzen werden helfen“, versprach er, „und sie schmecken sehr gut, wenn ich das so sagen darf.“
„Danke“, entgegnete sie und stellte die Tüte an den äußersten Rand ihres Schreibtisches.
„Gern geschehen“, antwortete er in einem Tonfall, als ob er genau wüsste, dass sie sein Hausmittelchen nicht ausprobieren würde. Er tippte an den Schirm seiner Kappe, verließ das Sprechzimmer und zog die Tür hinter sich zu.
Nikki gelang es, ein Niesen zu unterdrücken, bis die Tür zu war. Dann nieste sie dreimal, ehe sie sich wieder in ihren Bürostuhl sinken ließ. Stirnrunzelnd betrachtete sie die Tüte, bevor sie sie mit spitzen Fingern nahm und in eine Schreibtischschublade fallen ließ.
Wieder klopfte jemand. Nikki seufzte. Sie hoffte, dass der selbst ernannte Medizinmann nicht zurückgekehrt war. Oder einer von Porters angeheuerten Patienten.
„Herein.“
Die Tür ging auf, und Molly McIntyre stand vor ihr. Sie hatte die Schultern gestrafft und blickte sie mit undurchdringlicher Miene an. „Störe ich, Dr. Salinger?“
„Nein“, erwiderte Nikki. „Bitte kommen Sie doch herein. Was kann ich für Sie tun, Ms McIntyre?“
„Nennen Sie mich Molly.“ Sie machte die Tür zu. Dann hob sie die Hände und zeigte Nikki ihre Handinnenflächen. „Es ist dieser Ausschlag. Er geht einfach nicht weg.“
Nikki zögerte. „Hat Porter Armstrong Sie geschickt?“
„Wie bitte?“
„Hat er Ihnen Geld geboten, damit Sie sich von mir behandeln lassen?“
Molly runzelte die Stirn. „Nein. Warum sollte er so etwas Dummes tun?“
Nikki glaubte ihr. „Nehmen Sie Platz und lassen Sie mal sehen.“ Sie ging zu einem Schrank und holte Latexhandschuhe heraus, die sie sich überstreifte. Dann zog sie einen Stuhl heran und untersuchte die heftig geröteten Schwellungen zwischen Mollys Fingern. Ihre Hände hatten außerdem eine leicht bläuliche Färbung.
„Die Blaubeerlotion, die Riley Bates mir gegeben hat, hat eine Zeit lang gegen das Jucken geholfen. Aber dann wurde der Ausschlag noch schlimmer. Auch wenn die Lotion gut gerochen hat.“
Nikki seufzte. „Es ist mit Sicherheit eine Kontaktdermatitis. Sie könnten beim Spülen ein anderes Mittel benutzen. Und Sie sollten besser Gummihandschuhe bei der Arbeit tragen.“ Sie lächelte. „In der Zwischenzeit wird eine Steroidcreme das Jucken lindern, und Ihre Hände können verheilen. Leider duftet sie nicht so gut wie die Blaubeerlotion. Die gute Nachricht dagegen ist, dass Sie nicht mehr aussehen werden wie ein Schlumpf.“
„Das ist mir egal, wenn nur das Jucken aufhört.“
Nikki stand auf und ging zum Schrank. Dort durchsuchte sie eine Box mit Proben und holte eine Tube mit Salbe heraus, die sie Molly reichte. „Wenn Sie nicht bald Besserung verspüren, kann ich Ihnen etwas Stärkeres verschreiben, aber ich darf das stärkere Mittel so erst mal nicht ausgeben.“
Molly nickte. „Danke.“ Sie schraubte die Tube auf, drückte etwas Salbe heraus und verteilte sie auf ihrer Haut. Sofort wirkte sie erleichtert. „Das ist schon besser.“
„Gut.“
„Was schulde ich Ihnen?“
Nikki winkte ab. „Nichts. Das ist nur eine Probe.“
„Was ist mit Ihrer Zeit?“
„Ich warte nur, bis mein Van repariert ist“, sagte Nikki. Sie glaubte nicht, dass es schaden könnte, der Frau zu sagen, dass sie abreisen würde.
„Es tut mir leid, das zu hören“, sagte Molly und erhob sich, um zu gehen. „Aber ich verstehe das. Sie vergeuden an einem Ort wie diesem nur Ihre Fähigkeiten.“
„Das würde ich nicht sagen“, entgegnete Nikki und fühlte sich ganz klein. „Es war für mich einfach die falsche Entscheidung, hierherzukommen.“ Sie deutete vage zur Tür und nach draußen. „Der Rest der Frauen ist nach Sweetness gereist, um sich hier niederzulassen und eine Familie zu gründen. Es fühlt sich … falsch für mich an, hier zu sein.“
„Glauben Sie, dass in Sweetness kein Platz für jemanden ist, der nicht heiraten und keine Kinder haben will?“
Nikki wurde klar, dass Molly auch sich selbst meinte. „Nein“, erwiderte sie schnell. „Ich glaube nur, dass diese Stadt einen Arzt verdient, der sich den Zielen der Gemeinschaft verpflichtet fühlt. Dieses ganze Heim-und-Herd-Klischee – das ist nichts für mich.“
„Aha. Das ist in Ihren Augen also Quatsch.“
Nikki biss sich auf die Unterlippe. „Ich wollte nicht respektlos sein.“
„Das waren Sie nicht“, versetzte Molly. „Die Klischees über die Südstaatler haben ihren Grund. Wir neigen dazu, in manchen Dingen sehr sentimental zu sein – Menschen aus anderen Regionen des Landes halten das für altmodisch. Wir empfinden tiefer, lachen lauter, weinen heftiger. Ich verstehe, dass das manche Menschen überfordert. Vor allem die Leute aus den Nordstaaten.“
Nikki war zugleich überrascht und verwirrt von dieser Charakterisierung. „Das überfordert mich nicht.“
„Dafür muss man sich nicht schämen“, sagte Molly und ging zur Tür. „Es ist einfach so, wie es ist.“ Sie lächelte. „Vielen Dank für die Salbe.“
„Kein Problem“, erwiderte Nikki verunsichert. „Äh, Molly – konnten Sie schon den Besitzer der Taschenuhr, die ich gefunden habe, ausfindig machen?“
Molly grinste. „Das konnte ich. Die Uhr gehört Cletis Arnold Maxwell. Er war ein Nachbar der Armstrongs auf Clover Ridge. Cletis ist nach dem Tornado nach Florida gezogen. Er hat sich wahnsinnig gefreut, als er gehört hat, dass seine Uhr wieder aufgetaucht ist. Es war ein Erbstück seines Vaters. Er hat mich gebeten, der Dame, die sie gefunden hat, herzlich zu danken.“
Nikki ging das Herz auf. „Das habe ich sehr gern für Mr Maxwell getan.“
„Genau genommen ist er Dr. Maxwell. Er war viele Jahre lang Arzt in Sweetness. Er war so froh, zu erfahren, dass die Person, die seine Uhr gefunden hat, die neue Ärztin ist – er meinte, das wäre ein Zeichen. Ich hoffe, das macht die Situation für Sie jetzt nicht unbehaglich.“ Molly zwinkerte und ging.
Als die Tür zu war, fühlte Nikki sich mit einem Mal leer und empfand sich als oberflächlich. Sie hatte nicht unterstellen wollen, dass die Menschen in Sweetness zu … viel von allem waren. Sie betrachtete ihre Unfähigkeit, sich in die Anstrengungen um diese Stadt einzubringen, als ihre eigene Schwäche – nicht umgekehrt. Heiße Tränen brannten in ihren Augen. Sie hatte die Erwartungen an sie unterschätzt. Ihr war nicht klar gewesen, wie viel die Trennung von Darren ihr genommen und wie wenig sie noch zu geben hatte.
Einsamkeit überkam sie. Schmerz breitete sich in ihrer Brust aus. Sie stöhnte. Die gereizten Nebenhöhlen machten ihr zu schaffen. Sie putzte sich die Nase, um den Druck ein bisschen zu lindern. Plötzlich hatte sie das dringende Bedürfnis nach etwas Tröstendem, zum Beispiel einer Tasse heißen Tee oder einem Stück Schokoladenkuchen.
Oder sogar warmem Schokoladenkuchen.
Ihre Gedanken wanderten zu der Tüte mit den Lakritzen, die Riley Bates ihr geschenkt hatte. Sie glaubte keine Sekunde lang, dass das Zeug gegen die Allergie wirken würde, doch zumindest konnte sie damit ihren Heißhunger auf Süßes stillen. Sie zog die unterste Schreibtischschublade auf, in die sie die Tüte verbannt hatte, und nahm sie heraus. Die dunklen Lakritzstreifen waren ungleichmäßig geformt und die Enden ausgefranst. Sie sahen ein wenig … ungesund aus.
Sie schluckte und öffnete die Tüte. Der bittersüße Duft der Lakritze musste ziemlich stark sein, wenn sie ihn sogar mit ihrer zugeschwollenen Nase wahrnehmen konnte. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen. Sie nahm ein Stück heraus und biss vorsichtig ein winziges Stückchen ab, bereit, es gleich wieder auszuspucken, falls es komisch schmecken sollte.
Es schmeckte nicht komisch.
Die Lakritze war weich und zart. Nikki hatte einen köstlichen Geschmack im Mund, voll süßer Kirscharomen. „Hm“, seufzte sie. „Mmm.“ Sie nahm noch einen Bissen und genoss ihn ebenso. Für einen Moment änderte sich ihre Haltung Riley Bates gegenüber. Sie aß das fingergroße Stück ganz auf. Den Rest verstaute sie wieder in der Schublade und fühlte sich wie ein unartiges Kind.
Plötzlich war sie unruhig und ging zum Fenster, um zu sehen, ob sie draußen etwas erkennen konnte. Männer und Frauen strömten, offensichtlich voller Neugierde, zur Baustelle des Ambulanzgebäudes. Auch Nikki war neugierig. Obwohl sie am liebsten sofort hinübergegangen wäre, hielt etwas sie zurück. Sie wollte sich hier nicht noch mehr einbringen. Und sie wollte nicht auf Porter treffen und in seine Augen schauen, wenn sie sich sowieso schon körperlich geschwächt fühlte.
Mollys Worte hallten in ihrem Kopf nach – die Behauptung, dass es den Menschen aus dem Norden Angst machte, wie tief Südstaatler empfanden. Mollys Einschätzung, dass Nikki sich davor fürchtete, emotionale Bande zu knüpfen, traf genau den Punkt. Auch wenn Nikki es abgestritten hatte.
Doch sie hatte das Recht, sich vor weiterem Schmerz zu schützen. Sie strich mit dem Daumen über ihren nackten Ringfinger, an dem eine kleine Einkerbung sie daran erinnerte, wie sehr sie hintergangen worden war. Sie hatte auf die harte Tour lernen müssen, dass sich niemand um sie kümmerte.
Nikki wandte sich vom Fenster ab und ging zurück zu ihrem Schreibtisch. Je eher der Antrag zur Aufnahme in den Verband der Landarztpraxen fertig war, desto eher konnte sie Sweetness ruhigen Gewissens den Rücken kehren.