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Ich hatte inzwischen dieses klare, entschlossene Körpergefühl entwickelt: dick in meinen Parka eingepackt, trotzdem frei marschierend, im Holster die Browning, in der Jackentasche den Faltplan und die Patronen. Ich wich den Blicken der Passanten nicht aus, auf keinen Fall durfte Schwäche gezeigt werden, so viel war klar: Die Menschen, die es geschafft hatten, konnten Ängste riechen, man musste sich von Anfang an ganz selbstverständlich unter ihnen bewegen, wenn man einsteigen wollte.
Den Faltplan hatte ich im Müll gefunden, ein löchriger Fetzen, der mir nicht wirklich weiterhalf in den verzweigten Straßen; Flaschen rollten über den Bürgersteig, Hunde zerrten an Ketten; erst wenn ich die Hauptstraße erreicht hatte, wusste ich den Weg – bergauf Richtung Bastianstraße.
Die Wohnung, die wir uns damals rausgesucht hatten, lag im Erdgeschoss, im normalsten Wohnblock der Welt, der aber zugleich der schönste Wohnblock der Welt war, wenn man ein Auge dafür hatte. Es war still, ein graublauer Schimmer hing über dem viereckigen Vorgarten, und eigentlich war mir von Anfang an klar gewesen, dass ich diesen Wohnblock schon länger kannte, aus einem vergessenen Traum oder aus einer Vorausschau, wenn es das gibt: Der Block rückt näher und näher, und dann ist er deutlich vorhanden, exakt mit den drei Schneeballlampen vor den Eingängen, mit den drei Kieswegen und den roten Hausnummern 7–9.
Er füllt den Umriss aus, der schon vorhanden ist im Kopf.
In den Fenstern gegenüber brennt gelbes Licht, aber niemand sieht raus; es ist ein stummes, ungewöhnlich friedliches Viertel in der Dämmerung. Bastianstraße 7–9. Ich habe es gesehen.
Zuerst: dieses bunt schimmernde Wohnzimmer, hinter dem Fenster unten links. Die Lichterkette an der Wand, die Kerzen auf dem Tisch; ein bisschen weihnachtlich schon. Ich musste mich auf die Zehenspitzen stellen, die Hände neben dem Kinn auf dem kühlen Metall, das Gesicht vor der Doppelverglasung: Da war das gemütliche Sofa, das etwas schräg zu mir stand, sodass ich den Hinterkopf des kleinen Jungen sah, ohne erkennen zu können, was er tat. Nach einer Weile verschwand der Hinterkopf, und es tauchten seitlich zwei Füßchen in blauen Noppensocken auf: blau, weil es ein Junge war, Noppen der Sicherheit wegen. Dann wechselte die Lichterkette ihre Farben, es wurde grünlich und rötlich im Raum, und wieder war es wie in einer Vorausschau, ich hatte es vorausgefühlt: Die Tür geht auf, die rote Mutter kommt rein, und zwar in ihren Puschen, die wie Tatzen aussehen. Denn hier ist sie, und hier gehört sie hin. In diesem knallroten Bademantel, mit diesem hellroten Haar.
Und mit ihr wirkt das Zimmer wie eine Höhle, die Bärenmutter in der Bärenhöhle, die sich zu ihrem Bärennachwuchs setzt – wobei wieder nicht zu erkennen ist, was auf dem Sofa passiert. Ob sie sich ein Bilderbuch ansehen oder leise miteinander sprechen, ob sie vielleicht ein Gespräch wiederaufnehmen, ein Mutter-Sohn-Gespräch, das schon lange läuft und über Jahre laufen wird. Aber nach einer Weile bewegt sich das ferngesteuerte Auto auf dem Teppich. Fährt rückwärts und zweimal im Kreis. Und ich strecke die Zehen durch und weiß, dass ich es bin, der es bewegt. Mit den Augen im Slalom. Auf dem Teppich. Zu mir her.