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Vollmond, hellbrauner Himmel. Wir sind aus Abus Schrottkarre gestiegen und befinden uns im Rücken der Stadt, soweit ich das begreife, ein gutes Stück von den Lehmhäusern des letzten Straßenzugs entfernt. Als wir uns noch mal umdrehen, setzt sich Abus Karre langsam rollend in Bewegung, er muss zurücksprinten, neu parken und seine Steinplatten vor die Reifen wuchten. Es ist, als wollte das Auto vor dieser Gegend hier fliehen, vor dieser toten, graubraun schimmernden Mondlandschaft.

In deren Mitte ein Derwisch auf uns wartet.

Mutter Merizadi hat es uns im letzten Moment erzählt, sie sagt, sie habe gedacht, es sei uns klar gewesen: Tyrhkrdn sei ein Pseudonym der Derwische, und den Derwisch hier aus der Gegend kenne sie sogar, wenn auch nur ganz entfernt. Der solle klug sein, eine Art halber Intellektueller. Derwisch und Kommunist zugleich.

Robert hat gleich eins seiner Mystikbücher rausgeholt. Ich solle ihn mal machen lassen, mit diesen Derwischen müsse man auf eine bestimmte Weise kommunizieren. Er kenne sich damit aus, er gehöre sozusagen zur selben geistigen Familie.


Wir laufen durch ein trockenes Flussbett auf ein steinernes Brückengewölbe zu, aus dem leise Gesänge hallen – verbotene Gesänge, öffentliches Musizieren ist verboten. Man hat sich offenbar zurückgezogen, tief in das schattige Gewölbe hinein, in diese kühlen, hallenden Katakomben, die sich vor uns öffnen. Ein paar Kerzen brennen, die Stimmen gehen im Chor von Wand zu Wand. Ganz vorne singt eine helle Stimme, hinten antworten mehrere tiefe; eine Subkultur, hat Abu gesagt, junge Männer, die uralte Gesänge zelebrieren, vorislamische Klagelieder, in denen es hauptsächlich um den Tod und um das Sterben gehe. Ein glattes Gesicht taucht kurz aus dem Schatten, mit dünnen Augenbrauen und schmalem Mund, ein junger, aristokratisch wirkender Mann. Flüstert etwas, führt uns ein Stück weiter, verschwindet wieder im Dunkeln.

Frauen sind offenbar keine anwesend.

Ein Tunnel voll todessehnsüchtiger junger Männer, von denen einige Kerzen halten, sodass man ihre Rüschenhemden sieht. Gegner des modernen Lebens, sagt Abu, Leute, die Zettel mit mystischen Formeln an Fastfood-Restaurants kleben. Was Robert offensichtlich interessiert – überhaupt seien die meisten Leute hier ja noch viel traditioneller und spiritueller, hat er im Auto gesagt. Er fühle sich da sehr verbunden. Und jetzt nicken Abu und er sich zu, obwohl Abu seinerseits wieder von Kanada, Neuseeland und dem freien Leben dort geredet hat. Die beiden gehen ganz einvernehmlich nebeneinanderher. Mit ihrem völlig gegensätzlichen Gerede.

Auf der anderen Seite der Brücke wird es wieder heller. Wir treten auf eine von der Hitze des Tages noch nachglühende Sandfläche hinaus. In einiger Entfernung glimmt ein großer, ovaler Felsen.

«Dort sind wir verabredet», sagt Abu.


Wir gehen und gehen, und der Stein wird größer, und als wir da sind, sitzt da tatsächlich jemand, gleichzeitig selbstverständlich und unwirklich: ein verhärmter Greis. Die Beine weit von sich gestreckt, in der rechten Hand einen Stock mit einem langen Messer obendrauf; die Augen geschlossen. Intellektuell wirkt er nicht grade, aber eine merkwürdige Ernsthaftigkeit geht von ihm aus – er hat etwas von einer Krähe an sich mit seiner spitzen Nase und seinen grauen Fädenhaaren. Dunkel gekleidet; aus der Brusttasche seines Hemdes guckt ein Mobiltelefon, an seinem Stock scheinen Wurzeln oder Blätter herunterzuhängen – mein Herz sticht, als ich sehe, dass es Fingernägel sind. Der Mann hat ekelerregend lange Fingernägel an der rechten Hand, realitätsverzerrend, bestimmt vierzig Zentimeter; schon leicht geringelt um den Stock herum. Neben ihm steht eine rote Kerze in einem bauchigen Glas.

«Salam», sagt Abu.

Nichts.

Wir setzen uns erst mal hin, respektvoll mit etwas Abstand im Schneidersitz. Abu nickt ihm zu und sagt etwas auf Persisch, als er kurz die Augen aufmacht – aber dann macht er sie sofort wieder zu. Der Gesang kommt in Wellen und klingt leise nach. In der Luft und im Kopf.

Ich sage auch noch mal: «Salam?»

Keine Reaktion.

Allerdings bewegt sich sein Mund kaum merklich, als empfinge er eine Stimme, oder er summt tonlos die Lieder mit, ich weiß es nicht. Plötzlich hat er ein gekräuseltes Lächeln im Gesicht.

Lässt die Augen geschlossen, murmelt aber lächelnd vor sich hin.

«Also», übersetzt Abu. «Er wartet noch auf ein Signal.»

«Was für ein Signal?», sage ich.

«Er sagt, er muss sehen, ob wir bereit sind, mit ihm zu reden.»

«Mit geschlossenen Augen?»

Offensichtlich schon. Mit geschlossenen Augen und in Seelenruhe.


Ich mache nach einer Weile den Rücken gerade und atme ruhig, um mich nicht zu sperren, um auf keinen Fall einen schlechten Eindruck zu erwecken, und Robert ist auch schon länger bereit, wie ich sehe: Er hat sich mit den Händen hinten abgestützt und sieht dem Derwischmann ins Gesicht. Konzentriert, aber offenbar noch nicht ganz überzeugt, überraschend kritisch. Vielleicht, weil er sich tatsächlich auskennt mit diesen mystischen Richtungen, weil er erst mal sehen will, wen wir hier vor uns haben: einen Bektaschi oder einen der Hayatis, die sich von Spinnen und Würmern ernähren sollen? Oder doch nur irgendeinen Typen, der als weiser Mann hier sitzt, während er in Deutschland schon in der Psychiatrie gelandet wäre?

Mit seinem belastenden Schweigen.

Von dem man Bauchschmerzen kriegt.

Erst nach einer Weile fängt er wieder an zu murmeln, und Abu übersetzt, dass wir willkommen seien und das Versteck von Anas Mutter im Morgengrauen erreichen werden – vorher aber unter keinen Umständen, denn er müsse erst unsere redlichen Absichten testen, ehe er das Versteck preisgeben dürfe. Das sei seine Aufgabe in der Gemeinschaft, und die nehme er ernst. Er sei ein Wächter, der niemals zum Verrat gezwungen werden könne, selbst unter Folter nicht, und deshalb sitze er an diesem Ort in genau dieser Funktion.

Als Erstes wolle er uns fragen, wo wir politisch ständen.

Und indem er das sagt, sieht er mir tief in die Augen.

Wobei ich das Gefühl habe, dass ich ohnehin von mehreren Leuten fixiert werde, dass uns jemand von der Brücke aus gefolgt ist. Zumindest gibt es Bewegungen im Dunkeln, möglicherweise auch nur Tiere, ein Wüstenfuchs oder eine Ratte – wahrscheinlich eine Ratte, sage ich mir, ich sollte mich zusammenreißen. Ich sollte eine gewisse Verlässlichkeit demonstrieren.

Räuspere mich also. Sage, dass auch ich ihn herzlich begrüße und dass wir politisch auf jeden Fall redliche Absichten hätten, also mittig ständen. Oder auch etwas kommunistisch seien, verbessere ich. Also links. Doch – dass wir eigentlich sehr links seien, sage ich, kommunistisch eben, ziemlich links und ziemlich kommunistisch. Oder rechts?

Es ist nichts zu erkennen in seinem Gesicht. Ich sage letztlich, wir seien wohl auch etwas derwischhaft und antimodern – also kritisch modernen Dingen gegenüber, rechts, genau genommen. Sehr rechts oder links.

Oder mittig.

Wenn ich überhaupt zu ihm durchdringen kann.

Aber er guckt im Grunde noch ganz tapfer, denke ich, und ich sage, dass wir vor allem einfach zu Ana wollen, dass es uns darum ginge. Und er nickt mir auch zu, und Abu übersetzt seine Antwort: Ich dürfe nun schweigen. Er habe meine Antwort zur Kenntnis genommen und wolle für unbestimmte Zeit darüber meditieren.

Robert legt mir eine Hand aufs Knie, flüstert, dass ich jetzt auf keinen Fall widersprechen dürfe, das könnte alles versauen. Er habe so was schon erwartet, schließlich müssten die Leute aus dem Untergrund immer misstrauisch bleiben, da sei es nicht ungewöhnlich, dass sie einen Kontrolleur vorschickten. Abus Gesamteindruck scheint auch erst mal ein guter zu sein. Ich nehme sein zuversichtliches Lächeln neben mir wahr, während aus dem Gesicht des Derwischmannes nach einigen Minuten eine langsame Stimme entweicht. Wie ein schleichender Wind. In mehreren Zügen. Jemand Nichtvorhandenes sei unter uns.

«Was?»

«Einer von uns ist nicht vorhanden», übersetzt Abu.


Es ist ein massives Drücken, das plötzlich in meinem Brustkorb sitzt. Ein ekelhaft krampfiges und schraubendes Gefühl um das Herz herum, weil dieser Mensch offenbar irgendeine Fähigkeit besitzt, weil er irgendwie in meiner Erinnerung gelesen hat, wie auch immer so was funktioniert: Ich laufe nachts durch Frances’ Haus und denke, ich wäre nicht vorhanden. Und woher weiß er das.

Mit seinen Vogelaugen, die er jetzt langsam öffnet.

Und die spitz sind und schwarz und durchdringend und alt.

Er erklärt, dass wir noch eine sehr, sehr wichtige Sache zu regeln hätten, bevor er uns weiterhelfen könne, eine Sache, die wirklich dringend sei, denn einer von uns sei nicht existent, und das müsse sich erst noch ändern – dieser Nichtvorhandene müsse sich erst noch zeigen.

Ferner sei aber auch jemand Besonderes unter uns – jemand Nichtvorhandenes und jemand Besonderes, diese beiden seien hier.

Und damit guckt er erst mich und dann Robert an, und Robert hält den Blick, ganz ruhig, als hätte er genau das vorausgesehen. Überhaupt keine Regung, beeindruckend gefasst. Offensichtlich konzentriert er sich auf die Botschaft, die ihm der Derwischmann übermittelt, denn der klickert jetzt mit seinen Fingernägeln gegen den Stock, als würde er Klopfzeichen geben. Die beiden scheinen tatsächlich mit Geräuschen zu kommunizieren, ich kann es deutlich wahrnehmen, obwohl es mir abwegig vorkommt.

Plikplick. Plik. Plik.

Robert nickt.

Ich sehe zu Abu – der nickt auch in die Runde, konzentriert, damit wir hier weiterkommen. Nur wie sollen wir weiterkommen, wenn der Derwischmann jetzt wieder in sein Schweigen verfällt? In dieses kalte, physisch spürbare Schweigen? Um dann mit diesem ebenfalls kalten, gekräuselten Lächeln ausgerechnet Robert zu fixieren. Ich denke: Warum soll jetzt ausgerechnet Robert der Besondere sein, mit seinem Anglerhut und seiner Gürteltasche?

Plik.

Plikplik.

Und Robert bewegt die Oberlippe, antwortet ohne Ton, zumindest sieht es so aus, und ich sage schließlich laut und deutlich: «Wir sind nicht wegen Robert hier!»

Das scheint der Derwischmann allerdings widerlich zu finden, verabscheuungswürdig, dass ich das sage. Er verzieht angeekelt das Gesicht und schließt die Augen und schweigt.

Für eine geraume Zeit.


Als Nächstes heißt es, Robert habe schöne Klamotten. Robert sei gefühlvoll, und Robert dürfe nun etwas sagen, weil er besonders schöne Klamotten habe.

Ich sage: «Der Mann ist ganz offensichtlich krank! Diese Leute haben einen Gestörten vorgeschickt, und jetzt dreht er völlig durch, anstatt uns zu Ana zu bringen!»

«Warte mal ab», sagt Robert. «Das kriegen wir schon hin.»

Seine Hand liegt wieder auf meinem Knie, sein Blick ist ungewohnt klar und erwachsen. Als wäre die Blase um ihn herum plötzlich geplatzt, diese inwendige Art, die ihn seit eh und je umgibt.

Als hätte er den richtigen Instinkt für die Situation?

Jedenfalls sieht er dem Derwischmann in die Augen und sagt, wenn er etwas sagen dürfe, wolle er sagen, dass er ihn sehr respektiere. Und dass es ihn freuen würde, wenn er ihn nun im Namen von uns allen fragen dürfe, wie es Ana und Anas Mutter geht. Aber weil er – Robert – natürlich wisse, dass dies ein sehr kühner Wunsch sei, wolle er, bevor er eine Antwort auf seine Frage erhoffe, zunächst zwanzig Minuten innehalten und meditieren.

Der Derwischmann lacht freundlich und winkt.

Kehrt die Handflächen nach oben, wackelt hin und her und lacht uns glücklich ins Gesicht, leuchtet uns mit seinen Augen an, plötzlich viel jünger. Und Abu übersetzt, dass Robert absolut recht habe und wir das nun tun sollten.

Allerdings offenbar ohne mich – denn der Derwischmann rammt den Stock mit dem Messer in den Boden und dreht mir den Rücken zu, sodass ich aus der Runde ausscheide.


Die anderen bilden ein Dreieck neben mir. Nur Robert hält mich drinnen mit seiner Hand, die noch immer auf meinem Knie liegt.

Ich bewege mich vorsichtshalber nicht.

Muss zwischendurch ein paarmal schlucken, weil es extrem unangenehm wird – als säßen die drei an einem Feuer, das ich nicht sehen darf. Abu übersetzt, dass der Nichtvorhandene sich anstrengen müsse, damit wir weiterkommen, dass er sich am besten jetzt gleich zeigen solle – dass er am besten jetzt gleich seine Natur offenbaren solle.

Ich sage: «Ich sitze doch hier und offenbare meine Natur. Was soll ich denn machen?»

Und der Derwischmann sieht jetzt auch noch nachsichtig an mir vorbei. Mit seiner nachsichtigen Fresse.

Er sagt, der Nichtvorhandene sei so wenig da, dass man noch nicht mal auf ihn zeigen könne, da man sonst Angst haben müsse, dass einem die Hand absterbe und auch nicht mehr vorhanden sei.

Ich sage: «Ist es jetzt mal gut?»

«Du hast keine Liebe in dir», übersetzt Abu.

Das große Leuchten
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