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Während Robert die ganzen Sommermonate an der Landstraße und am Waldrand herumstrich. Wir sahen ihn nachmittags von unserer Grube zwischen den Rapsfeldern aus, aber er blieb meistens weit entfernt stehen und sah nur stumm zu uns rüber. Manchmal sah es aus, als würde er sich Notizen machen und uns heimlich mit seinem Fernrohr beobachten, mit dem er nachts den Sternenhimmel absuchte. Wenn ich ihn darauf ansprach, stritt er es aber ab; er habe nur Vögel beobachtet und Meisenknödel in die Bäume gehängt, weil er naturverbunden sei und sinnvolle Dinge tun wolle, ganz im Gegensatz zu uns – wir würden uns ja immer nur in unserer Schweinegrube wälzen und den Tequila trinken, den wir vorher bei dem armen Elvis-Presley-Mann geklaut hätten.
«Woher weißt du das denn?»
«Ich weiß es eben!», sagte er. «Überhaupt, du solltest mir dankbar sein, du solltest froh sein, dass ich noch manchmal für dich bete. Man kann nämlich nicht einfach total hinterhältig und hedonistisch werden und glauben, dass Gott einem trotzdem immer beisteht! Wenn du mich nicht hättest, sähe es schon ganz anders aus!»
Es war offensichtlich, dass er sein Gerede teilweise von Frances übernahm, es war genau das, was sie auch immer sagte: Die ganze westliche Zivilisation war hedonistisch und verdorben.
Dabei war unsere Grube gar keine Schweinegrube, sondern ein gemütliches Quartier, in dem sich Ana außerdem kaum anfassen ließ. Wir waren vom Saufen albern, schläfrig und weich, aber sobald ich ihr eine Ameise vom Arm nehmen wollte oder sonst wie näher rückte, rückte sie wie zufällig weg. Sie fing irgendein Thema an, redete unvermittelt von ihrer Mutter oder von unserem Plan, hier abzuhauen.
«Wir müssen es uns einfach TRAUEN», sagte sie. «Wir müssen es einfach planen und anschließend MACHEN. Die meisten Menschen verstehen gar nicht, was man alles tun kann, sie beschränken sich schon in ihrem EIGENEN Kopf!»
«Denke ich auch», sagte ich.
Und ich versuchte herauszuhören, ob sie damit eine Anspielung auf uns beide machte, wie wir hier saßen, ob sie es nicht doch gut fände, wenn ich mich noch stärker bemühen würde. Aber wenn es grade so geklungen hatte, redete sie doch wieder ganz konkret von unserer Flucht. Davon, dass wir bald lostrampen sollten. Richtung Istanbul. Von dort aus nach Teheran zu ihrer Mutter.
«Und vorher sollten wir noch mal die TANKSTELLE ausrauben, aber diesmal so richtig, im Ernst! Einfach, um ein bisschen Startgeld zu haben und dann loszustarten mit unserem FREIEN WILLEN. Glaubst du nicht daran? Ich schon, steht doch auch in deinem Buch über AUTOSUGGESTION. Man muss so einen Plan nämlich einfach im Kopf HERANZÜCHTEN, und wenn man genug Kraft hat, wird es dann auch was.»
«Ja, man muss es einfach nur tun», sagte ich.
«Abgemacht!», sagte sie. «Wir räumen die Tankstelle noch mal aus!»
Dann wieder lief sie einfach weg, für einen Nachmittag, sie sagte, ich solle mir keine Sorgen machen, sie wolle nur unseren Fluchtplan zu Ende denken – allein, weil sie allein besser denken könne. Ich saß mit ihrem Vater am Küchentisch, trank Bier und wartete auf sie. Ich wusste inzwischen, dass er Omid hieß, und es gefiel mir ganz gut, seine Geschichten anzuhören – sie brachten einen gedanklich aus der Einöde weg. Er hatte wie immer schon ein paar Bier drin, zupfte an seinem Unterhemd und erzählte von Teheran und wie er dort jeden Morgen zur Schule gegangen war und heimlich Flugblätter von seinem Vater auf die Bänke legen musste – verbotene Flugblätter der Kommunisten.
Ich stellte mir vor, wie er als Junge ausgesehen hatte, klein und drahtig und mit dem amerikanischen Softeis in der Hand – wie es über die Finger lief, in der Sonne, und wie er nachmittags damit im Kino saß und sich Filme ansah, in denen Explosionen und Frauen vorkamen. Einmal erzählte er von dem Tag, an dem er sich mehrere Filme hintereinander ansah, bis er plötzlich ein ganz schlechtes Gefühl hatte, als ob er dringend nach Hause laufen müsse, und wie er dann nach Hause lief und seinen Vater tot auf dem Sofa liegend fand. Er war angeschossen worden und dann verblutet. Und wie er anschließend weiterlief, mehrere Wochen lang. Es gab irgendeine Tante am Kaspischen Meer, bei der er unterkommen sollte, aber die war auch tot oder weg, weil eine Revolution oder ein Krieg anfing, und da in der Nähe, in einem Wald, traf er auf Anas Mutter.
Ich stellte mir vor, dass sie genau wie Ana war, es klang danach, so wie er sie beschrieb: wie sie fröhlich vorauslief zwischen den Granatapfelbäumen und wie sie sich in alten Kühlschränken versteckten, die in diesem Wald rumlagen.
Er erzählte von Polizisten, die ihm in den Magen traten, weil sie ihn beim Küssen gesehen hatten, und wie er dachte, dass man ihn auf dem Schrottplatz an einem Kran aufhängen würde, aber dann hängte man ihn doch nicht auf, und später kam Anas Mutter aus einem der Kühlschränke und lachte, als hätte sie keine Angst gehabt. Oder wie sie in einer Laube Wein herstellten: Sie stampfte barfuß in Kübeln herum, und er füllte den Wein in Flaschen, und dann fuhren sie im Auto zum Männerbadestrand und verkauften Obst in Tüten. Und die Männer konnten gar nicht genug kriegen von den Zitronen und Orangen, und noch weniger von dem Wein, der unten in den Papiertüten mitverkauft wurde, das war eine von Simins mutigen Ideen. Wenn Polizisten kamen, drehte sie die Kassette mit der verbotenen Musik einfach um, sodass stattdessen Koranverse zu hören waren. Dann wurde sie schwanger mit Ana. Es war anscheinend so, dass wieder Krieg ausbrach und dass Omid eingezogen werden sollte, und deshalb wollten sie flüchten, in eine Zukunft hinein, die sie sich besser vorstellten. Aber seitdem, sagte er, sei eigentlich alles immer schlechter geworden für ihn – ich verstand nicht jedes Detail.
«Wie kommt es überhaupt, dass Simin im Iran geblieben ist, haben Sie sich einfach so getrennt?»
Er sah mich an, als hätte er mich gerade erst entdeckt. Dann griff er hinter sich und machte den Kühlschrank auf und stellte ein Plastikschälchen mit öligen Weinblättern auf den Tisch, von denen wir beide nichts aßen. Ich wollte ihm weitere Fragen stellen, ich fand, dass das Ganze eigentlich aufregend war, zumindest der Anfang der Geschichte – es kam mir eher romantisch als traurig vor: dass man heimlich Wein verkauft und sich so versteckt liebt und am Strand rumläuft. Und ein bisschen kam es mir auch vor, als wäre es mit Ana und mir dasselbe, weil sie wahrscheinlich wie ihre Mutter war und weil wir auch abhauen wollten. Aber ich stellte keine Fragen mehr, ich merkte schon, dass er es nicht wollte. Als Ana kam, war er betrunken und murmelte nur noch in sich hinein.