AUS DEM TAGEBUCH VON JULIUS GABRIEL
Ich stehe vor der gewaltigen Leinwand mit demselben Gefühl der Einsamkeit, das ihr Schöpfer vor Jahrtausenden empfunden haben muss. Vor mir liegen die Antworten auf Rätsel, die am Ende entscheiden könnten, ob unsere Spezies weiterleben oder zugrunde gehen wird. Die Zukunft des Menschengeschlechts - könnte es etwas Wichtigeres geben? Und doch stehe ich hier ganz alleine. Meine Mission hat mich in dieses Fegefeuer aus Fels und Sand verbannt, in dem ich ein Zwiegespräch mit der Vergangenheit suche, um die Gefahr zu begreifen, die vor uns liegt.
Die Jahre sind nicht spurlos an mir vorbeigegangen. Welch elende Kreatur ich geworden bin! Einst ein bekannter Archäologe, muss ich nun das Gespött meiner Kollegen über mich ergehen lassen. Dass ich einmal ein Ehemann, ein Liebhaber gewesen bin, ist nur noch eine weit entfernte Erinnerung. Bin ich ein Vater? Kaum. Eher ein gequälter Mentor, ein armseliges Lasttier, das sich von seinem Sohn umherführen lassen muss. Bei jedem Schritt über die mit Steinen übersäte Öde schmerzen meine Knochen, während Gedanken, die für immer in meinem Geist eingekerkert sind, das ekelhafte Mantra des Verhängnisses hervorbringen, wieder und wieder. Welch höhere Macht hat gerade meine Familie ausgewählt, um sie zu foltern? Weshalb sind wir mit Augen gesegnet, die die Vorzeichen des Todes sehen, während andere durch die Welt stolpern, als seien sie blind?
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Bin ich wahnsinnig? Dieser Gedanke geht mir nie aus dem Sinn. Jedes Mal, wenn die Morgendämmerung anbricht, muss ich mich zwingen, erneut die Kernpunkte meiner Aufzeichnungen zu studieren - und sei es auch nur, um mich daran zu erinnern, dass ich zunächst einmal Wissenschaftler bin, nein, nicht einfach Wissenschaftler, sondern Archäologe, jemand, der auf der Suche nach der Vergangenheit des Menschen ist. Und nach der Wahrheit.
Aber was nützt die Wahrheit, wenn man sie nicht akzeptieren kann? In den Augen meiner Kollegen bin ich zweifellos kaum mehr als ein Dorftrottel, der die Passagiere der Titanic kreischend vor Eisbergen warnen will, während das unsinkbare Schiff aus dem Hafen ausläuft.
Ist es mein Schicksal, die Menschheit zu retten, oder ist mir einfach nur vorbestimmt, als Narr zu sterben? Ist es denn möglich, dass ich mein ganzes Leben damit verbracht habe, die Zeichen falsch zu deuten?
Das scharrende Geräusch von Schritten auf Kieselerde und Fels lässt den besagten Narren im Schreiben innehalten.
Es ist mein Sohn, dem meine geliebte Frau vor fünfzehn Jahren den Namen eines Erzengels gegeben hat. Michael nickt mir zu und wärmt damit vorübergehend die verdorrte Grube meines Herzens. Michael ist der Grund, weshalb ich beharrlich weitermache, der Grund, weshalb ich meinem elenden Dasein nicht einfach ein Ende setze. Der Wahnsinn meiner Suche hat ihn seiner Kindheit beraubt, doch viel schlimmer war die Freveltat, die ich vor Jahren beging. Es ist seine Zukunft, der ich mich verpflichtet fühle, sein Schicksal, das ich ändern will.
Gott, lass dieses schwache Herz so lange schlagen, bis mir das gelungen ist.
Michael deutet nach vorne, um mich daran zu erinnern, dass dort das nächste Bruchstück des Rätsels winkt. Vorsichtig, um die Grasbüschel nicht zu zertreten, gehen wir weiter, bis wir an dem Ort stehen, den ich für den Anfangspunkt der dreitausend Jahre alten Botschaft halte. Im Mittelpunkt der Hochebene von Nazca, die geprägt ist von geheimnisvollen Linien und gewaltigen Bildern von Tieren, liegt dies vor uns: ein vollkommener Kreis, tief in den von schwarzer Patina bedeckten Fels geschnitten. Von dieser mysteriösen Mitte gehen dreiundzwanzig Linien aus wie Sonnenstrahlen auf dem Bild eines Kindes. Sie sind gleich weit voneinander entfernt und mit einer Ausnahme etwa hundertachtzig Meter lang. Eine der Linien deutet auf den Punkt der Sonnenwende, eine zweite auf den des Äquinoktiums, verschiedene weitere auf die anderen prähistorischen Stätten, die ich Zeit meines Lebens erforscht habe.
Am faszinierendsten jedoch ist die dreiundzwanzigste Linie, die kühn in die wüste Ebene geschnitten wurde. Volle siebenunddreißig Kilometer weit erstreckt sie sich über Felsen und Hügel!
Michael stößt einen Ruf aus. Sein Metalldetektor spielt verrückt, während wir uns dem Zentrum des Kreises nähern. Da ist etwas unter der Oberfläche vergraben! Mit frischer Kraft wühlen wir uns durch Gips und Stein, um die gelbe Erde darunter frei zu legen. Es ist eine schändliche Tat, besonders für einen Archäologen, doch ich sage mir, dass der Zweck am Ende die Mittel heiligen wird.
Und da liegt er gleißend in der glühenden Sonne. Ein hohler Metallzylinder, glatt und weiß, einen halben Meter lang, der genauso wenig in die Wüste von Nazca gehört wie ich. Ein Muster mit drei Enden, das an einen Leuchter erinnert, schmückt das eine Ende des Objekts. Mein schwaches Herz flattert, denn ich kenne das Symbol so gut wie den vom Wetter gegerbten Rücken meiner Hand. Es ist der Dreizack von Paracas - das Zeichen unseres kosmischen Lehrers. In Stein geritzt, schmückt ein ähnliches Bild, hundertachtzig Meter lang und sechzig Meter breit, nicht weit von hier einen ganzen Berghang.
Michael hält seine Kamera bereit, während ich den Behälter öffne. Zitternd ziehe ich etwas heraus, das wie ein Stück ausgedörrte Leinwand aussieht. Meine Finger spüren, wie es sich aufzulösen beginnt, während es sich langsam entrollt.
Es ist eine alte Weltkarte, ähnlich wie jene, die der türkische Admiral Piri Re’is vor fünfhundert Jahren besaß und die Kolumbus als Inspiration für seine wagemutige Expedition im Jahre 1492 gedient haben soll. Bis heute ist die aus dem 14. Jahrhundert stammende Karte des Piri Re’is ein Geheimnis, denn darauf erscheint die damals noch nicht entdeckte Landmasse der Antarktis, und nicht nur dies - auch die gesamte geologische Struktur des sechsten Kontinents ist sichtbar, als habe man ihn ohne seine Eisdecke gezeichnet. Von Satelliten aufgenommene Radarbilder haben inzwischen bestätigt, wie unglaublich genau die Karte ist, sodass sich die Wissenschaft verblüfft fragt, wie man so etwas ohne die Hilfe eines Flugzeugs hat zeichnen können.
Vielleicht auf dieselbe Weise, wie die Figuren hier in Nazca entstanden sind.
Wie die Karte des Piri Re’is, so wurde auch die Zeichnung auf dem Pergament, das ich in der Hand halte, mithilfe des fortgeschrittenen Wissens der sphärischen Trigonometrie hergestellt. War der mysteriöse Kartograf unser prähistorischer Lehrer? Daran zweifle ich nicht. Die eigentliche Frage aber lautet: Weshalb hat er uns gerade diese Karte hinterlassen?
Michael drückt rasch auf den Auslöser seiner Polaroid, während das uralte Dokument Flecken bekommt und in meinen Händen zu Staub zerfällt. Wenige Augenblicke später können wir nur noch auf das Foto blicken. Uns fällt auf, dass etwas eindeutig hervorgehoben ist, offenbar ein Objekt von großer Bedeutung. Es ist ein kleiner Kreis, gezeichnet ins Wasser des Golfs von Mexiko, gleich im Nordwesten der Halbinsel Yukatan.
Die Lage dieses Zeichens lässt mich zusammenzucken. Das ist keine prähistorische Stätte, sondern etwas ganz anderes. Kalter Schweiß tritt mir auf die Haut; eine vertraute Taubheit wandert an meinem Arm empor.
Michael fühlt, dass mir der Tod nahe ist. Er durchsucht meine Taschen, findet rasch eine Pille und legt sie unter meine Zunge.
Mein Puls beruhigt sich, die Taubheit zieht sich zurück. Ich streiche meinem Sohn über die Wange, dann überrede ich ihn dazu, wieder an die Arbeit zu gehen. Stolz beobachte ich, wie er den Metallbehälter untersucht, sehe seine schwarzen Augen, die Tore eines unglaublich beherrschten Geistes sind. Nichts entgeht dem Blick meines Sohnes. Nichts.
Wenige Augenblicke später macht er eine weitere Entdeckung, die erklären könnte, was es mit der im Golf von Mexiko hervorgehobenen Stelle auf sich hat. Die Spektralanalyse, die der Metalldetektor inzwischen durchgeführt hat, lässt die molekulare Zusammensetzung des kompakten weißen Metalls erkennen. Sie birgt ihre ureigene Geschichte.
Der prähistorische Zylinder besteht aus Iridium.
Ausreinem Iridium.
 
Auszug aus dem Tagebuch von Prof. Julius Gabriel
14. Juni 1990
2012 - Schatten der Verdammnis
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