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26. September 2012 Miami, Florida
Im Aufenthaltsbereich von Station 7-C haben
sich fünf Insassen versammelt. Zwei hocken auf dem Boden und
spielen etwas, das sie für Schach halten, einer sitzt auf dem Sofa.
Der vierte steht an der Tür und wartet darauf, dass ein Mitglied
seines Rehabilitationsteams erscheint und ihn zu seiner
morgendlichen Therapiesitzung abholt.
Der fünfte Insasse von Station 7-C steht reglos vor
einem Fernsehgerät, das über seinem Kopf hängt. Er hört zu, wie
Präsident Maller die fantastische Arbeit der Männer und Frauen bei
NASA und SETI rühmt. Er hört, wie der Präsident erregt über
Weltfrieden und Zusammenarbeit spricht, über ein internationales
Weltraumprogramm und dessen Auswirkungen auf die Zukunft der
Menschheit. Ein neues Zeitalter steht uns bevor, verkündet der
Präsident Wir sind nicht mehr allein.
Im Gegensatz zu den Milliarden von
Fernsehzuschauern auf der ganzen Welt, die die Pressekonferenz live
verfolgen, ist Michael Gabriel von dem, was er da hört, nicht
überrascht. Es macht ihn nur traurig. Seine
schwarzen Augen blinzeln nicht, sein steifer Körper bleibt
bewegungslos. Auch sein leerer Gesichtsausdruck verändert sich
nicht, selbst dann nicht, als auf dem Bildschirm hinter der linken
Schulter des Präsidenten das Gesicht von Pierre Borgia erscheint.
Es ist schwer zu sagen, ob Mick überhaupt atmet.
Dominique betritt die Station. Sie hält inne und
nimmt sich einen Augenblick Zeit, um zu beobachten, wie ihr Patient
die Pressekonferenz anschaut. Dabei vergewissert sie sich, dass ihr
weißer Arztmantel das kleine Tonband verdeckt, das unter ihrem
T-Shirt befestigt ist.
Sie tritt neben ihn. Nun stehen beide Schulter an
Schulter vor dem Fernseher; seine rechte Hand berührt ihre
linke.
Ihre Finger schlingen sich ineinander.
»Mick, wollen Sie das da zu Ende sehen oder können
wir uns unterhalten?«
»In meinem Zimmer.« Er führt sie durch den Flur zu
Zelle 714.
Dort schreitet er wie ein gefangenes Tier umher.
Sein überreiztes Gehirn versucht, tausend Einzelheiten in
irgendeine Ordnung zu bringen.
Dominique setzt sich auf die Bettkante und
beobachtet ihn. »Sie wussten, dass das geschehen wird, nicht wahr?
Wie? Wie konnten Sie das wissen, Mick...?«
»Ich hab nicht gewusst, was passieren wird, nur
dass etwas passieren wird.«
»Aber Sie wussten, dass es mit dem Weltraum zu tun
haben würde und mit dem Äquinoktium. Mick, könnten Sie wohl
aufhören, dauernd herumzugehen; es ist schwer, sich so zu
unterhalten. Kommen Sie her. Setzen Sie sich neben mich.«
Er zögert, dann folgt er ihrer Aufforderung. Sie
sieht, dass seine Hände zittern.
»Sprechen Sie mit mir.«
»Ich kann es spüren, Dom.«
»Was können Sie spüren?«
»Ich weiß es nicht... ich kann es nicht
beschreiben. Da ist etwas, irgendein Wesen, Noch ist es weit
entfernt, aber es kommt näher. Ich hab es schon früher gespürt,
aber noch nie auf diese Weise.«
Sie berührt das Haar, das ihm in den Nacken fällt,
spielt mit einer dicken braunen Locke. »Versuchen Sie, sich zu
entspannen. Sprechen wir über dieses Funksignal aus dem Weltraum.
Erklären Sie mir, weshalb Sie wussten, dass das größte Ereignis der
Menschheitsgeschichte bevorgestanden hat.«
Er schaut sie an. Sein Blick ist voller Angst. »Das
ist noch gar nichts. Das ist nur der Anfang des letzten Aktes. Das
größte Ereignis wird am einundzwanzigsten Dezember eintreten, wenn
Milliarden Menschen sterben.«
»Und woher wissen Sie das? Ich weiß, was der
Maya-Kalender behauptet, aber Sie sind zu intelligent, um einfach
an eine dreitausend Jahre alte Prophezeiung zu glauben, ohne dass
es wissenschaftliche Fakten gäbe, die sie unterstützen. Erklären
Sie mir diese Fakten, Mick. Vergessen Sie die Maya-Mythen, bleiben
Sie bei den Dingen, die solche Vorhersagen bestätigen
können.«
Er schüttelt den Kopf. »Deshalb hab ich Sie ja
gebeten, das Tagebuch meines Vaters zu lesen.«
»Ich habe damit angefangen, aber es wäre mir
lieber, wenn Sie es mir persönlich erklären würden. Als wir uns das
letzte Mal unterhalten haben, warnten sie mich vor irgendeiner
seltenen galaktischen Konstellation, in die die Erde seit dem
Äquinoktium geraten ist. Erklären Sie mir das.«
Mick schließt die Augen und atmet langsam aus und
ein, um seine von Adrenalin gefolterten Muskeln zu
entspannen.
Dominique hört das Summen des Tonbands und räuspert
sich, um das Geräusch zu überdecken.
Er öffnet wieder die Augen. Sein Blick ist nun
sanfter. »Kennen Sie das Popol Vuh?«
»Ich weiß, dass es sich um die Schöpfungsgeschichte
der Maya handelt, sozusagen um deren Bibel.«
Er nickt. »Die Maya glaubten an fünf Sonnen, das
heißt fünf große Schöpfungszyklen. Der fünfte und letzte dieser
Zyklen soll am einundzwanzigsten Dezember enden, am Tag der
diesjährigen Wintersonnenwende. Nach dem Popol Vuh besteht
das Universum aus einer Oberwelt, einer Mittelwelt und einer
Unterwelt. Die Oberwelt ist der Himmel, die Mittelwelt die Erde.
Der Unterwelt gaben die Maya den Namen Xibalba. Es war ein dunkler,
unheilvoller Ort, beherrscht von Hurakan, dem Totengott. Die Mythen
der Maya berichten, der große Lehrer Kukulkan habe einen langen
kosmischen Kampf mit Hurakan ausgefochten, bei dem die Kräfte des
Guten und des Lichts gegen die Dunkelheit und das Böse angerannt
wären. Es heißt, der vierte Zyklus habe ein plötzliches Ende
gefunden, als Hurakan eine große Flut geschaffen habe, um die Welt
zu verschlingen. Unser Wort >Hurrikan< kommt von dem
Maya-Wort >Hurakan<. Die Maya glaubten, diese dämonische
Kraft lebe in einem zerstörerischen Mahlstrom. Bei den Azteken
findet sich derselbe Mythos, nur dass sie ihrem großen Lehrer den
Namen Quetzalcoatl gaben und der Gottheit der Unterwelt den Namen
Tezcatlipoca. Das bedeutet >rauchender Spiegel<.«
»Halt, Mick. Moment mal, bitte. Vergessen Sie doch
diese Maya-Mythen. Ich will, dass Sie sich auf die Fakten
konzentrieren, die Angaben des Kalenders beweisen, und darauf, was
das Ganze mit diesem Funksignal aus dem Weltraum zu tun hat.«
Die dunklen Augen funkeln sie an wie Laserstrahlen.
Sein Blick lässt sie zurückschrecken. »Ich kann nicht über die
wissenschaftlichen Fakten sprechen, die die Prophezeiung vom
Weltuntergang stützen, ohne diesen
Schöpfungsmythos zu erklären. Alles ist miteinander verwoben. Die
Kultur der Maya ist von einem Paradoxon gekennzeichnet. Die meisten
Leute halten dieses Volk für einen Haufen wilder Dschungelbewohner,
der zufällig ein paar hübsche Pyramiden gebaut hat. In Wahrheit
waren die Maya unglaublich versierte Astronomen und Mathematiker,
die ein unbegreifliches Wissen darüber besaßen, welche Rolle unser
Planet in der Galaxis spielt. Aufgrund dieses Wissens waren sie in
der Lage, die Konstellation vorherzusagen, die zu dem Radiosignal
gestern geführt hat.«
»Das versteh ich nicht...«
Mick zappelt mit Armen und Beinen, dann schreitet
er wieder in der Zelle umher. »Es gibt Beweise dafür, dass die Maya
und ihre Vorläufer, die Olmeken, die Milchstraße, also unsere
Galaxis, als bildliche Basis für die Berechnung ihres Kalenders
verwendet haben. Die Milchstraße ist eine Spiralgalaxie mit einem
Durchmesser von etwa hunderttausend Lichtjahren. Sie besteht aus
annähernd zweihundert Milliarden Sternen. Unsere Sonne befindet
sich in einem der Spiralarme, dem Orionarm, und ist etwa
fünfunddreißigtausend Lichtjahre vom galaktischen Mittelpunkt
entfernt. Nach neueren Erkenntnissen der Astronomie handelt es sich
bei diesem Zentrum um ein gewaltiges Schwarzes Loch, direkt im
Sternbild Schütze. Das galaktische Zentrum stellt eine Art
himmlischen Magneten dar, der die Milchstraße in einen kraftvollen
Wirbel zieht. In diesem Moment dreht sich unser Sonnensystem mit
einer Geschwindigkeit von zweihundertsiebzehn Kilometern pro
Sekunde um dieses Zentrum. Trotz dieses enormen Tempos braucht die
Erde gut zweihundertsechsundzwanzig Millionen Jahre, um eine
Umdrehung zu vollenden.«
Bald ist das Tonband zu Ende. »Mick, das
Signal...«
»Geduld. Während unser Sonnensystem sich durch die
Galaxis bewegt, folgt es einem vierzehn Grad breiten
Pfad, den man die Ekliptik nennt. Die Eklipdk durchquert die
Milchstraße so, dass sie periodisch in eine Fluchtlinie mit der
zentralen Wölbung der Galaxis gerät. Wenn die Maya in den
Nachthimmel blickten, sahen sie einen dunklen Graben, ein langes
dunkles Band aus dichten interstellaren Wolken, das dort beginnt,
wo die Ekliptik die Milchstraße im Sternbild Schütze schneidet. Der
Schöpfungsmythos im Popol Vuh bezeichnet dieses dunkle Band als
Xibalba Be oder Schwarze Straße. In Form einer riesenhaften
Schlange stellte es für die Maya die Verbindung zwischen Leben und
Tod, zwischen der Erde und der Unterwelt dar.«
»Das ist wirklich faszinierend, aber was hat es mit
dem Radiosignal aus dem Weltraum zu tun?«
Mick bleibt stehen. »Dominique, dieses Radiosignal
- das war keine zufällige Sache, die man einfach ins Universum
gestrahlt hat. Es war absichtlich direkt auf unser Sonnensystem
gerichtet. Technisch gesehen kann man nicht einfach ein Funksignal
durch die halbe Galaxis schicken und hoffen, dass es ihm irgendwie
gelingt, ein bestimmtes planetares Stäubchen wie die Erde zu
erreichen. Je weiter so ein Signal reisen muss, desto mehr verteilt
es sich und verliert an Stärke. Das Radiosignal, das SETI entdeckt
hat, war ein sehr kraftvoller, genauer und schmaler Strahl.
Zumindest mir ist deshalb klar, dass die Wesen, die ihn geschickt
haben, dafür eine besondere galaktische Konstellation brauchten,
eine Art himmlische Schleuse, durch die das Signal von seinem
Ursprung bis zur Erde gelangen konnte. Kurz gesagt, ist das Signal
also durch eine Art kosmischen Korridor gereist. Ich kann nicht
erklären, weshalb, und ich kann nicht erklären, wie, aber ich habe
gespürt, wie das Tor dieses Korridors sich geöffnet hat.«
Dominique sieht die Furcht in seinen Augen. »Sie
haben gespürt, wie es sich geöffnet hat? Wie hat es sich denn
angefühlt?«
»Es war ein widerwärtiges Gefühl, als würden eisige
Finger in meine Eingeweide dringen.«
»Und Sie glauben, dieser kosmische Korridor hat
sich gerade weit genug geöffnet, um das Radiosignal
durchzulassen?«
»Ja, aber das Tor geht jeden Tag ein wenig weiter
auf. Am Tag der Wintersonnenwende wird es vollständig offen
stehen.«
»Zur Wintersonnenwende - also an dem Tag, an dem
die Maya das Ende der Welt erwarteten?«
»Genau. Die Astronomen wissen seit Jahren, dass
unsere Sonne am einundzwanzigsten Dezember 2012, dem letzten Tag
des fünften Zyklus im Maya-Kalender, in direkter Konjunktion mit
dem galaktischen Zentrum stehen wird. Zur selben Zeit wird sich das
dunkle Band der Milchstraße entlang unseres östlichen Horizonts
ausrichten und um Mitternacht direkt über der alten Maya-Stadt
Chichen Itzä erscheinen. Diese Kombination galaktischer
Konstellationen tritt nur einmal alle
fünfundzwanzigtausendachthundert Jahre auf, und dennoch waren die
Maya irgendwie in der Lage, sie vorherzusagen.«
»Das Funksignal aus dem All - welchen Zweck hatte
es?«
»Das weiß ich nicht, aber es ist ein Vorzeichen für
Tod und Verderben.«
Du musst seine Schizophrenie irgendwie
erklären können. Mach die Eltern verantwortlich. »Mick, mir
scheint, dass Ihre lange Haft - einmal abgesehen von einem
isolierten Ausbruch von Gewalttätigkeit - vor allem mit Ihrem
fanatischen Glauben an den Weltuntergang zu tun hat. Diesen Glauben
teilen Sie mit vielen Millionen Menschen. Wenn Sie sagen, dass die
Menschheit zugrunde gehen wird, hört sich das nach einem
Glaubenssystem an, das man Ihnen seit der Geburt eingetrichtert
hat. Wäre es nicht möglich, dass Ihre Eltern...«
»Meine Eltern waren weder religiöse Fanatiker noch
Anhänger des Millenniumswahns. Sie haben ihre Zeit nicht damit
vergeudet, unterirdische Bunker zu bauen. Sie haben sich nicht mit
Waffen und Proviant versorgt, um für die Apokalypse vorbereitet zu
sein. Ebensowenig haben sie an die Wiederkunft Christi oder
irgendeines anderen Messias geglaubt, und sie haben auch nicht
jeden Diktator mit einem geschmacklosen Schnurrbart beschuldigt,
der Antichrist zu sein. Sie waren Archäologen, Dominique,
Wissenschaftler, die intelligent genug waren, nicht all jene
Zeichen zu ignorieren, die auf eine Katastrophe mit tödlichem
Ausgang für unsere ganze Spezies hinweisen. Es ist mir völlig egal,
ob Sie die Maya-Prophezeiung als Armageddon oder als Apokalypse
bezeichnen, aber holen Sie mich endlich hier raus, damit ich was
dagegen tun kann!«
»Immer mit der Ruhe, Mick. Ich weiß, dass Sie
frustriert sind, und ich versuche Ihnen zu helfen - und zwar mehr,
als Ihnen bewusst ist. Aber um Ihre Entlassung zu erreichen, muss
ich eine neue psychiatrische Evaluation beantragen.«
»Wie lange wird das dauern?«
»Keine Ahnung.«
»Meine Güte...« Er beschleunigt seine
Schritte.
»Nehmen wir mal an, Sie würden morgen frei kommen.
Was würden Sie tun? Wo würden Sie hinwollen?«
»Nach Chichen Itzá. Die einzige Chance, die wir
haben, wenn wir uns retten wollen, besteht darin, einen Zugang zum
Inneren der Kukulkan-Pyramide zu finden.«
»Was ist denn in der Pyramide?«
»Ich weiß es nicht. Das weiß niemand. Man hat den
Eingang noch nie entdeckt.«
»Aber woher wissen Sie dann...«
»Weil ich spüren kann, dass etwas da ist. Fragen
Sie mich nicht, auf welche Weise, ich spüre es einfach. Es ist
so ähnlich, als ob man eine Straße entlanggeht und irgendwie
spürt, dass man verfolgt wird.«
»Die Ausschussmitglieder werden etwas
Substantielleres als ein Gefühl in die Hand bekommen wollen.«
Mick bleibt stehen und wirft ihr einen
verzweifelten Blick zu. »Deshalb hab ich Sie ja gebeten, das
Tagebuch meines Vaters zu lesen. Es gibt zwei Bauten in Chichen
Itzä, die mit unserer Rettung verbunden sind. Der eine ist der
große Ballspielplatz, der genau so ausgerichtet ist, dass er am
Datum vier Ahau, drei Kankin einen Spiegel von Xibalba Be,
dem dunklen Band der Milchstraße, bilden wird. Der andere ist die
Kukulkan-Pyramide, der Schlüssel zur gesamten Prophezeiung. An
jeder Tagundnachtgleiche erscheint der Schatten einer Schlange an
der Nordseite der Pyramide. Mein Vater war der Ansicht, dieser
Effekt sei eine Warnung, die uns Kukulkan hinterlassen hat, also
ein Symbol des Unheils, das der Menschheit droht. Der Schatten
erscheint genau drei Stunden und zweiundzwanzig Minuten lang, und
ebenso lange hat das Funksignal aus dem Weltraum angehalten.«
»Wissen Sie das ganz sicher?« Vergiss nicht,
diese Fakten in deinem Bericht zu dokumentieren.
»So sicher, wie ich hier in dieser Zelle vor mich
hinfaule.« Er schreitet wieder durch den Raum.
Sie hört das Klicken des Tonbands, das voll ist und
sich ausschaltet.
»Dom, da kam noch ein anderer Bericht auf CNN, von
dem ich allerdings nur das Ende mitbekommen habe. Es ging um ein
Erdbeben auf der Halbinsel Yukatan. Ich muss herausbekommen, was da
geschehen ist. Ich muss wissen, ob das Zentrum des Bebens in
Chichen Itzä war oder im Golf von Mexiko.«
»Wieso im Golf?«
»Offenbar haben Sie noch nicht mal den
Tagebucheintrag über die Karten von Piri Re’is gelesen?«
»Tut mir Leid. Ich hatte ziemlich viel um die
Ohren.«
»Mein Gott, Dom, wenn ich Ihr Praktikum
betreuen würde, hätte ich Sie längst rausgeschmissen. Piri Re’is
war ein berühmter türkischer Admiral, der Ende des vierzehnten
Jahrhunderts irgendwie auf eine Sammlung mysteriöser Weltkarten
gestoßen ist. Auf der Basis dieser Karten hat er eine Reihe eigener
Karten angefertigt, mit deren Hilfe Kolumbus nach Meinung der
Historiker den Weg über den Atlantik gefunden haben soll.«
»Moment mal, diese Karten waren echt?«
»Natürlich. Sie sind noch immer echt, und sie
zeigen topografische Einzelheiten, die nur mithilfe hoch
entwickelter seismischer Geräte erkennbar sind. Zum Beispiel ist
die Küste der Antarktis so dargestellt, als gäbe es keinerlei
polare Eiskappe.«
»Was ist daran so bedeutsam?«
»Dom, die Karte ist mehr als fünfhundert Jahre alt,
und die Antarktis wurde erst 1818 entdeckt.«
Sie starrt ihn an, ohne recht zu wissen, was sie
von all dem halten soll.
»Wenn Sie Zweifel haben, fragen Sie bei der
US-Marine nach. Deren Analyse hat die Genauigkeit der Kartografie
nämlich bestätigt.«
»Und was hat diese Karte mit dem Golf von Mexiko
oder der Weltuntergangsprophezeiung zu tun?«
»Vor fünfzehn Jahren haben mein Vater und ich eine
ähnliche Karte gefunden. Das war allerdings ein Original, Tausende
von Jahren alt, genau wie die Karten, die Piri Re’is entdeckt hat.
Sie steckte in einem Iridiumbehälter, der an einer bestimmten
Stelle auf dem Plateau von Nazca vergraben war. Ich hab’s gerade
noch geschafft, eine Polaroidaufnahme davon zu machen, bevor das
Pergament zu Staub zerfallen ist. Das Foto finden Sie ganz hinten
im Tagebuch meines Vaters. Wenn Sie genau hinschauen, sehen sie
einen roten Kreis, der ein Gebiet im Golf von Mexiko gleich
nördlich der Halbinsel Yukatan markiert.«
»Auf was verweist diese Markierung?«
»Das weiß ich nicht.«
Komm jetzt zum Ende. »Mick, ich habe keinen
Zweifel an den Dingen, die Sie mir erzählen, aber was ist, wenn...
nun, wenn dieses Funksignal aus dem Weltraum überhaupt nichts mit
der Maya-Prophezeiung zu tun hat? Die NASA behauptet, es stammt von
irgendeinem Ort, der mehr als achtzehnhundert Lichtjahre von uns
entfernt ist. Das ist doch ein gewisser Trost, oder? Na ja, ich
meine« - sie lächelt -, »es ist wohl ziemlich unwahrscheinlich,
dass irgendwelche Außerirdischen aus dem Oriongürtel schon
innerhalb der nächsten zwei Monate bei uns eintreffen.«
Micks Augen werden zu zwei dunklen Teichen. Er
tritt zurück und presst sich beide Hände an die Schläfen.
Ach, du Scheiße, jetzt flippt er aus.
Du hast ihn zu weit getrieben. »Mick, was ist denn? Geht’s
Ihnen nicht gut?«
Er hebt einen Finger, um ihr mitzuteilen, dass sie
von ihm wegbleiben und den Mund halten soll.
Dominique sieht zu, wie er sich auf den Boden
kniet. Seine Augen sind dunkle Tore zu einem Geist, der von einem
rasenden Wirbel erfasst ist. Vielleicht hattest du
Unrecht. Vielleicht ist er wirklich
unzurechnungsfähig.
Der lange Augenblick geht vorüber. Als Mick den
Kopf hebt, ist die Intensität seines starren Blicks eindeutig
Furcht erregend.
»Sie haben Recht, Dominique, Sie haben absolut
Recht«, flüstert er. »Was immer dazu vorgesehen ist, die Menschheit
auszulöschen, wird nicht aus dem Weltraum kommen. - Es liegt im
Golf von Mexiko. Es ist schon da.«
AUS DEM TAGEBUCH VON JULIUS
GABRIEL
Um die Geheimnisse, die den Kalender der Maya und
seine düstere Prophezeiung umgeben, besser verstehen und
letztendlich lösen zu können, müssen wir uns mit den Ursprüngen der
ersten Kulturen beschäftigen, die in Yukatan aufblühten.
Die ersten Mittelamerikaner waren halb nomadische
Stämme, die um 4000 v. Chr. in der Region erschienen. Im Lauf der
Zeit wurden sie zu sesshaften Bauern, die den aus einem wilden Gras
gezüchteten Mais anbauten, ferner Avocados, Tomaten und
Kürbisse.
Irgendwann um das Jahr 2500 v. Chr. erschien dann
>er<.
>Er< war ein weiser Mann mit länglichen
europäischen Gesichtszügen, einem wallenden weißen Bart und langem
Haar, der nach der Legende übers Meer in das subtropische Tiefland
am Golf von Mexiko kam. Es war sein Ziel, die dort lebenden
Menschen zu unterrichten und ihnen seine große Weisheit zu
vermitteln.
Das einheirnisehe Volk, das er belehrte, bezeichnen
wir heute als Olmeken, wörtlich >Bewohner des Gummilandes<.
Sie wurden zur >Mutterkultur< ganz Mittelamerikas und
bildeten die erste komplexe Gesellschaft des gesamten
amerikanischen Doppelkontinents. Unter dem Einfluss des
>Bärtigen< einten die Olmeken die Region am Golf von Mexiko.
Ihre astronomischen, mathematischen und architektonischen
Leistungen beeinflussten die Zapoteken, die Maya, die Tolteken und
die Azteken, Kulturen, die innerhalb der folgenden Jahrtausende
mächtig wurden.
Fast über Nacht begannen diese einfachen, im
Dschungel lebenden Bauern damit, komplexe Bauten und große
kultische Zentren zu errichten. Ihre öffentliche Architektur und
Kunst verweist auf ein fortgeschrittenes technisches Wissen. Es
waren die Olmeken, die das berühmte alte Ballspiel erfanden und
sich die ersten Methoden zur Aufzeichnung historischer Ereignisse
ausdachten. Außerdem schufen sie drei Meter hohe monolithische
Köpfe aus Basalt, die oft bis zu dreißig Tonnen wiegen. Wie diese
gewaltigen Skulpturen transportiert wurden, ist noch immer
unbekannt.
Von noch größerer Bedeutung ist die Tatsache, dass
die Olmeken als erstes mittelamerikanisches Volk Pyramiden
errichteten, bei deren Bau sie ihr großes astronomisches und
mathematisches Wissen einsetzten. Bringt man diese Bauten in
Beziehung zu den Sternbildern, wird deutlich, dass die Olmeken die
Präzession entdeckt hatten, die ihren Niederschlag im
Schöpfungsmythos des Popol Vuh fand.
Es waren also die Olmeken und nicht die Maya, die
ihr unerklärliehes astronomisches Wissen benutzten, um die
>Lange Zählung< und die damit verbundene Prophezeiung vom
Weltuntergang zu erschaffen.
Den Kern dieses ominösen Kalenders bildet der
Schöpfungsmythos, der sich als historischer Bericht über einen
fortlaufenden Kampf des Lichts und des Guten gegen die Dunkelheit
und das Böse darstellt. Der Held der Geschichte, Hun-Hunapu, ist
ein Krieger mit der Fähigkeit, die Schwarze Straße (Xibalba Be) zu betreten. Für die
mittelamerikanischen Ureinwohner entsprach Xibalba Be dem dunklen Band der Milchstraße. Das
Tor zu Xibaiba Be wird
in der Kunst der Olmeken wie der Maya als Maul einer großen
Schlange dargestellt.
Man kann sich leicht vorstellen, wie die in vieler
Hinsicht primitiven Olmeken in den Nachthimmel blickten und das
dunkle Band der Galaxis als kosmische Schlange deuteten.
Um das Jahr 100 v.Chr. beschlossen die Olmeken aus
unbekannten Gründen, ihre Städte zu verlassen und sich in zwei
Völker aufzuspalten, die sich in zwei getrennten Regionen
ausbreiteten. Die Gruppe, die sich weiter westlich in Zentralmexiko
niederließ kennen wir als Tolteken; das Volk, das nach Osten in die
Dschungel von Yukatan, Belize und Guatemala wanderte, nannte sich
Maya. Erst um 900 n. Chr. vereinigten die beiden Kulturen sich
erneut unter dem Einfluss des großen Lehrers Kukulkan und schufen
dessen grandiose Stadt Chichen Itzá.
Doch gehen wir erst einmal einen Schritt
zurück.
Cambridge 1969 - das war der Ort, an dem ich mich
mit zwei Kollegen aufmachte, um die Geheimnisse der
Maya-Prophezeiung zu ergründen. Einhellig beschlossen wir, uns
zuerst der Olmekensiedlung von La Venta zuzuwenden, denn dort hatte
der amerikanische Archäologe Matthew Stirling zwanzig Jahre zuvor
seine verblüffendste Entdeckung gemacht: eine gewaltige
Befestigung, bestehend aus einer Mauer aus sechshundert Säulen, die
jeweils mehr als zwei Tonnen wogen. Neben diesem Bauwerk hatte der
Forscher einen großen, mit komplexen Ritzzeichnungen bedeckten
Felsen entdeckt. Nach zwei anstrengenden Tagen gelang es Stirling
und seinen Leuten, die riesige Skulptur auszugraben. Sie war gut
vier Meter hoch, drei Meter breit und fast einen Meter tief. Obwohl
ein Teil der Bildhauerarbeit durch die Erosion beschädigt war,
wurde ein beeindruckendes Porträt erkennbar. Es war eine männliche
Gestalt mit europäischen Gesichtszügen, einem langen Schädel, einem
hohen Nasenbein und einem wallenden Bart.
Man stelle sich die Überraschung meiner Kollegen
vor, als sie ein zweitausend Jahre altes Relief entdeckten, das
eindeutig einen Europäer darstellte. Schließlich war das Kunstwerk
fünfzehnhundert Jahre vor dem Augenblick geschaffen worden, in dem
der erste Spanier Amerika erreichte. Ebenso verblüffend war der
Umstand, dass eine olmekische Figur einen Bart hatte, denn es ist
eine genetische Tatsache, dass reinblütige Indianer keinen
Bartwuchs aufweisen. Da jedes künstlerische Motiv irgendeinen
Ursprung haben muss, stellte die Identität des bärtigen weißen
Mannes ein weiteres Rätsel dar, das es zu lösen galt.
Was mich betraf, entwickelte ich sofort die
Theorie, dass dieser >Europäer< ein früher Vorläufer von
Kukulkan, des großen Lehrers der Maya war.
Wir wissen nicht allzu viel über Kukulkan und seine
Vorfahren, obgleich offenbar jedes mittelamerikanische Volk eine
männliche Gottheit verehrt hat, auf die dieselbe physische
Beschreibung passt. Bei den Maya hieß sie Kukulkan, bei den Azteken
Quetzalcoatl, doch immer war es ein legendärer weiser Mann mit
Bart, der dem Volk Frieden, Wohlstand und große Weisheit brachte.
Aus historischen Quellen wird erkennbar, dass Kukulkan/Quetzalcoatl
irgendwann um 1000 n. Chr. gezwungen wurde, Chichén Itzá zu
verlassen. In den Legenden heißt es, der geheimnisvolle Weise habe
seinem Volk vor seinem Abschied versprochen, er werde zurückkehren,
um die Welt vom Bösen zu befreien.
Nach dem Verschwinden von Kukulkan breitete sich
rasch ein dämonischer Einfluss im Land aus. Sowohl die Maya wie die
Azteken wandten sich dem Menschenopfer zu. Zehntausende von
Männern, Frauen und Kindern wurden brutal getötet, weil man dadurch
hoffte, die Rückkehr des geliebten Gottkönigs zu beschleunigen und
das vorhergesagte Ende der Menschheit zu vereiteln.
Im Jahr 1519 kam der spanische Entdecker Hernán
Cortés aus Kuba, um Yukatan zu erobern. Obwohl die dortigen Völker
ihren Angreifern zahlenmäßig weit überlegen waren,
hielten sie den bärtigen Europäer Cortes für den zurückgekehrten
Kukulkan/Quetzalcoatl und legten ihre Waffen nieder. Kaum hatte der
Konquistador die >Wilden< besiegt, als er spanische Priester
herbeirief, die nach ihrer Ankunft voll Schrecken von den
Menschenopfern hörten. Ebenso schockiert waren sie von einem
weiteren Brauch: Die Maya-Mütter zwängten den Kopf ihrer
neugeborenen Kinder in Holzbretter, um den noch in Entwicklung
befindlichen Schädel zu deformieren. Dadurch sollte der Schädel
verlängert werden und >gottähnlicher< werden. Diese
Vorstellung war zweifellos von der Tatsache inspiriert, dass der
große Lehrer Kukulkan ebenfalls eine längliche Kopfform besessen
hatte.
Die spanischen Priester waren rasch bei der Hand,
die Bräuche der Maya auf teuflische Einflüsse zurückzuführen. Sie
ließen die Schamanen bei lebendigem Leibe verbrennen und bekehrten
die restlichen Indianer unter Androhung der Todesstrafe zum
Christentum. Anschließend verbrannten die abergläubischen Narren
jeden wichtigen Maya-Kodex, der existierte. Tausende Bände mit
Texten wurden zerstört. Zweifellos bezogen diese Texte sich auf die
Prophezeiung vom Weltuntergang, und es ist gut möglich, dass sie
wichtige Anweisungen enthielten, die uns Kukulkan hinterließ, um
unsere Spezies vor der Vernichtung zu retten.
Das also führte dazu, dass uns die Kirche vor
fünfhundert Jahren bei dem Versuch, unsere Seelen vor dem Teufel zu
retten, höchstwahrscheinlich zur Unwissenheit verdammt hat.
Während Borgia und ich über die Identität des
Bärtigen debattierten, den das olmekische Relief darstellte, stieß
unsere Kollegin, die schöne Maria Rosen, auf einen Fund, der uns
von Mittelamerika zur nächsten Etappe unserer Reise brachte.
Bei Grabungen an einer olmekischen Stätte in La
Venta entdeckte Maria ein altes Königsgrab und in diesem die
Überreste eines länglichen Schädels. Zwar war dieses seltsame,
kaum menschlich aussehende Objekt nicht das erste seiner Art, das
in Mittelamerika gefunden wurde, doch blieb es das einzige aus der
Heimat der Olmeken und einem Ort, der als
>Schlangenheiligtum< bezeichnet wird.

Länglicher Schädel (Artefakt Nr. 114), von Maria
Rosen 1969 in La Venta entdeckt.
Maria beschloss, den Schädel dem Anthropologischen
Museum von Merida zu stiften. Beim Gespräch mit dem dortigen
Kurator erfuhren wir zu unserer Überraschung, dass ähnliche Schädel
kürzlich in Grabstätten auf dem peruanischen Nazea-Plateau entdeckt
worden waren.
Gab es eine Verbindung zwischen den Kulturen der
Maya und der Inka?
Wir standen an einem archäologischen Scheideweg.
Sollten wir nach Chiehen Itzá weiterreisen, der alten Maya-Stadt,
die von zentraler Bedeutung für die düstere Prophezeiung
war, oder sollten wir Mexiko verlassen und die Spur verfolgen, die
nach Peru führte?
Es war Marias Eingebung, nach Südamerika zu reisen,
denn sie glaubte, der Maya-Kalender sei nur ein - allerdings
wichtiger - Teil des Rätsels. Und so bestiegen wir ein Flugzeug
nach Peru, ohne zu wissen, wohin unsere Reise uns führen
würde.
Während wir übers Meer flogen, dachte ich über eine
verblüffende Tatsache nach, die ich in Merida erfahren hatte.
Nachdem der medizinische Berater des Museums, der einen guten Ruf
besaß, mit der Untersuchung des länglichen Schädels betraut worden
war, hatte er nachdrücklich behauptet, die extreme Deformierung des
Objekts könne nicht auf eine der bekannten Verlängerungsmethoden
zurückgeführt werden. Um diese These zu stützen, ließ er die Kiefer
von einem Zahnarzt untersuchen, wobei etwas noch wesentlich
Erstaunlicheres zum Vorschein kam.
Im Unterkiefer eines erwachsenen Menschen stecken
vierzehn Zähne.
Der längliche Schädel, den Maria gefunden hatte,
besaß nur zehn.
Auszug aus dem Tagebuch von Prof. Julius
Gabriel
Vgl. Katalog 1969-73, Seite 13-347
Fotojournal Diskette 4, Datei: OLMEK-1-7
Fotojournal Diskette 4, Datei: OLMEK-1-7