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9. Dezember 2012 Chichén Itzá, Mexiko
13.40 Uhr Das kleine Propellerflugzeug
hüpft zweimal auf dem verwitterten Rollfeld auf, bremst und kommt
rutschend kurz vor der Stelle zum Stehen, an der die Landebahn in
ein mit Unkraut bewachsenes Feld übergeht.
Als Dominique aus der Cessna steigt, schlägt ihr
die Hitze direkt ins Gesicht. Ihr schweißgetränktes T-Shirt klebt
ihr schon an der Brust. Sie wirft ihren Rucksack über die Schulter
und folgt den anderen sieben Passagieren durch den kleinen Terminal
und hinaus auf die Landstraße. Auf einem Schild nach links steht
>Hotel Mayaland<, nach rechts geht es nach Chichén
Itzá.
»Taxi, Señorita?«
Der Fahrer, ein kleiner Mann Ende fünfzig, lehnt an
einem verbeulten weißen VW Käfer. In seinen dunklen Gesichtszügen
erkennt Dominique das Erbe der Maya.
»Wie weit ist es bis Chichen Itzá?«
»Zehn Minuten.« Der Mann öffnet die
Beifahrertür.
Als Dominique einsteigt, versinkt sie sofort in dem
müden Schaumstoff des zerschlissenen Sitzes.
»Waren Sie schon einmal in Chichen Itzä,
Señorita?«
»Nur als Kind.«
»Macht nichts. In den letzten tausend Jahren hat
sich dort nicht allzu viel geändert.«
Sie durchqueren ein armseliges Dorf und kommen auf
eine frisch geteerte, vierspurige Mautstraße. Wenige Minuten später
hält das Taxi am renovierten Parkeingang. Der Parkplatz ist voller
Mietwagen und Touristenbusse. Dominique bezahlt den Fahrer, kauft
eine Eintrittskarte und betritt den Park.
Sie kommt an einer Reihe von Andenkenläden vorbei,
dann folgt sie einer Gruppe von Touristen zu einer breiten,
ungepflasterten Straße durch den Dschungel. Nach fünf Minuten
bietet sich ein Blick auf eine unglaublich weite grüne Fläche, die
von dichtem Blattwerk umgeben ist.
Mit großen Augen nimmt Dominique ihre Umgebung in
sich auf. Sie ist in einer anderen Zeit.
Mitten in der Landschaft erhebt sich eine Anzahl
grau-weißer Kalksteinruinen. Zu ihrer Linken breitet sich der Große
Ballspielplatz aus, der größte seiner Art in Mittelamerika. Die
riesige, I-förmige Arena ist etwa hundertsiebzig Meter lang und
siebzig Meter breit und auf allen Seiten von Mauern umschlossen,
die sich in der Mitte zu drei Stockwerk hohen Wällen erheben. An
ihrem nördlichen Ende ragt der Tzompantli auf, eine große, mit
mehreren Reihen gewaltiger Schädel geschmückte Plattform, die von
Schlangenleibern gekrönt wird. Rechts von Dominique steht ein Stück
weit entfernt ein weitläufiger, rechteckiger Komplex, der so
genannte Tempel der Krieger, die Ruinen eines Palastes mit einem
angeschlossenen Marktplatz. Teile davon sind von Hunderten frei
stehender Säulen umschlossen.
Doch es ist ein anderer Bau, der sofort Dominiques
Blicke auf sich zieht - eine unglaublich kunstvoll erbaute
Kalksteinpyramide, die sich in der Mitte der alten Stadt weit über
alle anderen Strukturen erhebt.
»Herrlich, nicht wahr, Señorita?«
Dominique dreht sich um und sieht einen kleinen
Mann mit einer Baseballmütze und einem fleckigen, orangefarbenen
T-Shirt, das das Logo des Parks trägt. Sein Gesicht mit der hohen,
fliehenden Stirn spiegelt das Erbe der Maya.
»Der Tempel des Kukulkan ist das großartigste
Bauwerk in ganz Mittelamerika. Wie wäre es mit einer kleinen
Privatführung? Nur fünfunddreißig Pesos.«
»Eigentlich suche ich nach jemandem. Es ist ein
Amerikaner, groß, kräftig, mit braunem Haar und sehr dunklen Augen.
Sein Name ist Michael Gabriel.«
Das Lächeln des Führers verschwindet.
»Sie kennen Mick?«
»Tut mir Leid, aber da kann ich Ihnen nicht
weiterhelfen. Schönen Tag noch.« Der kleine Mann dreht sich um und
geht davon.
»So warten Sie doch...« Dominique eilt hinter ihm
her. »Sie wissen, wer das ist, nicht wahr? Wenn Sie mich zu ihm
bringen, springt allerhand für Sie heraus.« Sie drückt ihm ein
Bündel Geldscheine in die Hand.
»Tut mir Leid, Señorita, den Mann, den Sie da
suchen, kenne ich nicht.« Er drückt ihr das Geld wieder in die
Hand.
Sie zählt ein paar Scheine ab. »Da, nehmen Sie
das...«
»Nein, Señorita.«
»Bitte. Wenn Sie ihm zufällig begegnen oder wenn
Sie jemand kennen, der ihm eine Nachricht überbringen kann, lassen
Sie ihn wissen, dass Dominique ihn treffen will. Sagen Sie ihm, es
geht um Leben und Tod.«
Der Führer sieht die Verzweiflung in ihrem Blick.
»Der Mann, den sie suchen - ist er Ihr Partner?«
»Er ist ein guter Freund.«
Nachdenklich blickt der Führer eine Weile in die
Ferne. »Lassen Sie sich Zeit und schauen Sie sich hier ein wenig
um. Essen Sie dann was Warmes und warten Sie, bis es dunkel wird.
Der Park schließt um zehn. Verstecken Sie sich vorher im Dschungel,
kurz bevor die Wächter ihre letzte Runde machen. Wenn alle weg sind
und man die Tore verschlossen hat, steigen Sie auf den
Kukulkan-Tempel und warten.«
»Auf Mick?«
»Schon möglich. Am Haupteingang sind ein paar
Andenkenläden. Kaufen Sie sich einen Wollponcho, den werden Sie
nachts brauchen.«
»Wollen Sie das Geld wirklich nicht nehmen?«
»Nein. Die Gabriels sind schon sehr lange mit
meiner Familie befreundet.« Der Führer lächelt. »Wenn Mick Sie
findet, sagen Sie ihm, Elias Forma meint, Sie seien viel zu schön,
um allein im Land der grünen Blitze herumzuspazieren.«
Das unablässige Summen unzähliger Moskitos dringt
Dominique in die Ohren. Sie zieht sich die Haube des Ponchos über
den Kopf und kauert sich in die Dunkelheit, während um sie herum
der Dschungel erwacht.
Was mache ich hier nur? Sie schlägt nach
imaginären Insekten, die an ihrem Arm entlangkriechen. Eigentlich
sollte ich jetzt in den letzten Tagen meines Praktikums sein und
dann mein Studium beenden.
Der Wald fängt an zu rauschen. Ein Flügelflattern
bricht durch das Blätterdach über ihrem Kopf. Irgendwo in der Ferne
durchstößt der Schrei eines Brüllaffen die Nacht. Sie blickt auf
ihre Armbanduhr - 10.23 Uhr - zieht sich den Poncho wieder über den
Kopf und rutscht auf dem Felsen, auf dem sie sitzt,
unbehaglich hin und her.
Noch zehn Minuten.
Die Augen schließend lässt sie sich vom Dschungel
umhüllen, genau wie damals in ihrer Kindheit. Sie riecht den
betäubenden Duft des Mooses, hört das Rascheln
der im sanften Wind tanzenden Palmwedel und ist wieder in
Guatemala. Vier Jahre alt, steht sie an der weiß gekalkten Mauer
vor dem Fenster zum Schlafzimmer ihrer Mutter und hört ihre
Großmutter weinen. Sie wartet, bis ihre Tante die alte Frau
hinausgeführt hat, dann klettert sie durchs Fenster.
Dominique starrt auf die leblose Gestalt, die
ausgestreckt auf dem Bett liegt. Die Finger, die ihr noch vor
wenigen Stunden übers Haar gestrichen haben, sind jetzt blau an den
Spitzen. Der Mund steht offen, die braunen Augen sind halb
geschlossen und blicken reglos an die Decke. Dominique berührt die
hohen Wangenknochen und spürt kalte, klamme Haut.
Das ist nicht ihre Mutter. Das ist etwas anderes,
eine Hülle aus unbeseeltem Fleisch, die ihre Mutter getragen hat,
als sie ein Teil dieser Welt war.
Ihre Großmutter kommt ins Zimmer. Nun ist sie
bei den Engeln, Dominique...
Der Nachthimmel über Dominiques Kopf füllt sich jäh
mit dem chaotischen Geräusch unzähliger Fledermäuse, die
hochgeflogen sind. Sie springt auf und versucht mit wild klopfendem
Herzen, die Erinnerungen ebenso von sich fern zu halten wie die
Moskitos.
»Nein! Ich gehöre nicht hierher. Mein Leben ist
woanders!«
Sie drängt ihre Kindheit in den Hintergrund ihres
Bewusstseins und verschließt die Tür, dann klettert sie von ihrem
Felsen und bahnt sich einen Weg durchs Dickicht, bis sie am Rand
des Heiligen Cenote ins Freie tritt.
Dominique blickt auf die nackten Wände des Beckens,
die senkrecht zur Oberfläche des tief schwarzen, mit Algen
durchsetzten Wassers abfallen. Das Licht des zu drei Vierteln
vollen Mondes spiegelt sich in den Furchen, die die Erosion im
weißen Kalkstein der Umrandung hinterlassen hat. Sie hebt den Kopf
und betrachtet den von einer Mauer umschlossenen Bau, der sich über
den Südrand des Beckens erhebt. Sie weiß: Vor tausend Jahren haben
die Maya, verzweifelt über das plötzliche Verschwinden ihres
Gottkönigs Kukulkan, sich Menschenopfern zugewandt, um das Ende der
Menschheit zu verhindern. Unberührte Mädchen wurden zur rituellen
Reinigung ins Becken gezwungen und dann von Priestern auf die
Plattform oben geführt. Dort wurden sie entkleidet, dann streckten
die Priester sie auf dem Stein aus, um ihnen mit Obsidianmessern
das Herz aus dem Leib zu schneiden oder die Kehle aufzuschlitzen.
Anschließend warf man ihre mit Schmuck behängten Leichen feierlich
in den geheiligten Brunnen.
Der Gedanke an das grausame Ritual lässt Dominique
schaudern. Sie umrundet das Becken und eilt den Sache
entlang, einen breiten, erhöhten Weg aus Erde und Steinen, der
durch den dichten Dschungel zum Nordrand der alten Stadt
führt.
Eine Viertelstunde später - Dominique ist ein
halbes Dutzend Mal gestolpert - hat sie das Ende des Wegs erreicht.
Vor ihr erhebt sich die Nordseite der Kukulkan-Pyramide, deren
dunkler, kantiger Umriss neun Stockwerke hoch in den sternenklaren
Himmel ragt. Sie nähert sich dem Sockel, der an beiden Seiten von
den Köpfen zweier gewaltiger Schlangen bewacht wird.
Dominique blickt sich um. Die alte Stadt ist dunkel
und verlassen. Ein kalter Schauer läuft ihr über den Rücken, als
sie die Treppe betritt.
Auf halber Höhe bleibt sie stehen und ringt nach
Atem. Die Stufen der Pyramide sind schmal, der Winkel steil, und es
gibt nichts, woran sie sich festhalten könnte. Sie dreht sich um
und blickt hinab. Ein Fall aus dieser Höhe würde ihren Tod
bedeuten.
»Mick?« Ihre Stimme hallt über das flache Terrain.
Sie wartet auf eine Antwort, doch da sie nichts hört, steigt sie
weiter.
Nach fünf Minuten hat sie die Spitze erreicht, eine
Plattform, auf der ein quadratischer, zweistöckiger Tempel steht.
Schwindlig lehnt sie sich an die Nordmauer des Baus, um Atem zu
holen. Die Muskeln ihrer Schenkel brennen vom Steigen.
Der Blick ist spektakulär und von keinem Geländer
behindert. Im Mondlicht sind schattenhaft die Umrisse sämtlicher
Bauten im Nordteil der Stadt erkennbar. Jenseits davon erstreckt
sich das Blätterdach des Dschungels zum Horizont wie der dunkle
Rahmen einer Leinwand.
Der Umgang um den Tempel ist nur eineinhalb Meter
breit. In sicherem Abstand von der gefährlichen Kante arbeitet sie
sich vor, bis sie vor dem gähnenden Nordeingang des Tempels steht.
Sie wischt sich den Schweiß von der Stirn. Das gewaltige Portal,
flankiert von zwei Säulen in Schlangenform, ragt drohend vor ihr
auf.
Sie tut einen Schritt ins pechschwarze Innere.
»Mick, bist du da drin?«
Ihre Stimme klingt gedämpft. Sie greift in ihren
Rucksack, tastet nach der Taschenlampe, die sie am Nachmittag
gekauft hat, und betritt die dumpfige Kalksteinkammer.
Sie steht in einem in zwei Kammern unterteilten
Raum; der Vorraum geht in das zentrale Heiligtum über. An dessen
Ende erhebt sich eine massive Mauer. Der Kegel der Taschenlampe
gleitet über die gewölbte Decke und dann über den Fußboden, dessen
steinerne Oberfläche von kultischen Feuern geschwärzt ist.
Dominique verlässt die leere Kammer, folgt dem Umgang nach links
und betritt den Westflur, einen öden Gang, der verwinkelt mit dem
südlichen und dem östlichen Eingang verbunden ist.
Der Tempel ist verlassen.
Dominique schaut wieder auf die Uhr: 23.20 Uhr.
Vielleicht kommt er gar nicht?
Die kühle Nachtluft lässt sie frösteln. Auf der
Suche nach Wärme schlüpft sie wieder in die Nordkammer und
lehnt sich an deren Ende an die Wand. Der schwere Stein, der sie
umgibt, bringt alle Geräusche zum Schweigen.
Die Atmosphäre in der Kammer ist unheimlich, als
warte jemand im Schatten, um sich auf sie zu stürzen. Erst als sie
mit der Lampe jeden Winkel abgesucht hat, beruhigen sich ihre
Nerven.
Erschöpfung überkommt sie. Sie legt sich auf den
Steinboden, rollt sich zusammen und schließt die Augen. Schon
während sie einschläft, sieht sie Bilder vor sich, die von Blut und
Tod berichten.
Die weite Fläche um die Pyramide ist ein
wogendes Meer aus braunen Körpern, deren bemalte Gesichter vom
rotgelben Schein unzähliger Fackeln erleuchtet werden. Dominique
steht am Eingang der Nordkammer und sieht einen roten Strom die
Stufen hinabrinnen. Am Fuß der Treppe sammelt das Blut sich um
einen Haufen verstümmelter Körper, die zwischen den beiden
Schlangenköpfen liegen.
Zwölf weitere Frauen sind mit Dominique im
Tempel, alle in Weiß gekleidet. Wie eingeschüchterte Lämmer kauern
sie sich zusammen und blicken sich mit leeren Augen an.
Zwei Priester treten ein. Sie tragen rituellen
Kopfschmuck aus grünen Federn und aus Jaguarfellen gefertigte
Lendentücher. Während sie näher kommen, richten sich ihre dunklen
Augen auf Dominique. Mit klopfendem Herzen weicht sie zurück, doch
die Priester packen sie an den Handgelenken und zerren sie
gewaltsam auf die Plattform des Tempels.
Die Nachtluft ist geschwängert vom Gestank von
Blut und Schweiß und Rauch.
Über der berauschten Menge erhebt sich ein
riesiger Chacmol, die auf dem Rücken liegende Skulptur eines
Halbgottes der Maya. Auf seinem Schoß trägt er eine kultische
Platte, die von den zerfetzten Überresten menschlicher Herzen
überquillt.
Dominique schreit auf. Sie versucht zu fliehen,
doch zwei weitere Priester packen sie an den Knöcheln und heben sie
vom Boden. Die Menge stöhnt auf, als der Oberpriester erscheint,
ein muskulöser Mann mit roten Haaren. Sein Gesicht ist von einer
Maske verborgen, die einen gefiederten Schlangenkopf darstellt. Ein
teuflisches Grinsen erscheint hinter dem mit Zähnen bewehrten
offenen Maul der Schlange.
»Tag, Süße.«
Wieder schreit Dominique, als Raymond ihr das
weiße Tuch von ihrem sonst völlig nackten Körper reißt und dann ein
schwarzes Obsidianmesser hebt. Ein lüsterner Chor steigt von der
blutdürstigen Menge auf.
»Kukulkan! Kukulkan!«
Auf ein Kopfnicken Raymonds hin legen die vier
Priester sie auf den Boden und drücken sie an den Stein.
»Kukulkan! Kukulkan!«
Raymond lässt die Schneide des Messers blitzen.
Ungläubig ringt Dominique nach Luft, als er es hoch über den Kopf
hebt und dann kraftvoll in ihre linke Brust stößt.
»Kukulkan! Kukulkan!«
In Todesqualen schreit sie weiter. Ihr
ausgestreckter Körper zuckt und windet sich.
»Dom, wach auf!«
Raymond schiebt die Hand in die Wunde, reißt ihr
das schlagende Herz heraus und hebt es in die Höhe, damit die Menge
es sehen kann.
»Dominique!«
Mit einem markerschütternden Schrei tritt und
schlägt sie in die furchtbare Finsternis und erwischt den Schatten
über ihr mitten im Gesicht, Desorientiert und immer noch in ihrem
Albtraum gefangen, rollt sie sich zur Seite, springt auf und rennt
blindlings aus der Kammer, direkt auf das Nichts jenseits der
steilen Treppe zu.
Eine Hand packt sie am Knöchel. Sie schlägt mit der
Brust auf die Plattform und wird vom Schmerz vollständig
wach.
»Mensch, Dominique, ich hab gedacht, ich bin der
Irre hier.«
»Mick?« Keuchend setzt sie sich auf und reibt sich
die lädierten Rippen.
Mick rutscht neben sie. »Alles in Ordnung?«
»Du hast mir einen Wahnsinnsschrecken
eingejagt.«
»Du mir aber auch. Das muss ein echt übler Albtraum
gewesen sein. Um ein Haar wärst du von der Pyramide
gesprungen.«
Sie schaut hinab, dann dreht sie sich um und umarmt
ihn mit zitternden Gliedern. »Mein Gott, ich hasse diesen Ort. Die
Wände stinken nach den Geistern der Maya.« Sie weicht zurück und
blickt ihm ins Gesicht. »Deine Nase blutet. Hab ich das
getan?«
»Du hast mich mit einem rechten Haken erwischt.«
Mick zieht ein Taschentuch aus der Gesäßtasche, um den Blutfluss zu
stoppen. »Das heilt bestimmt nie.«
»Geschieht dir recht. Warum müssen wir uns
eigentlich ausgerechnet hier treffen, und dann noch mitten in der
Nacht?«
»Ich bin ein flüchtiger Verbrecher, hast du das
vergessen? Übrigens, wie hast du es geschafft, dem Arm des Gesetzes
zu entkommen?«
Sie wendet sich ab. »Flüchtig bist du, nicht ich.
Ich hab dem Kapitän erzählt, ich hätte dir geholfen, weil ich nach
dem Tod meines Vaters nicht mehr klar denken konnte. Offenbar hab
ich ihm Leid getan, denn daraufhin hat er mich ziehen lassen. Komm,
das hat Zeit bis später. Jetzt will ich erst mal runter von dieser
verfluchten Pyramide.«
»Ich kann jetzt nicht weg. Ich hab noch allerhand
Arbeit vor mir.«
»Arbeit? Was für Arbeit? Es ist mitten in der
Nacht!«
»Ich suche nach einem Eingang in die Pyramide. Den
müssen wir unbedingt finden.«
»Mick...«
»Mein Vater hatte Recht mit seinen Theorien über
diesen Bau. Ich hab etwas entdeckt, was wirklich unglaublich
ist. Moment, ich zeig es dir.« Mick greift in seine Umhängetasche
und holt ein kleines elektronisches Gerät heraus.
»Das ist ein Ultraschall-Inspektroskop. Es sendet
Schallwellen aus, mit denen man Unregelmäßigkeiten in festen
Körpern entdecken kann.« Mick knipst seine Taschenlampe an, fasst
Dominique am Handgelenk und zieht sie wieder in den Tempel bis zur
Mittelwand. Dort schaltet er das Inspektroskop ein und richtet
seine Schallwellen auf den Stein.
»Schau dir das an. Siehst du diese Wellenlängen?
Hinter dieser Wand verbirgt sich eindeutig eine weitere Struktur.
Offenbar ist sie metallisch und ragt direkt durch die Mitte der
Pyramide bis zum Dach des Tempels über uns auf.«
»Schon gut, ich glaub dir. Können wir jetzt
gehen?«
Mick starrt sie ungläubig an. »Gehen? Kapierst du
denn nicht? Es ist hier, innerhalb dieser Mauern. Wir müssen nur
noch herausfinden, wie wir hineinkommen.«
»Was ist hier? Ein Stück Metall?«
»Ein Stück Metall, das womöglich das Instrument zur
Rettung vor dem Untergang darstellt. Kukulkan hat es uns
hinterlassen. Wir müssen es... He, warte, wo willst du hin?«
Dominique geht ungerührt auf die Plattform
hinaus.
»Du glaubst mir noch immer nicht, ja?«
»Was soll ich glauben? Dass in zwei Wochen alle
Menschen auf der Erde sterben werden? Nein, tut mir Leid, Mick,
damit hab ich noch immer meine Probleme.«
Mick packt sie am Arm. »Wie kannst du das denn noch
bezweifeln? Du hast doch gesehen, was sich draußen im Meer
verbirgt. Wir waren zusammen da unten und du hast es mit eigenen
Augen gesehen!«
»Was hab ich gesehen? Das Innere eines
Lavaschlots?«
»Eines Lavaschlots?«
»Genau. Die Geologen auf der Boone haben mir
alles
erklärt. Sie haben mir sogar von Satelliten aufgenommene
Infrarotfotos des ganzen Chicxulub-Kraters gezeigt. Das grüne
Leuchten, das wir gesehen haben, ist nur ein unterirdischer
Lavastrom, der unter dem Loch im Meeresboden fließt. Und dieses
Loch hat sich geöffnet, als im September ein alter
Unterwasservulkan wieder tätig geworden ist.«
»Ein Vulkan? Dominique, wovon redest du da
eigentlich?«
»Mick, unser U-Boot wurde in einen der Lavaschlote
gesaugt, als ein Teil des ausgehöhlten Meeresbodens
zusammengebrochen ist. Als der Druck später nachgelassen hat, muss
es uns wieder an die Oberfläche getrieben haben.« Sie schüttelt den
Kopf. »Du hast mich ganz schön hinters Licht geführt, was?
Wahrscheinlich hast du im Fernsehen was über den Vulkanausbruch
gesehen. Jedenfalls war das das Geräusch, das Iz über SOSUS gehört
hat.«
Sie schlägt ihm mit der Faust vor die Brust. »Mein
Vater ist gestorben, weil er einen unterirdischen Vulkan
untersuchen wollte!«
»Nein...«
»Du hast mich reingelegt, stimmt’s? Du hast nur an
deine Flucht gedacht!«
»Dominique, hör mich doch an...«
»Nein! Weil ich dich angehört hab, ist mein Vater
umgekommen. Und jetzt hörst du mal an, was ich zu sagen habe. Ich
hab dir geholfen, weil ich wusste, dass man dich misshandelt, und
weil du mir helfen solltest, den Tod von Iz aufzuklären. Jetzt
kenne ich die Wahrheit. Du hast mich reingelegt!«
»So ein Blödsinn! Alles, was man dir auf der
Boone erzählt hat, ist eine verfluchte Lüge. Der Tunnel war
kein Lavaschlot, sondern ein künstlicher Einlassschacht. Was dein
Vater gehört hat, war das Geräusch einer Reihe riesiger Turbinen.
Eine von denen hat uns in ihren Schacht gesaugt und dann hat unser
Boot eine der Turbinenschaufein
blockiert. Erinnerst du dich denn an gar nichts mehr? Ich weiß,
dass du dich verletzt hast, aber du warst noch bei Bewusstsein, als
ich aus dem U-Boot gestiegen bin.«
»Was hast du da gesagt?« Verwirrt schaut sie ihn
an. Eine entfernte Erinnerung drängt sich in ihr Bewusstsein.
»Moment mal - hab ich dir von einer Sauerstoffflasche
erzählt?«
»Ja. Die hat mir das Leben gerettet.«
»Und du bist wirklich ausgestiegen?« Dominique
setzt sich an den Rand der Plattform. Hat man mich auf der Boone
tatsächlich angelogen? »Mick, du konntest doch gar nicht
aussteigen. Wir waren unter Wasser.«
»Die Kammer stand unter Druck. Unser Boot hat den
Einlassschacht verstopft.«
Sie schüttelt den Kopf. Hör nicht auf ihn. Er
lügt. Das ist völliger Unsinn!
»Ich hab dir den Kopf verbunden. Du hattest Angst
und hast gesagt, ich soll dich umarmen, bevor ich gehe. Ich musste
dir versprechen, wiederzukommen.«
Eine vage Erinnerung kreist in ihrem Kopf.
Mick setzt sich neben sie. »Du glaubst noch immer
kein Wort von dem, was ich sage, was?«
»Ich versuche ja, mich zu erinnern.« Sie schaut ihn
an. »Mick... es tut mir Leid, dass ich dich geschlagen hab.«
»Ich hab dir doch gesagt, dass Iz nicht zu der
Stelle fahren soll.«
»Ich weiß.«
»Ich würde dich nie hintergehen. Nie.«
»Mick, nehmen wir mal an, ich glaube dir. Was hast
du gesehen, als du unser Boot verlassen hast? Wozu hat diese
Turbine gehört?«
»Ich hab da unten eine Art Entwässerungsröhre
entdeckt und es geschafft, darin nach oben zu klettern. Sie hat zu
einer gewaltigen Kuppel geführt, in der es brütend heiß war. An den
Wänden sind rote Flammen emporgezüngelt.«
Mick blickt nach oben in die Sterne. »Hoch über
meinem Kopf ist etwas gekreist... ein fantastischer grüner Strudel
aus Energie. Er hat wie eine kleine Spiralgalaxie ausgesehen.
Eigentlich war es ein wunderschöner Anblick.«
»Mick...«
»Das ist noch nicht alles. Unter mir war ein
wogender See aus geschmolzener Energie, der aussah wie Quecksilber.
Seine Oberfläche war spiegelblank. Und dann hab ich gehört, wie
mich die Stimme meines Vaters rief.«
»Die Stimme deines Vaters?«
»Ja, aber es war nicht mein Vater, sondern
irgendein außerirdisches Wesen. Ich konnte es nicht sehen, weil es
in einer riesigen Kapsel steckte, die über dem See schwebte. Es hat
mich aus glühend roten, dämonischen Augen angeschaut. Ich hatte
solche Angst...«
Dominique atmet langsam aus. Da haben wir es.
Klassische Demenz. Mein Gott, Foletta hatte Recht. Das geht schon
die ganze Zeit so, ich hab mich nur geweigert, es zu
erkennen.
Sie sieht ihn in die Ferne blicken. »Mick, lass uns
mal darüber reden. Diese Bilder, die du gesehen hast, sind ziemlich
symbolisch, weißt du. Fangen wir mit der Stimme deines Vaters
an...«
»Moment!« Er dreht sich zu ihr um. Seine schwarzen
Augen sind geweitet. »Mir ist gerade eben etwas klar geworden.
Jetzt weiß ich, wer das Wesen war.«
»Aha.« Sie hört die Müdigkeit in ihrer Stimme. »Wen
hast du denn gesehen?«
»Es war Tezcatlipoca. Das ist ein aztekischer Name,
der >Rauchender Spiegel< bedeutet und sich auf die Waffe der
Gottheit bezieht. Nach den alten indianischen Legenden verlieh der
Rauchende Spiegel Tezcatlipoca die Fähigkeit, in die Seele der
Menschen zu blicken.«
»Ja, das hast du mir schon einmal erzählt.«
»Dieses Wesen hat tatsächlich in meine Seele
geblickt.
Es hat zu mir gesprochen, als wäre es mein Vater und würde mich
schon immer kennen. Es hat versucht, mich zu täuschen.«
Sie legt ihm eine Hand auf die Schulter und spielt
mit den dunklen Locken in seinem Nacken. »Mick, weißt du, was ich
glaube? Ich glaube, der Aufprall des U-Boots hat uns beide völlig
wirr gemacht, und...«
Er schiebt ihre Hand weg. »Lass das! Sei bloß nicht
überheblich. Ich habe nicht geträumt, und schizophrene
Wahnvorstellungen hab ich genauso wenig. Jeder Mythos hat einen
Bezug zur Realität. Kennst du nicht einmal die Mythen deiner
eigenen Vorfahren?«
»Das sind nicht meine Vorfahren.«
»Blödsinn.« Mick packt sie am Handgelenk. »Egal, ob
es dir passt oder nicht, in diesen Adern fließt das Blut der
Quiche-Maya.«
Sie entzieht ihm ihren Arm. »Ich bin in den Staaten
aufgewachsen und ich glaube nicht im mindesten an diesen Unsinn,
der im Popol Vuh steht.«
»Hör mich doch wenigstens zu Ende an...«
»Nein!« Sie packt ihn bei den Schultern. »Mick,
mach jetzt endlich mal ’ne Pause und hör mich an - bitte.
Ich mag dich, das weißt du doch, oder? Ich halte dich für einen
intelligenten, sensiblen und sehr begabten Menschen. Wenn du es
zulässt und wenn du mir traust, kann ich dir helfen, das alles
durchzustehen.«
Micks Gesicht hellt sich auf. »Ehrlich? Das ist
toll. Ich kann deine Hilfe nämlich wirklich brauchen. Weißt du, es
sind nur noch elf Tage, bis...«
»Nein, du hast mich missverstanden.« Zeig deine
mütterliche Seite. »Mick, was ich jetzt sage, ist bestimmt sehr
schwer für dich, aber sagen muss ich es trotzdem. Alles weist
darauf hin, dass du an einem schweren Fall paranoider Schizophrenie
leidest. Dein Zustand hat dich so verwirrt, dass du den Wald vor
lauter Bäumen nicht mehr siehst. Vielleicht ist es angeboren,
vielleicht auch
nur die Auswirkung von elf Jahren Isolation, aber in jedem Fall
brauchst du Hilfe.«
»Dom, was ich gesehen hab, war keine
Wahnvorstellung. Es war das Innere eines außerirdischen
Raumschiffs, dessen Technik allem, was wir uns vorstellen können,
weit voraus ist.«
»Ein Raumschiff?« Du lieber Himmel, es wird
immer schlimmer.
»Wach endlich auf, Dominique. Auch die Regierung
weiß, dass das Ding da drunten liegt.«
Klassische paranoide
Wahnvorstellungen.
»Der Blödsinn, den man dir auf der Boone
eingetrichtert hat, war nur dazu gedacht, die Sache zu
verschleiern.«
Heiße Tränen der Frustration laufen an ihren Wangen
hinab, als sie ihr katastrophales Fehlverhalten zu erkennen meint.
Ihre Betreuerin hat Recht gehabt. Indem sie ihrem Patienten ihr
Herz geöffnet hat, hat sie ihre Objektivität aufgegeben. Alles, was
geschehen ist, war ihr Fehler. Iz ist tot, Edie sitzt im Gefängnis
und der Mann, dem sie vertraut und für den sie alles geopfert hat,
ist nichts anderes als ein paranoider Schizophrener, der endgültig
dem Wahnsinn verfallen ist.
Ein Gedanke schießt ihr durch den Sinn. Je näher
die Wintersonnenwende kommt, desto gefährdeter wird er
sein.
»Mick, du brauchst Hilfe. Du hast den Kontakt zur
Realität verloren.«
Mick blickt auf den perfekt gemeißelten
Kalksteinblock unter seinen Füßen. »Warum bist du hier,
Dominique?«
Sie nimmt seine Hand. »Ich bin hier, weil ich dich
mag - und weil ich dir helfen kann.«
»Das ist wieder eine Lüge.« Er schaut sie an. Seine
dunklen Augen glänzen im Mondlicht. »Borgia hat dich in der Tasche,
stimmt’s? Der Mann ist voller Hass auf mich und meine Eltern. Der
wird alles sagen oder tun, um mich wieder in die Finger zu
bekommen. Womit hat er dich erpresst?«
Sie wendet den Blick ab.
»Was hat er dir versprochen? Sag mir, was er dir
gesagt hat!«
»Du willst tatsächlich wissen, was er gesagt hat?«
Sie dreht den Kopf und schaut ihn finster an. Ihre Stimme ist
voller Wut. »Er hat Edie verhaften lassen. Er hat gesagt, sie und
ich werden lange ins Gefängnis kommen, weil wir dir zur Flucht
verholfen haben.«
»Verdammt. Das tut mir wirklich Leid...«
»Borgia hat mir versprochen, dass er das Verfahren
gegen uns einstellen lässt, wenn ich dich finde. Er hat mir eine
Woche Zeit gelassen. Wenn ich nicht tue, was er sagt, kommen Edie
und ich vor Gericht.«
»Dieser Scheißkerl.«
»Mick, so schlimm ist das alles nicht. Dr. Foletta
hat mir angeboten, deine Therapie zu übernehmen.«
»Foletta ist auch dabei? Ach, du lieber
Himmel...«
»Du wirst in diese neue Anstalt in Tampa kommen.
Dort gibt’s keine Isolation mehr. Von nun an wird dich ein
offiziell bestalltes Therapeutenteam betreuen und dir die
Behandlung zukommen lassen, die du brauchst. Wir werden eine
medikamentöse Therapie für dich zusammenstellen, mit der du deine
Gedanken bald wieder unter Kontrolle haben wirst. Dann musst du
nicht mehr in der Anstalt bleiben - und dich auch nicht mehr hier
im mexikanischen Dschungel verstecken. Irgendwann wirst du in der
Lage sein, ein normales, sinnvolles Leben zu leben.«
»Mensch, das klingt aber wirklich toll.« Micks
Stimme hat einen sarkastischen Unterton. »Und außerdem ist Tampa
nicht weit von Sanibel Island. Hat Foletta dir womöglich eine
Festanstellung versprochen? Und einen eigenen Parkplatz auf dem
Klinikgelände?«
»Ich tu das nicht für mich, Mick, ich tue es für
dich. Vielleicht stellt sich heraus, dass alles, wie es jetzt
gekommen ist, am besten für dich war.«
Mick schüttelt traurig den Kopf. »Dom, wer den Wald
vor lauter Bäumen nicht sehen kann, bist du.« Er bückt sich, zieht
sie auf die Beine und deutet in den Himmel. »Kannst du die dunkle
Linie da oben sehen, die parallel zum Großen Ballspielplatz
verläuft? Das ist das dunkle Band der Milchstraße, so etwas wie der
Äquator unserer Galaxis. Einmal in fünfundzwanzigtausendachthundert
Jahren bildet die Sonne eine Konjunktion mit seinem Mittelpunkt,
und dieses Ereignis findet in genau elf Tagen statt. In elf Tagen,
Dominique. An diesem Tag, dem Tag der Wintersonnenwende, wird sich
ein kosmisches Tor öffnen und einer böswilligen Kraft Zugang zu
unserer Welt gewähren. Am Ende dieses Tages werden du, ich, Edie,
Borgia und alle anderen Menschen auf der Erde tot sein - falls es
uns nicht gelingt, den verborgenen Zugang zu dieser Pyramide zu
entdecken.«
Mick blickt ihr qualvoll in die Augen. »Ich... ich
liebe dich, Dominique. Ich hab dich lieb, seit wir uns das erste
Mal gesehen haben, seit dem Tag, an dem du einfach nur freundlich
zu mir gewesen bist. Außerdem stehe ich in deiner und in Edies
Schuld. Aber nun muss ich diese Sache durchstehen, selbst wenn ich
dich dadurch verlieren sollte. Vielleicht hast du ja Recht.
Vielleicht ist alles nur eine grandiose schizophrene
Wahnvorstellung, die mir meine zwei psychotischen Eltern vererbt
haben. Vielleicht bin ich so außer mir, dass ich nicht merke, was
gespielt wird. Aber darauf kommt es nicht an egal, ob all dies real
ist oder nur eine Halluzination, ich kann jetzt nicht aufhören. Ich
muss die Sache durchstehen.«
Er hebt das Inspektroskop auf. In seinen Augen
glänzen Tränen. »Ich schwöre dir beim Andenken meiner Mutter: Wenn
ich Unrecht habe, kehre ich am zweiundzwanzigsten Dezember nach
Miami zurück und stelle mich den Behörden. Wenn du mir bis dahin
helfen willst, wenn du mich wirklich magst, hör auf, dich
als meine Therapeutin zu gebärden.
Sei meine Freundin.«