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20. Dezember 2012 Städtisches Krankenhaus von Merida Halbinsel Yukatan
Ein sanfter Windhauch dringt durch die
Jalousien und kühlt Micks Gesicht. Während der Fiebernebel sich
auflöst, hört er in der Ferne die Stimme eines Engels. Seine
vertrauten Worte hallen in seinem Geist wieder.
Freund! Gatte! Trauter! Bist du mir entrissen?
Gib Nachricht jeden Tag, zu jeder Stunde; schon die Minut’ enthält
der Tage viel.
Gegen die Flut der Bewusstlosigkeit ankämpfend,
zwingt er seine Lider, sich einen Spalt weit zu öffnen - gerade
genug, um zu sehen, dass Dominique neben ihm sitzt und ihm aus
einem Taschenbuch vorliest.
»O Gott, ich hab ein Unglück ahnend Herz. Mir
deucht, ich säh dich, da du unten bist, als lägst du tot in eines
Grabes Tiefe. Mein Auge trügt mich, oder bist du bleich...«
»So, Liebe«, krächzt er, »scheinst du meinen Augen
auch.«
»Mick!«
Er öffnet die Augen ganz, als sie ihre Wange an
seine
schmiegt. Dann spürt er ihre heißen Tränen und das drückende
Gewicht auf seiner Brust; sie umarmt ihn und flüstert: »Ich hab
dich lieb.«
»Ich hab dich auch lieb.« Die Worte kommen nur
mühsam aus der ausgedörrten Kehle.
Sie hält ihm einen Becher Wasser an die Lippen und
er nimmt ein paar kleine Schlucke.
»Wo...«
»Du bist in einem Krankenhaus in Merida. Raymond
hat auf dich geschossen. Der Arzt sagt, die Kugel ist gerade drei
Millimeter von deinem Herzen entfernt stecken geblieben. Eigentlich
müsstest du tot sein.«
Er zwingt sich zu lächeln und zitiert krächzend:
»Der Narben lacht, wer Wunden nie gefühlt.« Er versucht, sich
aufzusetzen, kommt aber nicht gegen seine Schmerzen an. »Na ja, ’ne
kleine Wunde hab ich vielleicht schon.«
»Mick, es ist so viel geschehen...«
»Welcher Tag ist heute?«
»Der Zwanzigste. Morgen ist die Wintersonnenwende,
und die ganze Welt stirbt vor Angst...«
Die Tür fliegt auf. Ein amerikanischer Arzt kommt
ins Zimmer, gefolgt von Ennis Chaney, einer mexikanischen
Krankenschwester und Marvin Teperman. Auf dem Flur sind schwer
bewaffnete amerikanische Soldaten postiert.
Der Arzt beugt sich über Mick und untersucht mit
einem Leuchtstift seine Augen. »Schön, dass Sie wieder bei
Bewusstsein sind, Mr. Gabriel. Wie fühlen Sie sich?«
»Wund. Hungrig. Und ein bisschen
desorientiert.«
»Kein Wunder, schließlich waren Sie fünf Tage lang
bewusstlos. Schauen wir uns mal die Wunde an.« Der Arzt nimmt den
Verband ab. »Erstaunlich. Absolut erstaunlich. Ich hab noch nie
eine Wunde gesehen, die so rasch geheilt ist.«
Chaney tritt zum Bett. »Geht es ihm gut genug? Kann
ich mit ihm sprechen?«
»Ich glaube schon. Schwester, wechseln Sie bitte
seinen Verband und geben Sie ihm dann eine weitere Infusion.«
»Jetzt nicht«, unterbricht ihn Chaney »Wir müssen
erst ein paar Minuten mit Mr. Gabriel reden. Allein.«
»Natürlich, Herr Präsident.«
Mick blickt dem Arzt und der Schwester hinterher.
Einer der Militärpolizisten im Flur schließt die Tür hinter ihnen.
»Herr Präsident? Sieht ganz so aus, als wären Sie jedes Mal
befördert worden, wenn wir uns sehen.«
Die schwarzen Augen zeigen keine Spur von
Amüsement. »Präsident Maller ist tot. Er hat sich vor fünf Tagen
eine Kugel in den Kopf gejagt, um die Russen und Chinesen dazu zu
bringen, einen atomaren Großangriff abzubrechen.«
»Mein Gott...«
»Die Welt schuldet Ihnen großen Dank. Das, was Sie
in dieser Maya-Pyramide aktiviert haben, hat die Raketen
zerstört.«
Mick schließt die Augen. Ich hab es wirklich
erlebt. Und ich dachte schon, alles sei nur ein Traum
gewesen.
Dominique drückt seine Hand.
»Es handelt sich um einen extrem kraftvollen
elektromagnetischen Schirm«, ergänzt Teperman. »Wie er erzeugt
wird, ist uns unerklärlich. Gott sei Dank ist das Signal noch
aktiv, denn es verhindert die Explosion der Drohnen...«
»Drohnen?« Mick öffnet die Augen. »Was für
Drohnen?«
Teperman zieht eine Fotografie aus seiner
Aktentasche und reicht sie ihm. »Seit Sie im Krankenhaus liegen,
haben sich achtunddreißig dieser Dinger auf dem Globus
verteilt.«
Mick starrt auf das Bild einer schwarzen,
fledermausähnlichen Kreatur, die mit ausgebreiteten Flügeln auf
einer grauen Bergspitze hockt. »Das ist das Objekt, das
aus dem Raumschiff im Golf von Mexiko gestiegen ist.« Er schaut
Dominique an. »Ich weiß jetzt, wo ich so was schon mal gesehen hab.
In Nazca. Da hat man an verschiedenen Stellen lebensgroße Bilder
dieser Wesen in den Fels gescharrt.«
Teperman wirft Chaney einen unsicheren Blick zu.
»Diese Aufnahme wurde vor mehreren Tagen auf einem Bergzug in
Arecibo gemacht.«
Chaney zieht einen Stuhl heran. »Die Drohne, die
Sie in diesem Raumschiff gesehen haben, ist in Australien gelandet
und hat den größten Teil der Nullarbor Plain vernichtet. Wir wissen
inzwischen, dass diese Objekte alle mit einer Fusionsbombe
ausgerüstet sind, die ganze Landstriche pulverisieren kann. In den
vergangenen zwei Wochen sind sechs von ihnen bereits in Asien
detoniert. Die letzten drei haben in China und Russland mehr als
zwei Millionen Menschen getötet.«
Mick spürt, dass seine Hände zittern. »Und diese
Explosionen haben den Atomangriff ausgelöst?«
Chaney nickt. »Wie Mr. Teperman bereits gesagt hat,
haben weitere achtunddreißig dieser Dinger das Raumschiff in den
letzten fünf Nächten verlassen. Bisher ist keines davon
explodiert.«
Mick erinnert sich an die Worte des Hüters. Die
Aktivierung des Schutzschirms wird das Ende aufschieben, doch nur
die Vernichtung von Tezcatlipoca und der Schwarzen Straße kann
verhindern, dass unser Feind in eure Welt gelangt.
»Wir haben eine Liste sämtlicher Drohnen
zusammengestellt. Gabriel, hören Sie mir überhaupt zu?«
»Wie? Tut mir Leid. Sie sagen, diese Dinger sind
Drohnen?«
»So werden sie von Wissenschaftlern bezeichnet. Bei
der Luftwaffe meint man, es handle sich um eine außerirdische
Version unserer unbemannten Luftfahrzeuge.«
»Jede dieser Drohnen ist im Grunde eine
Fusionsbombe mit Flügeln«, erläutert Teperman. »Offenbar sind sie
ferngesteuert, das heißt über ein Funksignal mit einer
Kommandozentrale verbunden.«
»Und die befindet sich in diesem Raumschiff im
Meer?«
»Ja. Sobald eine Drohne im Zielgebiet landet, wird
ein Funksignal ausgestrahlt, das die Zündung in Gang setzt. Am
Schwanz der mechanischen Kreatur sind mehrere Reihen bizarr
aussehender Sensoren angebracht, bei denen es sich unserer Meinung
nach um starke Fotozellen handelt. Der Auslösemechanismus bedient
sich der Sonnenenergie, um die Bombe bei Sonnenaufgang zur
Detonation zu bringen.«
»Das erklärt auch, weshalb diese Dinger immer bei
Nacht gestartet wurden«, fügt Chaney hinzu. »Alle sieben Drohnen,
die vor der Aktivierung dieses Schutzschirms detonierten, sind in
westlicher Richtung geflogen, nachdem sie das Raumschiff verlassen
hatten. Dabei haben sie ihre Geschwindigkeit der Erdumdrehung
angepasst, um in der Dunkelheit zu bleiben, bis sie in ihrem
Zielgebiet angekommen waren.«
»Sie sagen, dass noch weitere achtunddreißig
Drohnen gestartet sind?«
»Zeigen Sie ihm die Liste, Teperman.« Der
Exobiologe wühlt in seiner Aktentasche und zieht einen
Computerausdruck hervor.
Ziele der
Drohnen Australien
Nullarbor Plain (D)
Asien
Malaysia (D), Irian Jaya, Indonesien (D),
Papua-Neuguinea (D), Yunnan, China (D), Viljuj-Becken, Russland
(D), Kugitangtau-Gebirge, Turkmenistan (D), Israel,
Saudi-Arabien
Afrika
Marokko (Hoher Atlas), Algerien, Tunesien, Libyen,
Ägypten, Sudan, Elfenbeinküste, Niger, Nigeria, Botswana,
Madagaskar
Europa
Irland, Spanien, Italien, Österreich, Ungarn,
Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Griechenland
Nordamerika
Kanada: Montreal
USA: Arecibo (Puerto Rico), Appalachen, Colorado,
Florida (Mitte u. Südosten), Georgia, Kentucky, Indiana (Süden),
Ozark-Gebirge, New Mexico, Texas (Nordwesten)
Südamerika
Salvador (Brasilien)
Mittelamerika
Kuba, Honduras, Chichén Itzá (Yukatan)
Mick überfliegt die Liste und bleibt bei der
letzten Ortsangabe hängen. »In Chichén Itzä ist auch so ein Ding
gelandet?«
»Kommen wir endlich zur Sache«, sagt Chaney
ungeduldig. »Gabriel, ich brauche eine Lösung, und zwar bald.
Während Sie hier geschlafen haben, ist auf der Welt das Chaos
ausgebrochen. Religiöse Fanatiker behaupten, die Drohnen seien Teil
der apokalyptischen Prophezeiungen für das neue Millennium. Die
Weltwirtschaft ist außer Tritt geraten, weil die erschreckte Masse
sich auf den Weltuntergang vorbereitet. Der Mob hortet Proviant und
Munition und verbarrikadiert sich in seinen Häusern. Wir mussten
eine nächtliche Ausgangssperre verhängen. Dabei ist es vor allem
unsere eigene Unfähigkeit, die Öffentlichkeit zu beruhigen, die das
Ganze weiter aus dem Ruder laufen lässt.«
»Bisher sind alle Versuche, die Drohnen zu
neutralisieren, wirkungslos geblieben«, sagt Teperman. »Die Dinger
sind von einem schützenden Kraftfeld umgeben, das sie unverwundbar
macht. Was den Schutzschirm betrifft, hält er sie zwar davon ab, zu
explodieren, aber gleichzeitig ruiniert er auch unsere Satelliten.
Das Unglaublichste aber ist die Art und Weise, wie das Signal des
Schirms über den Erdball verteilt wird.« Teperman zieht seinen
Notizblock heraus. »Wir haben drei große Relaisstationen
identifiziert und eine Reihe weiterer Antennen. Sie würden nie
erraten, wo...«
»Die Große Pyramide von Giseh, Angkor Wat und die
Sonnenpyramide in Teotihuacän.«
Dem Exobiologen fällt die Kinnlade herunter.
Chaneys Augen brennen wie dunkle Laser. »Woher
haben Sie das gewusst?« Er schaut Dominique an. »Haben Sie es ihm
schon erzählt?«
»Sie hat mir nichts erzählt.« Mick setzt sich
mühsam auf. »Meine Eltern haben diese Stätten jahrzehntelang
erforscht. Sämtliche Bauten weisen bestimmte Übereinstimmungen auf
und wurden außerdem an Brennpunkten des natürlichen Energiegitters
der Erde errichtet.«
»Moment, das hab ich nicht verstanden.« Teperman
macht sich Notizen. »Haben Sie was von einem Energiegitter
gesagt?«
»Die Erde ist kein simpler Felsbrocken, der im
Weltraum schwebt, Mr. Teperman, sondern eine lebendige, harmonische
Kugel, in deren Herzen sich ein magnetischer Kern befindet, der
Energie kanalisiert. In bestimmten Gegenden an der Oberfläche,
besonders in der Nähe des Äquators, befinden sich dynamische
Punkte, die eine starke geothermale, geophysische oder magnetische
Energie ausstrahlen.«
»Und diese drei prähistorischen Stätten wurden alle
an solchen Punkten erbaut?«
»Ganz recht. Außerdem lässt ihre Anlage erkennen,
dass die Erbauer erstaunlich viel über Präzession, Mathematik und
Astronomie wussten.«
Teperman lässt seinen Kugelschreiber sinken.
»Weitere Strukturen, die offenbar als Antennen fungieren, sind im
Untergrund von Stonehenge und Tiahuanaco vergraben. Außerdem dürfte
sich eine Antenne unter der Eisdecke der Antarktis befinden.«
Mick nickt. Die Karten von Piri Re’is. Der Hüter
muss die Antenne gebaut haben, bevor sich die Eisschicht gebildet
hat. Er schaut Dominique an. »Hast du ihnen schon von den
Nephilim erzählt?«
»Alles, was ich weiß, aber das ist nicht
viel.«
»Sie meinen diese fortgeschrittene Spezies von
Humanoiden?« Teperman schüttelt den Kopf. »Ich bin zwar Exobiologe,
aber da kenne ich mich nicht mehr aus.«
»Mr. Teperman, die Wesen, die diesen Schutzschirm
erschaffen haben, mussten dafür sorgen, dass ihre Relaisstationen
und Antennen unbeschadet Tausende von Jahren überlebten. Sie
einfach zu vergraben, reichte da nicht aus. Da hatten sie offenbar
den kreativen Einfall, direkt über den Stationen gewaltige
architektonische Wunder wie Stonehenge und die Große Pyramide zu
errichten. Selbst der moderne Mensch hat diese Bauten nicht
angetastet.«
»Wie geht es mit dem Schutzschirm weiter?«, fragt
Chaney. »Wie lange wird er die Drohnen an der Explosion
hindern?«
Die Worte des Hüters hallen Mick in den Ohren.
Das Tor zu Xibalba Be wird sich an vier Ahau, drei Kankin
öffnen. Es kann nur von innen zerstört werden, und nur ein Hunapu
kann es betreten. Nur ein Hunapu kann das Böse aus eurem Garten
vertreiben und eure Spezies vor der Vernichtung retten.
Mick wird flau im Magen. »Wir haben ein Problem.
Dieses außerirdische Raumschiff... es wird morgen
aufsteigen.«
Chaneys Augen weiten sich. »Woher wissen Sie
das?«
»Das ist Teil einer dreitausend Jahre alten
Maya-Prophezeiung. Das Wesen in diesem Schiff - wir müssen es
vernichten. Und dazu müssen wir hinein.«
»Wie sollen wir denn hineinkommen?«, fragt
Teperman.
»Keine Ahnung. Das heißt, womöglich auf demselben
Wege, den Dominique und ich schon einmal genommen haben, also durch
das Ventilationssystem.« Mick wird von einer Welle der Erschöpfung
überspült. Er schließt die Augen.
Dominique berührt seine Stirn und spürt, dass er
Fieber hat. »Es reicht, Präsident Chaney. Er hat seinen Teil getan,
um die Welt zu retten. Jetzt sind Sie dran.«
Chaneys Blick verliert ein wenig von seiner
Schärfe. »Unsere Wissenschaftler stimmen mit Ihnen überein,
Gabriel. Sie sind der Meinung, dass wir das Raumschiff zerstören
müssen, um die Drohnen endgültig von der Explosion abzuhalten. Ich
habe die John C. Stennis mit ihrem Geschwader in den Golf
von Mexiko beordert, um das zu tun. Sollte das Raumschiff morgen
tatsächlich aus dem Wasser steigen, werden wir es in seine
Einzelteile zerlegen.«
Der neue Präsident erhebt sich. »Heute Abend findet
an Bord der Stennis eine Dringlichkeitssitzung des
UN-Sicherheitsrates statt. Wir erwarten Vertreter aller Länder und
einige der führenden Wissenschaftler der Welt. Sie und Ms. Vazquez
werden uns begleiten. Einer meiner Mitarbeiter wird Ihnen gleich
was zum Anziehen bringen.«
»Augenblick noch«, sagt Dominique. »Erzählen Sie
ihm bitte von der Sache mit Borgia.«
»Der Mann, der Sie um ein Haar erschossen hätte,
hat uns sofort auf Dr. Foletta verwiesen. Und der hat bei seinem
Geständnis unter anderem berichtet, wie Borgia es geschafft hat,
Sie vor elf Jahren in eine Anstalt einzusperren.
Foletta hat uns sogar ein Tonband gegeben, auf dem der
Außenminister ihm aufträgt, Sie umbringen zu lassen.« Chaney
verzieht den Mund zu einem grimmigen Lächeln. »Sobald wieder Ruhe
herrscht, mache ich ihn fertig. Abgesehen davon wird natürlich
keine Anklage gegen Ms. Vazquez und ihre Adoptivmutter erhoben, und
Sie hat man für zurechnungsfähig erklärt. Sie sind also ein freier
Mann, Gabriel, und nicht mehr meschugge als wir alle.«
Dominique flüstert Mick ins Ohr: »Dein Alptraum ist
vorbei. Du musst nie mehr in eine Anstalt, nie mehr in die
Einzelzelle. Du bist frei.« Sie drückt seine Hand. »Und wir können
bald für immer zusammenbleiben.«
An Bord des Flugzeugträgers John C. Stennis
18.43 Uhr Mick blickt aus dem Fenster des
Helikopters, als dieser sich auf das eindrucksvolle, fast zwei
Hektar große Flugdeck der John C. Stennis senkt, das an
diesem Tag aussieht wie ein Hubschrauberparkplatz.
Dominique drückt seine Hand. »Geht’s dir nicht gut?
Du hast auf dem ganzen Flug kein Wort gesagt.«
»Tut mir Leid.«
»Du machst dir wegen irgendetwas Sorgen. Was
verschweigst du mir?«
»Meine Erinnerung an mein Gespräch mit dem Hüter
ist ziemlich undeutlich. Da ist so vieles, was ich nicht verstehe
und was den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten
könnte.«
»Aber du bist weiterhin davon überzeugt, dass der
Schirm des Hüters dazu gedacht ist, die Explosion der Drohnen zu
verhindern?«
»Ja.«
»Dann hat der Präsident Recht. Wenn wir dieses
Raumschiff zerstören, beseitigen wir die Bedrohung.«
»Ich wünschte, es wäre so einfach.«
»Warum sollte es das nicht sein?« Sie springen aus
dem Hubschrauber auf das graue Deck des Flugzeugträgers. Dominique
deutet auf das Waffenarsenal. »Schau dich doch um, Mick. Das Schiff
hier hat genug Feuerkraft, um ein kleines Land zu vernichten.« Sie
legt ihm den Arm um die Taille und flüstert ihm ins Ohr: »Egal, ob
es dir passt oder nicht, du bist ein Held. Trotz aller Widrigkeiten
hast du es geschafft, in die Pyramide einzudringen und den
Schutzschirm zu aktivieren. Damit hast du nicht nur deine Eltern
rehabilitiert, sondern auch zwei Milliarden Menschen das Leben
gerettet. Jetzt solltest du mal Pause machen. Ruh dich aus und
überlass den Rest den richtig großen Jungs.« Sie gibt ihm einen
leidenschaftlichen Kuss, begleitet von den Pfiffen einiger
Matrosen.
Ein Leutnant führt die beiden zu den Aufbauten und
dann eine enge Treppe hinab aufs Hangardeck.
Sie passieren einen schwer bewachten Checkpoint und
kommen in den Hangar, den man zu einem Viertel hastig in einen
Konferenzsaal verwandelt hat. In Hufeisenform sind drei Reihen
Klappstühle und Tische aufgestellt; vor ihnen befindet sich ein
Podium mit einer riesigen, zwölf mal sechs Meter großen
Computerkarte der Welt, die an einem der stählernen Schotts
befestigt ist. Achtunddreißig rote und sieben blaue Lichtpunkte
markieren auf der Karte die Positionen der Drohnen.
Der Leutnant führt sie zu einem reservierten Tisch
an der linken Seite des Hufeisens. Offenbar erkennen einige der
Delegierten Mick, denn sie zeigen auf ihn, als er grüßend an ihnen
vorbeigeht. Ein zaghaftes Händeklatschen steigert sich rasch zu
einem begeisterten Applaus.
Marvin Teperman blickt von seinen Papieren hoch und
lächelt Mick an. »Wie wär’s, wenn Sie Ihren Bewunderern wenigstens
kurz danken?«
Mick winkt kurz, dann setzt er sich neben den
Exobiologen. Er kommt sich lächerlich vor. Megan Jackson, die
Vorsitzende des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, kommt
herbei, begrüßt ihn mit herzlichem Lächeln und schüttelt ihm die
Hand. »Ich freue mich sehr, Sie kennen zu lernen, Mr. Gabriel. Wir
alle stehen tief in Ihrer Schuld. Kann ich vielleicht etwas für Sie
tun?«
»Sie können mir erklären, was ich hier soll.
Schließlich bin ich kein Politiker.«
»Der Präsident und ich hatten gehofft, Ihre
Anwesenheit könnte die feindselige Stimmung hier etwas auflockern.«
Sie deutet auf die russische Delegation. »Der Herr in der Mitte ist
Viktor Grosny. Ich würde sagen, die meisten der Anwesenden wünschen
ihm die Pest an den Hals. Im Vergleich mit den Zwangsneurosen, die
momentan zwischen Russland und den Vereinigten Staaten das Klima
bestimmen, war der Kalte Krieg nur ein Picknick unter
Freunden.«
Die Vorsitzende lächelt Mick mütterlich zu, dann
nimmt sie auf dem Podium Platz. »Darf ich die Anwesenden bitten,
sich zu setzen?«
Die Delegierten folgen der Aufforderung. Teperman
reicht Dominique und Mick zwei kleine Kopfhörer. Die beiden holen
sie aus ihrer Kunststoffhülle, stellen den Übersetzungskanal auf
>Englisch< und setzen sie auf.
»Zuerst möchte ich Professor Nathan Fowler ans
Mikrofon bitten. Er ist stellvertretender Direktor des
NASA-Forschungszentrums Ames und Leiter des internationalen Teams,
das sich mit der Untersuchung der außerirdischen Drohnen befasst.
Herr Professor?«
Ein grauhaariger, etwa siebzig Jahre alter Mann mit
Brille nimmt auf dem Podium Platz.
»Frau Vorsitzende, verehrte Delegierte, liebe
Kollegen, ich möchte Ihnen heute die neuesten Erkenntnisse über
diese Objekte mitteilen, die bereits den Tod von über zwei
Millionen Menschen verursacht haben. Trotz dieser
Tragödie deutet alles darauf hin, dass das Hauptziel des
außerirdischen Wesens, das sie ausgesandt hat, nicht etwa nur darin
besteht, die Menschheit auszulöschen. Was unsere Anwesenheit auf
diesem Planeten betrifft, sind wir ihm offenbar nicht wichtiger als
ein Floh für einen Hund.«
Gemurmel erhebt sich.
»Unser Team hat alle fünfundvierzig Ziele der
Drohnen gründlich analysiert. Sie weisen samt und sonders ein
gemeinsames Merkmal auf: Ihr Untergrund besteht vollständig aus
Kalkstein. Genauer gesagt, man kann die meisten Ziele als
Karstlandschaften bezeichnen. Es handelt sich dabei um dichte
Kalksteinformationen mit einem extrem hohen Anteil an
Kalziumkarbonat. Karstlandschaften bedecken ein Sechstel der
Erdoberfläche. Sie sind vor etwa vierhundert Millionen Jahren
entstanden, als eine große Menge Kalziumkarbonat sich auf dem Boden
der tropischen Meere absetzte, die...«
»Herr Professor, angesichts der knappen
Zeit...«
»Wie? Oh, natürlich, Frau Vorsitzende. Aber bitte
erlauben Sie mir, kurz zu erläutern, welche Bedeutung Kalkstein für
unseren Planeten hat. Dann werden alle besser verstehen, aus
welchen Gründen diese Drohnen ausgesandt wurden.«
»Bitte, aber fassen Sie sich kurz.«
»Karstformationen und Kalkstein im Allgemeinen
haben eine wichtige Funktion für die Erde, weil sie eine gewaltige
Menge Kohlendioxid speichern. Das Kalziumkarbonat im Karst
absorbiert aufgelöstes Kohlendioxid wie ein Schwamm und trägt
dadurch dazu bei, unsere von Sauerstoff geprägte Umwelt zu
regulieren und zu stabilisieren. Die in Sedimentgestein
gespeicherte Menge Kohlendioxid ist sechshundertmal größer als der
gesam te Kohlendioxidgehalt in der Luft, im Wasser und in allen
lebenden Zellen.«
Dominique wirft einen Blick auf Mick, der
leichenblass geworden ist.
Der NASA-Beamte greift nach der Fernbedienung für
die digitale Karte über dem Podium.
»Frau Vorsitzende, ich werde unseren Computer nun
simulieren lassen, was passieren müsste, wenn alle achtunddreißig
Drohnen gleichzeitig explodieren würden. Bitte achten Sie besonders
auf Temperatur und Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre.«
Die Delegationsmitglieder verstummen, als Fowler
eine Reihe von Befehlen eingibt.
Am unteren Rand der Karte erscheinen zwei blaue
Felder.
20. 12. 2012 CO2-Gehalt: 0,03% | Durchschnittliche Temperatur an der Erdoberfläche: 21 °C |
Fowler tippt auf eine Taste. Die roten
Leuchtpunkte beginnen zu blinken, dann verwandeln sie sich in grell
weiße Energiekreise. Innerhalb weniger Sekunden verschwinden die
Explosionen in dichten, gelb-orangen Wolken, die sich rasch
ausbreiten, bis sie fast ein Drittel der Erdoberfläche
bedecken.
20. 12. 2012 (Detonation plus 10 Stunden) CO2-Gehalt: 39,23% | Durchschnittliche Temperatur an der Erdoberfläche: 55,5°C |
Der Wissenschaftler rückt seine Brille zurecht.
»Die bei den Explosionen entstehende Hitze würde sofort den
verkarsteten Kalkstein verdampfen. Dadurch würde der
Kohlendioxidgehalt in der Erdatmosphäre eine kritische Marke
überschreiten. Die Wolkendecke, die sich gerade auf der Karte
ausbreitet, ist eine dichte CO2-Schicht in der
Atmosphäre, die für alle Luft atmenden Organismen auf diesem
Planeten den Tod zur Folge hätte.«
Erregtes Gemurmel.
Fowler tippt noch einmal auf eine Taste, während
die Vorsitzende um Ruhe bittet.
Die Karte verändert sich. Die kreisenden
gelb-orangen Wolken bedecken nun den gesamten Globus.
20. 12. 2022 (Detonation plus 10 Jahre) CO2-Gehalt: 47,85% SO2-Gehalt: 23,21% | Durchschnittliche Temperatur an der Erdoberfläche: 100°C |
Im Saal wird es still.
»Hier sehen wir, wie es nach zehn Jahren auf der
Erde ausschaut. Eine katastrophale Veränderung der Atmosphäre ist
im Gange, der Beginn eines rapiden Treibhauseffekts, wie er in
ähnlicher Weise vor mehr als sechshundert Millionen Jahren auf der
Venus stattgefunden hat. Venus, der Schwesterplanet der Erde, besaß
früher warme Meere und eine feuchte Stratosphäre. Als der
Kohlendioxidgehalt in der Atmosphäre zunahm, bildete sich eine
dicke Isolierschicht. Das führte zum Beginn eines globalen
Vulkanismus. Die Eruptionen förderten den Treibhauseffekt, indem
sie große Mengen Schwefeldioxid in die Atmosphäre beförderten und
die Oberflächentemperatur weiter anstiegen ließen. Am Ende
verdampften die Meere der Venus vollständig. Eine dichte
Wolkendecke entstand, die teilweise noch heute vorhanden ist,
während der Rest im Weltraum verschwand.«
»Herr Professor, ist der CO2-Gehalt auf
der Erde seit der Explosion der ersten sieben Drohnen
angestiegen?«
»Ja, Frau Präsidentin, und zwar um sechs bis sieben
Prozent.«
»Genug!« Viktor Grosny hat sich erhoben. Sein
hageres Gesicht ist rot vor Wut. »Ich bin hier, um über einen
Waffenstillstand zu verhandeln, und nicht, um mir irgendwelchen
Unsinn über Außerirdische anzuhören.«
Die Vorsitzende hebt die Stimme, um die Protestrufe
zu übertönen. »Präsident Grosny, wollen Sie etwa in Frage stellen,
dass die Bedrohung durch dieses Raumschiff existiert?«
»Man hat uns doch gesagt, diese Drohnen seien
ausgeschaltet, weil dieser... dieser Schutzschirm ihre Explosion
verhindert. Stimmt das nicht, Mr. Fowler?«
Fowler blickt Grosny beklommen an. »Es sieht so
aus, als würden die Drohnen nicht detonieren, solange der
Schutzschirm intakt bleibt. Aber die Bedrohung besteht
weiterhin.«
»Warum vergeuden wir dann unsere Zeit damit, jetzt
darüber zu diskutieren? Ich schlage vor, wir überlassen die Sache
unseren Wissenschaftlern. Nach meinem Verständnis sollte dieses
Treffen politischer Natur sein. Trotz zahlreicher Morddrohungen bin
ich in gutem Glauben hierher gekommen. Es waren russische und
chinesische Zivilisten, die durch diese Fusionsbomben ums Leben
gekommen sind. Wer sterben muss, Frau Vorsitzende, dem ist es ganz
egal, ob er von einer Atombombe zerrissen wird, ob er erstickt oder
verhungert. Überlassen wir es dem Westen und seinem überlegenen
Waffenarsenal, dieses außerirdische Raumschiff zu zerstören. In
eben diesem Augenblick verhungern Tausende von Russen. Worüber wir
nun sprechen müssen, ist, wie wir die Lage auf der Welt verändern
können...«
»Wer sind Sie eigentlich, dass Sie Veränderungen
fordern?«, erwidert General Fecondo, der mit geballten Fäusten
aufgesprungen ist. »Ihre Idee einer Veränderung hat doch darin
bestanden, die Vereinigten Staaten in einen Atomkrieg zu
verwickeln. Der Westen hat Ihrem Land Milliarden Dollar geschenkt,
um das russische Volk mit Lebensmitteln zu versorgen und die
Wirtschaft anzukurbeln. Stattdessen haben Sie alles für Waffen
ausgegeben!«
Mick schließt die Augen, um das Wortgefecht
auszublenden, und denkt über Professor Fowlers Worte nach. Dabei
fällt ihm die Wunde am Bein ein, die er bei seinem Aufenthalt im
Raumschiff von Tezcatlipoca erlitten hat.
Mein Blut war blau. Die Atmosphäre in der Kuppel
muss extrem viel Kohlendioxid enthalten haben.
Er erinnert sich an die Worte des Hüters: Die
Bedingungen auf eurem Planeten waren ungeeignet. Das eigentliche
Ziel war Venus... eure Welt soll akklimatisiert werden.
»Sie fordern Hilfe von uns«, bellt Dick Przystas,
»aber wir haben ja gesehen, wie rasch Sie bereit waren, die
Menschen zu vernichten, die Sie jetzt bitten, Ihr Volk vor dem
Hungertod zu bewahren!«
»Wir hatten doch keine andere Wahl!«, entgegnet
Grosny. »Sie zwingen uns, Vereinbarungen über strategische
Abrüstung zu unterschreiben, während Ihre Wissenschaftler ständig
neue Methoden entwickeln, uns zu zerstören. Was nützen Verträge,
wenn die neuen amerikanischen Technologien noch tödlicher sind als
die veralteten Raketen, die Sie so großzügig aus dem Verkehr
gezogen haben?« Grosny wendet sich an die übrigen Vertreter. »Ja,
es war Russland, das zuerst den Knopf gedrückt hat, aber man hat
uns provoziert. Die Vereinigten Staaten rüsten schon seit
Jahrzehnten massiv auf. Nach den Berichten unserer Informanten
brauchen die Amerikaner keine zwei Jahre mehr, um selbst reine
Fusionsbomben herzustellen. Zwei Jahre! Wenn diese Außerirdischen
uns nicht angegriffen hätten, dann hätten es die USA getan.«
Wieder erhebt sich ein Stimmengewirr im Saal.
Grosny deutet anklagend mit dem Zeigefinder auf
Chaney. »Ich frage den neuen amerikanischen Präsidenten: Was ist
Ihr wahres Ziel - Krieg oder Frieden?«
Chaney steht auf und wartet, bis Ruhe eingetreten
ist. »An allen Händen hier klebt Blut, Präsident Grosny. Wir alle
leiden unter Schuldgefühlen, wir alle haben Angst.
Aber, um Himmels willen, wir könnten alle bereits tot sein. Wir
haben uns allesamt wie egoistische Kinder benommen, und wenn wir
irgendeine Hoffnung haben wollen, als Spezies zu überleben, müssen
wir unsere kleinlichen Streitereien ein für allemal beiseite legen
und endlich erwachsen werden.«
Der amerikanische Präsident tritt vor seinen Tisch.
»Auch ich bin der Meinung, dass es einer drastischen Veränderung
bedarf. Die Menschheit kann ihre drohende Selbstzerstörung nicht
mehr tolerieren. Es darf auch keinen Unterschied mehr zwischen
Reich und Arm geben. Wir müssen unser Wirtschaftssystem so
gestalten, dass eine neue Weltordnung entsteht, die den Frieden zum
Ziel hat. Präsident Grosny, die Vereinigten Staaten bieten Russland
die Hand zur Versöhnung. Sind Sie bereit, sie zu ergreifen?«
Donnernder Beifall erfüllt den Hangar, als Viktor
Grosny auf den amerikanischen Präsidenten zugeht und ihn
umarmt.
Auch Dominique ist aufgesprungen und klatscht
Beifall, Tränen in den Augen. Da sieht sie, dass Mick zum Podium
geht.
Es wird still im Raum.
Mick steht vor der Versammlung, die apokalyptische
Botschaft auf den Lippen.
»Präsident Chaney ist ein weiser Mann.
Die Botschaft, die ich in mir trage, stammt auch von einem weisen
Mann, von einem Mann, dessen Schutzschirm uns gerettet hat. Während
wir hier politische Debatten führen, wird die Erde klimatisch
darauf vorbereitet, eine andere Spezies aufzunehmen. Die Spezies
ist unendlich viel älter als wir und denkt weder an Krieg noch an
Frieden. Für diesen Feind ist die Erde nicht mehr als ein
Brutkasten, zufällig seit zwei Millionen Jahren bewohnt von der
Menschheit, die nebenbei beseitigt werden muss.
Egal, ob wir uns hier versöhnen oder nicht, wir
dürfen uns nichts vormachen: morgen ist der entscheidende Tag. Beim
Morgengrauen wird sich ein kosmisches Tor auftun, ein Tor, das
verschlossen werden muss, wenn die Menschheit überleben soll.
Gelingt uns das nicht, wird alles, was in diesem Raum gesagt oder
getan wird, bedeutungslos sein. Dann sind morgen bei
Sonnenuntergang alle Lebewesen auf diesem Planeten tot.«