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11. September 2012 Miami, Florida
Wachen Sie auf, Ms. Vazquez. Sie fallen
bloß auf Ga briels berühmte Verschwörungstheorie herein.«
»Keineswegs.« Dominique erwidert den kalten Blick
Dr. Folettas, der hinter seinem Schreibtisch sitzt. »Es gibt
keinerlei Gründe, weshalb Mick Gabriel kein vollständiges
Therapeutenteam zugeteilt werden sollte.«
Foletta lehnt sich in seinen Drehsessel zurück.
Sein Gewicht lässt die Spiralfedern ächzen. »Jetzt beruhigen wir
uns mal ein wenig. Überlegen Sie doch - Sie haben gerade zweimal
mit dem Patienten gesprochen und stellen schon eine Diagnose.
Meiner Meinung nach lassen Sie sich emotional in die Sache
hineinziehen. Davor habe ich Sie schon am Freitag gewarnt und das
ist auch genau der Grund, weshalb ich dem Ausschuss empfohlen habe,
vorläufig kein Team hinzuzuziehen.«
»Dr. Foletta, ich versichere Ihnen, dass von
emotionaler Verwicklung keine Rede sein kann. Ich habe bloß den
Eindruck, dass man in diesem Fall vorschnell zu einem Urteil
gekommen ist. Ja, sicher leidet er an Wahnvorstellungen, aber das
könnte gut damit zu tun haben, dass er die vergangenen
elf Jahre in Einzelhaft verbracht hat. Und was seine angebliche
Gewalttätigkeit betrifft - mit Ausnahme eines einmaligen, relativ
simplen Vorfalles habe ich in Micks Akte nichts gefunden, was
darauf hindeutet.«
»Was ist mit dem Angriff auf den Wärter?«
»Mick hat mir erzählt, der hätte versucht, ihn zu
vergewaltigen.«
Foletta drückt sich mit seinen kurzen, dicken
Fingern die Nase zusammen und schüttelt mit einfältigem Grinsen den
massigen Kopf. »Er hat Sie reingelegt, Ms. Vazquez. Ich hab Ihnen
ja gesagt, er ist clever.«
Dominique wird flau im Magen. »Sie meinen, das war
eine Lüge?«
»Natürlich. Er hat mit Ihrem Mutterinstinkt
gerechnet und offenbar tatsächlich einen Volltreffer
gelandet.«
Dominique starrt entgeistert in ihren Schoß. Hat
Mick gelogen? Ist sie tatsächlich so leichtgläubig? Ich Trottel!
Ich wollte ihm einfach glauben, und da hab ich
mich selbst reingelegt.
»Ms. Vazquez, Sie werden mit Ihren Patienten nicht
besonders weit kommen, wenn Sie alles glauben, was die Ihnen
erzählen. Sonst wird Mick Sie das nächste Mal noch davon
überzeugen, dass demnächst die Welt zusammenkracht.«
Dominique lehnt sich in ihren Stuhl zurück. Sie
kommt sich töricht vor.
Als Foletta ihre Miene sieht, lacht er laut auf.
Seine dicken Backen werden rot und bilden Grübchen. Er atmet durch
und wischt sich Lachtränen aus den Augen, während er in eine
Pappschachtel am anderen Ende des Tisches greift. Er holt eine
Flasche Scotch und zwei Kaffeebecher hervor und schenkt ein.
Dominique leert ihren Becher und spürt die scharfe
Flüssigkeit in ihren Magen rinnen.
»Na, fühlen Sie sich jetzt besser?« Die leise,
sonore Stimme klingt väterlich.
Sie nickt.
»Trotz allem, was Mick Ihnen erzählt haben mag, Ms.
Vazquez, mag ich ihn. Und dass wir ihn isolieren müssen, gefällt
mir ebenso wenig wie Ihnen.«
Das Telefon läutet. Foletta nimmt ab und betrachtet
sie nachdenklich. »Das ist einer der Wärter. Er sagt, er wartet
drunten auf sie.«
Scheiße. »Könnten Sie ihm sagen, dass ich
gerade eine wichtige Besprechung habe? Sagen Sie ihm, ich schaffe
es heute Abend einfach nicht.«
Foletta gibt die Nachricht weiter und legt
auf.
»Dr Foletta, was ist mit Micks jährlicher
Evaluation? War das etwa auch eine Lüge?«
»Nein, das stimmt; es ist sogar eines der Dinge,
die ich mit Ihnen besprechen will. Ich weiß, es ist ein wenig
ungewöhnlich, aber Sie müssten mir meine Beurteilung
bestätigen.«
»Was raten Sie mir?«
»Das hängt von Ihnen selbst ab. Wenn Sie objektiv
bleiben können, werde ich beantragen, dass Sie während Ihrer Zeit
hier weiterhin als klinischer Psychiater für ihn fungieren.«
»Mick leidet an Sinnesdeprivation. Ich würde mir
wünschen, dass er Zutritt zum Hof und zu den anderen
Rehabilitationsmöglichkeiten hat.«
»Er hat Sie doch gerade erst angegriffen...«
»Nein, hat er nicht. Er hat sich nur ein wenig
aufgeregt und da bin ich in Panik geraten.«
Foletta lehnt sich zurück und blickt an die Decke,
als wäge er eine bedeutsame Entscheidung ab. »Na schön, Ms.
Vazquez, machen wir es folgendermaßen: Wenn Sie meine jährliche
Evaluation unterschreiben, gewähre ich ihm sämtliche
Vergünstigungen. Verbessert sich Micks Zustand tatsächlich, weise
ich ihm im Januar ein vollständiges Rehabilitationsteam zu.
Einverstanden?«
Dominique lächelt. »Einverstanden.«
22. September 2012 Miami, Florida
Der Hof des Psychiatrischen Zentrums von
Südflorida besteht aus einer rechteckigen Rasenfläche, die auf
allen vier Seiten von Mauern umgeben ist. Das L-förmige
Hauptgebäude umschließt sie im Osten und Süden; die nördliche und
westliche Grenze bildet eine sechs Meter hohe Betonmauer, deren
Krone mit Stacheldrahtrollen geschmückt ist.
Der Hof hat keinerlei Tore. Um die Rasenfläche zu
verlassen, muss man drei Betontreppen hinaufsteigen. Sie führen zu
einem offenen Gang, der sich an der Südfassade des Gebäudes
entlangzieht. Von hier aus gelangt man in den zweiten Stock mit
Fitnessräumen, Räumen für Therapiegruppen, einem Zentrum für
handwerkliche und künstlerische Aktivitäten, einem Computerraum und
einem Kinosaal.
Dominique sucht unter dem Aluminiumdach über dem
offenen Gang im zweiten Stock Schutz, als bleigraue Wolken von
Osten her heranziehen. Eine Schar Patienten verlässt den Hof,
während die ersten Tropfen eines Nachmittagsschauers- auf den Rasen
klatschen.
Nur eine einsame Gestalt bleibt zurück.
Mick Gabriel umschreitet weiterhin den Hof, die
Hände tief in die Taschen geschoben. Er spürt, wie die feuchte Luft
abkühlt, als die Wolken am Himmel aufreißen. Innerhalb weniger
Sekunden steht er mitten im prasselnden Regen. Die durchnässte
weiße Anstaltskleidung klebt an seinem drahtigen, muskulösen
Körper.
Er geht weiter, obwohl seine nassen Tennisschuhe im
weichen Gras versinken, obwohl er das Regenwasser zwischen den
Zehen spürt. Bei jedem Schritt spricht er den Namen eines Jahres
aus dem Maya-Kalender aus. Es ist eine Übung, mit deren Hilfe er
sich geistig auf Trab hält. Drei Ix, vier Cauac, fünf Kan, sechs
Muluc...
Die dunklen Augen fixieren die Betonmauer, suchen
nach Rissen. Mick überdenkt seine Chancen, zu entkommen.
Dominique betrachtet ihn durch den Regenschleier
hindurch und verspürt Gewissensbisse. Du hast es vermasselt. Er
hat dir vertraut und jetzt meint er, du hast ihn
hintergangen.
Foletta nähert sich. Er tauscht Grüße mit mehreren
abnorm ausgelassenen Patienten, dann tritt er zu ihr.
»Weigert er sich immer noch, mit Ihnen zu
sprechen?«
Dominique nickt. »Jetzt sind es schon fast zwei
Wochen. Jeden Tag ist es dasselbe. Er frühstückt, dann trifft er
sich mit mir und starrt eine geschlagene Stunde auf den Boden.
Sobald er in den Hof kommt, geht er bis zum Abendessen hin und her.
Er nimmt nie Kontakt mit anderen Patienten auf und sagt auch nie
ein Wort. Er geht nur hin und her.«
»Man sollte meinen, dass er dankbar wäre.
Schließlich sind Sie für seine neue Freiheit verantwortlich.«
»Das ist keine Freiheit.«
»Nein, aber ein großer Fortschritt gegenüber elf
Jahren Einzelhaft.«
»Ich hab den Eindruck, er meint wirklich, ich hätte
ihn hier herausholen können.«
Folettas Gesichtsausdruck verrät seine
Gedanken.
»Was ist, Dr. Foletta? Hatte er Recht? Hätte ich
ihn...«
»He, immer mit der Ruhe, Ms. Vazquez. Mick Gabriel
bleibt hier, zumindest vorläufig. Wie Sie selbst gemerkt haben, ist
er ziemlich instabil und stellt eine Gefahr für sich selbst und
andere dar. Arbeiten Sie weiter mit ihm, machen Sie ihm Mut, an
seiner Therapie mitzuwirken. Dann ist alles möglich.«
»Sie haben doch noch immer vor, ihm ein
Rehabilitationsteam zuzuteilen, oder?«
»Wir haben uns auf Januar geeinigt, vorausgesetzt,
dass er sich benimmt. Sie sollten ihm davon erzählen.«
»Das hab ich schon versucht.« Sie beobachtet Mick,
der an der Treppe direkt unter ihr vorbeigeht. »Er vertraut mir
nicht mehr.«
Foletta klopft ihr auf den Rücken. »Da müssen Sie
drüber hinwegkommen.«
»Es bringt ihm nichts, mit mir zusammen zu sein.
Vielleicht braucht er jemand mit mehr Erfahrung.«
»Unsinn. Ich werde seinen Pflegern sagen, dass er
sein Zimmer nicht mehr verlassen darf, falls er sich weiterhin
weigert, aktiv an seinen Therapiesitzungen mitzuwirken.«
»Es wird nichts nützen, wenn man ihn zwingt, mit
mir zu sprechen.«
»Dies ist kein Country-Club, Ms. Vazquez. Wir haben
Regeln. Wenn ein Patient jede Kooperation verweigert, verliert er
seine Vergünstigungen. Ich kenne solche Fälle. Wenn Sie jetzt nicht
handeln, verkriecht Mick sich in seinem Hirn, und dann haben Sie
ihn endgültig verloren.«
Foletta winkt einem Pfleger. »Joseph, holen Sie Mr.
Gabriel aus dem Regen. Wir können es nicht zulassen, dass unsere
Patienten krank werden.«
»Nein, warten Sie, er ist mein Patient. Ich hole
ihn.« Dominique zieht ihr Haar zu einem Knoten zusammen, streift
ihre Schuhe ab und geht die beiden Treppen zum Hof hinunter. Als
sie Mick erreicht hat, ist sie bis auf die Haut durchnässt.
»He, Fremder, haben Sie was dagegen, wenn ich mich
zu Ihnen geselle?«
Er ignoriert sie.
Dominique hält mit ihm Schritt. Der Regen schlägt
ihr ins Gesicht. »Kommen Sie schon, Mick, sprechen Sie mit mir. Ich
hab mich schon die ganze Woche entschuldigt. Was haben Sie von mir
erwartet? Ich hatte keine andere Wahl, als Folettas Bericht zu
unterschreiben.«
Er wirft ihr einen bösen Blick zu.
Der Regen prasselt heftiger hernieder, sodass sie
gezwungen ist, zu brüllen. »Mick, gehen Sie doch mal ein bisschen
langsamer!«
Er schreitet einfach weiter.
Sie überholt ihn, baut sich in Kampfstellung vor
ihm auf und hebt die Fäuste. »Okay, Kumpel, zwingen Sie mich nicht,
Ihnen in den Arsch zu treten!«
Mick bleibt stehen und hebt den Kopf. Der Regen
strömt an seinem kantigen Gesicht herab. »Sie haben mich im Stich
gelassen.«
»Das tut mir Leid«, flüstert sie und lässt die
Fäuste sinken. »Aber warum haben Sie mich in der Sache mit dem
Wärter angelogen?«
Ein gequälter Gesichtsausdruck. »Also entscheidet
nicht mehr Ihr Herz, was wahr ist und was nicht, sondern ihr
Ehrgeiz, ja? Ich dachte, wir wären Freunde.«
Sie spürt einen Kloß im Hals. »Ich will eine
Freundin für Sie sein, aber ich bin auch Ihre Therapeutin. Ich hab
getan, was ich für das Beste hielt.«
»Dominique, ich habe Ihnen mein Wort gegeben, dass
ich Sie nie anlügen werde.« Er hebt den Kopf und deutet auf die
acht Zentimeter lange Narbe an seinem Unterkiefer. »Bevor Griggs
versucht hat, mich zu vergewaltigen, hat er mir gedroht, er würde
mir die Gurgel durchschneiden.«
Foletta, du Scheißkerl. »Mick, meine Güte,
es tut mir so Leid. Bei unserem zweiten Treffen, als Sie
ausgerastet sind...«
»Das war mein Fehler. Ich hab mich aufgeregt. Ich
bin schon so lange eingesperrt, und manchmal, ja, manchmal ist es
einfach schwer für mich, ruhig zu bleiben. Ich bin nicht sehr
gesellig, aber ich schwöre, ich hätte Ihnen nie was angetan.«
Sie sieht Tränen in seinen Augen. »Ich glaube
Ihnen.«
»Wissen Sie, es hat schon was geholfen, hier auf
den
Hof rausgehen zu dürfen. Ich hab viel über eine Menge Dinge
naehgedacht... nun ja, es waren egoistische Gedanken. Ich hab an
meine Kindheit gedacht und daran, wie man mich erzogen hat, wie ich
hier gelandet bin und ob ich je wieder rauskommen werde. Und dann
sind da so viele Dinge, die ich nie getan habe... so vieles, was
ich anders machen würde, wenn ich könnte. Ich hab meine Eltern lieb
gehabt, aber zum ersten Mal ist mir klar geworden, dass ich ihnen
wirklich übel nehme, was sie getan haben. Ich nehme ihnen übel,
dass sie mir nie eine Wahl ließen...«
»Wir können uns unsere Eltern nicht aussuchen,
Mick. Wichtig ist nur, dass wir uns- nicht selbst die Schuld geben.
Keiner von uns hatte irgendeinen Einfluss auf die Karten, die wir
in diesem Spiel bekommen haben, aber wir sind voll und ganz dafür
verantwortlich, wie wir sie ausspielen. Ich glaube, ich kann Ihnen
dabei helfen, wieder besser damit umzugehen.«
Er tritt näher an sie heran. Der Regen strömt über
sein Gesicht. »Darf ich Ihnen eine persönliche Frage
stellen?«
»Ja.«
»Glauben Sie an ein Schicksal?«
»Ein Schicksal?«
»Glauben Sie, dass unser Leben, unsere Zukunft...
Ach, schon gut, lassen wir das.«
»Glaube ich, dass das, was mit uns geschieht,
vorbestimmt ist?«
»Ja.«
»Ich glaube, wir haben Optionen. Ich glaube, es
liegt an uns, das für uns passende Schicksal auszuwählen.«
»Waren Sie je verliebt?«
Sie starrt ihm hilflos in die glänzenden
Hundeaugen. »Ein paarmal war ich nahe dran, aber irgendwie hat es
nie geklappt.« Sie lächelt. »Wahrscheinlich waren diese Typen
einfach nicht für mich bestimmt.«
»Wenn ich nicht... eingesperrt wäre... wenn wir uns
unter anderen Umständen kennen gelernt hätten - glauben Sie, Sie
hätten sich dann in mich verlieben können?«
Ach, du Scheiße. Sie schluckt schwer, weil ihr das
Herz bis zum Hals klopft. »Mick, gehen wir ins Trockene. Kommen Sie
schon,..«
»Sie haben so etwas an sich. Es ist nicht nur die
physische Anziehung, es ist, als würde ich Sie schon immer kennen
oder als hätte ich Sie schon in einem anderen Leben gekannt.«
»Mick...«
»Manchmal hab ich Vorahnungen, und in dem
Augenblick, in dem ich Sie zum ersten Mal gesehen hab, war das auch
so.«
»Sie haben doch gesagt, es läge am Parfüm.«
»Da war noch mehr. Ich kann es nicht erklären. Ich
weiß bloß, dass Sie mir etwas bedeuten, und diese Gefühle sind
verwirrend.«
»Mick, ich fühle mich geschmeichelt, wirklich, aber
ich glaube, Sie haben Recht. Ihre Emotionen sind durcheinander
und...«
Er lächelt traurig, ohne auf ihre Worte zu achten.
»Sie sind so schön.« Er beugt sich vor, berührt ihre Wange, dann
streckt er den Arm aus und löst den Knoten in ihrem kohlschwarzen
Haar.
Sie schließt die Augen und spürt, wie ihr langes
Haar über ihren Rücken fällt und schwer vom Regen wird. Schluss
jetzt! Er ist dein Patient, ist ein psychiatrischer Fall, verflucht
noch mal! »Mick, bitte. Foletta beobachtet uns. Können Sie
jetzt einfach mit reinkommen? Sprechen wir drinnen weiter...«
Er starrt sie an. Hinter den verzagten schwarzen
Augen zeigt sich eine von verbotener Schönheit gequälte Seele.
»>Oh, sie nur lehrt die Kerzen, hell zu glühn! Wie in dem Ohr
des Mohren ein Rubin, so hängt der Holden Schönheit an den
Wangen...<«
»Was sagen Sie da?« Dominiques Herz pocht.
»Das ist aus Romeo und Julia. Ich hab es
früher meiner Mutter vorgelesen, als sie krank im Bett lag.« Er
nimmt ihre Hand und führt sie an seine Lippen. »>Schließt sich
ihr Tanz, so nah ich ihr: ein Drücken der zarten Hand soll meine
Hand beglücken. Liebt ich wohl je? Nein, schwör es ab, Gesicht! Du
sahst bis jetzt noch wahre Schönheit nicht.<«
Der Regen lässt nach. Sie sieht zwei Pfleger
kommen. »Mick, hören Sie doch mal zu. Ich hab Foletta dazu
gebracht, Ihnen ein Rehabilitationsteam zuzuweisen. In einem halben
Jahr können sie schon draußen sein.«
Mick schüttelt den Kopf. »Den Tag werden wir nie
erleben, meine Liebe. Morgen ist das Herbstäquinoktium... Er dreht
sich um und wird nervös, als er die beiden Männer in weißer Uniform
erblickt. »Lesen Sie das Tagebuch meines Vaters. Das Schicksal
dieser Welt wird bald eine Schwelle überschreiten, und dann steht
der Mensch ganz oben auf der Liste der vom Aussterben bedrohten
Arten.«
Die beiden Pfleger packen ihn an den Armen.
»He, gehen Sie vorsichtig mit ihm um!«
Mick wendet ihr das Gesicht zu, als er fortgeführt
wird. Dampfend steigt Feuchtigkeit von seinem Körper auf. »>Wie
silbersüß tönt bei der Nacht die Stimme der Liebenden, gleich
lieblicher Musik, dem Ohr des Lauschers... < Ich habe Sie ins
Herz geschlossen, Dominique. Das Schicksal hat uns zusammengeführt.
Das kann ich spüren. Ich kann es spüren...«
AUS DEM TAGEBUCH VON JULIUS
GABRIEL
Bevor wir unsere Reise durch die
Menschheitsgeschichte fortsetzen, würde ich gern einen Begriff
vorstellen, der in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt ist:
Verbotene Archäologie. Geht es um
den Ursprung und die Frühzeit des Menschen, steht die Wissenschaft
Hinweisen, die den etablierten Evolutionsmodellen widersprechen,
offenbar nicht immer unvoreingenommen gegenüber. Anders gesagt, ist
es manchmal leichter, die Fakten zu leugnen, als zu versuchen, eine
schlüssige Erklärung für etwas zu finden, was scheinbar nicht
erklärt werden kann.
Gut, dass Kolumbus die Karte von Piri Re’is benutzt
hat statt die damals gültige europäische Version! Sonst wäre sein
Schiff nämlich einfach vom Rand der Welt gefallen.
Glaubt der Mensch, alles zu wissen, hört er auf zu
lernen. Diese bedauerliche Tatsache hat dazu geführt, dass viele
bedeutsamen Forschungsergebnisse unterdrückt wurden und werden.
Weil es unmöglich ist, ohne die Unterstützung einer größeren
Universität einen wissenschaftlichen Aufsatz zu veröffentlichen,
ist es auch fast unmöglich, die
vorherrschende Lehrmeinung in Frage zu stellen. Ich habe gesehen,
wie qualifizierte Kollegen es trotzdem versucht haben, nur um
deshalb verfemt zu werden. Ihr Ruf wurde zerstört, ihre Karriere
war ruiniert, obwohl die Beweise, die ihre umstrittenen Ansichten
stützten, scheinbar unangreifbar ausgesehen hatten.
Am schlimmsten sind die ägyptischen Ägyptologen,
denen es absolut zuwider ist, wenn andere Wissenschaftler die
offizielle Geschichte ihrer historischen Stätten anzweifeln.
Besonders ungemütlich werden sie, wenn es Ausländer sind, die Alter
und Ursprung der gewaltigen Bauten ihrer Vergangenheit
hinterfragen.
Damit kommen wir zu den Datierungsmethoden, dem
umstrittensten Aspekt innerhalb der Archäologie. Im Falle von
Knochen und Kohleresten ist die Verwendung der Radiokarbonmethode
ebenso unproblematisch wie akkurat, doch bei Stein kann die Technik
nicht angewendet werden. Deshalb datieren Archäologen eine
Grabungsstätte oft nach anderen, leichter datierbaren Funden aus
der Nähe der Grabung oder, wenn solche Funde nicht existieren,
einfach auf der Basis von Vermutungen. Das führt zu einer Vielzahl
menschlicher Irrtümer.
Kehren wir nach diesen kritischen Worten zu unserer
Reise durch Geschichte und Zeit zurück.
Irgendwann nach der Sintflut tauchten plötzlich an
verschiedenen Stellen der Erde die ersten Kulturen auf. Offiziell
ist man heute allgemein der Ansicht, die historische Epoche habe um
4000 v.Chr. in Mesopotamien begonnen, also im fruchtbaren Tal von
Euphrat und Tigris. Die frühesten Hinweise auf städtische
Siedlungsformen, die man in Jericho gefunden hat, reichen bis 7000
v. Chr. zurück. Neuere Funde weisen jedoch darauf hin, dass am Ufer
des Nil in noch früherer Zeit eine andere, überlegene Kultur
blühte. Eben diese uralte Kultur und ihr weiser Lehrer haben uns
die ersten der geheimnisvollen Wunder hinterlassen, die
letztendlich bewirken könnten, dass unsere Art vor der Vernichtung
gerettet wird.
Ein Vielzahl von Tempeln, Pyramiden und anderen
Monumenten ist über die ägyptische Landschaft verstreut, doch
nichts davon ist vergleichbar mit den fantastischen Bauten, die in
Giseh errichtet wurden. Hier, am Westufer des Nils, wurde ein
unglaublicher Plan verwirklicht, bestehend aus der Sphinx, ihren
beiden Tempeln und den drei größten ägyptischen Pyramiden.
Weshalb schreibe ich an dieser Stelle über die
Pyramiden von Giseh? Wie könnten diese uralten Monurnente in
Verbindung mit dem Kalender der Maya und damit einer Kultur auf der
anderen Seite des Erdballs stehen?
Nach drei Jahrzehnten der Forschung habe ich
endlich erkannt, dass es nur einen Weg gibt, das Rätsel jener
düsteren Prophezeiung zu lösen: Wollen wir die uralten Belege
analysieren, die das größte Geheimnis der Menschheit umgeben,
müssen wir alle herkömmlichen Vorstellungen vergessen, die wir uns
über die frühen Kulturen machen. Wir müssen alles vergessen, was an
der Oberfläche liegt.
Das will ich etwas näher ausführen.
Die größten und unerklärlichsten Bauten, die der
Mensch je errichtet hat, sind die Pyramiden von Giseh, die Tempel
von Angkor im Dschungel von Kambodscha, die Pyramiden in der alten
mittelamerikanischen Stadt Teotihuacán (bekannt auch als >Ort
der Götter<), Stonehenge, die Zeichnungen von Nazca, die Ruinen
von Tiahuanaco und die Kukulkan-Pyramide in Chichén Itzá. Jedes
dieser Wunder wurde in vorgeschichtlicher Zeit von verschiedenen
Kulturen an verschiedenen Regionen der Erde und in sehr
unterschiedlichen Epochen geschaffen, und dennoch beziehen sich
alle auf den drohenden Untergang der Menschheit, von dem der
Maya-Kalender spricht. Die Architekten und Ingenieure, die diese
Bauten errichteten, besaßen ein fortgeschrittenes astronomisches
und mathematisches Wissen, das weit über den Stand ihrer Zeit
hinausreichte. Außerdem
sind Standort und Ausrichtung all dieser Bauten nicht nur
sorgfältig in Beziehung zur Tagundnachtgleiche und zur Sonnenwende
gesetzt; all diese Stätten stehen auch - so unglaublich das
scheinen mag - untereinander in einem bestimmten Zusammenhang.
Wollte man die Oberfläche unseres Planeten mit Orientierungspunkten
versehen, wären diese Bauten ausgezeichnet dazu geeignet.
Was die gewaltigen Bauten miteinander verbindet,
können wirjedoch nicht auf den ersten Blick erkennen, denn den Kern
ihres Bauplans bildet eine gemeinsame mathematische Gleichung, die
ein fortgeschrittenes Wissen offenbart: das Wissen um die
Präzession.
Auch hierzu eine kurze Erklärung:
Während unser Planet auf seiner alljährlichen Reise
um die Sonne durch den Raum schwebt, rotiert er einmal alle 24
Stunden um seine eigene Achse. Und während die Erde sich dreht,
bewirkt die Schwerkraft des Mondes, dass sie sich um annähernd 23,5
Grad in die Vertikale neigt. Gemeinsam mit der Anziehungskraft der
Sonne - sie bewirkt die Ausbauchung am irdischen Äquator - führt
das dazu, dass die Erdachse ebenfalls eine leichte Bewegung
vollzieht, die mit dem Schwanken eines Kreisels vergleichbar ist.
Diese Bewegung nennt man Präzession. Innerhalb von 25800 Jahren
zeichnet die Achse ein kreisförmiges Muster in den Himmel, in
dessen Verlaufsich die Positionen der Himmelspole und
Äquinoktialpunkte verschieben. Dieses langsame Driften in
westlicher Richtung führt ferner dazu, dass das die
Tierkreiszeichen nicht mehr mit den Konstellationen übereinstimmen,
die ihnen ihren Namen gegeben haben.
Ursprünglich hieß es, der griechische Astronom und
Mathematiker Hipparchos habe die Präzession im Jahre 127 v. Chr.
entdeckt. Heute wissen wir, dass die Ägypter, Maya und Inder dieses
Wissen schon Hunderte, wenn nicht Tausende von Jahren vorher
besaßen.
In den frühen 1990er Jahren hat die
Archäoastronomin Jane Sellers herausgefunden, dass der
Osiris-Mythos des
alten Ägypten mit Schlüsselzahlen kodiert ist, mit denen die
Ägypter den unterschiedlichen Präzessionsgrad der Erde berechneten.
Besonders auffällig war dabei die folgende Kombination:
4320.
Mehr als tausend Jahre vor der Geburt von
Hipparchos war es sowohl den Ägyptern wie den Maya irgendwie
gelungen, den Wert der Zahl Pi zu berechnen, also das Verhältnis
des Umfangs eines Kreises, einer Kugel oder Halbkugel zu
seinem/ihrem Durchmesser. Multipliziert man die Höhe der Großen
Pyramide von G iseh - 146,65 Meter- mit dem zweifachen Wert von Pi,
erhält man genau die Gesamtlänge aller vier Seiten, 921,42 Meter.
So unglaublich es klingt, entspricht der Umfang der Pyramide damit
- bei einer Abweichung von ca. sechs Metern - dem Durchmesser der
Erde, wenn dieser im Verhältnis 1:43200 verkleinert wird. Diese
Zahlen repräsentieren unseren mathematischen Präzessionscode. Legt
man denselben Maßstab an, entspricht der polare Radius der Erde der
Höhe der Großen Pyramide.
Dadurch wird deutlich, dass die Große Pyramide eine
geodätische Markierung ist, die fast exakt auf dem 30. Breitengrad
liegt. Projiziert man ihre Maße auf eine Fläche, deren Spitze den
Nordpol und deren Umfang den Äquator darstellt, entsprechen die
Dimensionen des gewaltigen Baus der nördlichen Hemisphäre, wenn
diese wiederum im Maßstab 1:43200 verkleinert wird.
Es ist bekannt, dass die Äquinoktialsonne 4320
Jahre braucht, um eine Präzessionsverschiebung von zwei
Konstellationen des Tierkreises - bzw. 60 Grad - zu durchlaufen.
Multipliziert man diese Zahl mit 100, so erhält man 43200 und damit
die Zahl der Tage, die in der >Großen Zählung< des
Maya-Kalenders 6 Katun entsprechen.
Dies aber ist einer der Schlüsselwerte, mit denen die alten Maya
die Präzession berechneten. Ein vollständiger Präzessionszyklus
dauert 25800 Jahre. Addiert man sämtliche Jahre der fünf Zyklen im
Popol Vuh, entspricht das Ergebnis
exakt einem Präzessionszyklus.
Mitten im dichten Dschungel von Kambodscha stehen
die großartigen Hindutempel von Angkor. Unter den Reliefs und
Statuen, mit denen die Bauten reich geschmückt sind, finden sich
ebenfalls Präzessionssymbole. Am bekanntesten ist eine riesenhafte
Schlange (naga), deren Mitte sich um
einen heiligen Berg im Milchozean - der Milchstraße - windet. Die
beiden Enden der Schlange dienen als Seil bei einem kosmischen
Seilziehen zweier Mannschaften, von denen die eine das Licht und
das Gute repräsentiert, die andere die Dunkelheit und das Böse.
Verbunden mit der Drehung der Milchstraße stellt diese Bewegung die
hinduistische Interpretation der Präzession dar. In den Puranas,
den heiligen Schriften der Hindus, werden die vier Weltzeitalter
als Yugas bezeichnet. Unser
derzeitiges Zeitalter, das Kali
-Yuga, dauert 432000 Menschenjahre.
Am Ende dieser Ära, heißt es in den Schriften, stehe die Menschheit
vor der Vernichtung.
Die Zivilisationen der alten Ägypter, Maya und
Hindus - drei unterschiedliche Kulturen in verschiedenen Erdteilen,
die zu unterschiedlichen Epochen blühten. Es waren drei Kulturen,
die ein gemeinsames Wissen auf dem Gebiet der Naturwissenschaft,
der Kosmologie und der Mathematik besaßen und die es dazu
benutzten, um geheimnisvolle architektonische Wunder zu erschaffen.
Jede dieser Bauten aber entstand zu einem einheitlichen,
verborgenen Zweck.
Die ältesten dieser Bauten sind die Pyramiden von
Giseh und ihre zeitlose Wächterin, die Sphinx. Im Nordwesten des
Tempels, der als >Haus des Osiris< bezeichnet wird, liegt
diese herrliche Kalksteinfigur eines Löwen mit Menschenkopf. Sie
ist die größte Skulptur der Erde, sechs Stockwerke hoch und 72
Meter lang. Auch dieses Wesen ist eine kosmische Markierung, da
sein Blick genau nach Osten gerichtet ist, als warte es auf den
Sonnenaufgang.
Wie alt ist der Komplex von Giseh? Die Ägyptologen
schwören auf das Datum 2475 v.Chr., das zufällig mit
der volkstümlichen Überlieferung Ägyptens übereinstimmt. Lange
Zeit galt es als unangreifbar, weil weder die Große Pyramide noch
die Sphinx irgendwelche Spuren aufwiesen, die eine Datierung
ermöglicht hätten.
So dachte man jedenfalls.
Das änderte sich mit dem Auftritt des
amerikanischen Forschers John Anthony West. West fand heraus, dass
der knapp acht Meter tiefe Graben, der die Sphinx umgibt, ebenso
wie der Körper der Skulptur eindeutige Erosionsspuren aufweist.
Weitere Untersuchungen eines Teams aus Geologen ergaben, dass weder
Wind noch Sand diese Spuren hinterlassen haben können, sondern nur
starker Regen.
Die letzte Epoche, in der im Niltal die
entsprechenden klimatischen Bedingungen herrschten, liegt etwa
13000 Jahre zurück. Sie stand noch unter den Auswirkungen der
großen Flut - der Sintflut -, die am Ende der letzten Eiszeit
eintrat. Um 10450 v.Chr. war die Region von Giseh nicht nur
fruchtbar und grün - ihr Osthimmel lag auch genau gegenüber der
Figur der Sphinx, die dem Sternbild Löwe nachgebildet ist.
Während West und seine Kollegen ihre Forschungen
durchführten, entdeckte der belgische Bauingenieur Robert Bauval,
dass die drei Pyramiden von Giseh - von oben gesehen genau so
angeordnet sind, dass sie den drei Sternen im Gürtel des Orion
entsprechen.
Mithilfe eines umfangreichen Computerprogramms, das
alle Präzessionsbewegungen aus jeder Perspektive des Nachthimmels
an jedem geografischen Ort berechnen konnte, entdeckte Bauval
Folgendes: 2475 v. Chr. hat es zwar eine gewisse Übereinstimmung
der Anordnung der Pyramiden von Giseh mit den Sternen im Gürtel des
Orion gegeben, aber eine wesentlich exaktere Kongruenz ist bereits
10450 v. Chr. eingetreten. Zu diesem früheren Datum ist nicht nur
das dunkle Band der Milchstraße über Giseh erschienen, es hat auch
den Lauf des Flusses N il gespiegelt.

Wie bereits erwähnt, sahen die alten Maya die
Milchstraße als kosmische Schlange und deren dunkles Band als
Xibalba-Be, als Schwarze Straße zur Unterwelt. Sowohl im
Maya-Kalender wie im Popol Vuh wird deutlich, dass die Vorstellung
von Schöpfung und Tod ihren Ursprung in diesem kosmischen
Geburtskanal hat.
Weshalb wurden die drei Pyramiden von Giseh nach
dem Gürtel des Orion ausgerichtet? Was für eine Bedeutung hat die
Präzessionszahl 4320? Aus welchem wahren Grund haben unsere
Vorfahren die Monumente von Giseh, die Pyramiden von Teotihuacán
und die Tempel von Angkor errichtet?
Wie sind diese drei Stätten mit der
Maya-Prophezeiung vom Weltuntergang verbunden?
Auszug aus dem Tagebuch von Prof. Julius
Gabriel
Vgl. Katalog 1993/94, Seite 3-108
Diskette 4, Datei: ORION-12
Diskette 4, Datei: ORION-12