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8. September 2012 Miami, Florida

Das Psychiatrische Zentrum von Südflorida ist ein siebenstöckiger weißer Betonbau, der sich, umgeben von immergrünen Hecken, inmitten eines verwahrlosten Minderheitenviertels westlich der City von Miami erhebt. Ebenso wie bei den meisten Geschäftsbauten der Gegend sind der Rand der Flachdächer und die Mauerkronen mit Rollen aus Stacheldraht geschützt. Hier dient der Draht allerdings nicht dazu, Eindringlinge fern zu halten; er soll die Insassen an der Flucht hindern.
Dominique Vazquez, einunddreißig Jahre alt, wechselt ständig die Fahrspur, um rascher durch den dichten Berufsverkehr zu kommen. Laut fluchend rast sie auf Route 441 nach Süden. Es ist der erste Tag ihres Praktikums, und schon kommt sie zu spät. Kaum hat sie die Einfahrt zum Besucherparkplatz erreicht, als sie das Steuer herumreißen muss, um einem Teenager auszuweichen, der ihr auf motorbetriebenen Skates in der falschen Richtung entgegenkommt. Sie stellt den Wagen ab und zieht ihr pechschwarzes, bis zur Hüfte reichendes Haar zu einem engen Knoten zusammen, während sie auf den Eingang zutrabt.
Magnetische Türflügel teilen sich und geben den Zugang zu einer klimatisierten Rezeption frei.
Eine Kubanerin Ende vierzig sitzt hinter dem Empfangstisch und studiert an einem millimeterdünnen Monitor von der Größe eines Telefonbuchs die Morgennachrichten. Ohne aufzublicken, fragt sie: »Kann ich was für Sie tun?«
»Ja. Ich habe eine Besprechung mit Margaret Reinike.«
»Na, da irren Sie sich wohl. Dr. Reinike ist hier nämlich nicht mehr tätig.« Die Frau drückt auf eine Taste, um den nächsten Artikel aufzurufen.
»Das verstehe ich nicht. Ich hab erst vor zwei Wochen mit Dr. Reinike gesprochen.«
Endlich hebt die Empfangsdame den Kopf. »Ihr Name?«
»Vazquez, Dominique Vazquez. Ich bin Doktorandin an der FSU und will hier ein einjähriges Praktikum machen. Dr. Reinike sollte mich betreuen.«
Die Frau greift nach dem Telefonhörer und tippt die Nummer einer Nebenstelle ein. »Dr. Foletta, eine junge Frau namens Domino Vass...«
»Vazquez. Dominique Vazquez.«
»Tschuldigung. Dominique Vazquez. Nein, Sir, sie ist hier unten an der Rezeption und behauptet, sie soll bei Dr. Reinike ein Praktikum machen. Ja, Sir.« Die Empfangsdame legt auf. »Setzen Sie sich doch da drüben hin. Dr. Foletta kommt in ein paar Minuten runter.« Sie dreht Dominique den Rücken zu, um sich wieder ihrem Nachrichtenmonitor zu widmen.
Zehn Minuten vergehen, bis ein großer Mann Ende fünfzig einen Flur entlangkommt.
Anthony Foletta sieht nicht so aus, als würde er in den Flur einer staatlichen Einrichtung gehören, die geisteskranke Kriminelle beherbergt. Besser könnte man ihn sich als Trainer der Verteidigerriege eines Footballteams vorstellen. Eine Mähne aus dichtem grauem Haar bedeckt einen Quadratschädel, der direkt auf den Schultern zu sitzen scheint. Zwischen schläfrigen Lidern und fleischigen Backen blinzeln blaue Augen hervor. Trotz seines Übergewichts ist der Oberkörper muskulös; der Bauch ragt nur ein kleines Stück aus dem offenen weißen Arztmantel.
Mit gezwungenem Lächeln streckt er Dominique seine Pranke entgegen.
»Anthony Foletta. Ich bin der neue Chefarzt der Psychiatrie.« Die Stimme ist tief und rau und erinnert an einen alten Rasenmäher.
»Was ist mit Dr. Reinike passiert?«
»Persönliche Gründe. Es heißt, bei ihrem Mann sei Krebs im Endstadium diagnostiziert worden. Da hat sie offenbar beschlossen, sich ein paar Jahre früher pensionieren zu lassen. Reinike hat Sie schon angekündigt. Falls Sie keine Einwände haben, werde ich Ihr Praktikum betreuen.«
»Keine Einwände.«
»Gut.« Er dreht sich um und marschiert wieder den Flur entlang. Dominique muss sich anstrengen, um Schritt zu halten.
»Dr. Foletta, wie lange sind Sie hier schon tätig?«
»Zehn Tage. Bisher war ich bei einer staatlichen Anstalt in Massachusetts beschäftigt.«
Sie nähern sich dem Wärter an der ersten Sperre. »Geben Sie dem Mann ihren Führerschein.«
Dominique kramt in ihrer Handtasche und überreicht dem Wärter die laminierte Karte, für die sie einen Besucherausweis erhält. »Benutzen Sie den vorläufig«, sagt Foletta. »Wenn Sie abends gehen, geben Sie ihn einfach wieder ab. Bis zum Wochenende besorgen wir Ihnen eine codierte Praktikantenmarke.«
Sie klemmt den Ausweis an ihre Bluse und folgt Foletta in den Aufzug.
Der Chefarzt hält drei Finger an eine Kamera über seinem Kopf. Die Türen schließen sich. »Sind Sie schon mal hier gewesen? Kennen Sie sich im Gebäude aus?«
»Nein. Dr. Reinike und ich haben nur telefonisch miteinander gesprochen.«
»Das Gebäude hat sieben Stockwerke. Im Erdgeschoss sind die Verwaltung und die Sicherheitszentrale untergebracht. Von dort aus werden auch die Aufzüge fürs Personal und die Insassen überwacht. Auf der zweiten Ebene befindet sich eine kleine Station für die Alten und unheilbar Kranken. Darüber liegen unsere Kantine und die anderen Aufenthaltsräume fürs Personal. Außerdem kommt man von hier aus zum Außengang, auf den Hof und in die Therapieräume. Auf den Ebenen vier, fünf, sechs und sieben wohnen die Patienten.« Foletta gluckst. »Dr. Blackwell bezeichnet sie als >Kunden<. Eine nette Umschreibung, wenn man daran denkt, dass man sie in Handschellen hier reinschleppt.«
Sie verlassen den Aufzug und kommen an einem Checkpoint vorbei, der genauso aussieht wie der im Erdgeschoss. Foletta winkt und geht einen kurzen Flur entlang, der zu seinem Arbeitszimmer führt. Hier stapeln sich überall Pappkartons, voll gestopft mit Unterlagen, gerahmten Diplomen und persönlichen Gegenständen.
»Entschuldigen Sie das Durcheinander, ich bin noch am Einräumen.« Foletta nimmt einen Computerdrucker von einem Sessel und fordert Dominique mit einer Geste auf, sich darauf niederzulassen. Dann zwängt er sich mühsam hinter seinen Schreibtisch und kippt den Ledersessel nach hinten, um seinem Bauch mehr Raum zu lassen.
Er schlägt ihre Akte auf. »Hmm... Sie promovieren also an der Florida State, sehe ich gerade. Gehen Sie da oft zum Football?«
»Eigentlich weniger.« Nutz deine Chance. »Sie sehen so aus, als hätten sie früher selbst ein wenig Football gespielt.«
Offenbar hat sie den richtigen Einstieg gefunden, denn Folettas pausbäckige Miene hellt sich auf. »Bei den >Fighting Blue Hens of Delaware<, Class of ’79. Ich hab als Tackle angefangen. Wenn ich mir gegen Lehigh nicht das Knie ruiniert hätte, wäre ich womöglich in die NFL vorgedrungen.«
»Wie sind Sie zur forensischen Psychiatrie gekommen?«
»Mein älterer Bruder hat unter einer pathologischen Obsession gelitten. Ist ständig mit dem Gesetz in Konflikt gekommen. Sein Psychiater hatte an der Uni von Delaware studiert und war ein großer Footballfan. Nach den Spielen hat ihn mein Bruder immer zu uns in die Umkleide mitgebracht, und als ich mir das Knie verletzt hatte, war er so nett an ein paar Strippen zu ziehen, um mir den Weg zum Medizinstudium zu ebnen.« Foletta beugt sich vor und legt Dominiques Akte auf den Tisch. »Aber jetzt sprechen wir mal ein wenig über Sie. Ich bin recht neugierig. Schließlich gibt es mehrere andere Institutionen, die näher an Ihrer Uni liegen als unsere. Wie sind Sie auf uns gekommen?«
Dominique räuspert sich. »Meine Eltern wohnen drüben in Sanibel. Das sind von hier aus nur zwei Autostunden. Bisher konnte ich leider nicht so oft nach Hause fahren.«
Foletta streicht mit seinem dicken Zeigefinger über ihre Akte. »Hier steht, Sie stammen ursprünglich aus Guatemala.«
»Stimmt.«
»Wie hat es Sie nach Florida verschlagen?«
»Meine Eltern - meine richtigen Eltern - sind gestorben, als ich erst sechs war. Da hat man mich zu einem Cousin nach Tampa geschickt.«
»Aber das ist nicht lange gut gegangen?«
»Ist das so wichtig?«
Foletta hebt den Kopf. Seine Augen sehen nicht mehr schläfrig aus. »Ich stehe nicht besonders auf Überraschungen, Ms. Vazquez. Bevor ich meinen Leuten Patienten zuweise, will ich über ihren psychischen Zustand Bescheid wissen. Die meisten Insassen machen uns nicht viel Probleme, aber man muss immer im Hinterkopf behalten, dass manche von ihnen gewalttätig werden könnten. Die Sicherheit meiner Leute steht für mich an erster Stelle. Was ist in Tampa vorgefallen? Weshalb sind Sie in einem Waisenhaus gelandet?«
»Sagen wir mal, die Sache mit meinem Cousin hat nicht allzu gut geklappt.«
»Hat er Sie vergewaltigt?«
Dominique ist verblüfft von seiner Direktheit. »Wenn Sie es unbedingt wissen müssen - ja. Da war ich gerade mal zehn Jahre alt.«
»Und dann kamen Sie in psychiatrische Behandlung?«
Sie erwidert seinen forschenden Blick. Bleib cool, er stellt dich auf die Probe. »Ja, bis zu meinem achtzehnten Lebensjahr.«
»Fällt es Ihnen schwer, darüber zu sprechen?«
»Es ist nun mal passiert, aber jetzt ist es vorbei. Bestimmt hat es meine Berufswahl beeinflusst, wenn Sie darauf hinauswollen.«
»Ihre Hobbys hat es offenbar auch beeinflusst. Hier steht, sie haben den zweiten Dan in Taekwondo. Wenden Sie Ihre Fähigkeiten manchmal an?«
»Nur bei Turnieren.«
Die Lider öffnen sich weit; die Intensität der blauen Augen zieht sie in den Bann. »Sagen Sie mal, Ms. Vazquez, taucht eigentlich das Gesicht Ihres Cousins vor Ihnen auf, wenn Sie Ihren Gegnern einen Tritt versetzen?«
»Manchmal.« Sie streicht eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Wen hatten Sie denn im Sinn, als Sie Football bei den >Fighting Blue Hens< gespielt haben?«
»Eins zu null für Sie.« Der Blick kehrt zu ihren Unterlagen zurück. »Gehen Sie oft aus?«
»Mein gesellschaftliches Leben interessiert Sie also auch?«
Foletta lehnt sich zurück. »Traumatische sexuelle Erfahrungen, wie Sie sie gemacht haben, führen oft zu sexuellen Störungen. Ich will einfach nur wissen, mit wem ich zusammenarbeite.«
»Ich habe keine Abneigung gegen Sex, wenn Sie das vermuten. Allerdings hab ich tatsächlich ein gesundes Misstrauen gegenüber zudringlichen Männern.«
»Das ist kein Reha-Zentrum hier, Ms. Vazquez. Um mit kriminellen Insassen umzugehen, brauchen Sie eine dickere Haut, als Sie womöglich meinen. Wir haben hier Männer, die sich einen Namen gemacht haben, weil sie nicht allzu zart mit hübschen Studentinnen wie Ihnen umgesprungen sind. Da Sie von der FSU kommen, wissen Sie wohl, was ich meine.«
Dominique atmet tief durch, um ihre angespannten Muskeln zu lockern. Verdammt, sei nicht so empfindlich und pass endlich auf. »Sie haben Recht, Dr. Foletta. Entschuldigung.«
Foletta klappt die Akte zu. »Ehrlich gesagt, hab ich eine spezielle Aufgabe für Sie im Sinn, aber ich muss mir absolut sicher sein, dass Sie dafür geeignet sind.«
Dominique horcht auf. »Probieren Sie’s mal.«
Foletta zieht einen dicken braunen Aktendeckel aus der obersten Schreibtischschublade. »Wie Sie wissen, hält man in dieser Anstalt viel von multidisziplinärer Teamarbeit. Jedem Patienten werden ein Psychiater, ein klinischer Psychologe, ein Sozialpädagoge, ein psychiatrischer Pfleger und ein Rehabilitationstherapeut zugeteilt. Als ich hier angekommen bin, hab ich zuerst gedacht, das wäre etwas übertrieben, aber das Ergebnis hat mich überzeugt - besonders in den Fällen, in denen es um Drogenabhängige geht und um Leute, die wir auf ein anstehendes Gerichtsverfahren vorbereiten müssen.«
»In diesem Fall liegt die Sache aber anders?«
»Genau. Der Insasse, den Sie betreuen sollen, ist ein Patient von mir. Er stammt aus der Anstalt, in dem ich als Chef der psychologischen Betreuung fungiert habe.«
»Das versteh ich nicht. Sie haben ihn einfach mitgebracht?«
»Die Institution, von der ich komme, erhält seit sechs Monaten keine öffentlichen Gelder mehr. Für ein Leben in der Gesellschaft ist er keinesfalls geeignet, weshalb er irgendwohin verlegt werden musste. Da ich mich mit seiner Geschichte besser auskenne als irgendjemand anders, hab ich gedacht, es wäre weniger traumatisch für alle Betroffenen, wenn er weiter in meiner Obhut bleibt.«
»Wer ist das?«
»Haben Sie schon mal von Professor Julius Gabriel gehört?«
»Gabriel?« Der Name klang vertraut. »Moment mal - war das nicht der Archäologe, der vor ein paar Jahren bei einem Vortrag in Harvard tot umgefallen ist?«
»Vor über zehn Jahren.« Foletta grinst. »Nachdem er drei Jahrzehnte lang von Forschungsgeldern gelebt hatte, ist Julius Gabriel in die Staaten zurückgekehrt, hat sich vor einen Saal voller Kollegen gestellt und behauptet, die alten Ägypter und Maya hätten ihre Pyramiden mit Unterstützung von Außerirdischen gebaut - und zwar, um die Menschheit vor der Vernichtung zu bewahren. Können Sie sich das vorstellen? Das Publikum hat ihn mit brüllendem Gelächter einfach von der Bühne getrieben. Wahrscheinlich ist er an der Demütigung gestorben.« Folettas Wangen zittern, während er vor sich hin gluckst. »Julius Gabriel war ein echtes Musterbeispiel für paranoide Schizophrenie.«
»Und wer ist der Patient?«
»Sein Sohn.« Foletta schlägt die Akte auf. »Michael Gabriel, vierunddreißig Jahre alt. Wird lieber Mick genannt. Die ersten fünfundzwanzig Jahre seines Lebens hat er damit verbracht, seine Eltern bei archäologischen Ausgrabungen zu begleiten. So was hätte wahrscheinlich ausgereicht, um jedes Kind psychotisch zu machen.«
»Weshalb hat man ihn eingesperrt?«
»Beim letzten Vortrag seines Vaters ist er ausgerastet. Das Gericht hat die gestellte Diagnose - paranoide Schizophrenie - anerkannt und ihn ins psychiatrische Gefängnis von Massachusetts geschickt, wo ich als klinischer Psychiater tätig war. Dort ist er auch geblieben, als man mich vor sechs Jahren zum Direktor befördert hat.«
»Dieselben Wahnvorstellungen wie sein Vater?«
»Natürlich. Vater und Sohn waren - beziehungsweise sind - beide davon überzeugt, dass irgendeine furchtbare Katastrophe alles menschliche Leben auf der Erde auslöschen wird. Außerdem leidet Mick am üblichen Verfolgungswahn, der hauptsächlich vom Tod seines Vaters und seiner eigenen Haft ausgelöst wurde. Er behauptet, eine politische Verschwörung sei Schuld daran, dass man ihn seit so vielen Jahren unter Verschluss hält. Aus seiner eigenen Perspektive ist Mick Gabriel ein Opfer par excellence, ein unschuldiger Mensch, der die Welt retten will, sich aber in den unmoralischen Ambitionen eines selbstsüchtigen Politikers verfangen hat.«
»Tut mir Leid, den letzten Satz hab ich nicht ganz kapiert.«
Foletta blättert in der Akte und fischt eine Reihe Polaroid-Aufnahmen aus einem braunen Umschlag. »Das ist der Mann, über den er hergefallen ist. Schauen Sie sich das Bild hier gut an, Ms. Vazquez, aber passen Sie auf, dass Ihnen nicht schlecht wird.«
Es ist die Nahaufnahme eines übel zugerichteten männlichen Gesichts. Die rechte Augenhöhle ist mit Blut bedeckt.
»Mick hat das Mikrofon aus dem Pult gerissen und das Opfer damit bewusstlos geschlagen. Dabei hat der arme Mann ein Auge verloren. Ich glaube, Sie kennen den Namen des Opfers. Pierre Borgia.«
»Borgia? Wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Der Außenminister?«
»Das war vor fast elf Jahren, noch bevor Borgia zum Vertreter der USA bei den Vereinten Nationen ernannt wurde. Damals wollte er gerade Senator werden. Manche Leute meinen, der Angriff habe ihm bei der Wahl geholfen. Bekanntlich hatte die Familie, aus der er stammt, schon immer großen politischen Einfluss, aber bevor man ihn auf die politische Bühne geschoben hat, war Borgia offenbar ein respektabler Wissenschaftler. Er und Julius Gabriel haben gemeinsam in Cambridge promoviert und - ob Sie’s glauben oder nicht - anschließend fünf oder sechs Jahre lang Seite an Seite in alten Ruinen gestöbert, bis es zu einem üblen Zerwürfnis kam. Irgendwann hat die Familie Borgias ihn dazu gebracht, in die Staaten zurückzukehren, um in die Politik zu gehen, aber das hat den Konflikt zwischen ihm und Gabriel keineswegs beendet.«
Foletta macht eine kleine Pause, dann fährt er fort. »Interessanterweise war es Borgia, der den Vortrag von Gabriel eingeleitet hat. Dabei hat er wahrscheinlich ein paar Dinge gesagt, die er nicht hätte sagen sollen und die das Publikum zusätzlich aufgestachelt haben. Julius Gabriel hatte ein schwaches Herz. Als er hinter dem Podium tot umgefallen ist, hat Mick sich gerächt. Es hat sechs Cops gebraucht, um ihn von seinem Opfer abzubringen. Steht alles in den Akten.«
»Eigentlich klingt das mehr nach einem isolierten Gefühlsausbruch, verursacht von...«
»Eine derartige Wut braucht Jahre, um sich aufzustauen, Ms. Vazquez. Michael Gabriel war wie ein Vulkan, der darauf wartete, auszubrechen. Er war ein Einzelkind, das von zwei führenden Archäologen in den entlegensten Gebieten der Welt aufgezogen wurde. Tatsächlich hat er weder eine Schule besucht noch die Gelegenheit gehabt, mit anderen Kindern umzugehen. All das hat zu einem extremen Fall von antisozialer Persönlichkeitsstörung geführt. Teufel, Mick ist wahrscheinlich nie mit einem Mädchen auch nur ausgegangen. Alles, was er je gelernt hat, haben ihm seine einzigen Gefährten beigebracht - seine Eltern. Und von denen war mindestens ein Teil unzurechnungsfähig.«
Foletta überreicht ihr die Akte.
»Was ist aus seiner Mutter geworden?«
»Die ist an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben, als die Familie in Peru lebte. Aus irgendeinem Grund geht ihr Tod ihm immer noch nach. Ein oder zwei Mal im Monat wacht er schreiend auf. Üble Albträume.«
»Wie alt war Mick, als seine Mutter gestorben ist?«
»Zwölf.«
»Irgendeine Vermutung, weshalb ihr Tod noch immer ein derartiges Trauma für ihn darstellt?«
»Nein. Mick weigert sich, darüber zu sprechen.« Foletta setzt sich zurecht. Auf dem zu kleinen Sessel fühlt er sich sichtlich unbehaglich. »Ehrlich gesagt, Ms. Vazquez, mag Michael Gabriel mich nicht besonders.«
»Übertragungsneurose?«
»Nein. Die Beziehung zwischen Mick und mir war nie wirklich die von Arzt und Patient. Ich bin zu seinem Gefängniswärter geworden, zu einem Teil seiner Paranoia. Teilweise hat das zweifellos mit den ersten Jahren seiner Haft zu tun. Mick ist es sehr, sehr schwer gefallen, sich daran zu gewöhnen. Eine Woche vor der Untersuchung, bei der die ersten sechs Monate ausgewertet werden sollten, ist er über einen unserer Wärter hergefallen. Er hat ihm beide Arme gebrochen und ihm wiederholt in die Leisten getreten. Dabei hat er so viel Schaden angerichtet, dass beide Hoden entfernt werden mussten. Irgendwo in der Akte ist ein Foto, falls es Sie interessiert...«
»Nein, danke.«
»Als Strafe für diesen Übergriff hat er den größten Teil der vergangenen zehn Jahre in Einzelhaft verbracht.«
»Das hört sich ein bisschen streng an, nicht wahr?«
»Nicht da, wo ich herkomme. Mick ist wesentlich schlauer als die Männer, die wir einstellen, um ihn zu bewachen. Es ist am besten für alle Betroffenen, wenn er isoliert bleibt.«
»Wird er hier an Gruppenaktivitäten teilnehmen dürfen?«
»Hier hat man strenge Regeln für die Eingliederung der Insassen, aber vorläufig lautet die Antwort: nein.«
Dominique betrachtet noch einmal die Polaroid-Aufnahmen. »Inwiefern muss ich mir Gedanken darüber machen, ob dieser Kerl mich angreift?«
»In unserem Beruf, Ms. Vazquez, muss man sich immer Gedanken machen. Stellt Mick Gabriel eine Gefahr dar? Immer. Glaube ich, dass er Sie angreifen wird? Eher nicht. Die letzten zehn Jahre waren nicht leicht für ihn.«
»Wird man ihm je erlauben, ins normale Leben zurückzukehren?«
Foletta schüttelt den Kopf. »Nie. Dies ist die letzte Station auf Mick Gabriels Lebensweg. Er wird nie in der Lage sein, mit den Anforderungen fertig zu werden, die das Leben draußen mit sich bringt. Mick hat Angst.«
»Angst wovor?«
»Vor seiner eigenen Schizophrenie. Mick behauptet, er könne spüren, wie die Gegenwart des Bösen immer stärker wird. Sie nährt sich, meint er, von dem Hass und der Gewalt, die in der Gesellschaft herrschen. Seine Phobie erreicht immer dann ihren Höhepunkt, wenn wieder mal irgendein wütender Knabe sich die Waffe seines Vaters schnappt und in seiner Highschool Amok läuft. So was nimmt ihn wirklich mit.«
»Mich nimmt so was auch mit.«
»Aber nicht so. Mick wird zu einem Tiger.«
»Wird er sediert?«
»Wir geben ihm Zyprexa, zweimal täglich. Das reicht, um seine Aggression weitgehend zu beherrschen.«
»Und was soll ich nun mit ihm anfangen?«
»Nach dem Gesetzbuch dieses Staates muss er therapiert werden. Nutzen Sie die Gelegenheit, um ein paar wertvolle Erfahrungen zu sammeln.«
Er verbirgt etwas vor mir. »Ich freue mich über diese Chance, Dr. Foletta. Aber warum haben Sie ausgerechnet mich ausgesucht?«
Foletta drückt sich vom Schreibtisch ab und steht auf. Das Möbelstück ächzt unter seinem Gewicht. »Man könnte es für einen Interessenkonflikt halten, wenn ich - als Direktor dieser Anstalt - ihn ganz allein behandle.«
»Aber weshalb weisen Sie ihm nicht ein komplettes Team zu?«
»Unmöglich.« Foletta verliert sichtlich die Geduld. »Michael Gabriel ist immer noch mein Patient, und welche Therapieform am besten für ihn geeignet ist, bestimme ich, nicht irgend Kuratorium. Sie werden bald selbst herausbekommen, dass Mick ein ziemlicher Verstellungskünstler ist - recht clever, sehr redegewandt und sehr intelligent. Sein IQ beträgt fast hundertsechzig.«
»Das ist ziemlich ungewöhnlich für einen Schizophrenen, nicht wahr?«
»Ungewöhnlich, aber nicht ohne Präzedens. Worauf ich hinaus will: Mit einem Sozialarbeiter oder einem Reha-Spezialisten würde er nur spielen. Es braucht jemand mit Ihrer Ausbildung, um ihm auf die Schliche zu kommen.«
»Na schön. Wann lerne ich ihn kennen?«
»Jetzt gleich. Man bringt ihn gerade in einen Beobachtungsraum, damit ich Ihre erste Begegnung observieren kann. Ich hab ihm heute Morgen schon von Ihnen erzählt. Er freut sich darauf, mit Ihnen zu sprechen. Aber passen Sie auf.«
 
Die obersten vier Stockwerke der Anstalt, von deren Personal als >Einheiten< bezeichnet, beherbergen jeweils achtundvierzig Insassen. Jede Einheit ist in einen Nordund einen Südflügel unterteilt und jeder Flügel in drei Stationen. Eine Station besteht aus einem kleinen Aufenthaltsbereich mit Sofas und einem Fernseher, um den sich acht Einzelzellen gruppieren. Jedes Stockwerk ist mit einer eigenen Sicherheitszentrale und einer Station für die Pfleger ausgestattet. Fenster gibt es keine.
Foletta und Dominique fahren im Personalaufzug in den sechsten Stock. An der Zentrale unterhält sich ein schwarzer Wärter mit einer Pflegerin. Der Beobachtungsraum liegt zu seiner Linken.
Der Direktor begrüßt den Wärter und stellt ihm die neue Praktikantin vor. Er heißt Marvis Jones und hat freundliche braune Augen, die ein durch Erfahrung gewonnenes Selbstvertrauen ausstrahlen. Dominique fällt auf, dass er unbewaffnet ist. Foletta erklärt, dass auf den Wohnebenen keinerlei Waffen zugelassen sind.
Marvis führt die beiden durch die Zentralstation zu einem einseitig verspiegelten Fenster, durch das man in den Beobachtungsraum blicken kann.
Michael Gabriel hockt auf dem Boden und hat sich mit dem Rücken an die hintere Wand gelehnt, direkt gegenüber dem Fenster. Er trägt ein weißes T-Shirt und passende Hosen. Mit seinem muskulösen Oberkörper sieht er erstaunlich fit aus. Er ist hoch gewachsen, einen Meter fünfundneunzig groß, und wiegt etwa hundert Kilo. Sein dunkelbraunes, relativ langes Haar geht an den Spitzen in Locken über; sein hübsches Gesicht ist glatt rasiert. Eine acht Zentimeter lange Narbe verläuft nahe des Ohrs über den rechten Unterkiefer. Den Blick hat er auf den Boden geheftet.
»Der sieht aber nett aus.«
»Das war bei Ted Bundy auch der Fall«, sagt Foletta, »und der hat sechzig Frauen umgebracht. Also, ich beobachte Sie von hier aus. Bestimmt wird Mick seinen Charme spielen lassen, weil er Eindruck auf Sie machen will. Wenn ich das Gefühl habe, dass es reicht, schicke ich die Schwester rein, um ihm sein Medikament zu verabreichen.«
»Okay.« Ihre Stimme zittert. Bleib locker, verflucht noch mal.
Foletta lächelt. »Sind Sie nervös?«
»Nein, nur ein bisschen aufgeregt.«
Sie tritt aus der Zentrale und gibt Marvis mit einem Zeichen zu verstehen, dass er die Tür zum Beobachtungsraum aufschließen soll. Als die Tür aufgeht, regt sich ein flaues Gefühl in ihrem Magen. Sie bleibt einen Moment stehen, bis ihr Puls sich beruhigt hat, dann tritt sie ein. Mit einem Schauder registriert sie, wie die Tür mit einem zweifachen Klicken hinter ihr verschlossen wird.
Der Beobachtungsraum ist drei mal vier Meter groß. Direkt vor Dominique ist ein eisernes Bettgestell an Boden und Wand befestigt. Eine dünne Auflage dient als Matratze. Gegenüber dem Bett steht ein einzelner Stuhl, der ebenfalls am Boden befestigt ist. Eine Rauchglasscheibe an der Wand zu ihrer Rechten lässt keinen Zweifel daran, dass es sich um das Beobachtungsfenster handelt. Das Zimmer riecht nach Desinfektionsmitteln.
Mick Gabriel ist aufgestanden und hält den Kopf leicht geneigt, sodass sie ihm nicht in die Augen blicken kann.
Dominique streckt ihm die Hand entgegen und zwingt sich zu einem Lächeln. »Dominique Vazquez.«
Mick hebt den Kopf und lächelt ebenfalls. Tierhafte Augen werden sichtbar, so unergründlich schwarz, dass nicht zu erkennen ist, wo die Pupillen enden und wo die Iris beginnt.
»Dominique Vazquez. Dominique Vazquez.« Der Patient spricht jede Silbe bedächtig aus, als wolle er sie in sein Gedächtnis schweißen. »Es ist wirklich schön, Sie...«
Mit einem Mal verschwindet das Lächeln und der starre Gesichtsausdruck wird leer.
Dominique spürt das Blut in ihren Ohren pochen. Bleib ruhig. Beweg dich nicht.
Mick schließt die Augen. Etwas Unerwartetes geschieht mit ihm. Dominique sieht, wie sein Kiefer sich leicht hebt, wobei die Narbe hervortritt. Seine Nasenlöcher beben wie die eines Tieres, das seine Beute verfolgt.
»Darf ich näher kommen, bitte?« Die Worte sind ganz leise, fast ein Flüstern. Sie spürt, wie eine emotionale Barriere hinter der Stimme zu brechen beginnt.
Dominique kämpft gegen den Drang an, sich der Rauchglasscheibe zuzuwenden.
Die Augen öffnen sich wieder. »Ich schwöre beim Andenken meiner Mutter, dass ich Ihnen nichts antun werde.«
Pass auf seine Hände auf. Dann kannst du ihm das Knie reinrammen, wenn er sich auf dich stürzt. »Sie können näher kommen, aber keine plötzlichen Bewegungen, okay? Dr. Foletta beobachtet uns.«
Mick geht zwei Schritte auf sie zu und bleibt eine Armeslänge von ihr entfernt stehen. Er streckt den Kopf vor, schließt die Augen und atmet ein, als sei ihr Gesicht ein Glas exquisiten Weins.
Die Nähe des fremden Mannes lässt die Härchen auf ihren Armen sich aufrichten. Sie beobachtet, wie seine Gesichtsmuskeln sich entspannen. Verlässt er in Gedanken das Zimmer? Wasser steigt hinter den geschlossenen Augenlidern auf. Mehrere Tränen quellen hervor und rinnen ungehindert an seinen Wangen herab.
Einen kurzen Augenblick verleitet ihr mütterlicher Instinkt sie dazu, ihren Schutzschild sinken zu lassen. Spielt er mir etwas vor? Ihre Muskeln entspannen sich.
Mick öffnet die Augen, die nun schwarzen Seen gleichen. Die tierhafte Intensität ist verschwunden.
»Danke. Ich glaube, meine Mutter hat dasselbe Parfüm benutzt.«
Sie tritt einen Schritt zurück. »Es ist von Calvin Klein. Ruft das glückliche Erinnerungen in Ihnen wach?«
»Ein paar üble ebenfalls.«
Der Bann ist gebrochen. Mick tritt zu der Liege. »Möchten Sie lieber auf dem Stuhl oder auf dem Bett sitzen?«
»Ich nehme den Stuhl.« Er wartet, bis sie sich gesetzt hat, dann lässt er sich so auf dem Rand der Liege nieder, dass er sich mit dem Rücken an die Wand lehnen kann. Mick bewegt sich wie ein Athlet.
»Ich habe den Eindruck, es ist Ihnen gelungen, in Form zu bleiben.«
»Wenn man in Einzelhaft sitzt, kann man das durchaus schaffen - vorausgesetzt, die mentale Disziplin ist da. Ich mache täglich tausend Liegestützen und Situps.« Sie spürt, wie sein Blick über ihre Konturen gleitet. »Sie schauen aber auch recht sportlich aus.«
»Ich versuch’s zumindest.«
»Vazquez... Mit >s< oder mit >z<?«
»Mit >z<.«
»Aus Puerto Rico?«
»Ja. Mein... mein biologischer Vater ist in Arecibo aufgewachsen.«
»Da steht das größte Radioteleskop der Welt. Aber Ihr Akzent klingt nach Guatemala.«
»Da hab ich meine Kindheit verbracht.« Er hat das Gespräch völlig unter Kontrolle. »Offenbar sind Sie schon mal in Mittelarnerika gewesen?«
»Ich war in vielen Ländern.« Mick kreuzt die Beine zum Lotussitz. »Sie sind also in Guatemala aufgewachsen. Wie haben Sie denn ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten gefunden?«
»Meine Eltern sind gestorben, als ich noch ein Kind war. Da hat man mich zur Familie eines Cousins nach Florida geschickt. Aber jetzt reden wir mal über Sie.«
»Sie haben von Ihrem biologischen Vater gesprochen. Es ist also wichtig für Sie, ihn so zu definieren. Wer ist der Mann, den Sie als Ihren eigentlichen Vater bezeichnen würden?«
»Isadore Axler. Er und seine Frau haben mich adoptiert. Nach der Zeit bei meinem Cousin war ich eine Weile in einem Waisenhaus. Iz und Edith Axler sind wunderbare Menschen. Sie arbeiten beide als Meeresbiologen. Sie betreiben eine SOSUS-Station auf Sanibel Island.«
»SOSUS?«
»Das ist ein Unterwasser-Überwachungssystem, ein globales Netz aus unterseeischen Mikrofonen. Ursprünglich hat die Navy es während des Kalten Kriegs eingerichtet, um feindliche U-Boote aufzuspüren. Anschlie-βend haben es Biologen übernommen und benutzen es, um die Meeresfauna zu belauschen. Die Mikrofone sind so sensibel, dass man hören kann, wie eine Hunderte von Kilometern entfernte Walherde...«
Der durchdringende Blick unterbricht ihren Redefluss. »Weshalb sind Sie nicht bei Ihrem Cousin geblieben? Da muss doch irgendwas Traumatischen passiert sein, wenn Sie im Waisenhaus gelandet sind.«
Der ist ja noch schlimmer als Foletta. »Mick, eigentlich bin ich hier, um mich mit Ihnen über Ihre Probleme zu unterhalten.«
»Ja, aber vielleicht hab ich ebenfalls eine traumatische Kindheit hinter mir. Vielleicht könnte Ihre Geschichte mir helfen.«
»Das bezweifle ich. Schließlich hat sich alles zum Guten gewendet. Die Axlers haben mir meine Kindheit zurückgegeben und ich.:..«
»Aber nicht Ihre Unschuld.«
Dominique spürt, dass sie bleich wird. »Na schön, da uns jetzt beiden klar ist, dass Sie eine rasche Auffassungsgabe besitzen, wollen wir doch mal schauen, ob Sie Ihren erstaunlichen IQ auch für die Selbstbeobachtung nutzen können.«
»Sie meinen, damit es Ihnen möglich ist, mir zu helfen?«
»Vielleicht uns gegenseitig zu helfen.«
»Meine Akte haben Sie wohl noch nicht gelesen, oder?«
»Noch nicht, nein.«
»Wissen Sie, warum Direktor Foletta mich Ihnen zugewiesen hat?«
»Wie wär’s, wenn Sie mir das erklären?«
Mick starrt auf seine Hände. Offenbar denkt er über seine Antwort nach. »Es gibt da eine Studie, verfasst von einem Psychologen namens Rosenhan. Haben Sie die gelesen?«
»Nein.«
»Würde es Ihnen was ausmachen, sie zu lesen, bevor wir das nächste Mal zusammenkommen? Ich bin sicher, dass Dr. Foletta in einer der Pappkisten, die er als sein Archiv bezeichnet, eine Kopie davon aufbewahrt.«
Sie lächelt. »Wenn es wichtig für Sie ist, werde ich sie lesen.«
»Danke.« Er beugt sich vor. »Ich mag Sie, Dominique. Wissen Sie, weshalb ich Sie mag?«
»Nein.« Das bleiche Spiegelbild der Neonröhren tanzt in seinen Augen.
»Ich mag Sie, weil Sie noch nicht durch die Arbeit in einer solchen Anstalt abgeschliffen sind. Sie wirken noch frisch und das ist wichtig für mich, weil ich Ihnen wirklich vertrauen will. Jetzt geht das nicht, zumindest nicht in diesem Zimmer, in dem Foletta uns beobachtet. Au-βerdem glaube ich, dass Sie sich womöglich mit einigen der Erlebnisse, die ich hinter mir habe, identifizieren können. Deshalb würde ich gern über viele Dinge mit Ihnen sprechen, über sehr wichtige Dinge. Meinen Sie, wir können uns das nächste Mal privat unterhalten? Vielleicht unten im Hof?«
»Ich werde Dr. Foletta fragen.«
»Erinnern Sie ihn an die Regeln dieser Institution, wenn Sie das tun. Würden Sie ihn außerdem bitten, Ihnen das Tagebuch meines Vaters zu überlassen? Wenn Sie mich therapieren sollen, ist es für mich von entscheidender Bedeutung, dass Sie es lesen. Könnten Sie mir diesen Gefallen erweisen?«
»Ich werde es sehr gerne lesen.«
»Danke. Könnten Sie das bald tun, vielleicht übers Wochenende? Ich möchte Ihnen zwar ungern gleich Hausaufgaben geben, vor allem, weil das Ihr erster Tag hier ist, aber es ist extrem wichtig, dass Sie es sofort lesen.«
Die Tür geht auf und eine Schwester tritt ein. Draußen steht der Wärter und beobachtet die Szene. »Zeit für Ihre Pille, Mr. Gabriel.« Die Schwester reicht ihm einen Pappbecher mit Wasser und eine weiße Tablette.
»Mick, ich muss jetzt wieder gehen. War schön, Sie kennen zu lernen. Ich werde versuchen, meine Hausaufgaben bis Montag zu erledigen, okay?« Sie steht auf und wendet sich der Tür zu.
Mick starrt auf die Tablette. »Dominique, Ihre Familie mütterlicherseits... Die stammt von den Quiché-Maya ab, stimmt’s?«
»Von den Maya? Ich... hab keine Ahnung.« Er weiß, dass du lügst. »Ich meine, möglich wär es schon. Aber meine Eltern sind gestorben, als ich noch ganz...«
Plötzlich hebt sich sein Blick. Die Wirkung ist entwaffnend. »Vier Ahau, drei Kankin. Sie wissen doch, was für ein Tag das ist, nicht wahr, Dominique?«
Ach, du Scheiße... »Ich... also, bis bald.« Dominique schiebt sich an dem Wärter vorbei und verlässt das Zimmer.
Michael Gabriel legt sich bedächtig die Tablette in den Mund. Dann leert er den Becher Wasser und zerknüllt ihn in der linken Hand. Er öffnet den Mund, damit die Schwester ihn mit einem Spatel und einer bleistiftdünnen Taschenlampe untersuchen kann, um sich zu vergewissern, dass er das Medikament geschluckt hat.
»Danke, Mr. Gabriel. Der Wärter wird Sie in ein paar Minuten in Ihr Zimmer zurückbringen.«
Michael bleibt auf der Liege sitzen, bis die Schwester die Tür hinter sich geschlossen hat. Dann steht er auf, tritt zur hinteren Wand und wendet dem Fenster den Rücken zu. Unauffällig fischt er mit dem Zeigefinger der linken Hand die weiße Tablette aus dem leeren Becher und lässt sie in seine Handfläche gleiten. Dann hockt er sich mit gekreuzten Beinen auf den Boden und wirft den zerknüllten Becher aufs Bett, während er die Tablette in seinem Schuh verschwinden lässt.
Das Zyprexa wird er später ordentlich in der Toilette entsorgen, wenn er wieder in seiner Zelle ist.
2012 - Schatten der Verdammnis
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