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27. November 2012 Sanibel Island, Florida

Beim schrillen Schrei einer Möwe schlägt Mick die Augen auf.
Er liegt in einem Doppelbett; seine Handgelenke sind links und rechts am Rahmen festgebunden. Der linke Unterarm ist dick bandagiert, im rechten steckt eine Infusionskanüle.
Mick sieht, dass er sich in einem Schlafzimmer befindet. An der Wand gegenüber tanzen Streifen aus goldenem Sonnenlicht, die durch die über seinem Kopf raschelnde Jalousie fallen. Er riecht die salzige Luft, hört durch das offene Fenster die Meeresbrandung.
Eine grauhaarige, etwa siebzig Jahre alte Frau betritt das Zimmer. »Ah, Sie sind wach.« Sie löst das Klettband an seinem rechten Handgelenk und überprüft den Infusionsbeutel.
»Sind Sie Edie?«
»Nein, ich bin Sue, die Frau von Carl.«
»Wer ist Carl? Was tue ich hier?«
»Wir dachten, es ist zu gefährlich, Sie zu Edie zu bringen. Dominique ist dort, und...«
»Dominique?« Mick versucht sich aufzusetzen, doch ein Schwindelgefühl drückt ihn wie eine schwere, unsichtbare Hand wieder aufs Bett.
»Nur mit der Ruhe, Junge. Sie werden Dominique noch früh genug sehen. Momentan wird sie von der Polizei überwacht, weil die darauf wartet, dass Sie bei ihr auftauchen.« Sie entfernt die Infusionskanüle und klebt ein Pflaster auf den Arm.
»Sind Sie Ärztin?«
»Ich hab achtunddreißig Jahre in der Zahnarztpraxis meines Mannes mitgeholfen.« Systematisch wickelt Sue den Infusionsschlauch auf.
Mick bemerkt ihre rot geränderten Augen.
»Was war das für eine Infusion?«
»Hauptsächlich Vitamine. Sie waren in einem ziemlich üblen Zustand, als sie vor zwei Tagen hier ankamen. Vor allem schlichtweg unterernährt; allerdings war auch ihr linker Arm schlimm zugerichtet. Jetzt haben Sie fast achtundvierzig Stunden geschlafen. Letzte Nacht hatten Sie wohl einen bösen Albtraum und haben im Schlaf geschrien. Ich musste Ihre Handgelenke festschnallen, damit die Kanüle drinblieb.«
»Danke. Und danke, dass Sie mich aus der Anstalt geholt haben.«
»Danken Sie Dominique.« Sue greift in die Tasche ihres Morgenmantels.
Mick fährt zusammen, als sie eine Magnum Kaliber.44 herauszieht. Sie richtet die Waffe auf seine Leistengegend.
»He, Moment mal...«
»Vor ein paar Tagen ist mein Mann ertrunken. Er war einer der drei Leute auf dem Boot von Isadore, die den Ort im Golf von Mexiko untersuchen wollten, von dem Sie Dominique erzählt haben. Was ist da drunten?«
»Das weiß ich nicht.« Er starrt auf den Revolver, der in den Händen der alten Frau zittert. »Könnten Sie die Waffe nicht vielleicht auf ein weniger wichtiges Organ richten?«
»Dominique hat uns alles über Sie erzählt - über Ihren durchgedrehten Vater und seine Weltuntergangsfantasien und weshalb man Sie eingesperrt hat. Mir persönlich ist es völlig egal, an was für ’ne Sorte apokalyptischen Blödsinn Sie glauben; ich will nur herausbekommen, was meinem Carl zugestoßen ist. Für mich sind Sie ein flüchtiger Verbrecher - und gefährlich. Wenn Sie mich auch nur schief anschauen, jage ich Ihnen eine Kugel in den Leib.«
»Ich hab kapiert.«
»Nein, Sie haben nicht kapiert. Dominique hat allerhand riskiert, um Sie zu befreien. Bisher deutet zwar alles, was mit Ihrer Flucht zu tun hatte, scheinbar darauf hin, dass Ihr Pfleger Mist gebaut hat. Damit wäre Dominique aus dem Schneider, aber die Polizei hat sie trotzdem noch immer in Verdacht. Man überwacht sie genau und das heißt, dass wir alle in Gefahr sind. Wie auch immer: Noch heute Abend werden wir Sie auf das Boot von Rex schmuggeln. An Bord ist auch ein Mini-U-Boot:..«
»Ein Mini-U-Boot?«
»Genau. Rex hat es benutzt, um versunkene Schiffe zu erforschen. Sie werden damit herausfinden, was sich da draußen unter dem Meeresboden verbirgt. Wenn Sie versuchen zu fliehen, lege ich Sie um und übergebe Ihre Leiche den Cops, um die Belohnung zu kassieren.«
Sie hebt das Laken am Fußende an. Sein linker Knöchel ist an den Bettpfosten gekettet.
»Jetzt haben Sie kapiert.«

Raumflugzentrum Goddard der NASA Greenbelt, Maryland

Widerwillig folgt Ennis Chaney einem NASA-Techniker den kahlen, weiß gekachelten Flur entlang.
Der Vizepräsident ist in keiner guten Stimmung. Die Vereinigten Staaten stehen an der Schwelle eines Krieges und da wäre sein Platz eigentlich an der Seite des Präsidenten und des Vereinigten Generalstabs. Stattdessen erwartet man von ihm, Gewehr bei Fuß zu stehen, wenn der NASA-Direktor ihn ruft. Da lässt Einauge mich bestimmt wieder irgendeinem Fantom hinterherjagen...
Zu seiner Überraschung ist ein Wachmann an der Tür des Konferenzraums postiert. Als er Chaney erblickt, tippt er einen Code ein und öffnet die Tür. »Treten Sie ein, Sir, man erwartet Sie schon.«
Am Kopfende des Konferenztischs sitzt NASA-Direktor Brian Dodds, flankiert von Marvin Teperman und einer Frau Ende dreißig, die einen weißen Arztmantel trägt.
Chaney bemerkt die dunklen Ringe um Dodds’ Augen.
»Herr Vizepräsident, bitte treten Sie ein. Vielen Dank, dass Sie so kurzfristig gekommen sind. Das ist Dr. Debra Aldrich, eine der besten Geophysikerinnen der NASA. Dr. Teperman kennen Sie wohl schon.«
»Tag, Teperman. Dodds, ich hoffe, dass die Sache wichtig ist, sonst...«
»Das ist sie. Setzen Sie sich, Sir - bitte.« Dodds berührt eine Taste auf dem Schaltpult vor ihm. Im Raum wird es dunkler, während ein holografisches Bild des Golfs von Mexiko über dem Tisch erscheint.
»Dieses Bild hat SEASAT aufgenommen, ein ozeanografischer Beobachtungssatellit der NASA. Auf Ihre Anregung hin haben wir damit begonnen, den Golf von Mexiko absuchen zu lassen, um den Ursprung der schwarzen Flut zu bestimmen.«
Chaney sieht, wie das Bild springt. Dann stellt die Kamera sich auf einen Ausschnitt der Meeresoberfläche ein, der von einem gepunkteten weißen Kreis umrahmt wird.
»Mit X-Band Synthetic Aperture Radar ist es uns gelungen, die schwarze Flut zu diesen Koordinaten zurückzuverfolgen. Es handelt sich um ein Gebiet etwa fünfundfünfzig Kilometer nördlich der Halbinsel Yukatan. Und nun schauen Sie bitte genau hin.«
Dodds drückt eine andere Taste. Das holografische Meer löst sich in helle grüne und blaue Flecken auf, in deren Zentrum ein leuchtend weißer Lichtkreis sichtbar ist. An seinen Rändern nimmt die Farbe an Intensität ab und wird erst gelb und dann rot. »Hier sehen wir eine Thermalaufnahme des Zielgebiets. Wie Sie erkennen können, befindet sich etwas sehr Großes da unten, das gewaltige Mengen Hitze abstrahlt.«
»Zuerst dachten wir, wir hätten einen Unterwasservulkan entdeckt«, fügt Dr Aldrich hinzu, »aber den geologischen Untersuchungen zufolge, die die nationale Ölgesellschaft Mexikos durchgeführt hat, gibt es in dieser Region keinerlei Vulkane. Nach ein paar weiteren Tests haben wir festgestellt, dass dieser Ort eine starke elektromagnetische Energie ausstrahlt. An sich ist das nicht besonders auffällig, da er fast direkt im Zentrum des Chicxulub-Kraters liegt, der für starke Magnet- und Gravitationsfelder bekannt ist.«
Chaney hebt die Hand. »Entschuldigen Sie, wenn ich Sie unterbreche, Dr Aldrich. Für Leute wie Sie ist dieses Thema zweifellos recht faszinierend, aber...«
Teperman packt den hohen Politiker am Handgelenk. »Wir versuchen gerade, Ihnen zu erklären, dass da unten etwas präsent ist, Mr. Chaney, etwas viel Wichtigeres als Ihr Krieg. Mr. Dodds, der Vizepräsident ist ein viel beschäftigter Mann. Vielleicht sollten Sie die gradiometrischen Daten überspringen und gleich zur akustischen Tomografie übergehen.«
Dodds wählt ein anderes Hologramm. Die Farbflecken lösen sich in eine Schwarzweißaufnahme des Meeresbodens auf. In der aufgebrochenen Fläche ist ein schwarzer Fleck zu sehen, offensichtlich eine in die Tiefe führende Öffnung, die an einen Tunnel denken lässt.
»Sir, die akustische Tomografie ist eine Aufnahmetechnik, bei der akustische Strahlung - in diesem Fall Ultraschallwellen - durch den Meeresboden gesendet wird, um darunter befindliche Objekte erkennbar zu machen.«
Staunend sieht Chaney, wie sich ein gewaltiges ovales Objekt unterhalb der größeren Öffnung abzuzeichnen beginnt. Dodds verändert das Bild, indem er das dreidimensionale Objekt vom Meeresboden wegholt, sodass es frei über den Köpfen der Anwesenden schwebt.
»Was ist denn das?«, fragt Chaney mit heiserer Stimme. Teperman grinst. »Nichts weiter als die fantastischste Entdeckung in der Geschichte der Menschheit.«
Die ovale Masse schwebt direkt über Chaneys Kopf. »Was faseln Sie da, Teperman? Was, zum Teufel, ist das für ein Ding?«
»Mr. Chaney, vor fünfundsechzig Millionen Jahren ist ein gewaltiges Objekt mit einer Geschwindigkeit von mehr als fünfzig Kilometern pro Sekunde in ein seichtes tropisches Meer eingeschlagen. Es hatte einen Durchmesser von elf bis dreizehn Kilometern und ein Gewicht von etwa einer Billion Tonnen. An der Aufschlagstelle breitet sich heute der Golf von Mexiko aus. Was wir da vor uns sehen, sind die Überreste des Objekts, das auf unseren Planeten aufgeprallt ist und das Ende der Dinosaurier besiegelt hat.«
»Hören Sie mal, Teperman, dieses Ding ist riesengroß. Wie hätte so was Großes einen derartigen Aufprall überstehen können?«
»Zum größten Teil hat es ihn ja nicht überstanden. Das, was Sie sehen, hat lediglich einen Durchmesser von etwa eineinhalb Kilometern, was einem Achtel der ursprünglichen Größe entspricht. Unter Wissenschaftlern debattiert man schon seit Jahren, ob das Objekt, das die Erde getroffen hat, ein Komet oder ein Asteroid war. Aber was ist, wenn beides nicht zutrifft?«
»Hören Sie auf, in Rätseln zu sprechen!«
Teperman blickt gebannt auf das rotierende holografische Bild. »Was wir da sehen, ist ein einheitliches Gebilde, das aus Iridium und irgendwelchen unbekannten Legierungen besteht und mehr als eineinhalb Kilometer tief im Meeresboden vergraben liegt. Die Außenhülle ist viel zu dick, als dass die Sensoren unserer Satelliten sie durchdringen könnten...«
»Die Außenhülle?« Chaney treten fast die Augen aus dem Kopf. »Wollen Sie etwa sagen, dass dieses vergrabene Ding ein Raumschiff ist?«
»Zumindest die Überreste eines Raumschiffs, vielleicht sogar eine separate Innenkapsel, die in dem Fahrzeug gelegen hat wie ein Korken in einem Golfball. Was immer es ist oder war, es hat den Aufprall überstanden, bei dem der Rest des Fahrzeugs sich in seine Bestandteile aufgelöst hat.«
Dodds hebt die Hand. »Moment mal, Dr. Teperman. Herr Vizepräsident, das sind nichts als Vermutungen.«
Chaney fixiert den NASA-Direktor. »Ja oder nein, Mr. Dodds - ist dieses Ding ein Raumschiff?«
Dodds wischt sich den Schweiß von der Stirn. »Momentan wissen wir das einfach nicht.«
»Dieses Loch im Meeresboden - führt es zu diesem Raumschiff?«
»Das wissen wir auch nicht.«
»Verdammt, Dodds, was zum Teufel wissen Sie eigentlich?«
Der NASA-Direktor atmet durch. »Zum einen wissen wir, dass wir unbedingt Schiffe in das betreffende Gebiet entsenden müssen, bevor ein anderes Land auf diese vergrabene Masse aufmerksam wird.«
»Sie reden um den heißen Brei herum wie ein Politiker, Mr. Dodds, obwohl Sie wissen, dass mir so was zuwider ist. Da ist doch was, was Sie mir nicht sagen wollen. Was ist es?«
»Tut mir Leid. Ja, Sie haben Recht, das ist durchaus nicht alles. Wahrscheinlich bin ich selbst noch ein wenig betäubt von dieser Sache. Manche von uns, darunter auch ich, sind inzwischen der Meinung, dieses Radiosignal aus dem Weltraum, das wir empfangen haben, sei gar nicht für uns gedacht gewesen. Es... es könnte dazu gedient haben, irgendetwas innerhalb dieses außerirdischen Objekts auszulösen.«
Chaney starrt Dodds ungläubig an. »Mit >auslösen< meinen Sie >aufwecken<?«
»Nein, Sir. Eher aktivieren.«
»Aktivieren? Was soll das heißen?«
Debra Aldrich entnimmt ihrem Aktenordner einen sechsseitigen Bericht. »Sir, dies ist eine Kopie eines SOSUS-Berichts, den ein Biologe aus Florida vor einem Monat ans Seefahrtsamt geschickt hat. Es geht darin um nicht identifizierbare Geräusche, die im Chicxulub-Krater aus dem Meeresboden dringen. Leider hat sich die Behörde ziemlich viel Zeit damit gelassen, diese Informationen zu überprüfen, aber inzwischen haben wir festgestellt, dass tatsächlich intensive Geräusche aus diesem verschütteten ovalen Gebilde kommen. In seinem Innern findet offenbar eine ebenso heftige wie komplexe Aktivität statt, die höchstwahrscheinlich mechanischer Natur ist.«
Der NASA-Direktor nickt. »Um der Sache auf den Grund zu gehen, haben wir die zentrale Empfangsstation der Navy in Nam Deck angewiesen, eine vollständige Analyse aller Geräusche mit hoher Phonzahl durchzuführen, die innerhalb der letzten sechs Monate im Golf von Mexiko aufgezeichnet wurden. Die betreffenden Geräusch vom Meeresboden sind zwar nur im Hintergrund hörbar, aber die Daten bestätigen, dass sie am dreiundzwanzigsten September eingesetzt haben, also genau an dem Tag, an dem das Radiosignal aus dem Weltraum die Erde erreichte.«
Chaney schließt die Augen und massiert sich die Schläfen. Er ist völlig erschüttert.
»Das ist noch nicht alles, Mr. Chaney.«
»Ach, du lieber Himmel, Teperman. Könnten Sie mir vielleicht ein wenig Zeit lassen, das Ganze zu verarbeiten, bevor Sie...? Schon gut, sprechen Sie weiter.«
»Tut mir Leid. Ich weiß, das ist ziemlich überwältigend.«
»Weiter!«
»Wir haben unsere Analyse der schwarzen Flut abgeschlossen. Sobald der Giftstoff in Kontakt mit organischem Gewebe kommt, greift er nicht einfach die Zellwände an, er verändert deren chemische Zusammensetzung auf molekularer Ebene. Dadurch werden die Zellwände vollständig aufgelöst. Dieses Zeug wirkt wie Säure und führt, wie wir ja selbst gesehen haben, zu einem völligen Ausbluten. Interessant daran ist Folgendes: Diese Substanz ist zwar weder ein Virus noch ein lebender Organismus, enthält aber starke Spuren von Silikon und eine bizarre DNA.«
»DNA? Mein Gott, Teperman, was soll das heißen?«
»Es ist nur eine Theorie...«
»Keine Spielchen mehr. Was ist das Zeug?«
»Zoologische Ausscheidung. Kot.«
»Kot? Sie meinen, es ist Scheiße?«
»Äh... ja, genauer gesagt außerirdische Scheiße - sehr alte außerirdische Scheiße. Der Schlick enthält Spuren chemischer Elemente, die unserer Meinung nach von einem Lebewesen stammen, und zwar von einer aus Silikon bestehenden Lebensform.«
Chaney lehnt sich zurück. Ihm dröhnt der Kopf. »Dodds, schalten Sie das verfluchte Hologramm aus. Ich bekomme Kopfschmerzen davon. Teperman, wollen Sie andeuten, dass sich da drunten womöglich noch etwas befindet, was am Leben ist?«
»Nein, durchaus nicht, Sir«, mischt Dodds sich ein.
»Ich frage Dr. Teperman.«
Der Angesprochene lächelt. »Nein, Herr Vizepräsident, darauf will ich nicht hinaus. Wie schon gesagt, ist dieser Kot - falls es sich tatsächlich um so etwas handelt - sehr alt. Selbst wenn ein außerirdisches Lebewesen den Aufprall überlebt haben sollte, war es sicher schon lange tot, als der Mensch sich auf der Erde ausgebreitet hat. Außerdem könnte ein aus Silikon bestehendes Lebewesen in einer sauerstoffhaltigen Umgebung wahrscheinlich nicht existieren.«
»Dann erklären Sie mir endlich, was da vor sich geht!«
»Na schön. So unglaublich es klingen mag, ist vor fünfundsechzig Millionen Jahren ein außerirdisches Raumschiff, das unserer heutigen Technologie offensichtlich um Lichtjahre voraus ist, auf die Erde geprallt. Dieser Aufprall war entscheidend für die Menschheitsgeschichte, da die Katastrophe zum Aussterben der Dinosaurier führte und damit die Evolution unserer eigenen Spezies ermöglichte. Die Lebewesen, die sich in diesem Fahrzeug befanden, haben möglicherweise einen Notruf in ihre Heimat gesandt, die sich wahrscheinlich irgendwo im Sternbild Orion befindet. Das wäre ein normaler Vorgang - unsere Astronauten würden dasselbe tun, wenn sie auf Alpha Centauri oder einer anderen, viele Lichtjahre entfernten Welt festsäßen. Eine Rettungsmission war wegen der Entfernung natürlich ausgeschlossen. Als unsere außerirdischen Kollegen im Oriongürtel den Notruf empfangen haben, konnten sie lediglich versuchen, die Computer an Bord ihres Raumschiffs zu reaktivieren, um möglichst viele Daten zu sammeln.«
Dr. Aldrich nickt zustimmend. »Wahrscheinlich wurde der schwarze Schlick automatisch ausgestoßen, als das Signal irgendeinen unbekannten Rettungsmechanismus aktiviert hat.«
Der NASA-Direktor kann seine Erregung kaum verbergen. »Die Idee, eine Station auf dem Mond zu bauen, können wir vergessen. Wenn Mr. Teperman Recht hat, sollten wir uns Zugang zu diesem Raumschiff verschaffen und womöglich direkt mit den Außerirdischen kommunizieren - mithilfe ihrer eigenen Geräte.«
»Vorausgesetzt, dass der Planet, von dem das Raumschiff stammt, noch existiert«, wendet Teperman ein. »Womöglich ist das Radiosignal schon vor Millionen von Jahren ausgestrahlt worden. Inzwischen könnte die Sonne des betreffenden Planeten längst zur Supernova geworden sein.«
»Ja, ja, da haben Sie natürlich Recht. Eigentlich will ich nur darauf hinaus, dass wir die unglaubliche Chance haben, Zugang zu weit fortgeschrittenen Technologien zu gewinnen, die sich in diesem Raumschiff womöglich erhalten haben. Das reiche Wissen, das eventuell da drunten ruht, könnte unsere Zivilisation einen gewaltigen Schritt vorwärts bringen.«
Der Vizepräsident spürt, dass seine Hände zittern. »Wer weiß inzwischen Bescheid?«
»Nur die Anwesenden und eine Hand voll weiterer NASA-Mitarbeiter.«
»Was ist mit diesem SOSUS-Biologen in Florida?«
»Der ist tot«, sagt Aldrich. »Die mexikanische Küstenwache hat vor ein paar Tagen seine Leiche aus dem Meer gefischt. Sie war mit schwarzem Schlick bedeckt.«
Chaney flucht lautlos vor sich hin. »Na schön, natürlich muss ich sofort den Präsidenten unterrichten. Außerdem muss jeder öffentliche Zugang zu SOSUS augenblicklich unterbunden werden. Sämtliche Informationen werden auf den unmittelbar beteiligten Personenkreis beschränkt. Von nun an ist diese Operation streng geheim, verstanden?«
»Was ist mit Satellitenaufnahmen?«, meldet sich Aldrich. »Das Objekt ist zwar nur ein winziger Punkt im Golf von Mexiko, aber doch ziemlich auffällig. Irgendwann wird ein GEOS- oder SPOT-Satellit darauf stoßen. Abgesehen davon geben wir dem Rest der Welt ohnehin einen deutlichen Wink, wenn wir die Navy oder auch nur ein Forschungsschiff dorthin beordern.«
Der NASA-Direktor nickt. »Sir, da hat Dr. Aldrich nicht Unrecht. Ich hätte aber einen Vorschlag, wie wir diese Operation geheim halten und unseren Wissenschaftlern trotzdem ungehindert Zugang zu dem verschaffen können, was da drunten ist.«

Washington, D.C. / Miami, Florida

Anthony Foletta schließt die Tür seines Arbeitszimmers von innen ab, bevor er sich an seinen Schreibtisch setzt, um das Ferngespräch entgegenzunehmen.
Auf dem Videokommunikator erscheint das Gesicht von Pierre Borgia. »Gibt es schon etwas Neues, Direktor?«
Foletta antwortet mit leiser Stimme. »Nein, Sir, aber die Polizei überwacht die junge Frau rund um die Uhr. Ich bin sicher, dass er irgendwann Kontakt zu ihr aufnehmen wird.«
»Irgendwann? Hören Sie, Foletta, Sie dürfen keinen Zweifel daran lassen, dass Gabriel gefährlich ist, verstehen Sie? Sagen Sie der Polizei, man soll gleich den finalen Fangschuss anordnen. Entweder er stirbt, oder Sie können die Leitung dieser Anstalt in Tampa abschreiben.«
»Gabriel hat niemand umgebracht. Sie wissen doch so gut wie ich, dass die Polizei ihn nicht erschießen wird.«
»Dann heuern Sie jemand an, der sich darum kümmert.«
Foletta blickt in seinen Schoß, als brauche er Zeit, um die Worte des Außenministers in sich aufzunehmen. In Wirklichkeit hat er diese Aufforderung erwartet, seit sein Patient entflohen ist. »Ich kenne womöglich jemand, der dazu in der Lage ist, aber das wird ziemlich teuer.«
»Wie viel?«
»Dreißigtausend. Plus Spesen.«
Borgia verzieht das Gesicht zu einem höhnischen Grinsen. »Sie sind ein miserabler Pokerspieler, Foletta. Ich schicke Ihnen zwanzig, keinen Cent mehr. In einer Stunde haben Sie das Geld.«
Der Wählton des Kommunikators ertönt.
Foletta schaltet das Gerät aus und vergewissert sich, dass das Gespräch aufgezeichnet wurde. Er lässt sich Zeit, seinen nächsten Schachzug zu überdenken. Dann nimmt er sein Handy aus der Schreibtischschublade und wählt Raymonds Piepser an.

Sanibel Island, Florida

Der weiße Lincoln biegt in die mit Kies bestreute Einfahrt ein. Karen Simpson, einunddreißig Jahre alt und tief gebräunt, steigt aus der Fahrertür. Affektiert geht die Wasserstoffblondine, die ein aquamarinblaues Kleid trägt, um den Wagen und öffnet ihrer Mutter Dory die Beifahrertür.
Ein Stück weit entfernt beobachtet ein Detective in Zivil, wie die beiden Trauergäste Arm in Arm langsam hinter das Haus der Axlers gehen, wo alles für die Schiwa, die jüdische Trauerfeier, vorbereitet ist.
Tische mit Speisen sind für die Familie und die Freunde der Verstorbenen aufgestellt. Etwa vierzig Gäste gehen umher, unterhalten sich, essen, erzählen alte Geschichten und versuchen sich gegenseitig Trost zu spenden.
Dominique und Edith sitzen alleine auf einer gepolsterten Bank am Ufer und sehen zu, wie die Sonne am Horizont versinkt.
Vor der Küste driftet ein Fischerboot mit Namen Hatteras. Sein Besitzer müht sich gerade ab, seinen Fang an Bord zu ziehen.
Edith nickt. »Sieht aus, als hätten die jetzt endlich was an der Angel.«
»Das wird auch alles sein, was sie an die Angel bekommen.«
»Schatz, versprich mir, aufzupassen.«
»Versprochen.«
»Bist du denn wirklich sicher, dass du mit dem Mini-U-Boot umgehen kannst?«
»Ja, Iz hat mir gezeigt, wie...« Bei der Erinnerung treten Dominique Tränen in die Augen. »Ja, ich bin sicher.«
»Sue meint, du sollst ihren Revolver mitnehmen.«
»Ich hab mir doch nicht die Mühe gemacht, Mick bei der Flucht zu helfen, um ihn anschließend zu erschießen.«
»Sie meint ja bloß, du sollst nicht zu vertrauensvoll sein.«
»Sue leidet schon immer unter Verfolgungswahn.«
»Und was ist, wenn sie Recht hat? Wenn Mick wirklich geisteskrank ist? Womöglich wird er bösartig und versucht, dich zu vergewaltigen. Schließlich war er elf Jahre lang eingesperrt, und...«
»Er wird mich nicht vergewaltigen.«
»Nimm doch wenigstens meinen Elektroschocker mit. Der ist ganz klein und schaut wie ein Feuerzeug aus. Er passt genau in deine Handfläche.«
»Na gut, ich nehm ihn mit, aber brauchen werde ich ihn nicht.«
Edith dreht sich um und sieht Dory Simpson kommen, während deren Tochter aufs Haus zugeht.
Dominique steht auf und umarmt Mrs. Simpson. »Möchtest du was zu trinken?«
Dory setzt sich zu Edith. »Ja, bring mir doch ein Cola Light. Leider können wir nicht lange bleiben.«
 
In der Kabine der Hatteras sitzt Detective Sheldon Saints und beobachtet durch ein starkes, auf ein Stativ montiertes Fernglas, wie Dominique aufs Haus zugeht.
Ein zweiter Detective, mit Jeans-Shorts, einem T-Shirt mit dem Logo der Tampa Bay Buccaneers und einer Baseballmütze ausstaffiert, betritt die Kabine. »He, Ted hat gerade einen Fisch gefangen.«
»War auch allmählich Zeit; schließlich hängen wir hier schon seit acht Stunden rum. Gibt mir mal das Nachtsichtgerät. Für das Ding hier wird es allmählich zu dunkel.«
Saints befestigt das ITT Night-Mariner 260 auf dem Stativ, schaut hindurch und stellt die Optik ein, die das schwindende Licht in grüne Schattierungen verwandelt. Fünf Minuten später beobachtet er, wie die attraktive Verdächtige mit dem langen schwarzen Haar aus dem Haus kommt, eine Dose Cola in jeder Hand. Sie geht zur Bank, reicht den beiden Frauen dort die Getränke und setzt sich neben sie.
Weitere zwanzig Minuten vergehen. Nun sieht der Kriminalbeamte die gebräunte Blondine in dem aquamarinblauen Kleid aus dem Haus kommen. Sie tritt zu den drei Frauen und umarmt Edith Axler, dann hilft sie ihrer Mutter von der Bank und führt sie zum Wagen.
Saints beobachtet die beiden einen Augenblick, dann wendet er seine Aufmerksamkeit wieder der Bank zu, auf der die ältere Frau und die dunkelhaarige Schönheit Hand in Hand sitzen geblieben sind.
 
Dory Simpson lehnt sich in den Beifahrersitz zurück, während die Blondine den Lincoln startet. Sie lässt den Wagen zurückrollen, dann fährt sie nach Südwesten auf die Hauptverkehrsader der Insel zu.
Dominique schiebt die Hand unter die Perücke, um sich an der juckenden Kopfhaut zu kratzen. »Ich wollte schon immer mal blonde Haare haben.«
»Lass das Ding bloß auf, bis wir abgelegt haben.« Dory Simpson gibt Dominique den Elektroschocker, der kaum größer ist als ein Gasfeuerzeug. »Edith hat gesagt, du sollst das immer bei dir tragen, und ich hab ihr versprochen, dafür zu sorgen, dass du das tust Also, traust du dir wirklich zu, das U-Boot zu steuern?«
»Wird schon schief gehen.«
»Ich kann nämlich mitkommen.«
»Nein, mir ist es lieber, wenn du dableibst und dich mit Karen um Edie kümmerst.«
 
Es ist schon spät, als die beiden den privaten Pier der Simpsons in Captiva erreichen. Dominique umarmt Dory Simpson zum Abschied, dann geht sie über die Holzbohlen zu dem sieben Meter langen Motorboot, das auf sie wartet.
Sue Reuben weist sie an, die Heckleine zu lösen. Wenige Sekunden später rast das Boot in den Golf von Mexiko.
Dominique nimmt die Perücke ab, bevor sie davonfliegen kann, dann schlägt sie die graue Persenning zurück.
Mick liegt langgestreckt auf dem Rücken. Sein rechtes Handgelenk ist mit einer Handschelle an eine Strebe des zweiten Sitzes gekettet. Lächelnd blickt er zu ihr empor, dann zuckt er zusammen, als der Bug in eine Welle kracht und sein Kopf schmerzhaft ans Fiberglasdeck schlägt.
»Wo ist der Schlüssel, Sue?«
»Ich glaube, du solltest ihn lieber da liegen lassen, bis wir das Boot erreicht haben. Wir dürfen kein Risiko eingehen.«
»Wenn das so weitergeht, ist er seekrank, bevor wir dort sind. Gib mir den Schlüssel.« Dominique öffnet die Handschellen und hilft Mick auf den Sitz. »Na, wie geht’s dir?«
»Besser. Sue ist zwar zum Fürchten, hat mich aber gut gepflegt.«
Als der Trawler vor ihnen auftaucht, drosselt Sue die Maschine. Der Schwung des Motorboots reicht aus, um es an die Seite des größeren Boots zu bringen.
Mick klettert hinüber.
Sue umarmt Dominique. »Pass gut auf dich auf.« Sie drückt ihr die Magnum in die Hand.
»Sue...«
»Pst. Mach kein Theater. Und leg ihn einfach um, wenn er Dummheiten macht.«
Dominique lässt den Revolver in der Tasche ihres Anoraks verschwinden, dann klettert sie ebenfalls an Bord des Trawlers und schaut dem davonrasenden Motorboot hinterher.
Nun ist alles ruhig. Gemächlich schaukelt das Fischerboot unter einem mit Sternen übersäten Himmel im schwarzen Wasser.
Dominique sieht Mick an, ohne im Dunkeln seine Augen erkennen zu können. »Ich glaube, wir sollten uns mal auf den Weg machen, was?« Ganz ruhig. Du klingst total nervös.
»Zuerst muss ich dir noch was sagen, Dom.«
»Vergiss es. Du kannst mir danken, indem du mir hilfst, herauszubekommen, was Iz zugestoßen ist.«
»Einverstanden, aber das war es nicht, was ich dir sagen wollte. Ich weiß, du hast noch immer deine Zweifel, was mich betrifft. Aber du solltest wissen, dass du mir vertrauen kannst. Ich hab dir sehr viel zugemutet, aber ich schwöre beim Andenken meiner Mutter, ich würde mir eher selbst was antun als zuzulassen, dass dir was passiert.«
»Ich glaube dir.«
»Und wahnsinnig bin ich auch nicht. Mir ist schon klar, dass ich manchmal so klinge, aber ich bin es nicht.«
Dominique wendet den Blick ab. »Ich weiß, Mick. Aber jetzt glaube ich wirklich, dass wir losfahren sollten. Schließlich ist unser Haus den ganzen Tag über von der Polizei beobachtet worden. Die Schlüssel müssen im Ruderhaus unter dem Kissen des Passagiersitzes sein. Setzt du dich ans Steuer?«
Mick verschwindet im Ruderhaus. Sie wartet, bis er außer Sicht ist, dann zieht sie den Revolver aus der Jackentasche. Sie betrachtet die Waffe, während ihr Folettas warnende Worte in den Sinn kommen. Der Patient wird sicher seinen Charme spielen lassen, um Sie zu beeindrucken.
Stotternd springt die Maschine an.
Dominique blickt auf die Waffe, zögert und wirft sie dann über Bord.
Jetzt hilft mir nur noch Gott...
2012 - Schatten der Verdammnis
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