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Die Wachmänner und Ryan eskortierten Kira zu den Haupttoren des Reservats, wo die Büroräume der zuständigen Beamten lagen.

In einem kleinen, fensterlosen Raum, der nichts als einen Tisch, mehrere Stühle und einen Hologrammautomaten enthielt, ließ man sie mit dem Magier allein.

Seit fünf Minuten saßen sie sich schon schweigend gegenüber und maßen einander mit kühlen Blicken. Das Kratzen von Kreide auf Mauerwerk, wo Pooka Schimpfwörter an die Wände schrieb, war alles, was zu hören war.

»Ich traue dir nicht«, sagte sie schließlich in die angespannte Stille hinein und schob das ringförmige Gerät, das Ryan vor ihr auf dem Tisch platziert hatte, von sich weg.

Einer von Ryans Mundwinkeln zuckte, aber nicht vor Freude. »Du hast mich meiner Paranormalen beraubt und meine Schwarzmarktgeschäfte auf Eis gelegt. Was denkst du, wie viel Vertrauen ich noch in dich habe?«

Kira runzelte die Stirn. »Deiner Paranormalen beraubt? Wovon redest du?«

»Spiel nicht die Unschuldige. Du hast mich verflucht.« Verbitterung lag in seinem Blick. »Und jetzt sind sie fort. Jinny, Alice … sie alle.«

»Gut für sie, aber mit meinem Fluch hat das wenig zu tun.«

»Auf dass ich im Leben keine Liebe mehr finde. Das waren doch deine Worte, oder?«

Kiras Magen verkrampfte sich. Sie hatte keine Ahnung, was sie von diesem Gespräch zu erwarten hatte. Vorhin war sie sich so sicher gewesen, Cian in ihrer Nähe zu spüren, und jetzt saß sie hier und verhandelte mit Ryan.

»Ja«, antwortete sie. »Und das hattest du auch verdient.«

»Ob verdient oder nicht, der Fluch hat sie alle fortgetrieben. Mein Zauber basierte auf diesen Emotionen – Liebe, der Wunsch nach Sicherheit und Wärme.« Ryans Stimme wurde bedrohlich leise. »Dein Fluch hat das zerstört.«

»Du lügst«, sagte Kira. »Du hast sie … du hast mich gezwungen, dort zu bleiben. Das hatte nichts mit Liebe zu tun.«

»Aber mit Sehnsucht, oder nicht? Nach jemandem, der dich so akzeptiert, wie du bist. Der dir Sicherheit gibt. Dir, die du dein Leben lang auf der Flucht gewesen bist.«

»Du lügst«, wiederholte Kira zitternd.

Aus den Augenwinkeln sah sie, wie die frei schwebende Kreide LÜGNER in großen roten Buchstaben an die Wand schrieb und daneben ein nicht sehr vorteilhaftes Porträt von Ryan zeichnete.

»Ich habe dich nie belogen, Kira. Und es war, wie ich es sagte – ich habe niemanden gezwungen, bei mir zu bleiben. Sie alle wollten es, auch wenn ich diesen Wunsch bei manchen erst schüren musste. Sie alle liebten mich.«

Ryan lehnte sich mit dem Oberkörper nach vorne und fixierte sie mit seinen grünen Augen. Seine Finger schoben das Gerät zwischen ihnen wieder in ihre Richtung.

»Ich bin kein Mann, der die Einsamkeit schätzt. Ich will, dass du den Fluch von mir nimmst.«

»Und was bietest du mir im Gegenzug an?«

Ryan lächelte wissend. »Das, was du dir am meisten wünschst. Mehr noch als die Sicherheit, die ich dir hätte geben können. Ich biete dir die Freiheit.«

Kiras Kehle wurde trocken, aber sie zwang sich, keine Miene zu verziehen. Ryan sollte nicht sehen, wie sehr sie genau das wollte.

»Recht anmaßend, mir etwas anzubieten, worüber du gar nicht zu entscheiden hast«, entgegnete sie möglichst gelassen. »Für wen hältst du dich eigentlich?«

Kira wollte noch sagen, dass nicht einmal Cian es geschafft hatte, sie vorhin hier rauszubringen, aber dann biss sie sich auf die Lippen. Woher sollte sie wissen, ob Cian es überhaupt versucht hatte?

Dann hörte sie das Rascheln von Papier. Ryan zog eine braune Mappe unterm Tisch hervor, um sie neben den Magic-X-Binder zu legen.

»Das hier ist eine Verfügung, die unter Zustimmung des Magiersenats verfasst wurde. Mit meiner Unterschrift schenkt sie dir die Freiheit. Unter der Bedingung, dass du dich ins Ausland absetzt und nie wieder nach England zurückkehrst. Deine Abreise werde ich selbst überwachen.«

Mit gemischten Gefühlen blickte Kira auf die Mappe vor sich. Dann sah sie zu Pooka.

Ihr Deamhan war gerade dabei, das Wort LÜGNER dreimal zu unterstreichen und mit dicken Strichen zu umkringeln.

Das hier konnte ihr Weg in die Freiheit sein. Nach Mexiko oder wohin auch immer sie wollte. Trotzdem legte sie ihre Stirn in Falten. Wieso? Die Magier konnten es ihr doch unmöglich so einfach machen? Oder waren sie so erpicht darauf, sie außer Landes zu haben? Wussten sie von ihren Verwicklungen mit den Rebellen?

Zögernd zog Kira den Magic-X-Binder zu sich heran. Er war aus glattem, poliertem Stahl und zu einem Ring geformt. Er würde sich perfekt an ihr Eisenarmband anpassen.

Kira kannte das Gerät. Es hatte sie schon einmal von dem Eisen um ihr Handgelenk befreit. Mit klopfendem Herzen steckte sie ihre Hand durch den Ring und verhakte die abstehenden Zäpfchen mit dem Armband. Ryan würde ihre Magie brauchen, damit sie den Fluch von ihm nahm, und trotzdem …

»Was hast du überhaupt mit dem Senat zu schaffen?«, fragte sie.

Seines Sieges sicher, lehnte sich Ryan mit einem entspannten Lächeln im Stuhl zurück. »Nachdem ich mir deinetwegen neue Aufgaben suchen musste, eine Menge. Nach Cians Abdankung hat mir der Senat seine Stelle angeboten und ich habe sie angenommen.«

Vor Schreck rutschte Kiras Daumennagel zwischen die Zäpfchen und sie unterdrückte einen Fluch. Der Magic-X-Binder klickte, dann gab er ein leises Summen von sich und sie konnte ihr eisenfreies Handgelenk mühelos herausziehen. Es zitterte.

»Cian hat abgedankt? Wann?«

Ryan presste die Lippen aufeinander, als würde er seine Worte schon bereuen. »Gestern. Ich dachte, du wüsstest es.«

Kira schüttelte benommen den Kopf. »Wieso sollte er das tun?«

»Nach den vergangenen Ereignissen wurde ihm wahrscheinlich nahegelegt, sich eine kurze Pause von der Politik zu gönnen. Man sagt, die Sidhe hätten seinen Geist benebelt.«

»Wo ist er?«, fragte sie.

»Was kümmert dich das? Er ist nicht bei dir, oder?«

Kiras Hände verkrampften sich vor Zorn, aber dann erinnerte sie sich daran, dass sie vor gut einer Stunde Cians Geist wahrgenommen hatte. Was, wenn er wirklich in ihrer Nähe gewesen war? Sie sich das nicht bloß eingebildet hatte?

»Kira.« Sie blickte auf und sah, dass Ryan nun neben ihr stand. »Der Fluch. Nimm ihn von mir und du kannst in einer Minute durch die Tore spazieren. Niemand wird dich aufhalten. Das willst du doch, oder?«

Natürlich wollte sie das! Aber, aber … Unsicher sah sie sich nach Pooka um. Ihr Freund hatte ganze Arbeit geleistet: Die gesamte Wand war von roten Strichen bedeckt. Überall stand das Wort LÜGNER in warnenden Großbuchstaben.

Plötzlich sprang Kira auf. »Ich danke dir für dein großzügiges Angebot, aber ich muss ablehnen.«

Ryan erstarrte. »Wie bitte?«

»Wenn nur die geringste Chance besteht, dass Cian hergekommen ist, um mich zu holen, dann bleibe ich hier.« Entschlossen ging sie in Richtung Tür.

Ryans Augen blitzten gefährlich. »Du begehst einen großen Fehler. Was macht es schon für einen Unterschied, ob dein Cian hier ist oder nicht? Dann werden sie euch halt alle beide einsperren. Ich biete dir einen Ausweg – eine zweite Chance wird es nicht geben.«

Eine Hand bereits auf der Türklinke, drehte sich Kira noch einmal zu Ryan um. »Ich zweifle daran, dass mein Fluch deinen Zauber beeinträchtigen konnte. Du weißt doch gar nichts über Liebe.«

Noch im Gehen zauberte sich Kira die Illusion eines Eisenarmbands ans Handgelenk und hielt den Kopf gesenkt, während sie den Gang zum Reservat zurückschritt. Ihre Mühen wären nicht nötig gewesen. Die wenigen versammelten Wächter würdigten sie keines Blickes, waren selbst in hitzige Diskussionen vertieft oder raunten Befehle in Funkgeräte.

Zu ihrer Linken erschien eine Frau, die ein gutes Dutzend Gewehre geschultert hatte und in Richtung Reservatsgelände lief. Kira bekam ein mulmiges Gefühl und beschleunigte ihre Schritte.

Hinter ihr wurde die Tür aufgerissen und Ryans Stimme fegte durch den Gang. »Die Sidhe! Haltet sie auf!«

Köpfe wirbelten zu Kira herum und sie begann zu rennen.

Zwei Männer nahmen die Verfolgung auf und schwangen ihre Eisenknüppel durch die Luft.

Pooka nahm die Gestalt eines schwarzen Hundes an. Er stellte sich den beiden in den Weg und knurrte drohend, bis Kira ihm befahl weiterzulaufen. Ihre nackten Füße rutschten über den Linoleumboden, während ihr das Herz bis zum Hals schlug.

Ein Ziehen am Netz der Magie warnte sie vor dem kommenden Angriff. Kira machte einen Satz nach vorne, zog ihre eigene Magie blitzschnell an die Oberfläche und ließ hinter sich eine graue Betonmauer aus dem Boden wachsen, die den Gang versperrte. Sie hörte wilde Rufe und das Quietschen von Schuhen, als ihre Verfolger versuchten, vor der Mauer abzubremsen.

»Ihr Idioten!«, hörte sie Ryan wütend schreien. »Das ist nichts als eine Illusion. Weiterrennen!«

Aber da war Kira schon um die nächste Ecke gebogen und stieß die Tür zum Reservatsgelände auf. Sie wickelte sich noch einen Schleier aus Dunkelheit um den Körper, dann trat sie in die Nacht hinaus.

Kira wunderte sich, wie sie jemals an Cians Anwesenheit im Reservat hatte zweifeln können. Nun, da sie sich seinem Geist öffnete, gab es kein Leugnen mehr. Kira fühlte ihn so sicher wie einen zweiten Herzschlag in ihrer Brust. Sie dachte nicht einmal darüber nach, wohin ihre Füße sie trugen. Sie schienen den Weg besser zu kennen als sie selbst.

Straßenlaternen und eintönig weiß gestrichene Hausmauern zogen an ihr vorbei und über allem lag ein düsterer Schatten, die Ahnung eines nahenden Kampfes. Sie konnte es riechen. Es hören. Und Kira rannte schneller.

»Cian!«, schrie sie durch die leeren Straßen, unfähig, die Euphorie aus ihrer Stimme zu bannen. Cian hatte sie nicht vergessen. Er war zu ihr gekommen und jetzt …

Ein scharfer Schmerz bohrte sich in ihre Seite. Kira schrie auf und presste eine Hand automatisch auf die Wunde. Sie konnte das Blut auf ihren Lippen schmecken, aber als sie ihren Körper unversehrt fand, erbleichte sie. Es war gar nicht sie, die getroffen worden war.

»Cian!«, schrie sie wieder und diesmal schwang Panik in ihrer Stimme mit.

Die Kampfgeräusche wurden lauter und als Kira um die Ecke rauschte, hinter der sie Cian und seine Angreifer vermutete, hatte sie ihre Magie kampfbereit in ihren Fingerspitzen gesammelt. Und dann war sie mittendrin.

Ein Werwolf sauste so knapp an ihr vorbei, dass Kira den Kopf einziehen musste, um nicht von ihm erwischt zu werden. Die wölfische Fratze war bereits deutlich zu erkennen, aber wie allen Werwölfen des Reservats fehlte ihm die Kraft, seine Verwandlung zu vollenden. Seine zu Klauen geformten Hände waren nutzlos gegen die voll verwandelte Bestie vor ihm. Schwarz glänzendes Fell und ein Gebiss, das Knochen knacken konnte. Scheinbar mühelos schleuderte der andere Werwolf seinen Artgenossen von sich und schnappte noch im Flug nach dessen Fersen. Das linke Auge leuchtete in einem elektrisierenden Gelb, während das andere von einer Augenklappe verdeckt wurde.

Kira schnappte nach Luft. »Ares!«, rief sie.

Ares wirbelte zu ihr herum. In dieser Gestalt war er groß und schrecklich und doch von einer animalischen Schönheit, die Kiras Blick gefangen hielt.

»Kira.« Ares knurrte, aber es klang erleichtert.

»Was tust du hier?«

»Sina«, antwortete der Werwolf knapp. »Sie und Cian haben einen Pakt geschlossen, um dich hier rauszuholen.«

Kira legte den Kopf in den Nacken. Der Drache hatte aufgehört, Feuer zu speien. Seine rot glühende Kontur war alles, was man von ihm noch sah. Sina war eine … Verbündete? Der Gedanke war so verwirrend, dass Kira ihn erst mal beiseiteschob. »Cian, wo steckt er?«

Ares sagte etwas, aber Kira schenkte ihm schon keine Beachtung mehr. Sie hatte Cian bereits selbst entdeckt.

Er wurde gegen eine Hauswand gedrängt und war von gut zwei Dutzend Paranormalen umzingelt. Keiner seiner Gegner war stark genug, sich in einem Kampf gegen ihn zu behaupten, aber in der Masse waren sie ihm überlegen. Der Schutzschild, den er um sich gezogen hatte, wies faustgroße Löcher auf und die Sidhe fanden auch ohne ihre Magie noch genug Wege, ihm zu schaden. Eine Banshee schrie seinen Namen und zwei Rotkappen hatten sich aus einem Straßenschild und einem Küchenmesser einen Speer gebastelt, den sie mit lauten Triumphschreien durch die Luft schwangen. Die Spitze glänzte feucht von frischem Blut und Kira sah nur noch schwarz.

»Aufhören!«, schrie sie, die Magie wild zwischen ihren Fingern zuckend. »Lasst ihn in Ruhe!«

Cian hörte ihre Stimme und fuhr zusammen. Sein Blick glitt suchend über die Menge. Als er sie fand, war es, als hätte man die Räder der Zeit für ein paar Sekunden angehalten. In diesen Sekunden gab es nur sie und den Sog dieses strahlenden Bandes zwischen ihnen, das sie trotz aller Hindernisse immer wieder zueinander führte. Weil er sich die blutende Seite hielt, war klar, dass Cian litt, aber in dem Augenblick leuchteten seine Augen auf und ein Lächeln erhellte sein ganzes Gesicht. Es war ein so warmer, ehrlicher Ausdruck, ganz anders als die kühle, gefasste Visage, die sie noch an diesem Morgen von ihrem Fernseher hatte wischen wollen.

Kira konnte nicht anders, als sein Lächeln zu erwidern. Es war Cian und er war hier. Gekommen, um sie zu holen. Er hatte einen Pakt mit Sina geschlossen, seine Prinzipien über Bord geworfen und sich gegen seine eigenen Leute gestellt. Nur für sie. Was für ein Dummkopf sie doch gewesen war, vor ihm wegzulaufen.

»Cian«, sagte sie überglücklich.

Im selben Moment holten die Rotkappen erneut mit ihrem Speer aus und rammten ihn durch Cians Schild. Cians Magie stieß die Waffe weit genug von sich, dass sie ihn nicht wieder verletzte, aber sein Schild war im Wanken, seine Konzentration gebrochen. Und als ein Vampir sich dagegen warf, fiel Cians Verteidigung endgültig in sich zusammen.

Kira hörte sich schreien. Sie kannte den wirren Haarschopf blonder Strähnen, die eng geschnittene Lederjacke und die schmalen Hüften des Vampirs. Nick war ihr Mitbewohner. Ihr Freund. Ihr Komplize, wenn es darum ging, Ellys Waage zu verstellen und heimlich hinter dem Duschvorhang auf ihre Panikattacken zu warten.

Aber in dem Moment sah sie nur noch das Aufblitzen seiner Zähne und das Blut, das zwischen Cians Fingern hervorquoll, und ihre Magie drehte durch.

Bevor Kira einen klaren Gedanken fassen konnte, schoss ihre Magie wie eine freigelassene Bestie aus ihren Fingerspitzen. Sie schnalzte und knackte, während sie sich erbarmungslos auf Nick stürzte.

Er fiel zu Boden, niedergestreckt von einem Schlag, den er aus dieser Richtung nie erwartet hätte. Benommen schüttelte er den Kopf.

Kira konnte ihre Magie nicht mehr halten. Sie war zu wütend, hatte zu viel Angst. Wie ein sich aufbäumender Strom brach die Magie aus ihr hinaus, quoll über die Ränder ihres Bewusstseins.

Panik flammte in ihr auf und sie griff nach dem Ende des Magiestroms, lenkte ihn mit letzter Kraft nach unten. Die Erde erbebte. Wie eine Verdurstende sog sie auf, was Kira ihr gab.

Kira fühlte den Puls der Magie, sah den hellen Kern von Stonehenge, der den Magiern als Quelle diente, und was sie sah, schnürte ihr die Kehle zu. Er war benutzt und verbraucht, misshandelt von den Leuten, die eigentlich auserwählt worden waren, die heilige Stätte zu schützen.

Langsam auf die Knie gehend, drückte Kira ihre Handflächen auf den betonierten Boden und fütterte das Kraftfeld mit seiner beraubten Magie. Sie gab der Magie keinen Zweck, keine Aufgabe. Kira überließ sie sich selbst. Überall um sie herum bildeten sich Risse im Asphalt, kleine Krater, aus denen saftiges Grün und bunte Blüten sprossen. Unnatürlich schnell schossen sie in die Höhe.

Klee umwucherte Kiras Füße und unter den Händen spürte sie die heftige Vibration der Erde. Über ihr brüllte der Drache und ein Blick aus den Augenwinkeln verriet ihr, dass die Paranormalen aufgehört hatten, Cian anzugreifen.

Sie standen wie erstarrt da, den Blick auf sie gerichtet. Als Kiras eigene Magie weniger wurde, suchte sie nach neuen Quellen. Sie zog Magie, wo sie welche finden konnte, aus der Luft, aus den Fingerspitzen der Magier und den Paranormalen in ihrer Nähe. Und all diese Magie gab sie der bebenden Erde.

Das Grün begann noch schneller und dichter zu sprießen, ein bunter Teppich aus Blumen und Sträuchern, der sich bald über die gesamte Fläche des Reservats zog und anfing, die Eisenwände nach oben zu wandern.

Rostfarbene Blüten breiteten sich auf den Mauern aus, ließen das Eisen korrodieren und Risse bilden.

Um sie herum japsten die Paranormalen nach Luft. Irgendwo rief eine weibliche Stimme ihren Namen, aber Kira war zu sehr gefangen. Gefangen in ihrem Tun und in dem Wechselstrom der Magie, die in sie hinein- und gleich wieder aus ihr herausfloss.

Ihr ganzer Körper zitterte.

Plötzlich war da eine Hand auf ihrem Arm und als Kira aufblickte, sah sie Cian über sich gebeugt stehen. Sie spürte sein Zupfen am Netz der Magie und im nächsten Moment floss ein weiterer Strahl neben ihr in die Erde. Er erkannte, was sie tat. Und er half ihr.

Dankbar lächelnd lehnte Kira den Kopf an seine Hüfte. Ein zartes Summen lag in der Luft. Die Stimme der Magie. Blüten und Klee und dicke Büschel aus Gras wucherten bereits über Kiras Körper, ihre Arme und Beine hinauf und verdeckten sie beinahe vollständig.

Ganze Bäume begannen aus dem Boden zu schießen und bildeten innerhalb von Sekunden dicke Stämme, wozu sie sonst Jahrzehnte gebraucht hätten. Ihre Wurzeln waren kräftig und wanden sich wie lebendige Schlangen die Eisenwände des Reservats hinauf. Das brüchige Metall ächzte unter dem Druck, bevor es von den Wurzeln nach und nach niedergerissen wurde.

»Kira, es reicht!«

Die Stimme drang wie aus weiter Ferne zu ihr durch. Benommen blickte sie auf. Sie sah Cians Gesicht und das Blau seiner Augen im Licht der Straßenlaterne leuchten. »Kira, du musst aufhören!«

Sie fühlte seine Hände an ihren Wangen und auf einmal konnte sie sich nicht mehr beherrschen. Mit einem Aufschrei, der all ihre Wut, ihre Sorgen und ihren Kummer zum Ausdruck brachte, sprang sie nach vorne und schlang beide Arme um ihn. Sie stürzten rücklings in ein Beet aus weichem Gras und Sommerblumen, wo vor wenigen Minuten noch harter Asphalt gewesen war.

Cian lachte, ein reiner, freier Laut, der in ihrem eigenen Inneren widerhallte. Seinen Kopf mit ihren Händen umklammernd, lehnte Kira sich vor und küsste ihn hungrig. Ihre Geister knisterten und rieben aneinander, eine Fülle von Emotionen und Gedanken, die durch das Netz ihrer Seelen hin und her schwirrten. Sie verrieten einander so vieles, was man mit Worten nicht ausdrücken konnte.

»Danu, ich wollte dich hassen. Ich wollte es so sehr«, schluchzte Kira an seinen Lippen.

»Ich weiß, Baby, ich weiß.« Cian drückte sie an sich, als wollte er sie nie mehr loslassen. »Aber jetzt wird alles gut. Ich bin hier.« Cian küsste sie noch einmal. Sanft. »Du leuchtest.«

»Was?« Kira blickte an sich hinunter. Und tatsächlich: Alles, was vorher noch von den Pflanzen bedeckt gewesen war, schimmerte silbrig. Als würde der Mond durch sie hindurchstrahlen. Kira sog zitternd die Luft ein. Sie fühlte sich ausgelaugt und gleichzeitig lebendiger als je zuvor.

»Wir sollten weg von hier«, sagte sie und zog Cian mit sich nach oben. »Wie geht es deiner Wunde?«

»Halb so wild. Es hat bereits aufgehört zu bluten.«

Kira runzelte die Stirn. Sie wollte widersprechen, aber da traten zwei weitere Personen in ihr Blickfeld.

»Natürlich hat sie den Verstand verloren«, ertönte Ellys glockenhelle Stimme. »Sie hat gerade mit einem Magier rumgemacht. Mit dem Magier.«

Nick sagte nichts. Im Gegensatz zu Elly, die sich Kira mit mitfühlenden Gurrgeräuschen an den Hals warf, blieb er abseits stehen. Seine Lippen waren nicht mehr als ein Strich und die vor der Brust verschränkten Arme versteiften sich jedes Mal, wenn er Cian ansah.

»Es ist okay«, sagte Kira beschwichtigend. »Cian ist auf meiner Seite.«

Elly sah sie an, als hätte sie tatsächlich den Verstand verloren, doch dann sagte sie nur: »Na kommt. Lasst uns abhauen.«

Kira hatte ihren Magiefluss zwar unterbrochen, aber die Natur um sie herum wuchs und bewegte sich noch immer wie ein denkendes, lebendes Wesen. Das Reservat war nicht wiederzuerkennen. Jede Wand, jedes Haus und jeder Meter Straßenfläche war überwuchert von grünen Bäumen, blühendem Gestrüpp und vierblättrigem Klee. Blüten in sämtlichen Farben des Regenbogens reckten ihre eleganten Hälse dem Mond entgegen. Es war ein Bild wie aus dem Paradies.

Wurzeln und Äste hatten tiefe Risse in die rostenden Eisenmauern geschlagen, viele davon groß genug, dass ein ausgewachsener Werwolf gut hindurchpasste.

Kira und Cian hielten sich an der Hand und blickten sich grinsend an. Es war klar, was sie zu tun hatten.

Es herrschte das reinste Chaos, bis sie endlich alle Paranormalen für die Flucht mobilisiert hatten.

Ares übernahm den Großteil dieser Arbeit. Der Werwolf hätte nicht selbstzufriedener sein können. Selbst wenn Kira sich ein Krönchen mit der Aufschrift Rebellenanführerin auf den Kopf gesetzt hätte. Es war kaum zum Aushalten.

Die Formationen der Wachleute hatten sich aufgelöst. Uniformierte Männer und Frauen liefen mit verwirrten Gesichtern durch die Gegend. Die Waffen hingen vergessen über ihren Schultern. Nur einmal machten zwei Männer tatsächlich Anstalten einzugreifen. Evan und Pooka jagten ihnen so lange im Jaguar hinterher, bis sie in einen Supermarkt flüchteten und nicht mehr herauskamen.

Es lief schon fast zu gut.

Ares hatte bereits die ersten Paranormalen durch den Mauerspalt geführt, als Kira Ryan entdeckte, den neuen Meistermagier. Sofort war Cian an ihrer Seite, die Magie kampfbereit in den Fingerspitzen.

Doch der Angriff, mit dem Kira und Cian gerechnet hatten, blieb aus. Mehrere Magier und Wachmänner standen um Ryan herum und redeten auf ihn ein. Sie alle wirkten verunsichert und warteten auf seine Anweisungen, darauf, dass man ihnen endlich sagte, was sie in dieser irrwitzigen Situation zu tun hatten. Dornengestrüpp wucherte wie eine lebendige Mauer zwischen ihnen und den Einsatzkräften in die Höhe und machte drohende Gesten in Richtung der Magier.

Aus Nervosität beschoss ein junger Magier einen Rosenbusch mit Magie, woraufhin dieser gereizt mit einer Ranke nach seinen Beinen schlug. Der Magier ging kreischend zu Boden. Kira hätte schwören können, dass sie die fleischfarbenen Rosenknospen kichern hörte.

Ryan ignorierte die Menschen um ihn herum. Die Hände auf die Knie gestützt, stand er einfach nur da und krümmte sich vor Lachen. Als hätte er noch nie etwas Komischeres erlebt. Kira fragte sich schon, ob sie gekränkt sein sollte, als er aufblickte und ihr salutierte.

Breit grinsend tat sie es ihm gleich.

Cians Hand schloss sich steif um ihre. »Mir gefällt das nicht.«

»Er wird uns nicht aufhalten. Was kann er schon ausrichten?« Kira gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Lass uns gehen.«

Ein rotäugiges Rotkehlchen landete auf Kiras Schulter. Bevor Pooka ihr etwas ins Ohr zwitschern konnte, tippte sie ihm auf den Schnabel. »Ich will keinen Kommentar hören.«

Pooka seufzte so theatralisch, wie man mit einem Schnabel nur seufzen kann, und pikste sie in den Nacken. »Vielleicht ist Kira Titania ähnlicher, als sie glaubt.«

Mit der Antwort hatte sie nicht gerechnet. Pooka sprach so selten von ihrer Mutter.

»Was?«, fragte sie.

»Kira hat sich immer gefragt, wieso Titania sich entschlossen hat, sie zu bekommen. War kein Experiment. Kein Unfall. Titania konnte nicht mit dem Magier zusammenbleiben, aber sie wollte ein Kind, um sich an ihn zu erinnern.« Pooka putzte sich das Gefieder. Er wirkte verlegen. »Töricht. Aber sie hat dich bekommen, weil sie ihn geliebt hat.«

Es dauerte einen Moment, bis Kira begriff, dass der Deamhan ihnen soeben seinen Segen gegeben hatte. Wenn auch auf seine eigene verkorkste Art.

Kira, die immer noch Cians Hand fest umklammert hielt, konnte sich nicht erinnern, jemals glücklicher gewesen zu sein. Pooka schien zu spüren, dass sie kurz davor war, den Deamhan zu umarmen und in Tränen auszubrechen, denn er flog hastig davon.

Nachdem Ares alle anderen bereits durch die Öffnung gelotst hatte, waren Kira, Cian und Evan die Letzten, die durch die Mauerspalte nach draußen wollten. Sie saßen in Evans Jaguar und kaum waren sie hindurchgerollt, schob sich ein grüner Teppich aus Dornen und Gebüsch über die Öffnung und versperrte den Weg. Um Evans Wagen hindurchzubringen, hatten er und Cian die Spalte mithilfe von Magie weiter sprengen müssen. Trotzdem kratzten die aufgerissenen Ränder der rostzerfressenen Eisenwände mit einem schrillen Ton über den Lack. Evan machte ein Gesicht, als erleide er schreckliche Schmerzen, und biss vor lauter Anspannung seine Zigarette entzwei.

Draußen hatte Ares die befreiten Paranormalen um sich versammelt und schritt mit Pooka an der Spitze voran. Sinas Drache schwebte mit weit ausgebreiteten Flügeln über der Gruppe und brüllte seine Warnung durch die Nacht. Er war der beste Schutz, den man sich denken konnte.

Evan drehte das Radio so laut auf, dass der Wagen unter den Bässen vibrierte. Cian und Kira saßen mit Klee in den Haaren auf der Rückbank und summten zufrieden zur Musik. Während der ganzen Fahrt ließ Cian ihre Hand nicht ein Mal los.

Sie hatten einen Drachen, einen schwebenden Wagen, einen Deamhan, zweieinhalb Magier und Hunderte Paranormale, die nach all den Jahren in Gefangenschaft geradezu nach einem Kampf lechzten.

Niemand würde es wagen, sie aufzuhalten.