Als Kira ihren Einkauf beendet hatte, hielt sie zwei gut gefüllte Plastiktüten in jeder Hand. Sie wünschte, wenigstens behaupten zu können, nur sinnvolle Sachen gekauft zu haben, aber Pooka hatte einen furchtbaren Einfluss auf sie. Cian hatte sie ermahnt, nicht zu viel mitzunehmen. Wie sollte sie ihm da bloß die Sonnenbrillensammlung und den Schwimmreifen erklären?
Mit der Schulter voran drückte sie die Ausgangstür auf. Da spürte sie ein zerstörerisches Ziehen am Netz der Magie. Als sie nach draußen trat, sah sie Cian von Müll und flatternden Pixies umzingelt. Kira glaubte ihren Augen nicht zu trauen, als die Flügel der Pixies plötzlich aufhörten zu schlagen und die kleinen Wesen leblos wie Puppen auf den Asphalt fielen. Das farbenfrohe Glitzern der Flügel verblasste und Kira erstarrte zu Eis.
»Verfluchte Feenwesen!«, hörte sie Cian noch schimpfen. Dann bemerkte er Kira am Ausgang und erstarrte genauso wie sie.
»Siehst du? Siehst du?«, fiepte Pooka an ihrem Ohr und Cian zuckte deutlich zusammen. »Er versteht es nicht. Wird es nie verstehen. Du wirst den Magier nicht ändern können.«
»Kira, nicht!«, rief Cian und streckte die Hand nach ihr aus, als könnte er sie so aufhalten.
Aber der Schaden war bereits angerichtet.
Kira wurde eiskalt, als würde sich eine Decke aus Eisen um sie legen und langsam sämtliche Magie aus ihrem Körper ziehen.
Cian hatte die Pixies wie störende Insekten getötet und Kira konnte nicht einmal behaupten, überrascht zu sein. Eigentlich hatte sie es doch immer gewusst. Cian war ein Magier. Sie eine Sidhe. Und sie hatte sich etwas vorgemacht, als sie glaubte, eine Beziehung wie die ihre hätte vielleicht eine Zukunft. Sie schafften es ja nicht einmal bis nach Portsmouth, ohne dass sie an den Unterschieden zwischen ihnen scheiterten.
Wenn sie nicht zur Hälfte Mensch wäre, ob Cian sie dann wohl auch mit so wenig Achtung von der Welt tilgen würde? Der Gedanke war so schmerzhaft, dass Kira den Blick abwenden musste. Die Umgebung verlor an Konturen, als heiße Tränen aus ihren Augen quollen.
Stur blinzelte Kira die Zeichen der Trauer weg. Sie hatte nicht vor, sich kleinkriegen zu lassen. Auch nicht von Cian. Nicht von einem Magier, der sie nie als vollwertig erachten würde.
Sie webte Magie wie einen schützenden Mantel um sich, wurde hinter dem Zauber unsichtbar.
»Kira!«, schrie Cian, das Gesicht vor Qual verzogen, als sie aus seinem Sichtfeld verschwand. Er rannte in ihre Richtung.
Aber Kira hatte nicht vor, ihn noch einmal in ihre Nähe zu lassen. Sie webte eine zweite Illusion, einen schwarzen Teppich aus Dunkelheit, den sie über Cian legte, damit er ihm die Orientierung raubte. Kira sah ihn noch stolpern, dann drehte sie sich um, bevor sie es sich anders überlegen konnte.
Pooka, der auf ihrer Schulter saß, gackerte zufrieden.
Cian fiel hart zu Boden und schürfte sich das Kinn auf. Er rief Kiras Namen. Hinter dem Schleier aus Dunkelheit konnte er sie nicht länger sehen, aber er spürte, wie sie sich von ihm entfernte. Sein Magen zog sich krampfhaft zusammen. Er musste sie aufhalten und ihr erklären, dass er es nicht so gemeint hatte. Dass sie etwas Besonderes für ihn war und er sie niemals für ihre Herkunft verurteilen würde.
Aber Cian kam nicht dazu. Als sich die Dunkelheit endlich lichtete, hatten die Pixies sich von seinem Schockzauber bereits erholt und waren weggeflogen.
Von Kira fehlte jede Spur.
Kira hatte keine Ahnung, wohin sie ging. Ihre Füße bewegten sich einfach, immer einer vor den anderen, aber ihr Ziel war Kira ungewiss. Der Unsichtbarkeitszauber war längst von ihren Schultern geglitten, schützte sie nicht mehr vor den Blicken aus den vorbeizischenden Autos. Ob sie vielleicht hoffte, Cian säße in einem von ihnen und würde sie aufhalten?
Pooka flog in der Gestalt eines Vogels neben ihr her, aber Kira war so gefangen in ihren eigenen Gedanken, dass sie weder sagen konnte, welche Art von Vogel es war, noch welche Worte aus seinem Schnabel auf sie niederrieselten.
Kira hatte das Gefühl, wieder zehn Jahre alt zu sein und gerade Mutter und Heimat verloren zu haben. Nicht wissend, wohin es sie als Nächstes verschlagen würde. Sie fühlte sich rausgeschnitten aus Ort und Zeit. Gefangen in dem Dazwischen, konnte sie weder vor noch zurück. Hinter ihr lag die Zukunft, die sie hätte haben können. Der Asphalt brannte heiß unter ihren nackten Sohlen und Kira konzentrierte sich auf den Schmerz, ließ sich von ihm vorantreiben.
Als ein schwarzer BMW neben ihr zum Stehen kam, blickte sie nicht einmal auf.
Als drei Magier ausstiegen, tat sie es.
Sie schaffte es nicht einmal, überrascht aufzuschreien, als sie ein heftiger Energiestoß traf. Sie schürfte sich die Beine am glühenden Asphalt auf. Sonnenbrille und Hut wurden von ihrem Gesicht gerissen und segelten in einem hohen Bogen über ihren Kopf hinweg, während sie gegen einen Leitpfosten krachte. Ein höllisches Stechen fraß sich ihre Wirbelsäule hinauf und sie stöhnte.
Ihre Magie legte sich schützend um ihre schmerzenden Glieder, aber mehr als das wollte ihr für den Moment nicht gelingen. Zu verschwommen war ihr Blickfeld, als dass sie ihre Magie für einen Angriff hätte bündeln können.
»Diesmal bist du zu weit gegangen, Cian. Meine Schwester und meine Tochter da mit hineinzuziehen! Damit kommst du mir nicht ungestraft davon!«
Wie ein schwarzer Racheengel hatte sich Max Crawford in seiner vollen Größe vor ihr aufgebaut, die dunklen Augen glühend vor Zorn, während sein schwarzer Bart bei jeder Silbe zitterte.
Er machte einen weiteren Schritt auf sie zu, als plötzlich ein ohrenzerfetzendes Jaulen ertönte. Schwarzer Nebel brodelte um Kiras Gegner herum. Eine dunkle Masse, die nur von den roten Augen erhellt wurde, die Max böse fixierten.
Der Nebel verdichtete sich und dann stand ein schwarzer Hund vor Kira. Er bleckte die scharfen Zähne drohend und stieß ein entsetzliches Knurren aus. Es klang wie Donnergrollen.
Pooka hatte sich in einen fleischgewordenen Albtraum verwandelt, eine Bestie, die den Magiern sichtlich Angst einjagte.
»Ich …« Kira hustete und spürte ihre Lunge vor Anstrengung brennen. »Ich bin nicht Cian. Cian ist fort. Er hat seinen eigenen Körper wieder.«
Max verzog keine Miene, aber der Magier hinter ihm schnappte nach Luft. Er war rothaarig, und obwohl er sich wie ein alter Mann kleidete, konnte er die dreißig kaum überschritten haben. Kira kannte ihn nicht und ganz automatisch wollte sie Cians Gedächtnis nach Informationen über ihn abrufen. Als sie die Ecke ihres Hinterkopfs leer vorfand, traf es Kira wie ein Messerstoß ins Herz.
»Was soll das heißen, er hat seinen Körper wieder?«, fragte Max. »Sein Körper ist tot.«
Kira schüttelte den Kopf. »Nicht mehr«, sagte sie schwach. »Überzeug dich selbst. Du findest ihn nördlich von hier an einer kleinen Tankstelle, zusammen mit deinem Wagen.«
»An der Sachlage ändert das wenig«, erklärte Max stur. »Ihr seid beide schuldig.«
Bevor Kira bewusst wurde, was sie da sagte, sprudelte es nur so aus ihr heraus: »Cian nicht. Cian ist unschuldig. Alles eine Farce der Rebellen. Evan arbeitet für sie und hat in ihrem Auftrag Cians Ersatzkörper erschossen. Und was deine Schwester betrifft, so sind dafür einzig und allein Pooka und ich verantwortlich. Das musst du mir glauben!«
Max runzelte skeptisch die Stirn. »Wieso sollte ich dir das glauben?«
»Wieso sollte ich lügen?«, fragte Kira spöttisch. »Für einen Magier? Ich bin eine Sidhe und du kennst unsere Gesetze. Ich schwöre, jedes Wort ist wahr.«
Max schüttelte langsam den Kopf, als hätten Gedanken und Probleme ihn zu schwer für seine Schultern gemacht. »Wir werden dich trotzdem mitnehmen. Es ist, wie du sagst – du bist eine Sidhe und damit gehörst du ins Reservat. Wirst du Ärger machen?«
Kira spürte die Nähe des Magic Centrals und des angrenzenden Reservats wie eine kalte Bedrohung in ihrem Nacken. Sie roch das Eisen und die Verzweiflung der Gefangenen. Die Verzweiflung, der eigenen Magie beraubt zu sein. Einen wichtigen Teil von sich für immer verloren zu haben. Das wollte sie nicht noch einmal durchmachen. Nie wieder.
»Und wie!«, spie sie und spannte ihre Glieder angriffsbereit an.
Der Monsterhund an ihrer Seite knurrte zustimmend.
Max seufzte. »Ich hatte gehofft, du würdest dich anders entscheiden. Aber wie du willst …«
Als der nächste Energiestoß auf Kira abgefeuert wurde, war sie vorbereitet. Magie zerschellte an ihrem Schutzschild. Max und ein dritter Magier attackierten sie gnadenlos, während der rothaarige Magier versuchte, ihrem Schutz die Kraft zu rauben.
Pooka musste ihn als ernsthafte Bedrohung eingestuft haben, denn in Sekunden war er auf ihm, ein schwarzes Monstrum aus blitzenden Zähnen und glühenden Augen. Wie Messer gruben sich seine Zähne in den Oberarm des Magiers und im nächsten Moment verebbte der Zug an Kiras Schild, während Schmerzensschreie durch die Luft hallten.
Max fluchte und attackierte Pooka mit Fußtritten, damit er von seinem Kollegen abließ, aber seine Schuhe glitten wie durch Nebel.
Pooka gab nicht auf.
Auch nicht, als die Männer begannen, an seiner Magie zu zerren. Zwei Magier allein konnten die Mengen an Magie nicht halten, die Pooka zu dem machte, was er war. Selbst dreien wird das nicht gelingen, versuchte Kira sich zu beruhigen, als auch der Rothaarige an Pookas Magie zu ziehen begann. Die Ränder des Geisterhundes lösten sich langsam in schwarzen Nebel auf, in dicke Dunstschwaden, die vom Wind fortgetragen wurden und Kiras Welt mit einem unheilvollen Schleier überzogen. Das Schutzschild wie eine Decke eng um sich gezogen, krallte Kira ihre Fingernägel über dem Asphalt zusammen. Pooka war stärker als drei Magier. Sie konnten ihn nicht erschöpfen.
Und dann stieg Meggie aus dem Wagen. Mit glanzlosen Augen und kalter Wut im Gesicht, tat sie es ihrem Vater gleich. Sie zog. Und verdammt, konnte die Kleine viel halten!
Schwarzer Nebel umwirbelte sie alle, das einzig Plastische an Pookas Gestalt. Bis auf den Kopf, der die Zähne beharrlich im Fleisch des Magiers vergraben hielt.
»Hör auf!«, schrie Kira. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. »Pooka, hör auf! Lös dich doch endlich auf!«
Aber Pooka ignorierte sie. Wieso nur? Er konnte dem Griff der Magier so einfach entkommen. Dafür musste er bloß seine physische Gestalt auflösen. Dann konnten sie seiner Magie nichts mehr anhaben.
Also, wieso tat er es nicht? Das Glimmen seiner roten Augen wurde schwächer und schwächer, wie eine Glut, wenn das Feuer längst erloschen war.
Da konnte Kira nicht länger tatenlos zusehen. Den Schmerz in ihrem Kopf ignorierend, sprang sie nach oben, die Magie bereits angriffslustig an ihren Fingerspitzen zischend.
Doch dann konnte Kira sie nicht einsetzen. Schwarzer Nebel legte sich wie ein Schatten um sie und raubte ihr die Sicht auf die Geschehnisse. Die dunklen Schwaden, die sich von Pooka gelöst hatten, drängten und drückten gegen sie, schoben sie weg von ihm und dem Kampf, in dem er sie nicht haben wollte.
»Lauf weg!«, flüsterte die Dunkelheit. »Flieh!«
Kiras Kopf war auf einmal wie leer gefegt. Weglaufen? Und Pooka zurücklassen? Wie diese Zukunft aussehen würde, wollte sich Kira nicht einmal vorstellen. Die Angst davor ließ sie frösteln, schnürte ihr die Kehle zu.
Sie brauchte Pooka. Er war das einzig Beständige in ihrem Leben. Ihr bester Freund. Wenn alles um sie herum zusammenfiel, war Pooka immer für sie da, richtete mit ihr die Trümmer wieder auf. Sie konnte ihn nicht auch noch verlieren. Sonst hatte sie doch schon alles verloren. Vorher würde sie … sie würde …
»Ich komme mit euch!«, rief Kira durch die Dunkelheit. »Ich komme mit. Ohne Kampf. Ohne Widerrede, das verspreche ich. Nur lasst Pooka und seine Magie in Frieden.«
Der Wind um sie heulte, als habe er Schmerzen, und der schwarze Nebel lichtete sich.
»Kira, nicht!«, meinte sie ihn flüstern zu hören.
»Du schwörst?«, fragte Max.
Kira keuchte. »Bei meinem Blut.«
Und damit war es besiegelt.