Es gelang Cian, Meggie das mit dem Fahren auszureden. Max würde schon wütend genug sein, wenn er erfuhr, dass Cian sie samt Wagen entführt hatte. Da brauchte er das minderjährige Mädchen nicht auch noch ans Steuer zu lassen. Also hatte er die Kleine zusammen mit Dr. Hook, dem misshandelten Teddybär, auf die Rückbank verfrachtet, während ihm der große Spaß zuteilwurde, ein Auto mit gefesselten Händen zu lenken.
Das ist Irrsinn, Kingsley!, schimpfte Kira in seinem Kopf. Hast du vergessen, dass Max die anderen Magier verständigen wollte? Die werden uns doch in null Komma nichts erwischen, wenn wir in einem gestohlenen Wagen durch die Gegend fahren. Ich bin mir sicher, Max kennt sein Kennzeichen.
Was soll ich denn bitte machen?
Ich weiß nicht, aber mit zweihundert Kilometer die Stunde über die Landstraße zu brettern, ist alles andere als unauffällig.
Also soll ich besser warten, bis sie uns einholen?, fragte Cian. Das ist vielleicht meine letzte Chance, meinen Körper unbeschadet wiederzubekommen!
Was aber nicht heißt, dass du meinen in Gefahr bringen darfst! Ich häng an meinem Leben. Und bei Danu, Kingsley, kannst du nicht etwas spielen, was sich ein bisschen mehr nach Musik anhört? Ich meine, Michael Jackson? Ist das dein Ernst?
Cian drehte aus Trotz die Lautstärke höher. Ich mag ihn. Außerdem hatte er gerade erst den Kampf um das Radio gegen Meggie gewonnen. Nach fünf Minuten grölender Bands, die Namen wie The Wrath of the Gypsy God und Voodoo Princesses trugen, hieß es, entweder unter schlechtem Musikgeschmack zugrunde zu gehen oder zu kämpfen.
Kira lachte. Kingsley, bist du alt!
Michael Jackson ist Kult und ich bin nicht alt, beschwerte sich Cian. Ich bin drei Jahre älter als du und für einen toten Mann habe ich mich wahnsinnig gut gehalten.
Kira lachte wieder, ein Laut, der sich wie Honig um ihn schmiegte. Cian konnte nicht anders, als mit einzustimmen. Meggies Augenbrauen schossen alarmiert nach oben. Cian räusperte sich und tat so, als hätte er bloß gehustet. Die Kleine hielt ihn so schon für schräg genug.
»Wie weit ist es noch bis zu deiner Tante?«, fragte er ausweichend.
Seit fast einer Stunde folgten sie schon dieser Straße ins Nichts. Cian war große Städte und breite Fahrspuren gewohnt. Hochhäuser, die Hunderte Meter hinaufragten, und Gebäude, die niemals unbeleuchtet blieben. Hier draußen aber waren nur Himmel und Erde, die am Horizont miteinander zu verschmelzen schienen. Hin und wieder standen vom Wind gekrümmte Bäume am Wegesrand. Er fragte sich, wie hier jemand freiwillig leben konnte.
»Nicht mehr weit. Sie wohnt in West Hatch, einer kleinen Ortschaft vor Tanton.«
»Tanton? Ich wusste gar nicht, dass sich dort Magiequellen befinden.«
»Tun sie auch nicht.«
Cian schaltete das Radio leiser und warf einen irritierten Blick in den Rückspiegel. »Aber sie ist doch eine Magierin, oder?«
Meggie drehte wieder an ihren Piercings. »Schon, aber sie ist anders als die meisten.«
Da Meggie nicht weitersprach, bat Cian sie mit einer ungeduldigen Handbewegung fortzufahren.
Meggie seufzte. »Sie ist die Schwester meines Vaters, aber sie reden nicht miteinander. Meine Tante ist gegen die paranormalenfeindliche Politik der Magier. Sie glaubt an ein Gleichgewicht. Ein Gleichgewicht, das durch die Gefangenschaft der Sidhe in Gefahr gerät.«
Kommt mir bekannt vor, sagte Kira. Vielleicht sollten wir ihr mal Ryan vorstellen.
Du nennst den Mistkerl immer noch beim Vornamen?
Danu, sag bloß, das regt dich immer noch auf?
Es gibt ’ne Menge Dinge, die mich aufregen. Meine tollwütig gewordene Leiche steht da ganz oben auf der Liste, aber wir können auch gern bei McNamara anfangen.
»Eine kluge Frau«, bemerkte Ares. Und an Cian gewandt: »Du solltest dich mal mit ihr zusammensetzen.«
Cian ließ seinen Blick entnervt durch den Wagen gleiten. War denn heute jeder gegen ihn?
»Woher zieht sie dann ihre Magie?«, fragte er, den Werwolf ignorierend.
Er könnte sich ein Leben in dieser Einöde nicht vorstellen. Ein Leben ohne pulsierende Magie um ihn herum. Eine Tagesreise hierher reichte schon aus, seine Hände zum Schwitzen zu bringen und seine Laune in den Keller zu treiben. Er hatte nicht einmal einen Ring oder Talisman bei sich, um Magie speichern zu können. Er fühlte sich hilflos, getrennt von allem, was ihn ausmachte.
Meggie zog eine der Nadeln aus dem rechten Auge des Teddys und stach sie in das linke. »Tante Grace sagt immer, die Magie, die in der Natur schlummert, reicht ihr.«
Wie sich herausstellte, wohnte Tante Grace nicht in West Hatch, sondern zehn Kilometer von jeglicher Form der Zivilisation entfernt. Worte wie Computernetzwerke und moderne Technik kamen ihr wahrscheinlich zauberhafter vor als Runen und Feenkreise. Cian hatte ja keine Ahnung gehabt, dass Teile Englands noch immer im letzten Jahrhundert festsaßen, sonst hätte er längst etwas dagegen unternommen.
Verlassene Ställe und unbestellte Felder verrieten ihm, dass das Anwesen früher einmal als Bauernhof gedient haben musste. Nun aber schien nur noch ein Bruchteil davon fürs tägliche Leben genutzt zu werden. Der Rest war alt und verwittert, morsches Holz, das in der Sonne vermoderte.
Allein das kleine Häuschen im Zentrum des Hofs wirkte renoviert, die helle Holzfassade frei von Verwitterungsspuren. Durch einen Schornstein im Dach drang Rauch. Entweder war Tante Grace schon aufgestanden oder Pooka begann den Tag mit einem Hausbrand.
Cian fuhr den Wagen in eine mit Schotter ausgelegte Einfahrt. Schotter, bei Merlins Eiern! Cian hatte noch nie auf Schotter fahren müssen. Weil sie ihr Ziel erreicht hatten, schaltete sich der Autopilot mit einem Piepsen aus und der Motor verstummte. Cian öffnete die Fahrertür und wollte aussteigen, da wurde er mit einem Ruck wieder ins Innere des Fahrzeugs gezerrt.
»Was …?«, fragte er, verlor dann aber den Atem zum Weitersprechen, als sich zwei starke Arme um seinen Brustkorb schlangen und ihn rückwärts aus dem Wagen zogen. Durch die Beifahrertür, wohlgemerkt.
»Hör auf damit!«, giftete er den Werwolf an und trat ihm gegen das Schienbein.
Aufgrund Kiras nackter Zehen und Ares’ kräftiger Statur ging der Angriff aber nach hinten los. Cian biss sich auf die Zunge, um einen Schmerzensschrei zu unterdrücken.
»Womit?«, fragte der Werwolf in gespielter Unschuld und löste seinen einengenden Griff.
Cian trat so weit von ihm zurück, wie seine Fessel es zuließ. »Mich wie eine Frau zu behandeln!« Ares’ Lippen verzogen sich zu einem wölfischen Grinsen. Cian wägte nicht zum ersten Mal die Vor- und Nachteile ab, die entstünden, wenn er den Werwolf in Stein verwandelte. »Halt einfach die Klappe, okay?«
Die hintere Tür öffnete sich und Meggie sprang heraus. Ihre Hände waren leer. Dr. Hook würde wohl zu ihrer aller Freude im Auto warten müssen, bis sie zurückkehrten.
»Diese Geschichte würde ich auch gerne einmal hören«, sagte die kleine Hexe mit einem Nicken in Richtung Handschellen. Sie grinste schelmisch. »Oder ist es eine der Geschichten, die man erst als Erwachsener hören darf?«
»Da gibt es nicht viel zu erzählen«, erklärte Cian mit eisigem Blick auf das Eisen um sein Handgelenk. »Außer vielleicht von Ares’ spektakulärem Abflug, wenn ich die Dinger losgeworden bin.«
Meggies Blick glitt wieder auf diese beunruhigende Art über den Körper des Werwolfs. »Was bist du überhaupt?«, fragte sie so direkt, wie es nur Teenager können. Ares öffnete den Mund zur Erwiderung, aber Meggie schnitt ihm das Wort ab. »Und labere ja keinen Blödsinn, von wegen du seist ein Mensch. Du bist groß und dunkel und siehst deine Umgebung an, als würdest du jeden zu Kleinholz verarbeiten, der dir krummkommt.«
Ares’ Mundwinkel zuckten amüsiert. »Du bist eine gute Beobachterin.« Er lehnte sich nach vorne. Das grüne Auge war von schimmernden bernsteinfarbenen Linien durchzogen. Seine Stimme klang tief und heiser. »Aber du weißt doch, was man über die Neugierde und die Katze sagt, nicht wahr?«
»Es tötet sie?« Meggie sah nicht so aus, als würde sie die eben erhaltene Morddrohung groß bekümmern. Ihre Augen hatten wieder diesen glasigen Ausdruck angenommen und musterten den unverschämt muskulösen Oberkörper des Werwolfs. Natürlich musste der Angeber ein Hemd tragen, das ihm zwei Größen zu klein war.
»Genau«, sagte Ares mit einem Augenzwinkern. »Also lass uns besser nicht mehr darüber reden. Einverstanden?«
Meggie nickte. Ihrem Blick zufolge hätte sie aber auch zugestimmt, wenn Ares vorgeschlagen hätte, sie in kleine Teile zu zerhacken und über dem Feuer zu grillen. Solange nur er es war, der sie am Ende aufaß.
Cian seufzte. Max würde ihn umbringen.
»Ich höre nur ungern Morddrohungen an meine Nichte«, ertönte es hinter ihnen. »Schon gar nicht vor dem Frühstück.«
Cian drehte den Kopf und sah eine Frau in der Tür zum Bauernhaus stehen. Die Stirn in Falten gelegt, starrte sie mit intelligenten Augen zu ihnen herüber. Sie war ungewöhnlich groß für eine Frau, vielleicht sogar noch ein Stück größer als ihr Bruder.
Die Verwandtschaft war auf jeden Fall unverkennbar. Sie hatte Meggies lange, schlaksige Figur und Max’ Haare. Dunkel und lockig reichten sie ihr bis zu den Ellbogen, dazwischen leuteten feine weiße Strähnen. Über ihrer Jeans trug sie ein T-Shirt mit der schnippischen Aufschrift Rettet die Wälder. Esst mehr Biber. Außer einem silbernen Pentagramm in ihrer Halskuhle hatte sie keinen Schmuck an.
Sie bedachte sie alle mit einem prüfenden Blick, dann griff sie hinter sich in den Hosenbund ihrer Jeans und zückte eine Desert Eagle Handfeuerwaffe so nonchalant, als wäre es ein Päckchen Zigaretten.
Der Anblick traf Cian mit der Wucht eines Blitzschlags. Ihm wurde schwarz vor Augen und er taumelte rückwärts. Hätte Ares ihn nicht aufgefangen, wäre Cian ohne Zweifel zu Boden gegangen.
Kingsley, erklang es besorgt in seinem Hinterkopf. Bist du okay?
Cian schüttelte benommen den Kopf. Er hatte nie Angst vor Pistolen gehabt, aber gleich zweimal an einer Schusswunde zu sterben, hatte wohl doch seelische Spuren hinterlassen. Peinlich berührt von seiner Ängstlichkeit, entwand sich Cian dem Griff des Werwolfs.
Ares reagierte auf die grobe Behandlung mit einem Knurren, sagte jedoch nichts. Cian entging nicht, dass es im grünen Auge des Werwolfs erneut golden funkelte. Ares schien von Grace’ Willkommensgeste genauso wenig begeistert zu sein wie er.
Im Gegensatz zum bebenden Cian war der Werwolf in eine raubtierhafte Starre verfallen. Ein kleiner Schritt nach vorne, das geringste Anzeichen einer Drohung – und Grace würde nicht einmal die Zeit bleiben, den Abzug zu drücken. Ares würde sie mit Haut und Haaren verschlingen, ehe sie für Kira zur Gefahr werden könnte.
Um dieses Szenario zu verhindern, holte Cian mehrmals tief Luft. Ganz ruhig, sagte er sich. Ares zu verärgern, würde die Sache nur noch schlimmer machen. Und niemand brauchte einen streitlustigen, voll verwandelten Werwolf am frühen Morgen. Er am allerwenigsten.
»Seine Gäste mit dem Lauf einer Pistole zu begrüßen, würde man in manchen Staaten als unhöflich erachten«, wandte er sich bissig an Grace.
Angriff war noch immer die beste Verteidigung. Das liebe Tantchen schien keine Ahnung zu haben, dass sie in Lebensgefahr schwebte. Na ja, sie schien aber auch nicht zu wissen, welcher Spezies ihr neuer Gast angehörte. Niemand wäre so dumm, einen Werwolf mit einer Pistole zu reizen.
Grace schnaubte undamenhaft. »Manche würden es auch unhöflich nennen, einem einen Dämon und einen psychisch gestörten Geist anzudrehen. Außerdem haben die zwei wieder einen meiner Käfige geknackt – ich habe sie gewarnt, dass sie das nächste Mal nicht mehr ungeschoren davonkommen.«
Meggie schien den bewaffneten Zustand ihrer Tante weitaus lockerer zu sehen und hüpfte zu ihr auf die Veranda. Ein Kuss zur Begrüßung und das Lächeln eines Mädchens, das viel zu selten die Chance bekam, seine verrückte Tante zu besuchen. Max hatte wohl seine Gründe, Meggie von hier fernhalten zu wollen.
Im hinteren Teil des Hauses zerbrach ein Fenster. Das Geräusch von klirrendem Glas ließ sie alle zusammenfahren. Dicht gefolgt vom triumphierenden Schrei eines Raubtiers und dem verängstigten Piepsen eines Vogels. Scherben flogen durch die Luft.
Cian erhaschte einen flüchtigen Blick auf gelbe Federn und panisch schlagende Flügel, ehe sich eine große schwarze Masse auf das kleine Tier stürzte und es verschlang.
Grace wirbelte zu dem schwarzen Panther herum, Mordgelüste in den Augen. »Spuck ihn wieder aus!«, schrie sie und feuerte einen Schuss ab.
Grace war eine gute Schützin und hätte Pooka mitten in die Brust getroffen, wenn dieser sich nicht in dunklen Rauch aufgelöst hätte. Ein vergnügtes Kichern drang an ihre Ohren.
Unglücklicherweise wählte Cians Leiche gerade diesen Moment, enthusiastisch mit einem Fischernetz wedelnd aus dem Fenster gesprungen zu kommen. Der Schuss streifte ihn am Oberschenkel.
Cian rutschte das Herz in die Hose. Eine Kugel auf sich abgefeuert zu sehen, war verstörend und furchtbar vertraut zugleich.
Seine Leiche hingegen wirkte kein bisschen geschockt. Schmollend blickte sie zu Grace hinüber. Sie sah aus, als hätte Grace sie eben ohne Abendessen ins Bett geschickt und nicht auf sie geschossen.
Cian vernahm das unheilvolle Geräusch einer nachladenden Pistole.
»Das wäre dann die wievielte Person, die diesen Monat versucht hat, dich zu erschießen?«, fragte Ares mit boshaftem Grinsen. War ja klar, dass der Werwolf seinen Humor wiederfinden würde, wenn der Witz auf Cians Kosten ging. »Vielleicht solltest du endlich einsehen, dass dich niemand mag.«
Cian ignorierte die Stichelei. »Aufhören!«, rief er entsetzt. »Sie können doch nicht einfach auf Menschen schießen!«
»Ach was.« Grace lachte fröhlich. Das Ganze schien ihr einen Heidenspaß zu machen. Mit Horror beobachtete Cian, wie sie ein Auge zusammenkniff und erneut auf seinen Körper zielte. »Genau genommen ist er doch schon tot.«
Hier draußen war die Magie knapper, als Cian es gewohnt war. Nur zäh und langsam kroch sie in seine Fingerspitzen. Es war bei Weitem nicht genug. Mit einem stummen Fluch auf den Lippen gab er schließlich auf. Stattdessen wandte er sich an die einzige kraftvolle Quelle, die ihm zur Verfügung stand.
Es tut mir leid, sagte er zu Kira und griff nach ihrer Magie.
Grace betätigte erneut den Abzug, aber bevor der Schuss Schaden anrichten konnte, schleuderte Cian Kiras Magie dazwischen und verdichtete die Luftmoleküle vor seiner Leiche. Die Kugel prallte an der unsichtbaren Mauer ab und fiel mit einem Klong auf die Erde.
Grace japste erschrocken nach Luft und ließ die Pistole los. Eine Reihe unschöner Flüche, die im Beisein von Teenagern nicht geäußert werden sollten, sprudelten aus dem zierlichen Mund.
Cians Leiche streckte Grace vergnügt glucksend die Zunge heraus und verschwand wieder im Inneren des Hauses.
Eine Hand schloss sich um seine Schulter und schüttelte ihn grob. »Dass du es wagst …«, knurrte Ares mit gefletschten Zähnen.
Cian wollte eine bissige Antwort geben, bekam aber nicht einmal den Mund auf. Sein Körper bebte vor Anstrengung, als er nicht nur von außen, sondern auch von innen erschüttert wurde.
Schmerz und Enttäuschung wallten in ihm auf, so stark, dass sie ihn zu ersticken drohten. Eindeutig nicht seine eigenen Gefühle.
Kira drängte an die Oberfläche und Cian fehlte die Kraft, sich dagegen zu wehren. Er wurde nach unten gerissen und unsanft in die hintersten Tiefen ihres Geistes verbannt.
Eine schlimme Ahnung überkam ihn: Er musste gerade einen furchtbaren Fehler begangen haben.