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Als es Abend wurde, hatte sich Kira geweigert, zur Arbeit zu gehen. Sie hatte weder gegessen noch getrunken. Sie saß so reglos auf dem Sofa, als bänden Eisenfesseln sie an Ort und Stelle.

Elly war soeben von ihrer Schicht zurückgekehrt und Nick mit den ersten Anzeichen von Dunkelheit aus seinem Schlaf erwacht. Beide wussten nicht recht, was sie mit ihr anfangen sollten. Sie hatten es aufgegeben, Fragen über ihre Abwesenheit zu stellen, und auch Nicks Wut schien verraucht.

»Willst du einen Tee?«, fragte Elly.

»Was zu essen?«, fragte Nick.

»Einen Kakao vielleicht?«

»Blut?«

Verärgert stieß Elly Nick in die Rippen.

»Es war ein Witz«, verteidigte er sich. »Ich wollte sie aufmuntern.«

»Vampire sind nicht witzig.«

»Vergiss ihn, Kira. Der Magier ist es nicht wert«, flüsterte ihr eine samtweiche Stimme ins Ohr.

Kira war überrascht, Pooka in einer festen Form neben sich zu finden. Erleichtert zog sie den dicken roten Kater auf ihren Schoß und verkeilte ihre Finger ungeachtet seiner Protestschreie in seinem Fell.

Pooka war bei ihr. Pooka würde immer bei ihr sein und daran musste sie sich festhalten.

Entschlossen, ihren Freunden keine weiteren Sorgen zu bereiten, erhob sich Kira mit dem Kater vom Sofa und ging in die Küche. Sie hatte keinen Hunger, aber Elly und Nick zuliebe wollte sie wenigstens ein paar Bissen zu sich nehmen. Sie setzte Pooka auf der Küchentheke ab und deckte für sich Teller und Messer.

Nick reichte ihr die Butter aus dem Kühlschrank, als er bemerkte, dass sie sich ein Sandwich machen wollte.

»Es tut mir leid, dass ich dich angefahren habe«, sagte er und suchte ihren Blick. »Du musst nicht darüber reden, wenn du nicht willst. Du sollst nur wissen, wenn du es willst, dann sind wir für dich da. Elly und ich.«

Elly lehnte am Türrahmen und nickte eifrig.

»Danke«, sagte Kira. Tränen stiegen ihr in die Augen. »Ihr seid die Besten. Ihr habt keine Ahnung, wie sehr ich euch vermisst habe.«

»Oh, Süße«, sagte Elly und kam auf sie zu.

Doch noch bevor sie ihre Freundin in den Arm schließen konnte, durchschnitt ein hoher Schrei die frühabendliche Stille.

Kira fuhr zusammen. Diesen Schrei hatte sie schon einmal gehört und er ging ihr durch Mark und Bein.

»Das kann nicht sein!«, keuchte sie. »Nicht hier.«

»Kira?« Elly blickte verängstigt aus dem Fenster. »Kira, was …?«

Als der Schrei ein zweites Mal ertönte, rannte Kira los. Ohne auf Ellys Panik einzugehen, drängte sie sich an ihr vorbei.

Pooka verwandelte sich in ein Rotkehlchen und war augenblicklich an Kiras Seite, als sie durch die enge Wohnung und zur Tür hinauslief.

»Pooka, ist es das, was ich denke?«, fragte sie atemlos, während sie die Stufen im Treppenhaus hinunterstürmte. Sie flog mehr, als dass sie rannte.

Der Vogel zirpte bestätigend. »Ich spüre ihre Magie.«

Kira schauderte. Sie hörte Nick nach ihr rufen, hielt aber nicht an. Sie konnte nicht glauben, dass ihr das noch mal passierte. Dass Sina ihren Drachen mitten ins Reservat schickte, um sie zu erledigen.

Hatte sie nicht schon genug gelitten?

Die Koboldfamilie, die ein Stockwerk tiefer lebte, schielte vorsichtig durch den Türspalt nach draußen. Angezogen durch das Brüllen des Drachen, trat der Jüngste vorsichtig ins Treppenhaus hinaus, aber als eine aufgescheuchte Sidhe, ein Vampir und eine Nymphe an ihm vorbeizischten, zogen ihn die besorgten Eltern rasch wieder ins Innere.

Vor dem Eingang des Apartmentkomplexes kam Kira schlitternd zum Stehen. Als sie in den Nachthimmel blickte, weiteten sich ihre Augen.

Es war derselbe Drache, schwarz beschuppt und mit den ausgebreiteten Schwingen nun noch monströser. Bedrohlich bäumte er sich hoch über ihren Köpfen auf.

Er war auf dem Dach des Reservats gelandet, dank seiner panzerartigen Haut anscheinend immun gegen das Eisen, und spie Säulen aus Feuer aus dem Maul.

Kira spürte die Hitze seines Atems und konnte sehen, wie das Eisen im Feuer schmolz und zu einer schimmernden Pfütze hinabtropfte. Ein silbernes Cabrio fuhr durch die eben entstandene Lücke und trotzte der Schwerkraft, indem es langsam hinabschwebte, ehe es auf seinen vier Rädern aufkam und mit einem jaulenden Geräusch über die Straße sauste. Ein ungutes Gefühl sagte Kira, dass sie ihretwegen gekommen waren.

»Ist das ein …?«, fragte Nick, als er hinter Kira aus dem Hauseingang geprescht kam.

»… Drache?«, beendete Elly seinen Satz.

Ehe Kira es sich versah, war der Vampir an ihrer Seite und hielt ihren Oberarm grob umfasst. »Vergiss, was ich vorhin gesagt habe.« Nicks Augen glühten. »Du musst reden. Was macht der Drache hier? Wieso ist er hinter dir her?«

»Wie kommst du darauf, dass er hinter mir her ist?«, fragte Kira und zerrte an ihrem Arm.

Pooka zwitscherte erbost.

»Versuch nicht, mich für dumm zu verkaufen. Es ist derselbe Drache, der mit dir zusammen überall in den Nachrichten gezeigt wurde. Und jetzt ist er hier, kurz nachdem du wieder zu uns gebracht wurdest.«

»Nick, lass sie los!« Elly funkelte Nick mit ihren blauen Augen wütend an und verpasste ihm einen Stoß, wie nur eine Nymphe es wagen würde. »Du tust ihr noch weh!«

Nick strafte Elly mit einem finsteren Seitenblick, löste aber seine eisigen Finger von Kiras Oberarm.

Kira atmete erleichtert auf. »Der Drache«, begann sie zu erklären, während sie ihren schmerzenden Arm rieb. »Er hört auf eine sehr mächtige Sidhe, die mich nicht besonders mag.«

Nicks linke Augenbraue wanderte spöttisch nach oben. »Nicht mag? Was muss man jemandem antun, damit er einem seinen ausgewachsenen Drachen auf den Hals hetzt?«

Kiras Wangen wurden heiß. »Ich habe ihr nichts getan«, erwiderte sie mit schriller Stimme. »Sie mag mich einfach nicht, okay?«

Sie richtete ihren Blick wieder zum dunklen Nachthimmel und dem roten Schimmer, der von den Wolken reflektiert wurde. Noch saß der Drache auf dem Gitter. Noch war der Wagen das Einzige, was durch die Öffnung gekommen war, um sie zu holen. Aber wie lange würde es dauern, bis der Drache hinabflog, um alles in Schutt und Asche zu legen? Ein Flammenmeer auslöste, das sie alle versengte, nichts und niemanden verschont ließ?

Kira erzitterte. »Ich hätte nie gedacht, dass Sina so weit gehen würde, den Drachen hierherzuschicken. Es tut mir leid. Ich wollte nie jemanden in Gefahr bringen.«

Nick kam wieder an ihre Seite. Diesmal beschützend, statt anklagend. »Jemand ist in einem Wagen durch das Loch geflogen. Deine Sidhe?«

Kira schüttelte den Kopf. »Sie würde sich nie so nah an das Territorium der Magier heranwagen. Ich tippe auf ihre Lakaien. Vampire oder Werwölfe – die würde das Eisen nicht so stark behindern.«

»Vielleicht können wir durch das Loch entkommen«, sagte Elly voller Sehnsucht.

Kira seufzte. »Es ist zu weit oben und dann müssten wir immer noch an dem Feuer speienden Drachen …« Das Heulen eines Motors ließ sie verstummen.

Kira spannte ihre Beine zur Flucht an. »Ich muss weg von hier. Es tut mir leid, aber ihr solltet in eine andere Richtung. Euch werden sie in Ruhe lassen, wenn man euch nicht in meiner Nähe findet.«

Nick und Elly schüttelten beide energisch den Kopf, aber bevor Kira ihnen diese Dummheit ausreden konnte, heulte der Motor noch einmal auf.

Kira dachte nicht mehr nach. Sie rannte einfach los. Nick und Elly rannten mit ihr – und sie waren nicht die Einzigen. In jeder Gasse, durch die sie kamen, trafen sie auf fliehende Paranormale. Die meisten sahen zu, so weit weg von dem Drachen zu kommen, wie nur möglich. Es gab jedoch auch viele, die genau ins Zentrum liefen, um sich das Loch in der Decke besser anzuschauen. Die Hoffnung auf Freiheit brachte sie alle in große Gefahr.

Irgendein Idiot brüllte Eye of the Tiger durch das nächtliche Chaos.

»Das letzte Mal«, keuchte Nick, als sie sich im Schatten einer Hausmauer durch die Menschenmenge wanden. Über ihren Köpfen zog Pooka spähend Kreise, bereit, sie vor jeder Bedrohung zu warnen. »Wie bist du das letzte Mal entkommen?«

»Durch die Haupttore. Und das auch nur mit viel Glück.« Obwohl sie eigentlich keine Zeit dafür hatte, blieb sie stehen und wandte sich zu ihren Freunden um. »Es war nicht geplant, ich schwör’s. Wenn ich je einen Fluchtplan gehabt hätte, hätte ich ihn mit euch geteilt.«

Überall im Reservat erwachten Lautsprecher mit einem unangenehmen Knarzen zum Leben. »Achtung! Achtung! Hier spricht Arthur Stanwood.« Kiras Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Sie hatte unangenehme Erinnerungen an den Mann. »Bitte bewahren Sie Ruhe. Die Magier werden sich umgehend um das Sicherheitsleck kümmern. Es gibt keinen Grund zur Panik. Bitte verbarrikadieren Sie sich in Ihren Häusern und gehen Sie nicht auf die Straße. Jeder Fluchtversuch wird streng geahndet.«

Als die Lautsprecher ein zweites Mal knarzten, meinte Kira, die Rede wäre zu Ende. Aber dann erwachten sie erneut zum Leben und die folgenden Worte ließen sie erstarren.

»Sollten Sie der Paranormalen Kira begegnen, halten Sie sie auf. Wir haben Anweisungen, sie festzunehmen. Jede Hilfe wird belohnt.«

Die Lautsprecher erstarben und Kiras Blick glitt Hilfe suchend gen Himmel. »Was habe ich jetzt schon wieder getan?« Die Frage galt allen und niemandem.

»Das wüsste ich auch gern«, erwiderte Nick.

Kira sah ihre Freunde misstrauisch an und wich langsam vor ihnen zurück. Aber als sie den Schmerz in Ellys Augen erkannte, den ihr fehlendes Vertrauen ausgelöst hatte, hielt sie sofort inne.

»Sei nicht albern«, sagte Nick. »Wir würden dich denen doch nie ausliefern. Komm, wir sollten weiter.«

»Ich weiß nicht.« Kira blickte hinauf zum Drachen und schluckte heftig. »Vielleicht sollte ich mich ihnen stellen. Den Rebellen, den Magiern, wem auch immer. Vielleicht verschwinden sie dann und …«

Elly und Nick packten jeweils einen ihrer Arme und zerrten sie weiter. Sie kamen an eine Kreuzung und Kira hörte Pookas warnendes Zwitschern in demselben Moment, in dem sie das Heulen des Motors vernahm. Fluchend machten sie alle eine Kehrtwendung und flohen zurück in die Schatten der Häuser.

Wie konnte das Auto sie nur so schnell verfolgen? Im Reservat gab es bloß wenige Straßen, die von Autos befahren werden konnten. Es war wie eine riesige Fußgängerzone mit vereinzelten Strecken für Lieferwagen. Wegen der vielen engen Gassen hätte es für Kira ein Leichtes sein sollen, den Wagen abzuhängen. Aber er klebte so dicht an ihren Fersen, als besäßen ihre Verfolger einen unsichtbaren Kompass, der ihnen den Weg wies.

Eine vertraute Präsenz zupfte an ihrem Geist und Kira ging zu Boden, als hätte eine unsichtbare Faust sie niedergestreckt. Als sie sich wieder aufrichtete, zitterten ihre Beine, als wären sie aus Gummi. Das konnte nicht sein. Sie musste sich das eingebildet haben …

Tinker Bell?

Und Kiras Welt hörte auf, sich zu drehen.

Sie öffnete die Lippen, um Cian zu antworten, da tauchte ein schwerer Eisenknüppel aus dem Schatten auf und traf sie am Bauch.

Kira krümmte sich schnaufend nach vorne, die Hände über ihrer brennenden Mitte verschränkt, während sie Nick fauchen und knurren hörte. Neben ihr ertönte das mechanische Klicken eines Holzpfeilgewehrs.

»Nick, nicht!«, rief Kira und richtete sich mühsam auf. Vier Wachmänner hatten sie überrascht, ihre schwarz-goldenen Uniformen wirkten im kalten Schein der Straßenlaternen noch bedrohlicher als sonst.

Zwei standen bei ihr, die Eisenknüppel warnend erhoben, während ein anderer ein Holzpfeilgewehr auf Nicks Brust gerichtet hielt. Der vierte stand abseits am Ende der Gasse und hielt Ausschau. Um die schluchzende Elly sorgte sich niemand.

Kira machte einen Schritt auf ihre Freundin zu, aber sofort traf sie wieder ein Knüppelschlag.

»Na, na! Wer wird denn eine Lady so behandeln?«, fragte eine Stimme hinter ihr. Sie war warm und melodisch, süßer als Honig, und Kira hatte eigentlich gehofft, sie nie wieder hören zu müssen.

Und trotzdem kam er auf sie zu, die Hände lässig in den Taschen seines stahlgrauen Designeranzugs vergraben, und trat in den Schein der Straßenbeleuchtung.

Es war Ryan. Der letzte Mann, den sie hier anzutreffen erwartet hatte. Ryan McNamara. Und dem Funkeln seiner blassgrünen Augen nach zu urteilen, war er ebenso erfreut, ihre Bekanntschaft zu vertiefen, wie sie.

»Steig wieder ein!«, rief Evan Cian über die Motorhaube seines Jaguars hinweg zu. »Verdammt, Cian! Der Schutzzauber hilft nur, solange du im Wagen bist.«

Aber Cian ignorierte ihn. Klopfenden Herzens rannte er zum Eingang der Gasse, in der er eben noch Kiras Präsenz gespürt hatte. Als er sie erreichte, sah er aber nur Schatten und eine zusammengesunkene Figur unter einem Schwall blau leuchtender Haare.

Cian war der Nymphe nie begegnet, doch Kiras Erinnerungen waren so lebendig in seinem Kopf, dass er gar nicht weiter nachdachte und ihren Namen rief. »Elly!«

Die Gestalt richtete sich blitzartig auf, die großen Augen angstvoll geweitet. Ihre Blicke trafen sich und Elly erstarrte wie ein Reh im Scheinwerferlicht. Im nächsten Moment erklang ein Zischen an Cians Ohr und gebleckte Reißzähne blitzten im Laternenlicht auf.

Cian wirbelte herum und stieß den heranschnellenden Vampir mit einem Energieschub von sich, ehe sich dessen Zähne in seine Kehle bohren konnten. Der Vampir knurrte, die Muskeln zum Angriff gespannt, und starrte ihn hasserfüllt an.

»In den Wagen!«, hörte Cian nun auch Ares rufen und war im ersten Moment verwundert, dass der Werwolf sich auf einmal um seine Sicherheit kümmern sollte.

Und dann sah er sie.

Als hätte der Angriff des Vampirs ein Signal gesandt, quollen Paranormale wie Insektenschwärme aus den Häusern. Andere kauerten auf Dächern und vor Hauseingängen. Auf der Spitze des Laternenmasts hockte ein Caith Sith*, die rosafarbene Zunge witternd in die Nachtluft gestreckt, während sich Kobolde in seinem Schatten sammelten.

»Ist er das?«, fragte eine Banshee in einem schaurigen Flüsterton und ließ ihre scharf gefeilten Nägel über eine Betonwand kratzen.

»Cian Kingsley! Cian Kingsley!«, rief einer der Kobolde und sprang wie ein Flummi auf und ab.

Es waren zu viele, um sie auf einen Blick erfassen zu können, aber die zornesroten Gesichter verhießen nichts Gutes.

Und sie alle hatten nur eine einzige Person im Blick: Ihn, Cian Kingsley, den Mann, der sie alle hatte einsperren lassen.