51. Kapitel
Die alten Gefühle überwältigten ihn mit solcher Wucht, dass ihm schwindelig wurde. Es war nicht nur die Erinnerung an die hier verbrachten Jahre, an die sorgenfreie Kindheit, ein Film, der in seinem Kopf ablief. Es kam ihm tatsächlich so vor, als wäre er wieder neun Jahre alt und liefe den Korridor hinunter, um seinem Vater tragen zu helfen, wenn Mehl, Zucker, große Kisten mit Melasseflaschen, Trockenobst und frisch geröstete Nüsse geliefert wurden. Der Duft frisch gebackenen Brotes hing noch in der Luft.
Seitdem die Pikk-Street-Bäckerei geschlossen hatte, hatten nur wenige Einzelhändler ihr Glück hier versucht. Michael wusste, dass ein Sanitätsfachgeschäft den Laden für kurze Zeit gemietet hatte. Anschließend zog ein Naturkostladen ein. Doch keines der Geschäfte lief gut.
Michael erinnerte sich noch gut an den hinteren Eingangsbereich. Der Holzfußboden war in der Mitte ausgetreten, und an der Decke hingen zwei Lampen aus den Sechzigern. Er tastete sich an der Wand entlang, als er den Korridor hinunterging. Ein Nagel, der aus der Wand herausragte, blieb an seinem Sweatshirt hängen, riss den Stoff auf und fügte ihm einen Kratzer zu.
Als Michael die Tür vor dem ersten Raum erreichte, blieb er stehen. Er versuchte, sich zu beruhigen, und atmete mehrmals tief durch. Vorsichtig spähte er um die Ecke in den Raum, in dem früher das Büro der Bäckerei untergebracht war. Als Kind war es ihm verboten, in diesem Raum zu spielen. Er betrat ihn nur, wenn seine Mutter die Buchhaltung machte und sich mit diesem mysteriösen Papierkram herumschlug, der den Erwachsenen einmal pro Monat die Nerven raubte. Michael erinnerte sich, dass er bestraft worden war, weil er einmal ein Zitroneneis auf den Schreibtisch gelegt hatte, das dort geschmolzen war. Jetzt roch es muffig in dem Raum, in dem sich schon seit Ewigkeiten keiner mehr aufgehalten hatte. In dem düsteren Licht erkannte er Umrisse. Zwei dunkle Aktenschränke, ein alter Metallschreibtisch an der Seite, zwei große Pappkartons.
Er lief den Korridor ein Stück hinunter und betrat den Verkaufsraum. Vor dem Kauf des Hauses hatte Abby es mit dem Immobilienmakler besichtigt und Michael erzählt, dass die Vormieter die meisten Möbel ausgeräumt und sogar einen halbherzigen Versuch unternommen hatten, es zu reinigen. Michael schaute sich um. Die vorderen Fenster waren verschmiert, wodurch das durchscheinende Licht einen unwirklichen Schimmer erhielt. Staub wirbelte durch den Raum.
Langsam stieg Michael die Treppe hinauf. Bei jedem Schritt hallte das Echo dieses entsetzlichen Tages durch das Treppenhaus. Das trockene Holz knarrte, und die Geräusche und Gerüche katapultierten ihn zurück in die Vergangenheit. Er konnte beinahe den Lärm der Feuerwerkskörper hören, die auf der Straße draußen explodierten. Und später erfuhr er dann, dass die Knaller die Schüsse, die seine Familie ausgelöscht hatten, übertönt hatten.
Er erreichte die oberste Stufe und schaute den Korridor hinunter. Die Tür zum Badezimmer war entfernt worden. Durch das vergitterte Fenster drang ein wenig Licht. Michael drehte sich zum Schlafzimmer seiner Eltern um. Er erinnerte sich an den Tag, als sein Vater und Solomon das Zimmer gestrichen hatten. Es war ein heißer Julitag, und in dem alten Transistorradio, das im Hintergrund lief, wurde ein Mets-Spiel übertragen. Solomon hatte an jenem Sonntagnachmittag zu viel getrunken, und ehe Peeter es verhindern konnte, strich er die Farbe über die halbe Fensterscheibe. Auf der Glasscheibe waren noch immer blaue Flecken.
Michael rann der Schweiß über den Rücken, und er bekam Gänsehaut. Die Luft war bedrückend, feucht und still. Er überquerte den Korridor und ging auf den Raum zu, der damals sein Kinderzimmer gewesen war. Als er die Tür aufstieß, quietschte sie in den Angeln. Er konnte kaum glauben, wie klein der Raum war. Und doch war er einst in der Traumwelt seiner Kindheit seine Tundra, sein Schloss, die Weite des Wilden Westens und sein bodenloser Ozean gewesen. Die Möbel – Bett, Schrank und Stuhl – waren längst ausgeräumt worden. An einer Wand standen ein paar Kartons, die vom Staub vieler Jahre bedeckt waren.
Michael schloss die Augen und erinnerte sich an den Augenblick – genau sieben Uhr abends, die Zeit, als seine Eltern in der Bäckerei Feierabend machten. Dieses Szenario hatte ihm jahrelang Albträume bereitet, und damals bekam er sogar Panikattacken, wenn er zufällig um Punkt sieben auf eine Uhr schaute. In seinen Träumen sah er Schatten an den Wänden und hörte Schritte. All das verschmolz in diesem Augenblick. Die Angst vor dem Ungeheuer in seinem Schrank, die beiden Männer, die seine Mutter und seinen Vater ermordet hatten, der Mann, der nun seine Frau und seine Tochter in der Gewalt hatte.
Michael blieb stehen und öffnete die Augen. Plötzlich begriff er, dass es kein Traum war. Er hatte wirklich Schritte gehört. Als er spürte, dass die Bodendielen leicht vibrierten und die Luft sich veränderte, wusste er, dass jemand hinter ihm stand. Ehe er die Waffe aus der Tasche ziehen konnte, fiel ein Schatten in den Raum.
Mischa, hörte er seine Mutter sagen. Ta tuleb.
Dann explodierte ein Feuer in seinem Kopf. Wahnsinnige Schmerzen durchzuckten ihn, und gleichzeitig sah er orangerote und violette Blitze vor Augen.
Dann nichts mehr.